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   Peawyn Hunter   

 

 

 

DAS VERMÄCHTNIS DES FEUERS

Wolfsblut

 

Prolog

 

Das Flüstern des Windes drang durch jeden Spalt, erfasste jeden Stein, jeden Strauch und jedes Sandkorn in diesem gewaltigen Gebirge. Er raschelte, wisperte, heulte durch die Bergkämme. In jeder Spalte schien ein Schatten zu lauern. Hier herrschte eine unheimliche Macht, eine Anziehungskraft, ein Wille. Nicht einmal die Götter hatten hier ihre Finger im Spiel, hier herrschten andere Gesetze. Hier herrschte Magie. Der Wind jagte weiter, auf der Suche nach ihr, die Kunde zu überbringen, dass die eine gekommen war.

Und plötzlich durchbrach der Wind die Barriere der Zeltplanen und stieß ein erschütterndes Heulen aus.

Sie schrie auf und krampfte ihre knochigen Finger ins Fell unter ihr, als der Wind ihre Meditation unterbrach. Ihre Augen färbten sich schlagartig weiß, als sie die Kunde in ihren Kopf spürte. Die Vorsehung brannte sich beinahe in ihr Hirn, so sehr schmerzte das Wissen, das sich in ihren Geist bohrte, ihre Seele brandmarkte und sie erschrocken aufkeuchen ließ. Sie krümmte sich zusammen und sackte nach vorne, sodass sie in kauernder Haltung auf dem Fell hockte und schwer atmend all die Informationen verarbeiten musste, die ihr der Wind mitgeteilt hatte.

Inzwischen beruhigte sich die Luft und die Wände ihrer Zeltplanen sanken sanft zurück an ihre Position, doch das Wispern war noch leise zu vernehmen.

Hastig atmend stützte sie sich schwach auf den Händen ab. Ihr nackter Körper zitterte vor Anstrengung und sie atmete ein paar Mal tief ein und aus, als sie auch schon die aufgeregten Stimmen hörte, die vor ihrem Zelt laut wurden. Aber wie immer, wenn sie eine Vision hatte, traute sich nur ein Mann zu ihr ins Zelt. Es war ihr Anführer und Chief des Clans.

Thorik riss die Planen des Zeltes zur Seite und kam auf sie zu gestapft. Nervös ließ er sich neben sie auf die Knie fallen und legte seinen fellbesetzten Umhang um ihre nackten Schultern. Obwohl ihm die Knie jedes Mal ganz weich wurden, wenn er sie nackt sah und ihm die Vorstellung durchaus gefiel, wie sie beinahe jeden Abend auf diesem Bärenfell nackt und zitternd vor Ekstase saß, wenn sie mit den Geistern ihrer Ahnen sprach und dabei ins Feuer blickte, spürte er dieses Mal, dass etwas anders war. So erschöpft war sie nie von einer Vision, die sie aus der Vergangenheit hatte, was ihm sagte, dass sie diesmal die Zukunft gesehen hatte. Er kannte diese Frau schon so lange, seit sie Kinder gewesen waren und zusammen Fangen spielten, seit sie ihre Aufgaben im Clan angetreten waren. Thorik, als Anführer nach seinem Vater und sie als Seherin und Wächterin des Clanes, nachdem sie die Lehre der bereits verstorbenen Seherin abgeschlossen hatte. Seitdem hatten sie sich auseinandergelebt, aber er war in Beratungsfragen eng mit ihr in Kontakt geblieben. Auch, wenn er von der Magie, die in ihr schlummerte kaum eine Ahnung hatte, wusste er jedoch, dass es sie sehr viel mehr Energie kostete, eine Vision der Zukunft zu sehen, als etwas, das bereits geschehen war.

Er wartete mehr oder weniger geduldig, bis sie zu Atem gekommen war, bevor er leise zu ihr sprach: »Was ist passiert, Muriel? Was hast du gesehen?«

Sie hob den Kopf und dabei hingen ihr ihre kurzen, dunkelbraunen Strähnen im Gesicht. Schweiß glänzte auf ihrer Haut und ihre braunen Augen waren geradezu fiebrig. Heftig schluckte sie.

»Die eine ist gekommen«, flüsterte sie wie traumatisiert. »Die eine, die nicht nur einen Krieg zwischen zwei Männern auslösen wird, sondern einen Krieg, der die Königreiches in Finsternis oder Licht taucht. Wolf kämpft gegen Wolf und des Löwen Brüllen wird vom Wind getragen werden. Doch auch er wird sich verneigen vor dem Drachen.«

Thorik fuhr zusammen und blinzelte. »Der Drache?«

Sie wimmerte leise, schien zu erschöpft, um weiterzusprechen.

Thorik schüttelte den Kopf und schlang einen Arm um ihre schmalen Schultern, den anderen schob er unter ihre Beine und hob die halb nackte junge Frau auf seine kräftigen Arme. »Ihr braucht Ruhe, Wächterin.«, murmelte er und trug sie zu ihrem Schlaflager. Es bestand aus vielen Decken und Fellen, die übereinander gehäuft waren und ein weiches Nachtlager abgaben. Er legte sie darauf und zog ein Fell über ihren schönen, nackten Körper, den er schon lange begehrte.

Nachdenklich betrachtete er die junge Frau.

Es war ihm verboten, sie anzurühren, das wusste er. Die Wächterinnen mussten für immer unangetastet bleiben. Zu dieser Regel, die ihr verbot, jemals bei einem Mann zu liegen, gesellte sich die Tatsache, dass er ein Weib hatte, das in seinem Zelt jeden Abend auf seine Rückkehr wartete. Obwohl er sein Weib schätzte und natürlich die Verbindung zwischen ihnen ehrte, musste er jedes Mal an Muriel denken, wenn er Nachts seine Frau bestieg.

Jedoch gab es im Augenblick wichtigere Dinge, um die er sich kümmern musste. Die Vision der Wächterin war nicht nur für ihn beunruhigend, sondern mit Sicherheit auch für seine Krieger und die anderen.

Nachdenklich strich er der Wächterin zwei wirre, kurze Strähnen aus dem friedlichen Gesicht. Sie war eingeschlafen und musste wieder Kraft sammeln. Er musste kurz an den Moment denken, als die alte Wächterin ihr in einem Ritual, in dem die Kräfte der alten Wächterin auf die neue übergingen, Muriel das lange braune Haar abgeschnitten und verbrannt hatte. Es war ein Zeichen, dass Muriel eine Frau geworden war und niemals mehr für einen Mann als ansehnlich empfunden werden sollte. Da die Frauen der Wilderer besonders auf ihr schönes Haar achteten, war es ein Zeichen der Abstoßung, wenn einer Frau das Haar abgeschnitten wurde. So wurde bei einem Duell, wenn ein Mann verlor, dem Weib des Betreffenden als Zeichen seiner Niederlage das Haar abgeschnitten und in den Dreck geworfen. Es war eine Schmach. Doch für die Wächterinnen bedeutete es ein Symbol des Lebens in Keuschheit. Dass sie sich einzig und alleine den Geistern ihrer Ahnen hingeben dürften und sich dem Leben des Schutzes des Clans verschrieben.

Er biss sich auf die Unterlippe, als er daran dachte, wie Muriel als junge sechszehnjährige Frau nackt auf dem Boden des Bergtempels gekniet hatte. Alle Männer und Frauen hatten ihren Körper angesehen, aber niemand durfte so etwas wie Lust empfinden. Sie hatte dort gekniet, die Arme ausgestreckt, um die Gabe ihrer Herrin zu empfangen, während die alte Wächterin das Ritual vorbereitet hatte. Zwei Mädchen hatten vor ihr gekniet und ihren nackten Körper mit dem Blut einer geschlachteten Ziege bemalt. Und dann hatte die Wächterin Muriels Haar zu einem dicken Zopf zusammen genommen und mit einem Dolch durchtrennt und den Büschel ins Feuer geworfen. Zischend war es verbrannt und Muriels Augen hatten geleuchtet wie Sterne, als sich die magische Kraft auf die junge Seherin übertragen hatte. Mit diesem Akt hatte sich ihre Gabe, Dinge zu sehen, verstärkt und sie konnte Beschwörungen vollziehen und andere Dinge, von denen er wenig Ahnung hatte.

Und dennoch hatte er Eifersucht empfunden, als sich Muriel auf dem Fell am Boden des Tempels gewunden hatte vor Ekstase und jeder Mann dabei zugesehen hatte, wie sie wieder und wieder über die magische Grenze geworfen wurde, die eine Frau für gewöhnlich nur überschritt, wenn sie mit einem Mann das Bett teilte. Er hatte die Kiefer zusammen gebissen und weggesehen, weil er es sich nicht hatte anmerken lassen wollen, wie sehr es ihn selbst erregt hatte, sie so zu sehen. Das war jetzt schon sechs Jahre her.

Er zwang sich, ihr Zelt zu verlassen und nach draußen zu treten. Davor hatten sich die Männer und Frauen seines Clans versammelt und starrten ihn fragend und teilweise erschrocken an. Das hatten sie alle noch nie erlebt. Stur durchquerte er die Reihen der Männer und Frauen und starrte finster drein. Leise murmelnd folgten ihm die Clanmitglieder, aber er war nicht gewillt mit jemanden zu sprechen, bevor er nicht ausgiebig mit der Wächterin über ihre Vision gesprochen hatte. Er konnte sich keine Panik innerhalb des Clans leisten, wo seine Leute jetzt schon angespannt waren durch die Woberoker, die ihre Außenposten angriffen.

Thorik zischte genervt, dass sich die Menschen beruhigen sollten und in ihre Zelte zurückkehren, um den abendlichen Ruf der Ahnen zu sprechen. Als sie es murrend taten, kehrte er ebenfalls in sein Zelt zurück. Dort saß seine Frau vor ihrer kleinen Feuerstelle neben dem Nachtlager und stocherte nachdenklich im Feuer umher.

Ihre knappe Fellbekleidung konnten ihn im Moment jedoch kaum reizen.

Er musste noch immer an die Wächterin denken und legte etwas zu ruckartig seinen Speer ab, den er die ganze Zeit bei sich trug. Wütend riss er sich das Fell vom Körper, denn es schien ihm hier drin viel zu warm zu sein.

Seine Frau stand auf, als er eintrat und wartete, dass er ihr Aufmerksamkeit schenken würde, aber das tat er nicht. Stattdessen setzte er sich auf eines der Felle und zog sich eine Schale mit Fleisch heran, um etwas zu essen. Sie setzte sich ihm gegenüber und schwieg eine ganze Weile, bis sie ihn mit Bitterkeit in den Augen ansah.

»Ihr wart bei ihr, oder?«

»Von wem sprecht Ihr, Weib?«, fragte er sie, ohne sie anzusehen, denn er wusste genau, von wem seine Frau sprach.

Sie schluckte leise. »Muriel... die Wächterin. Sie hatte eine Vision, nicht wahr? Und Ihr wart bei ihr.«

»Ich musste schließlich sehen, was los ist. Ich bin der Chief.«

»Ihr seid in letzter Zeit oft bei ihr... und, wenn Ihr mit mir das Bett teilt, habe ich das Gefühl, dass Ihr mich nicht mehr ansehen wollt.«

Thorik biss die Zähne aufeinander und schwieg.

»Ihr begehrt sie, oder?« Ihre Stimme klang dünn.

»Was wollt Ihr von mir hören?«, fragte er mit einem finsteren Blick.

Sie presste die Lippen zusammen. »Zu gerne würde ich hören, dass Ihr mich begehrt, nicht sie. Ich wünschte, ihr würdet mich lieben oder auch nur mögen. Aber Ihr tut nichts dergleichen.«

Thorik blickte von ihr weg, denn er konnte ihr in diesem Moment nicht in die Augen sehen. Er wusste, dass sie recht mit dem hatte, was sie sagte. Niemals könnte er ihr das geben, was sie wollte, denn er begehrte eine andere Frau. Eine Frau, mit der er niemals das haben könnte, was er mit seiner Ehefrau haben könnte. Eine Familie, Nächte voller Leidenschaft... denn Muriel war die Wächterin und ihr Körper und ihre Seele gehörten den Ahnen des Clans, den Göttern und den Geistern.

Er seufzte genervt und stand auf, um das Zelt zu verlassen.

Dabei hörte er nicht darauf, was seine Frau noch sagte, sondern stapfte zielstrebig durch das mittlerweile verlassene, stille Lager. Die Frauen und Männer hatten sich zurückgezogen, nur noch die vereinzelten Wachposten streiften zwischen den Zelten umher. Der Wind, der so plötzlich aufgefrischt war, war wieder abgeklungen und wich einem sanften Lufthauch, der Worte zu wispern schien. Er folgte dem Pfad, den er zu seinem Zelt gekommen war zurück zum Zelt der Wächterin. So genau wusste er selbst nicht, was er dort wollte, aber es zog ihn beinahe magisch an.

Doch, als er die Plane beiseite schob, fand er nichts, außer ihr erloschenes Herdfeuer vor.

Mit gerunzelter Stirn richtete er sich auf und ließ die Plane sinken, blickte sich suchend in der Dunkelheit des Abends um. Es gab keine Spur von ihr, sodass er eine der vorbei streifenden Wachposten aufhielt.

»Habt Ihr die Wächterin gesehen?«

Der junge Mann deutete mit dem Knauf seines einfachen Kurzschwertes zum alten Pfad, der den Berg hinaufführte zu den alten Tempeln. »Ich sah, wie sie den Pfad hinauf ging. Sie verschwand hinter den Bergkämmen.«

Thorik zog die Stirn in Falten. »In Ordnung. Ich danke Euch.«

Der Mann nickte und machte weiter seine Runde.

Was wollte die Wächterin dort oben? Anscheinend hatte sie sich rasch wieder von ihrer Vision erholt, aber es ergab keinen Sinn, weshalb sie zu den Tempelanlagen hinauf stieg. Dieser Pfad wurde für gewöhnlich nicht von seinem Volk betreten, denn dort oben herrschte dunkle Magie. Die Tempel gehörten einst den Menschen des alten Blutes, einem besonders starken Volk, welches noch tiefer mit der Magie verwurzelt war, als sein eigenes Volk. Laut den Legenden waren sie die ersten Menschen, die in dieses Land kamen und es besiedelten. Bewacht wurden ihre Tempel von den Drachen...

Sei Jahrtausenden betrat niemand mehr diese Tempel. Dort streiften böse Geister umher, die Geister der Drachen. Ihren einstigen Wächtern.

Es missfiel ihm, dass die Wächterin dort hinauf stieg und es war ihm unheimlich. Er scheute sich davor, ihr zu folgen, aber er tat es dennoch. Leise, beinahe lautlos schlug er die Richtung des Pfades ein und erklomm ihn unter großer Mühe. Da seit Jahren niemand mehr diesen Pfad benutzt hatte, war er verwildert und kaum zu besteigen. Er tat es dennoch.

