Ich lernte sie auf unkonventionelle Weise kennen. Es war in keiner Bar und keiner Diskothek. Ich trat keiner Selbsthilfegruppe bei und traf sie nicht beim Einkaufen. Sie ließ sich nicht mit einem lockeren Spruch anquatschen und nicht einfach auf einen Kaffee einladen.
Sie trat in mein Leben als ich am wenigsten auf Frauen achtete. Es war wenige Monate nachdem ich meine Frau Susann verloren hatte. Susann war das Licht meines Lebens gewesen, mein Halt, meine weibliche Seite. Wir waren eines der vielen „glücklichsten Paare der Welt“ gewesen. Und dann hatte sie ihr Leben gegen das unseres Sohnes bei dessen Geburt eingetauscht. Ich sah es so, musste es so sehen, weil mich die Sinnlosigkeit ihres Todes sonst in der Mitte zerteilt hätte. Ich glaube, eine schreckliche Nachricht in Verbindung mit einer glücklichen zu erhalten ist das Schrecklichste, was einem widerfahren kann. So fühlt sich Ohnmacht an. Man fühlt sich, als würde an beiden Armen gerissen und eigentlich möchte man nur noch weglaufen, denn man weiß, dass man nicht zu einer Seite kann, weil es diese ohne die andere gar nicht gäbe. Es gibt kein Schwarz ohne Weiß, kein schlechtes Wetter, wenn es kein gutes gibt.
Ich verließ das Krankenhaus ohne Frau, aber dafür nun mit einem Kind. Ich schrie meinen Schmerz hinaus, weil ich sonst daran erstickt wäre. Ich führte mich auf wie ein Irrer und schlug mit der geballten Faust auf eine Wand ein. Ich wollte ihn finden, den Verantwortlichen für diesen faulen Deal. Aber er zeigte sich nicht. Ich weiß nicht, wo er war, vielleicht saß er ja wirklich auf einer Wolke, so weit weg, dass er keine Ahnung vom Ausmaß der Dinge auf unserer Erde hatte. Ich weiß nur, dass ich ihn feige fand und fast den Verstand verloren hätte auf der Suche nach ihm.
Max war der einzige Grund, warum ich den Boden des Abgrundes in den ich daraufhin fiel noch nicht erreicht hatte. Mein Sohn war zu klein um Verständnis für mich zu haben. Er war gerade erst geboren, wie sollte er da schon den Tod begreifen? Er war erbarmungslos mit mir wenn er nachts schrie und Hunger hatte oder ich ihn lieblos in den Armen hielt und emotionslos im Nichts herumirrte ohne wirklich bei ihm zu sein und erbarmungslos wenn er die Hosen voll hatte. Kurz gesagt, er beschäftigte mich ohne Pause den ganzen Tag, und das war es, was mich davon abhielt auf dem Boden zu zerschellen. Ich ging ohne Empfindungen durch die Welt, nahm keine Gerüche wahr und keine Farben. Ich sah niemanden und bemerkte nicht, wenn mich Bekannte in der Stadt antippten. Ich hörte das Hupen der Autos nicht, die gerade noch bremsten, um mich nicht zu überfahren. Aber ich fiel nicht weiter und schaffte es, Max gerecht zu werden, und das schien mir das Wichtigste zu sein. Es war eine Frage der Routine und der Wiederholung; und ein Tag ging Hand in Hand mit dem nächsten – das Einzige, worauf ich mich verlassen konnte.
Und deshalb hatte ich nicht mit ihr gerechnet. Ich wollte keine Frau kennenlernen und nie wieder lieben. Ich wollte eines Tages zu Max sagen können „Ich habe deine Mutter so sehr geliebt, dass ich es nie geschafft habe, eine andere zu lieben.“ Darauf wollte ich stolz sein – dass ich Susann geliebt hatte, auch nach ihrem Tod noch. Und dennoch war es Nadja egal. Sie wusste, dass ich sie nicht kennenlernen wollte, aber es hielt sie nicht davon ab, in mein Leben zu treten. Sie muss es gewusst haben, denn alles in meiner Mimik, meiner Haltung, meinem Gang und meinem Gesichtsausdruck sprach eine Sprache. Ich war wie ein zugeschnürtes Paket, das zuviel Mühe beim Öffnen bereitet hätte. Also ließ man es liegen. Was konnte bei der unscheinbaren Verpackung auch schon Vielversprechendes darin sein?