Es dauerte bestimmt eine halbe Stunde, bevor er den ersten Tempel erreichte. Eine seltsame Aura ging von diesem Ort aus, bedrückend und unheimlich. Der Wind biss einem in die Haut und durchpustete die Kleidung, bis man seine Krallen auf der blanken Haut spürte. Thorik legte die Hand auf den Knauf seiner Waffe und blickte sich zwischen den dunklen Ruinen um. Statuen höher als ein Riese ragten in den Himmel auf, zeigten Abbilder der einstigen Tempelwächter, den Drachen. Steinernde Klauen und Zähne ragten ihm entgegen, schienen nach ihm schnappen zu wollen. Der dunkle Stein war mit Frost und Schnee überzogen, verbarg einige der Statuen.

»Wächterin?«, flüsterte gedämpft, um die merkwürdig bedrückende Stille dieses toten Ortes nicht zu stören.

Doch ihm antwortete nur das Heulen des Windes, der ihm Schnee und Eis ins Gesicht peitschte.

Suchend wanderte Thorik zwischen zwei hohen Steinsäulen herum und blickte herum. »Wächterin!«

Erneutes Heulen.

»Muriel!«, rief er nun lauter und näherte sich dem Eingang des Tempels.

Die mächtigen Steintore waren teilweise zerstört, überall lagen Trümmer herum, als hätte irgendetwas dieses mächtige Bauwerk angegriffen. Als er an einem der Trümmer vorbei ins Innere blickte, erhaschte er einen Blick auf die Silhouette der Wächterin. Sie kniete vor einem steinernden Altar, bedeckt nur mit ihrem dünnen Wächterinnengewand, das einen Großteil ihrer Haut entblößte.

»Muriel«, zischte er leise und trat nervös ins Innere, durchquerte die mächtige Halle. Die gewaltige Decke wurden von Steinsäulen getragen, die breiter waren als sein Zelt, an jeder der Säulen schlängelte sich eine Drachenstatue entlang, sodass es so aussah, als würden sie die Säulen empor kriechen, ihre Schwingen waren ausgebreitet und ließen dieses Schaubild noch imposanter wirken. Auf dem Boden lagen Trümmer und Steine in verschiedenen Größen verstreut, ließen ihn noch unsicherer werden. Die Luft in dieser Halle war wärmer und stiller, während das Heulen des draußen tobenden Sturmes zu ihnen herein wehte.

Er blieb vor den Stufen stehen, die zu dem Altar hinaufführten.

Die Wächterin saß reglos da, bloß auf den blanken Knien auf dem harten Steinboden, das Gewand floss an ihren Seiten herab, wie Wasserfälle. Ihr kurzes Haar stand in kleinen Büscheln von ihrem Kopf ab, ihr schlanker Nacken lag frei, zeichnete sanfte Linien auf ihre Haut. Er konnte erkennen, dass ihr kalt war, denn auf ihrer Haut hatte sich eine Gänsehaut gebildet. Und ihre Hände hingen in der Luft, die Handflächen hatte sie gen Himmel gestreckt.

»Muriel?«, flüsterte er leise, als er direkt hinter ihr stand.

Kurz fuhr sie zusammen, dann senkten sich ihre Arme langsam und sie legte die Handflächen auf ihre Oberschenkel, öffnete ruckartig die Augen, die golden schimmerten, ehe sie ihre gewohnte braune Farbe zurückerlangten. Sie atmete ein.

»Ihr sucht nach Antworten«, sagte sie leise.

Er war erleichtert, dass es ihr gut ging. »Einer der Wachposten sagte, Ihr wärt zu den Tempeln hinauf gegangen. Was sucht Ihr hier, Wächterin?«

Sie überging seine Frage ganz einfach. »Wart Ihr schon einmal hier, Chief?«

»Nein«, gestand Thorik und versuchte seiner Stimme wieder Stärke zu geben, aber es gelang ihm nicht. Dieser Ort war beunruhigend und strahlte etwas seltsames aus. Als würden die Geister mächtiger Kreaturen und zorniger Seelen noch immer zwischen den Ruinen umher streifen. Er hatte das Gefühl, er störe ihre Totenruhe.

Muriel drehte kurz den Kopf zum und ihre Blicke kreuzten sich kurzzeitig, bevor ihre kühlen und beherrschten Augen wieder den Altar musterten. »Ich schon.«

Unschlüssig blickte Thorik die Wächterin an. Wie immer sprach sie in Rätseln zu ihm und er musste sich eingestehen, dass er nicht immer ihre Beweggründe verstehen konnte, vermutlich, weil sie der Magie immer so nahe sein würde, wie er in seinem ganzen Leben nicht. Dennoch faszinierte diese Frau ihn ungemein. Vielleicht war es auch nur das körperliche Verlangen, denn eigentlich kannte er Muriel nur von Kindertagen her. Er wusste, dass sie damals nicht gerne mit Puppen gespielt hatte und sich nicht wie die anderen Mädchen das Haar geflochten hatte, sondern lieber mit den Jungs im Matsch gespielt hatte. Sie war Waise gewesen und hatte bei der Medizinfrau gelebt, die sich mit Kräutern ausgekannt hatte. Mit acht Jahren hatte sie gewusst, wie man eine Fleischwunde nähte, mit zwölf hatte sie ihr erstes zertrümmertes Bein geschiehnt. Doch das war lange her. Inzwischen war sie eine Frau, hatte die Kräfte der alten Wächterin erlangt und stand ab da mit den Geistern der Ahnen seines Volkes in Kontakt.

»Die Wächterin brachte mich nach meiner Zeremonie hierher.«, flüsterte Muriel und ihre Stimme hatte einen seltsamen Ausdruck, als gehörte sie nicht mehr zu ihr. »Damals verlor ich meine Unschuld, als ich hier auf diesem Altar bei den Geistern unserer Ahnen lag, um einen Teil ihrer Macht kosten zu können.«

Thorik schluckte schwer und er spürte schwer, wie die Flüssigkeit seinen Rachen hinunter sickerte. Was meinte sie damit?

»Schon damals spürte ich eine Macht«, hauchte Muriel kaum hörbar und hob eine Hand. Sie zitterte leicht. »Es war nicht die natürliche Macht, die von diesem Ort ausging. Es fühlte sich an..., als würde etwas in diesem Boden schlummern. Eine Macht, die niemand zu bändigen vermag.«

»Was meint Ihr damit?«

Die Wächterin blinzelte benommen und stand elegant wie eine Echse auf, stand nun vor dem Altar, in den altertümliche Runen eingeritzt worden waren. Darauf klebten Kerzen, die wohl schon vor vielen Jahren herunter gebrannt worden waren und den Altar mit dem Wachs übergossen hatten. Frost kräuselte sich an einer Seite des Steinaltars hinauf.

»Heute Abend spürte ich die gleiche Macht.«, sagte Muriel und umrundete den Altar. »Sie ist erwacht.«

Thorik trat näher an den Altar und versuchte ihren Blick einzufangen. »Ihr habt von einem Drachen gesprochen.«, sagte er. »Und von kämpfenden Wölfen, einem Krieg. Was hat das zu bedeuten?«

Muriel senkte den Blick. »Es war eine uralte Prophezeiung.«, antwortete sie ihm.

»Und, wer ist ›die eine‹?«, fuhr Thorik vor.

»Die Eine vom Blut des Feuers. Die Löwin, dessen Brüllen unsere Welt in Licht oder Finsternis tauchen wird. Die Eine, für die sich zwei Männer, Wolf gegen Wolf, bekriegen werden. Das Kind des Alten Blutes.«

Thorik kroch die Kälte unter die Kleidung, ließ ihn frösteln bei Muriels unheilvollen Worten. Es klang, wie eine jahrelang vorhandene Prophezeiung, die gewartet hatte, sich zu erfüllen. Und ihm war nicht wohl dabei, daran zu denken, was ihnen vermutlich allen bevorstand. Eine Macht, die in der Erde dieses Ortes schlummerte und an diesem Abend erwacht war, genau in jenem Moment, als Muriel die Vision eines Krieges gehabt hatte, der dieses Land vielleicht in ewige Finsternis tauchen könnte.

»Also wird unsere Welt bald untergehen?«, fragte Thorik besorgt.

Muriel hob den Kopf und betrachtete ihn mit ihren andersartigen Augen. »Das habe ich nicht gesagt, Chief.«

»Was wollt Ihr mir dann sagen?«, knurrte Thorik aufgebracht und trat auf sie zu, packte ihre schlanken Arme, um sie festzuhalten. »Sprecht nicht in Rätseln zu mir, Wächterin. Ihr wart einst auch eine Frau, wie jede andere. Sagt mir, was meint Ihr damit?«

Sie starrte ihn einen Moment lang an, als könne sie nicht fassen, dass er es wagte, sie anzurühren. »Beherrscht Euch, Chief.«, zischte sie bedrohlich.

Langsam ließ er seine Hände an ihren Armen herab gleiten, bis er ihre Hände zu fassen bekam. Ungewollt spürte er das Verlangen in sich aufkochen. Zum ersten Mal, seit er denken konnte, war er alleine mit der Wächterin. Ansonsten umschwirrten sie beide immer wieder die Bewohner des Lagers und selbst, wenn sie in ihrem Zelt waren, waren sie nicht alleine.

Muriel schluckte kurz, als spürte sie dasselbe, dann befreite sie sich aus seinem Griff und ging an ihm vorbei, umrundete den Altar erneut.

»Geht unsere Welt nun unter?«, flüsterte Thorik kaum hörbar.

Sie hob die Augenlider. »Sagen wir mal, dass die Welt, wie wir sie kennen, sich für immer verändern wird. Und kein König wird das verhindern können.«

Thorik nickte leicht, dann fuhr er sich durch das lange braune Haar, das ihm beinahe bis auf die Schultern fiel. Noch immer beschäftigte ihn die Tatsache, dass sie beide alleine waren und Muriel schien das zu spüren. Sie senkte den Blick und seufzte leise.

»Tut das nicht, Thorik.«

Er erstarrte, denn sie hatte zum ersten Mal seit Jahren seinen Namen ausgesprochen. »Was meint Ihr?«

Sie blickte ihm unverwandt in die Augen. »Haltet mich nicht für eine Närrin. Ich weiß um Eure Gefühle für mich, Chief. Ich wusste es schon immer.«

Betreten blickte er sich in dem unheimlichen Tempel um, schwieg aber, denn er leugnete seine Gefühle nicht. Nicht länger konnte er das Verlangen verdrängen, das er in sich spürte, seit aus ihr eine Frau geworden war und aus ihm ein Mann. Aber woher wusste sie davon? Wie hatte sie es gemerkt? Er hatte so verbissen darauf geachtet, dass niemand etwas bemerken würde. Doch Muriel schien es nicht entgangen zu sein... genau wie seiner Frau.

»Ihr solltet Euch das aus dem Kopf schlagen.«

Er trat auf sie zu. »Warum?«

Sie drehte den Kopf zu ihm. »Ihr wisst, warum.«, wisperte sie.

»Weil Ihr den Geistern gehört?«, wollte er tollkühn wissen, wobei seine Stimme überraschenderweise nicht zitterte.

Muriel schüttelte den Kopf. »Nicht nur deswegen.«, murmelte sie. »Es gibt Dinge, die ihr nicht verstehen würdet, wenn ich sie Euch sage.«

»Klärt mich auf und ich mache mir ein eigenes Bild.«

»Es ist nicht nur, dass es verboten ist, weil ich den Geistern gehöre, Thorik.«, erklärte sie und ihr kühler Blick nahm so etwas wie Mitgefühl an. »Es ist verboten, weil... mit dem Ritual, in dem die jungen Wächterinnen ihre Macht erlangen, stirbt ein Teil von uns. Versteht Ihr nicht? Wir haben keine Männer, dürfen nicht lieben, weil wir es nicht mehr können. Jedes Gefühl weicht aus uns, wie das Leben aus einem Sterbenden.«

Für einen Moment war Thorik wie betäubt und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Nein. Das hatte er gewiss nicht gewusst. Nie hätte er ahnen können, was einer Wächterin tatsächlich angetan wurde mit dem Ritual. Dass es ihnen die Fähigkeit zu Fühlen raubte. Dabei war doch die Liebe alles, was in dieser Zeit zählte. Nichts anderes machte Sinn. Männer töteten nur, um eine Frau zu beschützen. Könige führten Kriege aus Liebe zu ihrem Land, zu ihren Familien, ihren Kindern. Frauen opferten sich, um ihre Kinder zu verteidigen. Aus Liebe.

Entschlossen trat Thorik auf sie zu und packte ihre nackte Taille, presste sie an seinen starken Körper. »Ihr könnt mir nicht sagen, dass Ihr hierbei nichts fühlt.«, raunte er und presste kurz entschlossen seinen Mund auf ihre vollen Lippen.

Sie fuhr in seiner Umarmung zusammen, ihre Hände stemmten sich gegen seine muskulöse, breite Brust und ihr Körper spannte sich in seinem Griff. Ihr Herz wummerte so laut, dass er es hören konnte. Ihr Mund war zu einer dünnen Linie zusammen gepresst, doch er zwang sie mit seiner Zunge auf und ihr Körper lockerte sich etwas. Ihrer Kehle entrang sich ein leises Wimmern.

Er wanderte von ihrem Mund zu ihrem schlanken Hals und Muriel legte den Kopf in den Nacken, um ihm seine Erkundung zu erleichtern. Er nutzte es regelrecht aus, wie sie in seinen Armen dahinschmolz, sich fallen ließ und aller Vernunft abdankte. In seinen Kopf schlich sich kurzzeitig der Gedanke, dass dort unten im Zelt seine Frau auf ihn wartete, aber dann dachte er wieder an das hier und jetzt. Zum ersten Mal konnte er mit der Frau zusammen zu sein, die er wollte. Die Frau, die ihn schon immer fasziniert war und der es verboten war, zu lieben. Jetzt wollte er ihr zeigen, dass es auch anders sein konnte. Und, wenn er dafür die jahrtausende alte Tradition brechen musste, in der die Wächterinnen unbefleckt gewesen waren.

Langsam ließ er sich vor ihr auf die Knie fallen, packte ihre Hüften und zerrte den Rock ihres Gewandes hinauf, bevor er sein Gesicht zwischen ihre Schenkel presste. Muriel keuchte laut auf und das Geräusch hallte in dieser gewaltigen Halle wieder. Ihre Hände hatten sich in seinem Haar vergraben.

»Was... was ist mit Eurer Frau?«, flüsterte sie mit zittriger Stimme.

Er packte ihre linke Pobacke mit seiner Hand und presste sie ihm entgegen, umschloss sie mit den Lippen und ließ sie erneut aufkeuchen. Ihre Frage wollte er nicht beantworten, denn er wusste selbst nicht so genau, wie es nun weitergehen sollte. Vor allem aber ängstigte ihn der Gedanke an die Zukunft. Wer wusste schon, was passieren würde? Die Prophezeiung sagte ganz klar, dass ein Krieg entbrennen würde, in dem zwei Männer eine Rolle spielen würden und die Eine war die Schlüsselfigur in diesem Krieg. Eine Löwin, eine Tochter des Feuers. Wer wusste schon, was die nächsten Monate bringen würden? Vielleicht würde dieser Krieg nicht nur die nordischen Königreiche treffen, sondern auch sein Volk in den Bergen. Vielleicht überlebte es niemand von ihnen. Und so wollte er wenigstens eine Nacht mit der Wächterin verbringen, bevor sie vielleicht beide tot waren.

Noch intensiver verwöhnte er sie.

Muriel winselte leise, ihre Beine zitterten, als hätte sie etwas ähnliches noch nie gespürt.

Es dauerte nicht lange bis sie beide bereit füreinander waren und Thorik sie auf den Altar setzte, ihre Röcke herunter riss und seine Hose öffnete. Muriel biss sich auf die Unterlippe, berührte sein Gesicht und zog es zu sich, küsste ihn zum ersten Mal von sich aus, als würde sie doch noch etwas spüren. Und wenn es nur ein Restgefühl war. Er sprang sofort darauf an, erwiderte ihren leidenschaftlichen Kuss, drängte sich zwischen ihre gespreizten Beine und presste sich an sie. Sie seufzte an seinen Lippen auf, ließ sich von ihm auf den Altar drücken, sodass der harte kalte Stein an ihrem Rücken lag.

Als er sich mit ihr vereinte, stöhnte sie vor Schmerz und Wolllust gleichermaßen auf. Blut befleckte sie, den Stein unter ihr und Thorik erschütterte ihren zarten, unschuldigen Körper mit harten Stößen. Er geriet regelrecht in einen Rausch, so beflügelt war er von dem Gefühl, endlich mit Muriel eins zu sein. Sie wimmerte unter ihm, ihre Finger waren in seine Schultern verkrallt, ihre Nägel pressten sich in sein Fleisch. Er biss die Kiefer zusammen vor Verlangen und gemeinsam füllten sie diese Hallen mit obszönen Geräuschen, ihr Keuchen und Stöhnen hallte von den steinernden Wänden wieder, prallte an den Statuen ab.

Auf einmal fuhr ein Ruck durch Thoriks Körper und er ergoss seinen Samen heiß und ruckartig in ihren Körper.

Muriel keuchte erschrocken auf und ihre Hände pressten sich auf die Steinplatte unter ihr. Und plötzlich begannen ihre Augen zu leuchten wie Sterne. Sie stöhnte auf und ihr Gesicht verzerrte sich so plötzlich, dass Thorik die Luft wegblieb. Der Boden begann unter seinen Füßen zu beben und der Wind fegte jaulend durch die Halle. Im nächsten Moment schrie Muriel auf, als würde sie unglaubliche Schmerzen erleiden und ihr Körper krümmte sich empor, ihr Rücken bildete ein Hohlkreuz.

Blitzartig packten ihre Hände ihn mit ungeheurer Kraft und schleuderten ihn herum, warfen ihn mit dem Rücken auf den steinernden Altar. Sie hockte sich über ihn und er stöhnte vor Schmerz auf, da er hart mit dem Kopf aufgetroffen war. Ihre kalten, sternenweißen Augen blickten auf ihn herunter.

»Muriel, was...?«

»Blut vergossen an einem heiligen Ort. Der Schwur gebrochen. Unschuld geraubt. Ihre Seele gehört nun uns und wir sind frei. Die Macht des Todes ist befreit.«, raunte eine seltsame Stimme durch Muriels Mund.

Thorik riss die Augen auf und starrte sie an, seine Hände packten ihre Hüfte, um sie von sich zu stoßen. Aber Muriels Körper war stärker, als er jemals geahnt hätte, denn sie packten seine Handgelenke und pressten sie über seinem Kopf in den Stein, sodass seine Knochen nachgaben. Thorik stöhnte vor Schmerz. Die Lust und das Verlangen waren längst verflogen.

Was war nur mit ihr?!

Ihre rechte Hand wanderte an den Bund seiner Hose und zogen den versteckten Dolch hervor. »Ich bin die Königin des Alten Blutes, die einzig wahre Herrscherin über dieses Land. Meine Kinder sind Feuer, Eis, Luft und Erde. Fenral, Kartan und Woberok werden untergehen und eine neue Welt wird entstehen. Aber um das zu erreichen, brauche ich mehr als diesen kleinen schwachen Körper, deiner Geliebten, junger Chief. Ich brauche Blut für meine Armee!«

Thorik starrte sie an.

Das war nicht Muriel! Das war ein Dämon in ihrem Körper! Dadurch heraufbeschworen, dass er Muriels Unschuld geraubt hatte! An einem heiligen Ort, an dem die Toten noch immer tanzten. Wie war es möglich, dass sich eine vergangene Königin in Muriels Körper eingenistet hatte?

Mit aller Kraft stemmte er sich hoch und legte eine Hand an ihre schmale Wange, blickte ihr in die weißen Augen. »Muriel... kämpfe gegen sie an! Wenn du da noch drin bist, bleib bei mir!«

Kurzzeitig flackerte ein seltsamer Ausdruck in ihrem schönen Gesicht auf, doch dann wurde ihr Ausdruck wieder kalt und ihre Hand schoss hervor. Thorik keuchte erschrocken auf und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen auf. Warmes Blut strömte ihm über den Körper, schoss seine Kehle hinauf und floss ihm aus den Mundwinkeln den Hals hinunter. Er hustete und glaubte an seinem eigenen Blut zu ersticken. Alle Gedanken lösten sich in Luft auf, bis auf einen. Seine Sorge um Muriel, die ihm gerade seinen Dolch in die Brust gerammt hatte.

Sie drückte ihn an der Schulter zurück, sodass er mit dem Rücken auf dem Steinaltar lag, dann rammte sie den Dolch tiefer in ihn hinein, sodass seine Spitze in der Steinplatte unter ihm steckte. Er keuchte auf vor Schmerz und spuckte Blut. Er spürte, wie das Leben aus ihm wich, als Muriels Körper von ihm herunter stieg und an die Seite des Altars trat. Ihre Augen hörten auf so fremdartig zu leuchten und blitzten ihn nun golden an, als sie sein Gesicht beinahe zärtlich zu ihr herum drehte.

Ihre Lippen formten ein kaltes Lächeln. »Keine Sorge, mein Hübscher. Ich passe auf deine kleine Blume auf, wenn du tot bist.«, säuselte sie ihm ins Ohr. »Und übrigens... Danke, dass du sie gevögelt hast. Hätte sie ihren Schwur gegenüber den Göttern nicht gebrochen für ihr Verlangen zu dir, das sie... oh schon seit Jahren hegte, hätte ich niemals ihren Körper in Besitz nehmen können.«

Thorik wollte protestieren, doch er bekam kaum ein Wort heraus, so sehr überschwemmte das Blut seinen Rachen. »Wie...?«

»Es ist ein uralter Pakt zwischen den Göttern und den Sterblichen. Eine Wächterin darf sich niemals hingeben... und, wenn doch, dann ist es an mir, sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Nur so konnte ich Besitz von ihr ergreifen und nun gehört ihr Körper mir, junger Chief... Seltsam, beinahe könnte mich Euer Schicksal berühren, nachdem, was ich alles in ihren Gedanken lesen kann. Aber Gefühle machen schwach und ich brauche Stärke. Und nun stirb, damit meine Armee erwachen kann!«

So gerne er sie erwürgen wollte, er war bereits zu schwach. Und dann wich das Leben endgültig aus ihm. Seine Augen weiteten sich und sein Herz tat seinen letzten Schlag. Er hörte auf zu atmen und er dachte mit dem letzten Atemzug nicht an seine Frau, sondern an seine Geliebte, die ihn gerade umgebracht hatte, weil ein Dämon sie kontrollierte.

Sie beobachtete, wie sein Kopf zur Seite kippte und sich seine Glieder entspannten.

In ihr schrie das Mädchen, dessen Körper sie gefangen hielt vor Schmerz auf, als sie durch ihre Augen mit ansah wie ihr Geliebter auch den letzten Rest Leben aushauchte. Es hätte ihr vielleicht leid getan, hätte sie noch ein Herz gehabt, aber das war schon vor langer Zeit gebrochen und hatte jegliche Gefühle für immer aus ihrer Seele verbannt.

Mit Zufriedenheit spürte sie, wie die Erde erneut begann zu beben und der Steinboden in der ganzen Halle begann zu knacken und knirschen. Schließlich begannen die Platten zu bersten und knochige, mit verrotteten Sehnen und Fleisch besetzten Hände ragten in die Höhe, zogen sich über die Erde, um halb verweste Körper zum Vorschein zu bringen.

Auf ihren vollen Lippen bildete sich ein kaltes Lächeln.

Sie war gerüstet für die Schlacht, die kommen würde.

Ob es die Löwin auch war?

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Wenn du den Wolf heulen hörst, dann lauf.

Sein Rudel ist nicht weit.

Und sie sind immer hungrig.

 

Leitfaden der großen Häuser des Kaiserlandes, Woberok

Kapitel 1

 

Der Wind fegte über das Land, ließ die Bäume erzittern, riss am trockenen Gras, das aus der dichten Schneedecke ragte, wirbelte Flocken auf und schien etwas zu flüstern. Ein lautloses Wispern, eine Warnung... eine Prophezeiung. Stille hatte sich über das Land gelegt, die einzigen Geräusche machten die drei Männer, die dort bei ihren Pferden saßen und sich ihr Mahl schmecken ließen. Erneut frischte der Wind auf, doch der aufwirbelnde Schnee traf nicht sie, sondern mich mitten ins Gesicht, sodass ich husten musste.

Wie benommen rieb ich mir mit meinen gefesselten Händen über das Gesicht, um den eisigen Schnee wegzuwischen. Dabei unterdrückte ich die Schmerzenslaute, denn ich hatte vergessen, wie fest das spröde, faserige Seil meine Handgelenke einschnürte. Schon seit Tagen hatten sie es mir nicht abgenommen, sodass es sich tief in mein Fleisch gegraben hatte und meine ständig aufgeriebenen Gelenke brannten und schmerzten. Verzweifelt ließ ich die Hände in meinen Schoß sinken und atmete schwer ein und aus, um an etwas anderes zu denken, als die Kälte, die unter meine löchrigen Kleider kroch.

Ich hob den Kopf und warf einen Blick zu ihnen hinüber.

Dort saß er, lachend und völlig zufrieden. Sein Körper war eingehüllt in einen dicken, dunkelbraunen Wams, um seine Schultern war ein warmer Umhang geschlungen und an seiner Seite steckte sein Schwert in der Scheide, welche an seinem Gürtel befestigt war. Die silberne Schnalle seines Gürtels war geschmückt mit einer Bärenabbildung. Dem Wappentier Fenrals. Neben ihm saßen zwei weitere Männer, einen von ihnen kannte ich. Der junge Krieger hatte den Trupp begleitet, der mich vor einem halben Jahr ins nördlichste Königreich Woberok geleitet hatte. Er besaß eine Fischhakentätowierung im Gesicht, direkt unter seinem rechten Auge. Der andere sah unscheinbar aus und wirkte grimmig. Sein markantes Gesicht wirkte hart, sogar härter als das ihres Anführers, doch nicht so irre und wahnsinnig.

Langsam schloss ich die Augen und mir schoss wieder der Moment durch den Kopf, als Malik, der sich in Woberok als Soldat namens Gerald ausgegeben hatte, in meinen Ehegemächern aufgetaucht war. Sofort hatte ich gespürt, dass etwas nicht stimmte. Beinahe hatte ich die Gefahr gerochen, die von ihm ausgegangen war. Irgendetwas hatte nicht gestimmt und ich hatte es beinahe am Körper gespürt, dass er nichts gutes im Sinne hatte. Und dann war er auf mich losgegangen und die Welt um mich herum war schwarz geworden.

Ich biss mir auf die Unterlippe, als ich wieder das Pochen meines gebrochenen Handgelenkes spürte, das er mir in unserem wilden Gerangel zerquetscht hatte. Dafür besaß er jetzt eine schöne Narbe im Gesicht, die ich ihm mit meinem Dolch zugefügt hatte. Diese Narbe würde sein Gesicht sein Leben lang zeichnen und das verschaffte mir so etwas wie Genugtuung, dafür, dass sie mich nun schon seit Wochen durch die Gegend schleppten, mich behandelten wie Dreck, mich hungern und frieren ließen... und mich schlugen. Jedenfalls machte Malik keinen Hehl daraus, dass er es genoss, mir Ohrfeigen zu geben. Die anderen beiden rührten mich zwar nicht an, aber Malik tat es gerne.

Sehnsüchtig blickte ich zurück zum Feuer, wo die drei auf ihren Sätteln saßen, sich ein dickes Rebhuhn teilten, das der große Stille am Vormittag geschossen hatte. Es duftete unglaublich gut und mir lief das Wasser im Munde zusammen. Ich wusste schon gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal etwas gegessen hatte. Es musste mindestens drei Tage her sein und, wenn ich überhaupt etwas bekam, dann waren es ihre Reste, die sie selbst nicht mehr wollten. Dementsprechend war es nicht besonders magenfüllend.

Mein Bauch knurrte schon gar nicht mehr, sondern schmerzte nur noch vor Hunger und mir war andauernd übel. Ich fühlte mich so schwach, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Ich war abgemagert und wahrscheinlich kaum noch zu erkennen für Außenstehende. Mein Haar war strähnig und verfilzt, meine Wangen eingefallen, mein Körper war mit blauen Flecken übersät und an meiner Lippe befand sich eine blutige Wunde.

Müde schloss ich die Augen.

Ich musste mich beherrschen, nicht in Tränen auszubrechen, denn jedes Mal, wenn ich die Augen zu machte, sah ich ihn...

Regan.

Meinen Ehemann.

Ich wusste immer noch nicht, ob ich ihn hassen oder lieben sollte. Er war derjenige, der mich in unseren Ehegemächern eingeschlossen und damit mein Schicksal besiegelt hatte. Mir war noch scharf im Gedächtnis, wie ich bei meinem Kampf mit Malik gegen die Tür gehämmert hatte und seinen Namen geschrien hatte, in der Hoffnung, dass er kommen und mich retten würde. Aber Regan war nicht aufgetaucht. Und auch jetzt, Wochen später tauchte er nicht auf...

Auf einmal regte sich Malik und stand auf, kam zu mir, in seiner rechten Hand hielt er ein Stück von dem Rebhuhn. Sein Gesicht wirkte grotesk mit der noch leicht geröteten Narbe, die ihm einmal quer über das Gesicht verlief. Sie teilte sein Gesicht von der rechten Schläfe bis zum linken Unterkiefer. Obwohl sein Anblick mich jedes Mal mit Schadenfreude erfüllte, fürchtete ich mich vor ihm. Seit Wochen tat er mir weh, folterte mich regelrecht, indem er mich hungern ließ und mir keinerlei Kleidung besorgte, die mich in den kalten Winternächten wärmte. Ich hatte noch nie solche Angst vor einem Menschen gehabt, wie vor ihm. Man konnte niemals voraus sehen, was er tun würde.