Ich weiß nicht, wie sie es gemacht hat, aber ich nahm sie nur wahr, weil ich mich beobachtet fühlte. Und sie beobachtete mich – wie viele andere Menschen, denen ich am Tag begegnete vermutlich auch. Mein apathisches Verhalten war vermutlich auch zu auffällig um es zu übersehen. Sie stand an einen Baum im Park gelehnt und schaute mich an. Sie starrte nicht, und im ersten Moment fühlte ich mich nicht peinlich berührt. Erst als ich wahrnahm, dass unsere Blicke sich nicht zufällig getroffen hatten, sondern dass sie mich bewusst beobachtete, drehte ich mich weg, bevor die Röte in meinem Gesicht verriet, dass ich mich ertappt fühlte, und schob den Kinderwagen schnell davon.
Bereits am Abend hatte ich sie vergessen. Max nahm meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch und im Nachhinein denke ich, dass ich auch eine Art Treuebruch darin sah, eine andere Frau auch nur zu bemerken – sowohl Max als auch Susann gegenüber.
Ich begann, nach einem bestimmten Rhythmus zu leben, an den ich mich nach einiger Zeit peinlich genau hielt – nicht aus Ehrgeiz oder Pflichtgefühl sondern weil die Routine mich am Leben hielt. Jede Stunde bekam ihren Sinn und jede Minute hatte ihre Aufgabe. Ich überließ nichts dem Zufall, Einladungen von Freunden konnte ich nur mit einer Vorlaufzeit von zwei bis drei Wochen berücksichtigen und mit unvorhersehbaren Ereignissen konnte ich schlecht bis gar nicht umgehen. Dazu gehörte das hohe Fieber, das Max im Sommer befiel. Mehrere Stunden saß ich gequält von Angst und Hilflosigkeit an seinem Bett, wälzte Bücher über Kinderkrankheiten und durchsuchte das Internet nach Anweisungen, was zu tun war. Auf die Idee einen Arzt zu rufen brachte mich erst eine alte Bekannte, die ich in meiner Not mitten in der Nacht anrief. Die Tatsache, dass ich nicht einmal daran gedacht hatte, einen Notarzt zu rufen, zeigt mein erschüttertes Vertrauen in die Medizin und vor allem die Ärzte wohl ganz gut. Ein kritischer Blick des Notarztes machte mir deutlich, was ich damals aufs Spiel gesetzt hatte. Max lag eine Woche auf der Intensivstation.
Das fehlende Vertrauen in die Medizin habe ich mir bewahrt – ich versuche es allerdings zu ignorieren, wenn es um die Gesundheit meines Sohnes geht. Diese schlimmste Woche seit dem Tod von Susann verbrachte ich fast scheintot auf dem Flur des Krankenhauses und mir fiel erst an dem Abend mit meinem Freund Peter auf, dass die junge Dame aus dem Park an der Rezeption gesessen und mir ein warmes Lächeln geschenkt hatte. Was für ein dummer Zufall. Ein Grund mehr, so schnell kein Krankenhaus mehr zu betreten.
An dem Tag, als ich Max aus dem Krankenhaus wieder zu mir nach Hause holte, stand mein Freund Peter vor der Tür. Neben ihm seine Freundin. „Ich will deine Meinung gar nicht erst hören. Claire passt auf den Kleinen auf und wir gehen einen trinken.“ Ich widersprach nicht, denn ich war froh, dass mir wenigstens für eine Weile jemand eine Entscheidung und die Verantwortung Max und mich abnahm.
Als wir die Kneipe betraten wurde mir bewusst, dass ich seit langer Zeit nicht mehr hier gewesen war. Hier, in der Kneipe, in der ich Peter kennengelernt und in der wir uns seit dem Tag vor vielen Jahren einmal in der Woche Zeit füreinander genommen hatten. Es musste in einem anderen Leben gewesen sein.
Man hätte vermuten können, dass Peter ein ernstes Wort mit mir hätte reden wollen. Dass ich mein Leben wieder in die Hand nehmen müsste, mir ein neues Hobby oder eine neue Arbeit suchen sollte (momentan lebte ich von Sozialhilfe) oder öfter mal wieder rausgehen müsste. Aber ich glaube, er wollte einfach nur überhaupt mal wieder mit mir reden. Und ehrlich gesagt war es das Vernünftigste, was er hatte tun können, denn ich ließ nicht mit mir über meine Art zu leben diskutieren.