Er blieb vor mir stehen und legte den Kopf schief, wie ein Adler, der ein Kaninchen betrachtete, das in die Enge getrieben worden war. »Woran denkst du, kleine Prinzessin?«, fragte er mich mit samtweicher Stimme, bevor er von dem Rebhuhn abbiss und das Stück genüsslich kaute.

Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und ich spürte eine Spur Speichel an meinem Kinn herunter fließen.

Malik hob eine Augenbraue und seine grünen Augen funkelten mich mit einer ausreichenden Spur Wahnsinn an.

Ich erwiderte seinen Blick hasserfüllt, dann drehte ich den Kopf zur Seite und schnaubte.

Plötzlich schoss Maliks Hand hervor und packte grob mein Kinn, um mein Gesicht zu sich herum zu drehen. »Du wendest deinen Blick erst ab, wenn ich es dir gestatte.«

Mein Herz wummerte mir in der Brust, während ich ihm in die Augen sah. Sie hatten beinahe dieselbe Farbe, wie meine eigenen Augen, doch in seinen funkelten noch die goldenen Sprenkel, die seinen Blick sehr intensiv wirken ließen. Man konnte seinem Blick kaum ausweichen und wäre er nicht so ein Scheusal könnte man ihn durchaus als attraktiv empfinden. Der der Irrsinn in seinen Augen ließen die Alarmglocken in meinem Kopf leuten. Er war gefährlich und sich dessen auch bewusst.

»Malik? Du wolltest mir doch mit Belors Huf helfen, weißt du noch?«, unterbrach ihn der Mann mit der Fischhakentätowierung.

Malik biss wütend die Kiefer aufeinander, taxierte mich noch mehr mit seinem Blick und ich wusste, dass er versuchte, mich einzuschüchtern.

Ich hielt seinem Blick stand.

»Malik«, fuhr der Mann fort. »Komm, lass sie. Sie kann nicht weg und das weiß sie. Sie wird keine Dummheiten machen.«

»Das will ich hoffen, Rodrig«, knurrte Malik und ließ mein Gesicht ruckartig los, richtete sich auf und warf den Rest des Rebhuhnflügels neben mir ins trockene Gras, bevor er sich an seinen Kameraden wandte. »Ansonsten kannst du was erleben. Ab jetzt bist du für sie verantwortlich.«

Der Angesprochene stand da, das Kinn gereckt und blickte erst Malik, dann mich an. Seine meerblauen Augen musterten mich von Kopf bis Fuß und für kurze Zeit glaubte ich, so etwas wie Mitleid in seinen Augen aufflackern zu sehen. Sein kurz geschorenes Haar, das die Farbe von dunklem Braun hatte, glänzte im fahlen Licht des Tages.

Malik ging an ihm vorbei, aber nicht, ohne ihn mit der Schulter anzustoßen.

Finster starrte ihm Rodrig hinterher, bevor er mir noch einen letzten Blick zuwarf und Malik anschließend zu den Pferden folgte, die in einiger Entfernung an einem umgestürzten Baumstamm angebunden waren.

 

Schweigend zog unser kleiner Trupp durch dieses öde Land. Wir hatten die Grenzen Woberoks schon vor einer Woche hinter uns gelassen, hatten einen kleinen Pass durch die Berge genommen. Die Gipfel der schwarzen Berge waren von dunklem Gestein besetzt gewesen, woher wohl auch der Name dieses Gebirges her stammte. Rodrig hatte mir in einem Anflug von Redseligkeit erklärt, dass diese Gipfel einst vom Atem eines gewaltigen Drachen versengt worden waren und deshalb schwarz und verkohlt war und sich die dunkle Farbe wohl erst in mehreren tausend Jahren abwaschen würde. Dies war zu der Zeit vor der Ausrottung der Drachen gewesen.

Nun durchquerten wir das Ödland zwischen den Grenzen Fenrals und Kartans. Eine schier endlos weite Tundragegend, ohne Bäume oder Büsche. Vor uns breitete sich nur ein karges Flachland mit vereinzelt vereisten und verschneiten Flächen und Grasbüscheln von trockenem Tundragras. Um uns herum ragten spitze Felsbrocken in die Höhe und der nächste Wald war mehrere Meilen entfernt. Bald würden wir Fenrals Grenzen passieren und dann würde ich vollständig in den Klauen des Feindes sein.

Und dabei wusste ich nicht einmal, was sie von mir wollten.

Als Malik mich entführt hatte, hatte er mir jediglich gesagt, dass das Ablenkungsmanöver, indem er das Gerücht verbreiten ließ, ein Attentäter wäre in Woberok unterwegs, nur für mich bestimmt war. Um besser an mich heran kommen zu können, denn er hatte gewusst, dass Regan losziehen würde, um den besagten Attentäter, den es niemals gegeben hatte, zu jagen. Er hatte gewusst, dass Regan seine Familie um alles in der Welt beschützen würde. Dabei hatte Regan mich in unseren Ehegemächern eingeschlossen und mein Schicksal war besiegelt gewesen. Wäre die Tür nicht abgeschlossen gewesen, hätte ich fliehen können, bevor mich Malik mit dem Tuch betäubt hatte, sodass ich zusammen gesackt war.

Der Gedanke an mein letztes Gespräch mit Regan schmerzte.

Wir hatten uns angeschrien.

Ich drehte den Kopf herum und betrachtete gedankenverloren die Landschaft, die langsam an uns vorbei zog. Ich saß auf dem hohen schlanken Jagdpferd, auf das mich Malik schon zu Anfang dieser Reise gesetzt hatte, denn in den ersten Tagen waren wir die Wege entlang gejagt. Wahrscheinlich waren uns die Wachmänner Woberoks und die Männer meines Mannes dicht auf den Fersen gewesen, aber seit wenigen Tagen gingen wir nur noch in einem gemächlichen Schritt. Vermutlich fühlten sie sich nun sicher.

Vieleicht wussten sie aber auch, dass die Woberoker sie nicht mehr verfolgten und ich war die Einzige, die hier noch hoffte.

Gegen Mittag machten wir an einer kleinen Wasserstelle Halt. Felsbrocken boten uns Schutz vor dem heulenden Wind, als Malik die Gruppe anhielt und von seinem Pferd herunter stieg. Er übergab seinen dunkelbraunen Hengst dem schweigsamen Hühnen, der die Pferde zum Wasser führte, damit sie trinken konnten. Dann kam er zu meinem Pferd und packte die Zügel, die die ganze Zeit über, an Rodrigs Sattel festgebunden waren und löste sie, um meine Stute unter Kontrolle zu halten.

»Runter da«, fuhr er mich finster an.

Ich funkelte ihn wütend an. »Soll ich mich vom Pferd stürzen, oder was?«

»Mir ist es gleich, wie Ihr das anstellt, Prinzessin.« Er packte meine Handgelenke grob.

Ich schrie vor Schmerz auf, er zerrte mich dann brutal von dem Pferd herunter, sodass meine Beine schmerzhaft über den Boden scheuerten. Er ließ mich los und so fiel ich seitlich in den Schnee und atmete angestrengt, um den Schmerz auszuhalten, der von meinen aufgescheuerten Handgelenken durch meinen ganzen Körper jagte. Ich spürte, wie Blut in die fransigen Seile sickerte. Wimmernd krümmte ich mich zusammen.

»Malik«, rief Rodrig und versuchte sein aufgescheuchtes Ross zu beruhigen, damit er sicher absteigen konnte.

Offenbar hatte er nichts von Maliks Vorhaben gewusst, denn er schien genauso entsetzt darüber zu sein, wie ich. Als er endlich seine Stute unter Kontrolle brachte, stieg er heftig ab, sodass sein Haar im Wind wehte, das er zu einem strubbeligen Zopf zusammen gefasst hatte. Er kam näher, aber hütete sich davor, Malik ins Handwerk zu pfuschen.

Dieser packte mich an einem meiner Oberarme und zerrte mich hoch.

Ich quietschte, denn sein kräftiger Griff drückte sich direkt auf einige der verblassenden blauen Flecke und ich konnte mich vor Hunger kaum gerade auf den Beinen halten. Doch er zwang mich dazu und schubste mich dann in Rodrigs Arme. Er fing mich auf, drückte mich jedoch ein Stück von sich weg. Sein Blick lag finster auf Malik, der mich noch immer mit einem irren Funkeln in den Augen anblickte.

»Leg ihr neue Fesseln an und gib ihr was zu essen.«, schnaubte Malik.

Rodrigs Griff wurde etwas fester an meinen Armen, dann nickte er und zerrte mich zu einem Felsen hinüber.

Malik kümmerte sich derweil mit dem großen Schweigsamen um die Pferde.

Ich stolperte neben Rodrig her, bis er mich an der Schulter herunter in das verschneite Gras drückte. Er kniete sich vor mich und packte grob meine Handgelenke. Als ich vor Schmerz wimmerte, lockerte er den Griff. Kurz streifte mich sein Blick, dann richtete er den Blick wieder auf meine Hände, um das Seil zu lösen.

»Ihr spielt mit dem Feuer, Prinzessin«, raunte er leise.

Ich schwieg, starrte nur verbittert auf meine Hände, die er von dem Seil los machte. Als das Seil endlich weg war, atmete ich erleichtert auf. Dunkelrote Ringe befanden sich direkt an den Ansätzen meiner Hände. Sie waren blutig und die Haut war aufgerieben und lag frei. Außerdem war sie dreckig und von Eiter verkrustet. Der Schmerz pochte nun nur noch dumpf.

»Ich hasse ihn... euch alle«, sagte ich leise.

Er hielt inne. »Wir haben unsere Anweisungen und, egal ob es Euch gefällt oder nicht, wir müssen ihnen nach gehen.«

Ich biss die Kiefer zusammen, als er ein neues Seil von seinem Gürtel nahm und mich bedeutungsvoll ansah, damit ich ihm die Hände entgegen streckte. »Und wessen Idee war es, mich zu entführen? Mittlerweile ist mir klar, dass ihr alle Fenraler seid. Welches Interesse sollte der König Fenrals also an mir haben? An einer kartanischen Prinzessin, die in ein anderes Königshaus eingeheiratet wurde? Warum ich?«

Rodrig schüttelte den Kopf, während er das Seil um meine Handgelenke band. »Das kann ich Euch nicht sagen, Prinzessin. Ich gebe Euch nur einen Rat: gehorcht ihm, egal, was er sagt. Mailik ist kein Mann, der halbe Sachen macht. Er hat zwar den Verbot bekommen, Euch zu vergewaltigen, aber er kann Euch auf andere Weise quälen.«

»Das ist ja beruhigend.«, knurrte ich, als er die Fesseln fest zog.

»Ich kann nicht für Eure Sicherheit garantieren. Wenn Malik ausrastet und Euch bestrafen will, werde ich der Letzte sein, der sich ihm in den Weg stellt, versteht Ihr? Ihr habt keine Verbündeten und Ihr werdet erst sicher sein, wenn Ihr in Fenral seid. König Earis wird vielleicht für Euch bürden, da er Euch braucht. Aber verlasst Euch nicht darauf. Überlebt. Das ist das Einzige, was ich Euch raten kann.«

Ich versuchte den Blick seiner meerblauen Augen einzufangen und, als ich es schaffte, sah ich ihn fest und kalt an. »Und was seid Ihr? Ein Verbündeter? Oder ein Feind?«

Seine Lippen formten sich zu einem leichten Lächeln. »Weder noch. Ich bin ein Beobachter«, erklärte er, stand auf und holte seine Tasche.

Als er zurückkam, gab er mir etwas Brot und Käse und ich fiel beinahe darüber her, wie Aasfresser über einen frischen Kadaver.

 

Am Abend saß ich weiter entfernt vom wärmenden Feuer, als ich gedacht hätte. Hatte Malik mich doch am Vormittag noch essen und schlafen lassen, so strafte er mich jetzt mit klirrender Nachtkälte, die mich zittern ließ. Ich zog die Beine so fest an meinen spärlich bekleideten Körper und hauchte mir in die Handflächen, um mich irgendwie zu wärmen, aber es war aussichtslos. Ich fror und zwar bis auf die Knochen.

Wütend ließ ich den Blick zu den Männern schweifen.

Malik saß unmittelbar neben dem großen Schweigsamen und schien ihm irgendwas an seiner Axt zu zeigen, die er in der Hand hielt. Rodrig stattdessen saß ihnen gegenüber am Feuer und schob sich das gegarte Fleisch in den Mund. Sie beachteten mich überhaupt nicht, taten so, als wäre ihre Gefangene überhaupt nicht anwesend.

Ich senkte den Blick auf meine aneinander geschnürten Handgelenke. Meine Gedanken drifteten zu einer bestimmten Nacht ab, in der noch alles in Ordnung gewesen war. Eine Nacht, in der ich mich gut, schön und stark gefühlt hatte. Unbesiegbar. In den Armen meines Mannes. Regan...

Blinzelnd hob ich den Kopf, als ich etwas Nasses auf meinem Handrücken fühlte.

Es waren Tränen.

Ich biss die Zähne fest aufeinander, mein Magen fühlte sich an, als hätte jemand Steine darin abgelegt und um mein Herz schloss sich eine eisige Klaue. Die Wut über all das stieg in mir auf, ließ mich schwerer atmen. Nun hatte ich schon Wochen voller Angst und Schrecken verbracht, war von Malik geschlagen und beschimpft worden. Wir hatten die Grenze von Woberok nach Fenral überschritten und uns hatte niemand aufgehalten. Die Wachposten, an denen wir vorbei gekommen waren, hatten nicht einmal hingesehen, was mir sagte, dass Woberok von Innen her gespalten sein musste. Irgendwas in der Heimat meines Mannes stimmte nicht und die Tatsache, dass wir seit Tagen gemütlich durch die Gegend dümpelten, sagte mir auch, dass wir wenige bis gar keine Verfolger hatten. Das jedoch widersprach der reinen und kalten Vernunft in meinem Kopf, dass Regan in jedem Fall nach mir suchen würde - Oder?

Ich warf einen Blick hinüber zu den Pferden, die nicht weit von mir entfernt an einem dicken, auf dem Boden liegenden Ast angebunden waren. Sie schnaubten friedlich und zupften das trockene Gras am Boden ab. Kurz sah ich zurück zum Lagerfeuer, wo die Männer noch immer saßen und sich unterhielten. Sie beachteten mich noch immer nicht im Geringsten, als seien sie sich ihrer Sache sehr sicher.

Konnte ich es riskieren?

Mit gefesselten Händen auf eines dieser fenraler Höllenviecher zu steigen und fort zu reiten? Zu fliehen?

Was würde Malik nur mit mir anstellen, wenn ich es versuchen würde?

Ich schluckte kaum hörbar und starrte auf meine Beine. Vielleicht würde er den Verbot ignorieren und mich doch vergewaltigen, weil er wusste, was er mir damit antun würde. Schon damals hatte ich mich stetig gegen seine Anspielungen, seine Berührungen und seine Angebote gewehrt, weil ich meinem Ehemann treu sein wollte, auch, wenn ich damals noch nicht gewusst hatte, was mir in meiner Ehe bevorstehen würde.

Oder er würde mich halb tot prügeln.

Sein König schien mich zwar zu brauchen, aber solange ich noch atmete, reichte es sicherlich.

Ich schüttelte innerlich den Kopf. Nein.

Ich musste überlegt vorgehen und mich nicht von Gefühlen leiten lassen. Diese Männer hatten mich entführt und das alles hier war schon lange kein Spiel mehr. Das war bitterer Ernst und ich wusste, dass, wenn ich einen falschen Schritt tat, es vielleicht meine Ehre, meine Stärke, oder mein Leben kosten könnte. Und ich war nicht bereit, auch nur eines davon zu opfern. Es wäre eine Gelegenheit, jetzt auf eines der Pferde zu steigen und loszureiten, aber ich war mir sicher, dass Malik innerhalb weniger Augenblicke wieder einfangen würde und dann würden mich in jedem Fall Schläge erwarten.

Es musste einen besseren Zeitpunkt geben.

Ich hoffte, ich erkannte ihn, bevor sich Fenrals Tore hinter mir schließen würden.

 

Es dauerte noch zwei Tage, dann waren wir endgültig in Fenrals Grund und Boden eingedrungen und von nun an war ich auf Feindesgebiet. Die Landschaft veränderte sich, machte den weiten, braunen Grasebenen mit seinen üppigen Nadelwäldern Platz. Noch immer ragte hier und dort ein spitzer Fels aus dem Boden, am Horizont ragten die weißen Spitzen des blauen Gebirges und dahinter die des Eisgebirges auf. Direkt dazwischen in einer Art Tal lag Fenral in der Nähe der Bärenbucht am Meer. Ich hatte das Meer noch nie gesehen.

Wir ritten vorbei an Mooren und Tümpel voll von klarem Wasser, in dem Fische schwammen und in der Ferne erkannte ich einen seichten Bach dahin plätschern, an dem gerade eine Bärenmutter mit ihren Jungen Lachse jagte. Die Gegend war unglaublich schön, jetzt, da der Schnee geschmolzen war und die Sonne am glasklaren Himmel stand.

Malik schlug den Weg auf einen der Hauptpfade ein, den ich, wie ich glaubte, mal auf einer Landkarte in Woberok gesehen hatte. Er führte auf direktem Weg nach Fenral.

Während des Reitens pfiff der Große ein Lied, was meinen Verdacht, dass er eventuell stumm sei, widerlegte. Man konnte nur pfeifen, wenn man noch eine Zunge und Stimmbänder zur Verfügung hatte, also sprach er wohl einfach nicht gerne. Rodrig warf einen Blick über die Schulter und sah mich an.

Ich starrte finster zurück, denn ich ließ keine Gelegenheit aus, ihnen meine Missachtung über diese Situation mitzuteilen.

Auf einmal tauchten hinter der nächsten Biegung des Pfades zwei Reiter auf. Sie waren in fenraler Kleidung gehüllt: dunkle lederne Brustharnische, dunkelbraune bis grüne Wollhosen, kniehohe Lederstiefel, Kettenhemden unter dem Harnisch und Äxte auf den Rücken. Einer trug einen Helm, der andere hatte diesen an seinem Sattel befestigt. Malik hielt an und auch die beiden Soldaten hielten ihre rostrot schimmernden Hengste auf dem staubigen Pfad an.

Rodrig zog meine Stute noch enger an seine heran, sodass ich direkt neben ihm war.

Unsicher sah ich zu ihm auf, aber er hatte nur Augen für die beiden Soldaten vor uns.

»Wer sind die?«, flüsterte ich ihm zu.

Er packte meine Hand und ich zuckte zusammen, da schien er sich zu entsinnen, dass ich tagtäglich Schmerzen litt und ließ lockerer. »Ruhig, Prinzessin. Das sind Wargrunds Männer.«

Wargrund?

»Aber, was...?«

Er funkelte mich von der Seite an. »Könnt Ihr einmal Euren vorlauten Schnabel halten?«

Ich schnaubte wütend.

Malik führte sein Pferd nach vorne und, als ich ihn dabei beobachtete, erkannte ich seine angespannte Nackenmuskulatur. Er war nervös. Malik und nervös? Dann schienen diese Männer keine Freunde von Fenral zu sein. Zumahl ich auch noch nie etwas von einem Wargrund gehört hatte. Wer auch immer das war, Malik hatte Respekt vor ihm. Vermutlich einer der wenigen Menschen, vor denen er Respekt hatte.

Malik grüßte die Männer auf einer anderen Sprache. »Nos tra rovier.«

Die Männer grüßten zurück in derselben Sprache.

Ich runzelte die Stirn und weitete die Augen, als ich begriff, welche Sprache es war. Es war eine alte woberokische Sprache, die ich bereits in meinen Büchern entziffert hatte. Nun lagen diese Bücher in Woberok in meinen Ehegemächern, nachdem ich auf dem Bett gesessen und sie studiert hatte. Genau zu diesem Zeitpunkt hatte Malik mich entführt. Regan und die anderen hatten sie mit Sicherheit bereits entdeckt. Was würden sie nur darüber denken?

»Das ist eine woberokische Sprache...«, flüsterte ich Rodrig zu.

Dieser verdrehte die Augen. »Ihr bekommt noch genug Antworten auf Eure Fragen, aber jetzt seid um Gottes Willen still.«

Verwirrt blickte ich ihn an. Gottes Willen? Was war hier bloß los?!

Plötzlich zeigte der Soldat ohne Helm auf mich und schien Malik etwas auf dieser Sprache zu fragen. Leider sprachen sie so leise, dass ich nichts verstehen konnte, sonst hätte ich mit Sicherheit gewusst, worüber sie redeten. Malik schüttelte nur den Kopf und fuchtelte mit den Händen herum, ehe er in die Richtung deutete, aus der die beiden gekommen waren.

Der ohne Helm nickte nur und zeigte nun auch in die Richtung, schien ihm den Weg zu zeigen.

Aber Malik wusste doch, wohin es nach Fenral ging...

Ich verstand gar nichts mehr.

Schließlich wandte sich Malik uns zu und winkte uns mit sich, dabei bedachte er mich mit einem warnenden Blick, bloß den Mund zu halten. Ich presste die Lippen aufeinander, denn er schien sich zu sorgen. Ich hasste ihn zwar, aber, wenn Malik sich Sorgen machte und nervös war, dann konnte es für mich nichts gutes bedeuten, deshalb kam ich seiner Aufforderung nur allzu gerne nach.

Rodrig setzte seine Stute wieder in Bewegung. Der Große ging vor uns her, während wir zwischen den beiden fremden Reitern hindurch schritten. Ich versuchte wirklich, sie nicht anzustarren, aber ich musste einfach hinsehen. Der Soldat mit dem Helm, blickte mich durch die Sehschlitze hindurch durchdringend an und der ohne betrachtete mein halb zerfetztes Nachthemd, in dem ich nun schon seit Wochen unterwegs war, ungeniert. Ein Wunder, dass er bei dem Gestank, den ich verströmte und bei dem Dreck und Schmutz, der an meinen nackten Schenkeln und Armen, sogar im Gesicht klebte, mir so einen Blick voller Begierde zuwerfen konnte. Wahrscheinlich hatte er nicht oft eine Frau bei sich.

Ich zwang mich zurück auf meine Hände zu sehen und wartete in gespannter Erwartung, dass wir endlich weit genug weg von diesen Männern waren.

Doch mir kam jemand zuvor.

Es war der große Schweigsame.

»Sie werden uns an Wargrund verraten«, stieß er aus und seine Stimme klang wie Donnergrollen.

»Ich weiß«, murmelte Malik konzentriert. »Deswegen will ich, dass du sie zum Schweigen bringst.«

Der Große nickte grimmig, riss die Zügel seines Pferd herum und jagte an uns vorbei den Pfad zurück zu der Stelle, an der wir die beiden passiert hatten.

Kapitel 2

 

Still saß er da, die Hände gefaltet, die Zeigefinger an die zusammen gepressten Lippen gelegt. Seine Augen waren geschlossen, beinahe fest zusammen gekniffen, während er nachdachte. Seine Gedanken wirbelten herum, während sich seine Muskeln unter dem lockeren Hemd spannten. Seine Schenkel waren schon den ganzen Tag steif, so sehr zogen sich seine Muskeln zusammen. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, denn sie gingen immer wieder zu jenem Abend zurück, an dem ihm alles genommen wurde, was er hatte.

Noch immer hörte er ihre Schreie, wie sie gegen die Tür hämmerte, die er soeben zugeschlossen hatte.

Sein Lid zuckte.

»Regan!«

Er biss die Zähne aufeinander.

»Regan!«

Sein Herz wummerte.

»Re-«

Seine geballte Faust schlug auf den Tisch und die Karten und die beiden kleinen Bücher vibrierten bei der Kraft seines Armes. Er öffnete blitzartig die eisblauen Augen und seine Pupillen wurden klein wie Murmeln. Sofort fixierte er den Mann vor sich, der ihn aus seinen schrecklichen Gedanken gerissen und ihn dabei unterbrochen hatte, sich in Selbstmitleid zu suhlen. Beinahe wütend starrte er den Bogenschützen an, sein kurz geschorenes braunes Haar, das im Schein der Öllampen glänzte, seine tiefbraunen Augen, die ihn besorgt musterten. Er war wütend, dass er ihn in seiner Erinnerung an sie gestört hatte.

»Was willst du?«, fragte er grimmig.

Der Mann neigte den Kopf. »Die Patrouille ist zurückgekehrt, Regan. Keine Spur von ihr.«

Regan ließ den Blick über den Tisch schweifen, blieb an den beiden kleinen Büchern hängen, die in weiches Leder geschlagen waren. Beim Anblick des oberen, auf dem die vier Elementarzeichen des nordischen Reiches, des alten nordischen Reiches, prangten, fühlte sich sein Ehering an seinem rechten Ringfinger viel enger an. Wie eine Kette, die ihm umgelegt worden war. Er erinnerte sich noch gut an den Moment, an dem er ihn von seiner Ehefrau erhalten hatte. Sie hatte nackt und schön neben ihm gesessen und ihm das Geschenk dargeboten.

Er blickte zurück zu seinem engsten Freund. »Sind deine Fährtensucher nicht die Besten in ganz Woberok?«

»Das sind sie«, antwortete Raphael fest.

Regan sprang auf. »Und warum haben sie Kira dann immer noch nicht aufspüren können?«

»Regan, wir tun, was wir können. Seit Wochen streifen meine Männer durch ganz Woberok und suchen Anhaltspunkte, um sie ausfindig zu machen. Aber diese Kerle waren schlau, sie haben ihre Spuren viel zu gut verwischt, als, dass wir sie noch aufspüren können. Vermutlich sind sie schon gar nicht mehr in Woberok! Ich weiß, du würdest gerne andere Dinge hören, aber es ist nun mal so. Ich sähe sie auch lieber hier in Sicherheit.«

Wütend fuhr Regan sich durch das raspelkurze Haar. Er hatte es sich noch an dem Tag, an dem seine Frau verschwunden war, kurz rasieren lassen. So, wie die Männer seines Volkes es immer taten, wenn der Krieg bevorstand. Jedem Soldaten wurde das Haar bis auf wenige Millimeter kurz geschnitten. Einige ließen sich sogar Muster hinein schneiden. Er hatte jediglich das Haar auf seinem Kopf länger gelassen, an seinen Schädelseiten war es so kurz, dass die Kopfhaut hindurch schimmerte.

Er machte sich so unendlich viele Vorwürfe.

Hätte er die Tür nicht zugeschlossen.

Hätte er sich nicht mit ihr gestritten.

Wäre er nicht blind auf eine Jagd gegangen, die schon nach Verrat gestunken hatte.

Dann wäre Kira jetzt noch hier. In Sicherheit. Bei ihm.

Er sehnte sich nach ihr. Nachts fand er keinen Schlaf, sah immer wieder ihr Gesicht vor sich. Ihre sanft geschwungenen Wangenbögen, ihr zartes, unschuldiges Gesicht, die waldgrünen Augen, die funkelten wie Smaragde. Ihr Haar, das im Licht wie Flammen schimmerte. Und immer wieder sah er, wie sie von Fremden angefasst wurde. Meist stellte er sich dabei die grausamsten Dinge vor.

»Sie ist eure Königin.«, flüsterte Ramon und starrte dabei auf die Bücher. »Und ich höre sie Tag und Nacht. Wie sie sie beschimpfen. Als Hexe... als Verräterin.«

Raphael trat vorsichtig einen Schritt auf ihn zu. »Regan, die Menschen haben Angst. Wenn jemand in die Festung eindringen und deine Frau entführen konnte, was sagt das über Woberoks Sicherheitsmaßnahmen aus? Wer hindert sie daran, auch den übrigen Leuten Schaden zuzufügen? Und das mit den Büchern... die Sprache...«

Regan hob den Kopf, dann starrte er wieder auf eben diese. Diese kleinen, in Leder geschlagenen Bücher, die so viel Ärger verursacht hatten. Niemand wusste, woher Kira sie hatte. Niemand wusste, was sie damit anstellen wollte. Schon damals hatte er ihr verboten, die alten Sprachen zu sprechen, die sie seltsamer Weise beherrscht hatte. Auf seine Frage hin, woher sie sie kannte, erfand sie Ausreden. Das hatte er schon damals gespürt, aber er hatte ihr vertraut. Deshalb hatte er nicht weiter gebohrt. Und nun, kurz nach ihrer Entführung fand er diese Bücher auf dem Bett. Voll von heiknischen Runenzeichen. Voll der alten Sprache.

»Und, was ist, wenn es stimmt?« Regan drehte langsam den Kopf zu seinem Freund und sah ihn verzweifelt an. »Was ist, wenn diese abergläubischen Bauern recht haben? Wenn sie eine...«

»Regan!«, unterbrach Raphael ihn. »Sie liebt dich. Versuche nicht die Dinge zu erklären, wenn du nicht weißt, was wirklich passiert ist.«

Regan schüttelte den Kopf und ließ sich kraftlos in den Stuhl zurücksinken, blickte ziellos durch das Zelt. Die prunkvollen Gehänge an den Zeltwänden, die metallernen Öllampen, die an jedem Pfosten befestigt waren und der mit weichem Leder ausgelegte Boden, die teuren Möbel und das gewaltige Bett mit den vielen weichen Fellen und Laken. All das bedeutete ihm nichts ohne Kira. Dennoch musste er daran denken, was er auf seinem Bett gefunden hatte. Die Bücher mit den heiknischen Runen, den Beschwörungen und was auch immer alles darin stand. Es machte ihm zu schaffen und er fragte sich, was sie damit gewollt hatte.

»Jeder hat gesehen, wie sie dich angehimmelt hat«, wiederholte Raphael. »Sie ist keine Hexe und erst recht keine Verräterin. Da bin ich mir sicher!«

Er nickte widerstrebend, dann hob er den Kopf. »Lass weiter nach ihr suchen. Und gib Bescheid, dass wir morgen weiterziehen.«

Raphael schlug sich gehorsam auf die Brust, dann drückte er noch einmal Regans Schulter und verließ das Zelt.