Es dauerte ewig, bis ich sie bemerkte. Die junge Frau, die ich im Park gesehen hatte, saß nur wenige Tische weiter und jetzt erkannte ich auch die Frau von der Rezeption in ihr. Ich hatte sie völlig aus meinem Bewusstsein verdrängt – zumindest dachte ich das. Doch mein Unterbewusstsein war wenig überrascht, sie zu sehen. Vielleicht war es der Alkohol, der mich mein schlechtes Gewissen vergessen ließ, jedenfalls betrachtete ich sie dieses Mal näher. Ich konnte schließlich nichts dafür, sie saß einfach da, und ich war ihr nicht nachgelaufen. Es war also nicht meine Schuld, dass wir uns schon das dritte Mal begegneten. Sie blickte hoch und schaute mich mit ihren tiefbraunen, großen Augen an. Ihr Gesicht war rundlich, ihre Haare glatt und dunkel. Das Bild meiner Frau schob sich sofort vor meine Augen. Susann war blond gewesen, lockig, mit einem ovalen, relativ schmalen Gesicht. Sie war rund und schön gewesen. Obwohl die fremde Frau saß, konnte ich erkennen, dass sie sehr klein war, mit einer zierlichen Figur und leicht kantigem Oberkörper. Zufrieden stellte ich fest, dass sie nicht mein Typ war. Ich schaute nicht mehr zu ihr hinüber, und als wir spät in der Nacht die Kneipe verließen, sah ich im Augenwinkel, dass eine Gruppe junger Leute ihren Tisch eingenommen hatte. Sie war verschwunden.
Peter nahm sich meiner jetzt öfter an. Claire und Max freundeten sich miteinander an und nach einigen Wochen schlief er sogar ein, wenn ich noch nicht zurück war. Und ich sah auch die fremde Frau noch einige Male. Manchmal sah sie auch mich, manchmal nicht. Ich gewöhnte mich an dieses Gesicht aus meiner Umgebung und fühlte mich nicht länger beobachtet. Schließlich stand der ältere Herr mit dem karierten Anzug und dem Käsebrötchen auch noch immer jeden Morgen zur gleichen Uhrzeit an der Haltestelle wie ich damals – vor Max’ Geburt, als ich noch gearbeitet hatte. Und auch Frau Knut wohnte noch immer drei Häuser weiter und lief mir ab und zu beim Einkaufen oder Spazierengehen über den Weg. Die junge Frau wurde nur zu einem weiteren Gesicht aus dem Viertel.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, bis ich bemerkte, dass ich morgens länger vor dem Spiegel stand oder wieder zu überlegen begann, was ich anziehen sollte. Ich war überzeugt gewesen, dass meine Eitelkeit mit meiner Frau gestorben war. Doch übertrug ich diese Eitelkeit nun auch auf Max, dessen Babykleidung ich viel gewissenhafter aussuchte und dem ich trotz meiner geringen Sozialhilfe auch mal das teurere Hemdchen kaufte – einfach weil es eine schönere Farbe oder ein fröhlicheres Muster hatte.
Es dauerte jedoch nur kurze Zeit, bis mich mein schlechtes Gewissen wieder in meine dunkle Ecke zurückdrängte. Es war ja noch nicht mal ein Jahr vergangen, seit Susann gestorben war, und ich verabscheute mich für mein Interesse an meinem und Max’ Äußeren. Ich zog meine Sachen wieder so lange an, bis sie dreckig waren und nahm dann wahllos die nächsten, obenauf liegenden Klamotten aus meinem Schrank.
„Wie schön, dass man Sie jetzt wieder öfter sieht.“ Die junge Dame an der Kasse, mit der ich früher gern unverbindlich geflirtet hatte, war es, die mich auf meine nächste Eigenart aufmerksam machte. Sie arbeitete nur Samstagvormittags. Direkt nach Max’ Geburt und Susanns Tod war ich froh gewesen, wenn ich den Supermarkt vor Ladenschluss erreicht hatte. Es war auch schon vorgekommen, dass ich vor verschlossenen Türen gestanden hatte. Als ich dann meinen Tagesrhythmus entwickelt hatte, war das Einkaufen fest für die Abendstunden eingeplant gewesen – egal, um welchen Wochentag es sich handelte. Aber jetzt war es vormittags.