Eine ganze Weile blieb Regan noch in seinem Zelt und grübelte vor sich her, bevor er seine Lederjacke nahm und ebenfalls hinaus in das rege Treiben des Heerlagers trat. Sie befanden sich etwa dreihundert Meilen östlich des Außenpostens von Firkard. Direkt, nachdem Prinzessin Akira, die Ehefrau des Kronprinzen Regan von Woberok entführt worden war, hatte Regan Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, hatte jeden freien Soldaten, der nicht zur Verteidigung der Hauptstadt gebraucht wurde, mobilisiert und hatte ein Heer aufgestellt, um mit ihm gen Fenral zu ziehen. Nun waren sie nahe den schwarzen Bergen und würden bald den Bergpass nehmen, um weiter nach Woberok zu ziehen. Dabei rekrutierte er jeden Soldaten und Söldner, der ihm auf dem Weg begegnete. Er würde alles tun, um Kira zurückzubekommen.

Wenn es sein musste, würde er einen Krieg anfangen, um sie zu befreien.

Nun saßen die Soldaten, am nahenden Abend, um die vielen Lagerfeuer zusammen, die zwischen den Zelten brannten. Sie aßen und tranken, unterhielten sich und genossen die Stille des Abends. Jeder von ihnen wusste, dass ein Krieg nicht einfach war und jeder wüsste, dass er morgen tot sein könnte, wenn sie wirklich gegen Fenral ziehen würden. Und so genossen sie die Ruhe vor dem Sturm.

Regan schritt durch das Lager, grüßte die Männer und Frauen, die beisammen saßen.

Er erklomm einen Hügel, der etwas außerhalb des Lagers lag. Dort stand er beinahe jeden der letzten Abende und blickte in den Himmel hinauf. Der Winter war vorüber, der Frühling kehrte einher und die Luft war diesen Abend angenehm kühl, aber nicht kalt. Er konnte leicht seinen Atem erkennen, der in die Luft aufstieg, während er an das strahlende Himmelszelt blickte und sich fragte, ob Kira gerade dasselbe tat. Oder, ob sie gerade Schmerzen litt oder angefasst wurde... Regan war sich in jedem Fall sicher, dass sie noch lebte, denn, wenn man sie nur hätte umbringen wollen, hätte man sie nicht entführt.

Für irgendwas brauchte man seine Frau, doch er verstand den Sinn dahinter nicht. Noch nicht.

»Ich werde dich finden, Liebste. Und, wenn ich dafür die Wüsten am anderen Ende der Welt, die Meere von Ostavíl oder die Moore von Greifenwald durchkämmen muss. Wenn ich dafür Monster erschlagen, die Tränen von Meerjungfrauen oder anfangen muss, zu fliegen. Selbst, wenn ich durch die Flammen der Hölle waten muss, ich werde dich wieder nach Hause in Sicherheit bringen.«

 

 

Mit schief gelegtem Kopf saß ich an diesem Abend an einen Baum gelehnt da und starrte in den Himmel. Die Sterne funkelten über mir und der zunehmende Mond strahlte sein helles, kaltes Licht auf uns herab. Ich fragte mich, ob Regan auch auf dem Balkon unserer Gemächer stand und hinauf in den Himmel sah, an mich dachte. Ob er Fährtenleser ausgesandt hatte, mich zu suchen? Ich wusste nicht, was er tun würde. Ob er mich als Hexe sah durch die Runenzeichen und mich vergessen würde? Eines wusste ich zumindest. Wenn Letzteres nicht zutraf, würde er alles tun, um mich zu finden. Er war ein stolzer und sturköpfiger Mann, der seinen Willen durchsetzte.

Ich senkte den Blick auf unser Lager.

Ein kleines Feuer brannte in der Mitte der felsigen Steine, etwas abseits des Hauptpfades in der Nähe der Bäume. Die Pferde hatten Rodrig und Malik neben mir an einen umgefallenen Baumstamm angebunden und ihnen die Sättel und Proviantsäckchen, sowie die Schilde und Waffen abgenommen. Mir hatte Rodrig eine Decke gegeben, damit ich die Nacht nicht fror und meine Handgelenke mit frischem Seil umbunden. Doch etwas zu Essen hatten sie mir noch nicht gegeben. Stattdessen saßen die beiden angespannt am Feuer und hingen ihren Gedanken nach, hoben immer wieder den Kopf und suchten die Bäume mit den Augen ab, als würden sie jeden Moment mit einem Angriff rechnen.

»Ihr habt ihn alleine zu ihnen geschickt?«, durchbrach ich die Stille.

Malik warf mir einen finsteren Blick zu. »Haltet den Mund, Weib.«

Ich schnaubte. »Und, wenn sie ihn getötet haben?«

Drohend erhob er sich. »Ich sagte, Ihr sollt den Rand halten!«

Meine Nasenflügel blähten sich. Ich ließ mir doch nicht den Mund verbieten! »Ich-«

Sein Schlag war so plötzlich und unvermittelt, dass ich Sterne sah. Aber mittlerweile kannte ich das Gefühl. Das Zwiebeln auf der Wange, das dumpfe Pochen der Schläfe und der Lippe, die aufplatzten, da er es bevorzugte mit behandschuhten Händen zu schlagen. Ich kannte die Taubheit, die sich daraufhin auf meiner geschlagenen Haut ausbreitete. Und ich kannte den Schwindel, der folgte.

Rodrig hatte wie immer den Blick abgewandt.

Er hatte mich gewarnt, dass er keine Partei ergreifen und sich Malik nicht in den Weg stellen würde.

Gerade, als Malik ein erneutes Mal zuschlagen wollte, hörten wir das Wiehern eines Pferdes, dann trappelnde Hufe und das Knacken von Ästen. Malik richtete sich auf und blickte um sich und ich erhaschte einen Blick auf den Großen, der auf seinem dunkelbraunen Wallach saß, halb eingesunken und näher trabte. Auf der rechten Flanke des Pferdes färbte sich das Fell dunkelrot und der Mann stöhnte auf, als er geradewegs vom Pferd kippte.

»Arnor!«, rief Rodrig und hechtete auf ihn zu.

Malik ließ nur widerwillig von mir ab, warf mir aber noch einen warnenden Blick zu, bevor er den panischen Wallach an den Zügeln ergriff und ihn zu den ürbigen Pferden neben mir hin zerrte, ihn an dem Baumstamm festband und ihm beruhigend auf den Hals klopfte. Dann erst half er Rodrig den Verwundeten zum Feuer zu hieven und ihn dort abzusetzen.

Ich erkannte im Schein des Feuers eine tiefe, klaffende Wunde an seiner linken Seite.

Keuchend versuchte Arnor sich aufrecht zu halten.

»Was ist denn passiert?«, fragte Rodrig aufgeregt, während er Arnor das Kettenhemd und den Harnisch auszog.

»Ich bin ihnen in den Wald gefolgt. Sie waren zum Glück immer noch zu zweit und haben Wargrunds Lager noch nicht erreicht. Ich habe sie niedergestreckt, aber als ich mit dem einen beschäftigt war, habe ich nicht auf die Armbrust geachtet, die der andere gespannt hat. Er ging direkt durchs Kettenhemd.«

Rodrig zischte, als er das Kettenhemd gelöst hatte und die Wunde sah. Besorgt hob er den Kopf und blickte Malik an.

Dieser starrte mit unerschütterlicher Miene auf die Verletzung.

»Was machen wir jetzt, Malik?«, fragte Rodrig mit besorgter Miene. »Bis nach Fenral sind es noch fünf Tagesritte. Und wir haben nicht die Arzneien, um ihn zu behandeln.«

Arnor schüttelte den Kopf. »Kümmert euch nicht um mich. Mir geht es gut.«, krächzte er und ich hörte auch noch in der Entfernung, dass er große Schmerzen litt.

Unvermittelt warf mir Malik einen düsteren Blick zu und stapfte auf mich zu.

Ich presste mich mit dem Rücken an den Baumstamm.

Er packte meine Handgelenke grob und ich quietschte auf, als er einen Dolch aus seinem Gürtel hervorzog. Dann tat er etwas, womit ich nicht gerechnet hätte. Er durchschnitt meine Fesseln und umgriff noch einmal meine Handgelenke, wodurch ich die Augen leicht zusammen kniff.

»Wehe, Ihr macht irgendwelche Sachen. Versucht nicht, mich in die Irre zu führen, denn dann schwöre ich Euch, ich schneide Euch irgendwas ab, was der König nicht unbedingt von Euch braucht!«, zischte er und zerrte mich auf die wackeligen Beine. Die Decke flog zu Boden, als er mich zu den beiden Männern hinüber zerrte und mich in Arnors Richtung.

Unschlüssig blieb ich neben ihm stehen und starrte Malik verwirrt an.

Genervt verdrehte er die Augen. »Versorge seine Wunde, los!«

Ich warf ihm einen finsteren Blick zu. »Warum sollte ich Euch helfen?«

»Weil ich Euch ansonsten grün und blau schlagen werde«, knurrte Malik und seine grünen Augen funkelten verheißungsvoll.

Mein kalter Blick galt nur ihm, dann deutete ich auf meine rot angelaufene Gesichtshälfte. »Das habt Ihr doch längst.«

Seine Nasenflügel bebten. »Tut, was ich Euch sage!«, knurrte er, packte meinen Oberarm und schubste mich dichter an Arnor heran, die nächsten Worte flüsterte er mir zu, damit nur ich sie hören konnte. »Ansonsten denke ich mir noch ganz andere Strafen aus.«

Mein Herz machte einen ängstlichen Hüpfer, dann ließ ich die Schultern hängen und trat an Arnor heran. Der wirkte nicht besonders begeistert von der Idee seines Kommandanten, aber er wehrte sich auch nicht, als ich mich neben ihn kniete und ihn aufforderte, den Arm zu heben. Ich betastete die umliegende Haut, um der Verletzung. Den Bolzen, der ihn dort getroffen hatte, hatte er bereits entfernt und soweit ich es beurteilen konnte, waren keine Splitter zurückgeblieben. Er zischte leise, als ich die Wundränder abtastete. Das Fleisch war bereits geschwollen. Ich musste die Wunde nähen.

»Ich brauche heißes Wasser, Nadel und Naht und Alkohol«, murmelte ich geschäftig, blickte zu Arnor hoch. Seine schweißnassen braunen Strähnen hingen ihm wirr im Gesicht und auch sein breiter Brustkorb mit dem krausen Brusthaar war schweißnass. Er litt große Schmerzen. »Haben wir Mohnblumensaft?«

»Mohnblumensaft?«, fragte Rodrig verdutzt.

»Oder Baldrian? Gegen die Schmerzen!«

»Ich bin ein Berserker«, zischte Arnor. »Ich brauche nichts gegen Schmerzen!«

Als er jedoch daraufhin laut aufstöhnte und nach vorn kippte, knurrte ich wütend und drückte ihn an der Brust zurück, sodass er wieder aufrecht saß. »Von wegen! Egal was für ein Schrank von Mann Ihr seid, Ihr bekommt jetzt Schmerzmittel. Haben wir denn nun etwas?«

Rodrig hielt mir eine kleine Phiole entgegen.

Ich hob eine Augenbraue.

Er seufzte und kniete sich vor Arnor nieder, drückte sie ihm an die Lippen und gehorsam schluckte der große Krieger den Inhalt. Beinahe sofort seufzte er erleichtert auf und verzog nur leicht das Gesicht, als ich dann mit einem Lappen und heißem Wasser die Wunde säuberte und von Schmutz befreite. Danach desinfizierte ich die Ränder vorsichtig mit etwas Alkohol. Anschließend drückte mir Rodrig Nadel und Faden in die Hand und ich begann damit die Wunde zu nähen. Es dauerte eine schiere Ewigkeit, wie ich da hockte und die Wundränder zueinander führte, während ich Maliks finsteren Blick im Nacken spürte.

Es gefiel ihm ganz und gar nicht, dass er mich um Hilfe bitten musste.

Diese Männer schienen es nicht gewohnt zu sein, die Wunden ihrer Kameraden zu versorgen. Das taten wie immer die Frauen, genau, wie in Woberok.

Als ich die Wunde fertig genäht hatte, reichte mir Rodrig einfaches Verbandsmaterial, das ich um Arnors Brustkorb schlang. Ich verknotete den Verband direkt über seiner Wunde, um eine Art Kompresse zu bilden, dann seufzte ich vor Erschöpfung. Meine Arme und Beine zitterten, da ich den ganzen Tag auch noch nichts gegessen hatte und nun solche Kraft aufzuwenden und sich zu konzentrieren zerrte an meinen Nerven und meiner Stärke.

Malik packte mich wieder am Oberarm und stieß mich zu Rodrig, der mich wieder zu meinem Baum bringen sollte.

Nickend zog er mich hinüber zum Baum und setzte mich dort hin, forderte mit einer simplen Bewegung meine Hände und gehorsam und etwas genervt streckte ich sie ihm entgegen.

»Danke, Prinzessin.«, murmelte Rodrig.

Ich schnaubte. »Wofür? Fürs Händeausstrecken?«

Er schüttelte den Kopf und blickte mich ernst an. »Dafür, dass Ihm geholfen habt. Wärt Ihr nicht hier gewesen, wüsste ich mit Sicherheit, dass Malik ihn hier gelassen oder getötet hätte.«

»Was?«, hauchte ich erschrocken und riss die Augen auf. »Aber... er ist Euer Kamerad.«

Rodrig zuckte die Schultern. »Er ist eine Last, wenn er verwundet ist und, wenn er sich nicht auf einem Pferd halten kann, dann behindert er die ganze Gruppe. Daher danke ich Euch. Ihr habt ihm das Leben gerettet, auch, wenn er das niemals zugeben würde.«

Als er die Fesseln festzog, runzelte ich die Stirn. Beinahe sanft zog er die Decke über meine Beine, dann stand er auf und ging wieder zum Feuer, um sich nach Arnors Zustand zu erkundigen.

Das letzte, woran ich dachte, war, wie ich auf meine blutverschmierten Hände starrte und dann meine Beine eng an meinen Oberkörper zog. Und dann schloss ich fest die Augen und fiel in einen unruhigen, traumlosen Schlaf.

 

Am Morgen wachte ich durch einen groben Tritt gegen das Schienbein auf und starrte erschrocken hoch. Vor mir stand Rodrig und deutete mit einem Nicken zu seiner Rechten. Malik packte gerade die Sachen zusammen, was bedeutete, dass wir bald aufbrechen würden. Ich erinnerte mich noch an Rodrigs Worte vom gestrigen Abend. Es waren noch fünf Tagesritte nach Fenral. Wir befanden uns noch mitten in der Wildnis und offenbar in dem Gebiet, in denen Wargrunds Männer, wer auch immer das war, patrouillierten. Was nichts Gutes bedeuten konnte.

Rodrig half mir auf die Beine, warf sich die dünne Decke über einen Arm und führte mich hinüber zum erloschenen Feuer. Dort setzte er mich auf den Boden und drückte mir ein halb vertrocknetes Brot und ein Stück Dörrfleisch in die Finger. Ich war so dankbar über etwas zu essen, dass ich beides in mich hinein stopfte, bevor man es mir wieder wegnehmen konnte.

Mein unfreiwilliger Begleiter beobachtete mich, was ich aus dem Augenwinkel erkannte, aber nicht weiter beachtete. Was erwarteten sie denn? Ich war halb verhungert, bekam, wenn es hoch kam, alle drei Tage höchstens eine Mahlzeit bekam. Zudem musste ich vermutlich bis zum Himmel stinken, denn mir klebte Dreck und nun auch Arnors Blut am Körper und meinem Nachtkleid.

Ich blickte mich um und sah Arnor auf einem der Baumstämme sitzen und seine Axt schärfen. Sein Oberkörper war frei und die Wunde, die ich ihm gestern genäht hatte, sah zwar gerötet und geschwollen aus, jedoch nicht übermäßig. Insgeheim war ich sogar ein wenig stolz auf mich, was ich selbstverständlich niemals sagen würde. Zwar hatte ich ihnen geholfen und durch Rodrigs Worte wusste ich auch, dass ich Arnor vermutlich das Leben gerettet hatte, aber mir würde niemand danken. Weder Rodrig noch Arnor selbst würden aus diesem Grund für mich einstehen. Von Malik musste ich gar nicht erst anfangen.

Meine Tat hatte nicht das Geringste verändert, das wurde mir gerade bewusst.

Ich hatte Arnor gerettet.

Doch das veränderte meine Situation keinesfalls.

Ich stand noch immer am Anfang.

Mein Blick flog zu den angebundenen Pferden hinüber, die soeben von Malik für die Weiterreise vorbereitet wurden. Mir kamen wieder die Gedanken über meine Flucht in den Sinn. Ob ich in den folgenden Tagen eine Gelegenheit zur Flucht haben würde, stand in den Sternen. Umso genauer musste ich die Situationen beurteilen. Mir blieben nur noch etwa fünf Tagesritte bevor wir in Fenral waren und damit jede Chance auf Flucht ausgelöscht wäre. Sobald sich Fenrals Tore schlossen, wäre ich endgültig eine Gefangene.

»Was stierst du da so rüber?«, fuhr mich Arnor an.

Ich drehte den Kopf zu ihm und blickte ihn finster drein. »Ich wüsste nicht, was Euch das anginge.«

Seine Hand, die den Schleifstein gehalten hatte, mit dem er seine Axt gewetzt hatte, verharrte. »Es geht mich etwas an, wenn du zu dem einzigen Fluchtmittel glotzt, das in Reichweite ist.«

»Ihr seid ein Scherzkeks!«, lächelte ich bitter. »Wohin sollte ich flüchten, hm? Meilenweit gibt es hier draußen nichts anderes, als Steine, Bäume und Dreck. Mit etwas Glück falle ich Wargrunds Männern in die Hände, die mich vergewaltigen oder schlimmeres. Oder noch schlimmer, Soldaten Fenrals finden mich. Außerdem habe ich keinen Proviant und keine Kleidung, die mich warm hält. Haltet Ihr mich für so dumm?«

Arnor verengte die Augen zu Schlitzen, als ich das sagte. »Ich halte dich sogar für sehr intelligent. Auch, wenn das alles stimmt, was du sagst, dir würde dennoch gelingen, zu überleben. Aber dann erwarten dich schlimmere Konsequenzen...« Er warf einen Blick zu Malik hinüber. »Also schlag es dir aus dem Kopf, Mädchen.«

Ich schenkte ihm ein verächtliches Lächeln. »Es ist interessant, dass einer meiner Blicke, Euch gleich so viele Wörter entlocken kann, wo Ihr auf unserer Reise bisher kaum ein Wort gesprochen habt.«

Arnor schnaubte kurz, aber bevor er antworten konnte, kam ihm Malik zuvor.

»Auf mit euch, los! Ich habe keine Lust, mehr Zeit in der Wildnis zu verbringen, als notwendig. Und Ihr, Prinzessin, haltet ab jetzt den Mund. Sprecht nicht mehr mit meinen Männern.«

Ich funkelte ihn an.

Wie ich ihn hasste. Er verbot mir den Mund und benutzte Gewalt, um das zu bekommen, was er wollte. Ich konnte mir diesen Mann nicht einmal mit Mühe, in irgendeiner Weise liebevoll vorstellen. Weder zu Menschen, die ihm nahe standen, wie einer Familie oder zu einer Frau. Vermutlich schliefen die Frauen in Fenral unter Zwang mit ihm.

»Und, was ist, wenn ich mich nicht daran halte?«

Der Schlag folgte so heftig, dass mir die Ohren klingelten.

Stöhnend hob ich den Kopf, meine Lippe, die über Nacht Schorf gebildet hatte, pochte unangenehm im Takt meines heftig schlagenden Herzens. Sie war wieder aufgeplatzt. Meine Wangen glühten vor Schreck und ich starrte ihn an.

»Davon erwarten Euch noch viel mehr, wenn Ihr nicht tut, was ich Euch sage.«, zischte er und hob den Blick zu seinen Kameraden. »Und jetzt rauf mit euch auf die Pferde. Ich habe keine Lust hier zu sein, wenn Wargrund nach seinen verschwundenen Männern sucht.«

Ohne ein weiteres Wort verließ er das Lager und unsere Reise setzte sich in den nächsten zehn Minuten schon fort. Und obwohl meine Kräfte mich allmählich verließen, körperlich gesehen, so wuchs meine mentale Stärke stetig. Das musste so sein, sonst würde ich irgendwann an Malik zerbrechen. Und das durfte ich nicht. Für meinen Ehemann.

Kapitel 3

 

Zwei Tage vergingen, in denen wir den Außenposten Fenrals, dann die Burg Temrid, jedoch ohne anzuhalten und zu rasten. Wir passierten Gehöfte, in denen die Menschen Fenrals arbeiteten und man spürte überall die Liebe zu ihrem Königreich. Die Soldaten, in den schweren Panzern gerüstet, schwenkten bei jeder Patrouille die grünen Fahnen des Reiches und überall war die Macht des Bären, ihres Wappentieres zu spüren. Wir rasteten kaum noch, aßen tat ich nichts mehr, als wollte mich Malik noch immer für meine Unverfrohrenheit strafen. Er hielt nicht an, damit sich Rodrig oder Arnor ausruhen konnten und ich spürte, dass er mich immer öfter beobachtete. Er ritt oft hinter unserem ganzen Trupp und ich spürte immer wieder seine Blicke auf mir, wie ich mich in dem unbequemen Sattel hin und her bewegte.

Die Stunden vergingen zähflüssig und waren kräftezehrend, sodass ich immer öfter drohte, vom Pferd zu fallen.

Wir passierten öfter eine Patrouille von drei bis fünf Soldaten, die entweder zu Fuß oder zu Pferde unterwegs waren. Sie alle schienen Malik und seine Männer zu kennen. Zudem sahen sie nicht einmal verdutzt drein, als sie mich zu Gesicht bekamen, als würde Malik ständig junge Frauen entführen und mit nach Fenral bringen. Ich konnte nur ahnen, was mir in Fenrals Hauptstadt blühen würde.

Schließlich kamen wir auf einen schmaleren Pfad, der wieder von den nahen Ländereien um Temrid herum führte und uns an den blauen Bergen vorbei auf direktem Weg nach Fenral bringen würde. Die Umgebung wurde immer bewaldeter und die offenen Grasebenen mit den spitzen Felszähnen wichen kleineren Lichtungen und vereinzelten Tümpeln, in denen ich mich zu gerne einmal gewaschen hätte. Aber Malik zog tagsüber das Tempo an, als hätte er es eilig nach Fenral zu kommen. Mittlerweile war ich davon überzeugt, dass er einen ganzen Tagesritt aufgeholt hatte, was bedeutete, dass mir nur noch zwei Tage blieben, um meinem Schicksal als Gefangene in Fenral zu entkommen.

Auch diesen Tag ritten wir komplett durch, ließen die blauen Berge hinter uns und bewegten uns nun durch dichten Nadelwald. Hin und wieder kreuzte ein Hirsch oder ein Waschbär unseren Weg. Wir ritten bis tief in die Nacht, bis Malik einen geeigneten Platz fand, um zu nächtigen. Am Waldrand ließ er unser Lager aufschlagen und Rodrig und Arnor stiegen von ihren Pferden.

Rodrig packte die Zügel meines kleinen Pferdes, auf dem ich mir den ganzen Tag den Hintern platt gesessen hatte und führte es zu den Bäumen, wo er es anband. Er tätschelte unseren Pferden die kräftigen Hälse und kam dann zu meiner Seite, packte meine dürre Taille und hob mich mühelos herunter. Als meine Füße den Boden berührten, knickten mir sofort die schwachen Beine weg. Rodrig hielt mich fest.

»Bei Gott, Prinzessin, bleibt stehen.«, zischte er leise.

Ich hing kraftlos in seinen Armen, bis ich die Kraft aufgewendet hatte, auf eigenen Beinen gerade zu stehen. Doch sie schlotterten fürchterlich.

Rodrig zog mich zu einem Baum hinüber und setzte mich dort auf den Boden.

Er ließ mich dort sitzen und half anschließend seinen Kameraden dabei, die Pferde abzusatteln und das Lager aufzuschlagen. Zwar würden wir nicht lange hier rasten, aber die Ruhe war angenehm. Die Aussicht, sich wenigstens ein paar Stunden nicht im Sattel halten zu müssen, war angenehm und ich begrüßte die nächtliche Stille nur zu gerne. Mein Blick wanderte von den Pferden in den Himmel. Dieser strahlte vor Sternen und an diesem Abend tanzten die Polarlichter am Himmel, tauchten die Umgebung in roséfarbenes und blaues Licht. Es wirkte beinahe magisch, wie der Mond sein kaltes weißes Licht auf mich herab scheinen ließ. Leise seufzte ich und ließ den Kopf gegen den Stamm des Baumes sinken, blickte hinauf in die nadelbesetzte Baumkrone.

Gelbe Augen leuchteten mir entgegen.

Vermutlich die allmählich erwachenden Eulen, die bald auf Beutefang gehen würden.

Arnor entzündete in einiger Entfernung ein Feuer, von dem ich - wie immer - ausgeschlossen sein würde. Er legte kleine Äste und Blätter dazu, um es schneller anzufachen, was jedoch auch eine beträchtliche Menge Qualm erzeugte. Vermutlich tigerte Malik aus diesem Grund unruhig am Waldrand entlang, schien mich heute kein bisschen beachten zu wollen. Was mir auch ganz recht war.

Ich berührte mit meinen gefesselten Händen meine geschwollene Lippe und mein Auge. Es war dick und vermutlich dunkelblau oder violett, was ich selbst nicht feststellen konnte. Vermutlich war es besser so, dass ich nicht wusste, wie ich aussah. Seufzend ließ ich die Hände sinken und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Die Fesseln hatten sich tief in meine Haut gegraben, scheuerten andauernd an meiner Haut und die Stellen waren immer blutig und nässend.

Schwer atmend lehnte ich die Stirn an meine angezogenen Knie, versuchte, das Zittern der Kälte zu unterdrücken.

Irgendwann spürte ich eine Berührung an meiner Schulter. »Kira...«

Ich fuhr heftig zusammen und hob den Kopf.

Aber da war niemand.

Sofort schossen mir Tränen in die Augen, ich blinzelte heftig gegen die Gefühle an, die in mir hoch kochen wollten. Die Berührung kribbelte immer noch an meiner Schulter und für wenige Sekunden hatte ich geglaubt, Regans Stimme zu hören. Die Stimme meines geliebten Ehemannes. Ich erbebte und schluchzte leise auf, so leise ich konnte.

Suchend blickte ich mich um. »Regan...?«

Wurde ich jetzt schon wahnsinnig?

Verrückt?

Verwirrt?

Ich atmete zitterig ein und aus, krümmte mich zusammen und kniff die Augenlider fest aufeinander.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, in der ich immer wieder über die letzten Minuten mit meinem Ehemann nachdenken musste. Wir hatten uns angeschrien, wie so oft. Wir hatten uns gestritten und dann hatte er mich eingesperrt, in dem Versuch, mich zu schützen vor einer Bedrohung, die gar nicht existiert hatte. Nur, weil Malik Zweifel in die Herzen der Leute gesäht hatte, um an mich heran zu kommen. Und den wahren Grund, weshalb ich nach Fenral gebracht wurde, kannte ich noch immer nicht. Doch, was auch immer dieser Grund war, ich konnte nicht zulassen, dass sich Fenrals Tore hinter mir schließen würden.

Ich wartete noch länger, grübelte vor mich hin und beobachtete, wie Rodrig, Arnor und Malik ihr Abendmahl verzehrten. Auch diesmal gestattete Malik nicht, dass ich etwas bekam. Ich nahm an, dass er mich aushungern wollte, damit ich nicht floh. Aber da hatte er sich getäuscht. Und, wenn ich an der Schwelle zum Tod stehen würde, würde ich nicht aufgeben. Dieser Mann schlug mich vielleicht, erniedrigte mich und zwang mich zu Dingen, die ich nicht wollte, aber ich musste stark bleiben. Ich musste mich dagegen wehren, denn wenn nicht, dann würde ich mich selbst aufgeben.

Aus diesem Grund wartete ich.

Egal wie sehr ich zitterte, wie sehr meine Handgelenke schmerzten und wie sehr mein Magen knurrte vor Hunger, ich wartete still und geduldig.

Und dann passierte das, was ich wollte.

Malik bestimmte Arnor zum Wachposten, der grimmig entschlossen nickte und sich mit seiner Axt auf einem kleinen Stein niederließ. Malik und Rodrig legten sich auf ihren Bettrollen schlafen und bald schon erklang neben den normalen Waldgeräuschen das tiefe Schnarchen der beiden Männer. Ich beobachtete währenddessen Arnor, der eingesunken auf dem Stein saß und betete zu den mir bekannten Göttern, dass seine Wunde und der anstrengende Ritt das übrige für mich taten.

Denn, wenn nicht jetzt, wann dann?

Für mich würde es keine passendere Gelegenheit mehr geben, als diese. In zwei Tagen spätestens waren wir in Fenral. Und das konnte und wollte ich nicht zulassen.

Irgendwann gesellte sich zu Maliks und Rodrigs Schnarchen auch noch Arnors Atemgeräusche. Die Wunde und die Erschöpfung forderten ihren Tribut. Sein Körper forderte nach Ruhe und Erhohlung und nun schien auch sein Geist diesem Wunsch nachzugeben. Das war die perfekte Gelegenheit.

Ich stemmte mich auf meine zitterigen Beine. Es kam mir gelegen, dass sie darauf verzichteten, meine Füße zu fesseln, sonst könnte ich jetzt nicht einfach so aufstehen. Wackelig torkelte ich zu den Pferden hinüber. Diese grasten friedlich am Waldrand und schienen sich von mir überhaupt nicht stören zu lassen. Ich warf einen Blick in Richtung Malik. Er schnarchte noch immer.