Von einer Vorahnung geleitet ließ ich meinen Blick in die Schlange hinter mir wandern. Und dort stand sie. Die junge Frau, die mein Leben seit Monaten unbewusst begleitete. Und dieses Mal lächelte ich ihr zu. Und sie lächelte zurück. Und in diesem Moment wusste ich, dass sie es war, die mich hatte eitel werden lassen und die mich zu bestimmten Zeiten an Orte gehen ließ, an denen ich sie schon einmal gesehen hatte.
Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ich weinte. Meine Einkäufe hatte ich an der Kasse vergessen, als ich von einer warmen Welle des Glücks aus dem Laden getragen wurde – wo mein Gewissen mit eisiger Kälte über mich herfiel. Die plötzlichen Tränen schwemmten all meine Ängste und Zweifel, mein Pflichtgefühl gegenüber Max, meine Treue gegenüber Susann und meine Verantwortung mir selbst gegenüber aus der Dunkelheit meines Innern hinaus ans Tageslicht.
Den Tag verbrachte ich in Lethargie. Beschämt darüber, geweint zu haben, mit einem dicken Kloß in der Brust, meinen Sohn auf dem Arm, ein Bild von Susann in der einen Hand, eine Zigarette in der anderen, ließ ich mich völlig gehen.
Ich danke Nadja dafür, dass sie den ersten Schritt gemacht hat, denn ich hätte mich niemals auf den Weg gemacht, ihre Existenz zu ergründen. Ich verkroch mich Zuhause und errichtete in Gedanken eine ewige Mauer um das Haus herum, in dem ich mit meinem Sohn lebte. All meine Aufmerksamkeit versprach ich Max und ewige Liebe Susann. Das Lächeln im Supermarkt erschien mir wie eine Farce und zugleich wie ein Verrat an meiner Familie. Meine Augen waren rot und geschwollen, die Tränen schienen sich in den Leerräumen zwischen meinen Wimpern eingenistet zu haben, wo sie zu schweren Salzklumpen erstarrten. Ich verspürte ein starkes Hungergefühl, das mich zum Handeln zwang.
Heute weiß ich, dass Nadja mir all diese Gefühle abgenommen hat. Dass sie beim Pizza-Service arbeitete, erfuhr ich noch am selben Abend, als sie mir diese göttlich schmeckende, von Ananassaft triefende Pizza brachte. Ich sprach kein Wort, und doch tröstete mich ihr Lächeln, als sie ging. Dass sie Nachrichtensprecherin war, sah ich am nächsten Tag im Fernsehen. Ich schmiss einen Schuh nach dem Fernseher und zertrümmerte die Antenne. Sie war die Taxifahrerin, die mich zu Peters und Claires Hochzeit fuhr. Ich biss die Zähne zusammen, ignorierte ihren Blick im Rückspiegel – aber ich stieg nicht aus. Sie war die Pastorin, die Max taufte, und ich begann allmählich zu begreifen. Sie wollte mich nicht kennenlernen. Sie war nicht hinter mir her, und ich würde Susann niemals mit ihr betrügen können. Ich sah sie immer öfter. Ich sah sie im Schwimmbad, als ich mit Max zu unserer ersten Eltern-Kind-Stunde ging, und auf dem Weg zu meinen immer spontaneren Treffen mit meinen Freunden. Ich traf sie auf dem Arbeitsamt, als ich mir einen neuen Job suchte. Sie war es, die mir bei der Routineuntersuchung freudestrahlend verkündete, dass Max kerngesund sei. Sie verkaufte mir die Blumen, die ich Susann an ihr Grab brachte, und sie war die Sonne, die den Grabstein das erste Mal in einem anderen Licht erstrahlen ließ. Sie lächelte mich morgens immer öfter aus dem Spiegel an und ermunterte mich, wieder mehr auf mein Äußeres zu achten. Sie wirbelte in tausendfacher Gestalt herbstlicher Blätter um meine Füße, wenn ich Max spazieren fuhr. Sie hielt seine Hand, als er das erste Mal alleine stand, und sie war es schließlich auch, die mir den Zettel mit der Internetadresse in die Hand drückte, auf der ich später meine heutige Frau Anette kennenlernte.
Ich taufte sie Nadja, weil es aus dem Russischen kommt und „Hoffnung“ bedeutet.
Text: Coverphoto
Marianne Moosherr
Publication Date: 01-07-2009
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