Fest biss ich die Zähne aufeinander und schlüpfte an den Pferden vorbei zu den Sätteln. Ich griff sofort an Maliks Satteltasche und zog ein Messer hervor, das ich dazu benutzte, meine Handfesseln abzuschneiden. In dem Moment, in dem die Fesseln nachgaben, seufzte ich wohlig auf. Endlich waren sie ab und meine Haut konnte atmen.

Ich ließ das Messer fallen und griff die Zügel von Maliks rotbraunem Hengst. Dieser schnaubte leise, da er es vermutlich nicht gewohnt war, dass sich jemand anderes als sein Herr an ihn heran wagte. Aber ich konnte nicht meine kleine graue Stute zur Flucht benutzen. Sie war zu stämmig und schwer, so würde ich kaum hundert Meter weit kommen. Aber mit diesem feurigem Hengst, der viele Kilometer weit galloppieren konnte. Mit ihm standen meine Chancen weitaus besser, nicht erwischt zu werden.

Ich zog den Hengst ein Stück abseits zu einem groben Felsbrocken. Im Moment konnte ich nicht riskieren, erwischt zu werden, sodass ich ohne Sattel reiten musste. Es würde zu lange dauern, ihn erst zu satteln, um dann zu fliehen. In der Zeit könnte Malik aufwachen und sehen, wie ich seinen Hengst stahl. So kletterte ich mit zitternden Gliedmaßen auf den Felsen herauf und versuchte, den Hengst so zu platzieren, dass ich aufsteigen konnte. Ich presste meine Waden eng an die Flanken des kräftigen Pferdes.

Auf einmal wieherte es so laut, dass sich mir alle Nackenhaaere sträubten.

Arnor zuckte auf seinem Posten heftig zusammen und riss die Augen auf. »Was...? Malik! Malik!«

Ich begann am ganzen Körper zu schlottern.

Natürlich wachte Malik sofort auf und stemmte sich mit riesen großen Augen auf die Unterarme. Ihm quollen die Augen beinahe aus den Höhlen und nur, um diesen Anblick einmal zu sehen, hatte sich diese Aktion für mich schon gelohnt. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut und Hass, doch im selbem Moment gab ich dem Hengst die Sporen. Ich rammte meine Fersen so fest in seine Flanken, dass er aufbockte und los preschte. Meine Hände umklammerten seinen muskulösen Hals, krallten sich in sein Fell, während er einen Hechtsprung über das Lagerfeuer vollführte, wobei die Flammen nach meinen nackten Fußsohlen leckten. Aber um nichts in der Welt hätte ich losgelassen. Dies war meine Chance auf die Flucht.

»Komm sofort zurück, du kleine Hure!«, schrie Malik mir nach, aber ich rammte dem Pferd unter mir nur noch einmal die Fersen in die Seiten.

»Schneller!«, zischte ich dem Tier zu, das über den unebenen Pfad jagte, als wären die Wölfe hinter ihm her.

Es dauerte nicht lang, bis ich weiteres Huftrappeln hinter mir hörte.

Mein Herz raste so schnell, als wollte es mir aus der Brust springen. Meine Finger an den Zügeln waren schweißnass, der Wind zerrte fest an meinem Haar und die Luft kroch mir unter das dünne Hemd, kühlte mich komplett aus. Aber ich hielt nicht an. Ich flog beinahe und für einen Moment fühlte ich mich frei und meinem Ehemann seit Wochen näher, als je zuvor. Beinahe hatte ich den törichten Gedanken, dass ich bald bei ihm sein könnte. Bald wieder in Regans Armen.

Ich komme, mein Geliebter!

Plötzlich wurde mir kurzzeitig schwarz vor den Augen. Ich fühlte einen bestialischen Schmerz am Hinterkopf, spürte, wie ich fiel, wie meine erschlafften Hände die Zügel losließen und dann den Aufprall. Alle Luft wurde mir aus den Lungen gequetscht und ich spürte Feuchtigkeit im Haar. Mein Körper verkrampfte sich, verdrehte sich und dann kam meine rechte Gesichtshälfte auf dem staubigen Pfad auf. Ich schmeckte Sand und Erde im Mund, sowie Blut. Meine Ohren rauschten vom Blut, das durch meinen Körper gepumpt wurde.

Ich hustete, schnappte laut nach Luft.

Meine Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit um mich herum gewöhnt, als ich blass und schemenhaft jemanden auf mich zukommen sah.

Panik schnürte mir die Kehle zu.

Der rotbraune Hengst wieherte aufgeregt neben mir und trabte unruhig um mich herum, da er sich genauso erschrocken haben musste, wie ich.

Ich schrie schmerzerfüllt auf, als sich eine kräftige Hand in meinem Haar vergrub und mich daran auf die Beine zerrte. Eine geballte Faust traf mich in den Magen und presste mir den letzten Rest Luft aus den brennenden Lungen. Ich nahm Maliks mittlerweile vertrauten Duft war und er war wütend. Sehr sogar.

Verzweifelt griffen meine Hände nach seinen, um sie aus meinem Haar zu lösen, aber er griff nur noch fester zu und zerrte mich mit sich, sodass meine Füße beinahe über den Boden schleiften. Wimmernd stolperte ich neben ihm her, drückte mich immer wieder von ihm ab, aber Malik presste mich nur noch unnachgiebiger an sich, zeigte mir wie zornig er war.

Nun wurde ich mir erst der Tragweite meiner Handlung bewusst. Wie dumm war ich gewesen? Einfach fortzureiten, ohne einen richtigen Plan zu haben?! Wie hätte ich in der Wildnis überlebt, wenn ich die Flucht tatsächlich geschafft hätte? Es war naiv und töricht gewesen und ich wusste, dass mich nun Maliks Zorn erwartete. Er würde mich grün und blau schlagen, aber das war es mir wert gewesen.

Arnor kam uns schwer atmend entgegen und blieb vor uns stehen.

Noch immer stand ich gebeugt da, da Malik mich so fest gepackt hielt.

»Malik, ich...«

»Halt dein verfluchtes Maul«, knurrte Malik und sein Körper vibrierte beim Sprechen. »Das wird ein Nachspiel haben, Arnor. Aber zuerst kümmere ich mich um dieses Flittchen.«

Flehend blickte ich zu dem großen Krieger hinauf, dann starrte ich auf seine Wunde, die vom Laufen wieder angefangen hatte zu bluten. Ich hatte ihm geholfen! Ich hatte seine Wunde genäht und verhindert, dass er zurückgelassen würde, um zu sterben. Aber an seinem Blick, der meinen Augen auswich, erkannte ich, dass ich nach wie vor alleine war. Er würde mir nicht helfen, obwohl er in meiner Schuld stand.

Malik zerrte mich an den Haaren weiter an Arnor vorbei. »Sorg dafür, dass die Pferde zurück zum Lager kommen! Und wehe Titares passiert etwas!«

Er sprach über sein Pferd!

Über sein dummes Pferd, während er mich hier durch die Gegend schleifte!

»Lass mich los, du verfluchter Bastard!«, kreischte ich und versuchte mich aus seinem festen Griff zu winden.

Auf halbem Weg hielt er abrupt an, drehte sich herum und seine geballte Faust landete in meinem Gesicht. Mit einem widerlichen Knacken gab meine Nase nach und ich gurgelte erschrocken auf, während mir warmes Blut über die Lippen lief. Meine Hände hatten vor Schock sein Handgelenk losgelassen. Ich betasteten mein Gesicht, das an allen Seiten geschwollen war. Aber Malik hielt sich nicht weiter auf und zog mich weiter zurück zum Lager. Als wir ankamen, war Rodrig völlig aus dem Häuschen und rannte herum, wie ein aufgescheuchtes Huhn.

»Malik? Was ist passiert?«, fragte er aufgebracht, er hatte nicht einmal seine Rüstung angelegt, sondern stand noch in seinem lockeren Leinenhemd da und lief barfuß über das braune Gras.

Malik reagierte gar nicht, sondern zerrte mich zu einem Baum hinüber, schnappte sich von einem der Sättel einen Bund Fesseln und stieß mich vor einem Baum auf die Knie, sodass mein Gesicht unsanft gegen den Stamm prallte. Benommen und mit rauschenden Ohren starrte ich schwer blinzelnd vor mich hin. Meine Glieder waren regelrecht taub und mein Magen verknotete sich zu einem festen Ball. Während ich so dasaß, umrundete mich Malik und kniete sich auf meine linke Seite. Ich wimmerte vor Schmerz auf, als er das eine Ende um mein Handgelenk festzog, sodass mir beinahe das Blut abgeschnürt wurde.

»Malik? Was wird das?« Rodrig stand unschlüssig neben uns und blickte immer wieder von mir zu Malik.

»Ich werde dieser Hure ein für alle Mal eine Lektion erteilen!«, knurrte Malik und griff nach meinem Kinn. »Und zwar so, dass sie sich wünschen wird, dass ich sie nur verprügelt hätte...«

»Aber... Malik, du weißt, was König Eris gesagt hat«, zischte Rodrig und blickte verzweifelt von mir zu seinem Kommandanten. »Sie sollte unversehrt nach Fenral gebracht werden. Sie hat es doch verstanden. Das wird sie nicht noch einmal versuchen.«

Aber er hörte kaum hin, stand auf und warf das Seil über einen niedrig hängenden Ast und umrundete den Baum dann, um meine andere Hand festzubinden. Er zog das Seil so straff, dass mir ein kleiner Schmerzensschrei entwich, da ich nun an meinen aufgeriebenen Handgelenken hing, sodass ich nur hätte stehen oder auf Knien hängen konnte. Aber meine Beine waren mittlerweile vom Hunger und von den Schlägen so schwach waren, dass ich mich nicht mehr auf ihnen halten konnte. Meine Wange war gegen den Stamm gepresst und mein Atem ging schnell.

»Bitte, Malik! Nein!«, rief Rodrig, als dieser hinter mich trat.

Er packte grob mein Hemd und riss es entzwei, sodass ich beinahe nackt vor den beiden Männern hockte. Ich erschauderte, als Maliks Finger über meinen nackten Rücken bis hinunter zu meiner Lendenwirbelsäule glitten.

»Beinahe tut es mir leid, diesen hübschen, makellosen Rücken zu verunstalten. Zu gerne hätte ich ihn einmal unter mir zittern gesehen, aber gut, Prinzessin. Du wolltest es nicht anders. Jetzt spüre und lerne dabei etwas fürs Leben.«, knurrte Malik und richtete sich wieder auf. Ich hörte ihn kurz zwei Schritte weggehen, dann wieder näher kommen.

»Malik...«, raunte Rodrig verzweifelt.

In dem Moment tauchte auch Arnor mit den beiden Pferden auf. Malik hatte Rodrigs Stute für die Verfolgung genutzt, die nun schweißnass war und erschöpft mit dem Kopf wackelte.

»Willst du an ihre Stelle treten, Rodrig? Dann nur zu. Bürge für dieses kleine Drecksstück, dann fessle ich dich an diesen Baum. Falls du das nicht vorhast, dann halt deine verdammte Fresse und lass mich machen!«, fuhr Malik ihn an.

Wimmernd versuchte ich den Kopf zu drehen, zu sehen, was er vorhatte, aber ich konnte nichts sehen. Mein Herz raste in meiner Brust und flehend blickte ich zu Rodrig hinauf, er möge Malik aufhalten, egal, was er vorhatte. Wollte er mich nun doch vergewaltigen?! Ich betete zu allen mir bekannten Göttern, dasser mich in Frieden lassen würde.

Rodrig hielt meinen Blick fest, dann schloss er ergeben die Augen und drehte den Kopf weg.

»W-was...?«, flüsterte ich mit brüchiger Stimme.

Auf einmal knallte etwas in meinen Ohren, mein ganzer Körper spannte sich so heftig, dass es sich anfühlte, als würden meine Muskeln reißen, noch bevor ich den bestialischen, alles zerreißenden Schmerz auf meinem Rückgrat fühlen konnte, als das Leder einer Peitsche durch mein Fleisch schnitt. Dumpf und entfernt hörte ich meinen eigenen qualvollen Schrei, bis meine Kehle wund war. Ein weiterer Schlag ging auf meinen mageren Rücken nieder und ich spürte, wie die Haut über meinen Wirbeln riss. Ich schrie wieder, noch lauter als zuvor, mein Körper zitterte vor Schmerz.

»Bitte!«, rief ich.

Der dritte Schlag folgte.

Meine Beine zitterten. Meine Haut platzte auf, warmes Blut floss über meinen Körper, tropfte bis auf den Boden. Ich schrie mir die Kehle wund, bi ich heiser war.

Ein vierter Schlag.

Mein Körper spannte sich.

Ein fünfter Hieb.

Die Welt wankte vor mir.

Der sechste Peitschenschlag folgte und ich schloss meine flatternden Augenlider.

Irgendwann merkte ich, dass dies der letzte Schlag gewesen war und sackte in mich zusammen, hing nur noch in den Fesseln. Mein Körper war beinahe taub vor Schmerz und mein Geist wandelte zwischen Wachsein und Bewusstlosigkeit. Mein schwerer Atem brannte in meinen Lungen, mein Rücken war feucht von meinem Blut und Schweiß. Ich zitterte wie Espenlaub und irgendwann versank meine Welt in stetiger Dunkelheit.

Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war, wie ich einen Namen flüsterte, in der Hoffnung, irgendwann gerettet zu werden. Es war der Name meines geliebten Ehemannes...

 

 

Seine behandschuhten Hände waren zu Fäusten geballt, die die Zügel seines Pferdes Kestral fest umfassten. Sein schwarzer Kaltbluthengst schnaubte so fest, dass er große, weiße Atemwolken in die kalte Nachtluft austieß. Sein Kiefer mahlte, während er auf Kestrals Rücken saß und in die Ferne blickte. Die Sonne war soeben hinter den Bergen untergegangen und zauberte ein schummeriges Licht auf die weiten Ebenen Fenrals. Er hatte seine Armee über das schwarze Gebirge geführt und nun rasteten sie auf einem Plateou, bevor sie in der Morgendämmerung den Abstieg wagen und dann in fenraler Gebiet eindringen würden.

Er dachte noch einmal darüber nach, wie er vor einigen Tagen einen Raben nach Fenral geschickt hatte, damit der König darüber Bescheid wusste, was Woberok von der Kriegshandlung hielt, die zukünftige Königin zu entführen. Er hatte die Worte selbst geschrieben.

 

In Hochachtung seiner Majestät König Eris von Fenral,

hiermit teile Ich, Kronprinz Regan von Woberok, Euch mit, dass Prinzessin Akira von Woberok entführt und verschleppt worden ist. Es besteht die dringende Annahme, dass ein Mann Fenrals diese Tat geplant und vollbracht hat. Es wurden entsprechende Beweise sichergestellt. Aus diesem Grund zieht König Ragnar von Woberok Euch als Vertreter Eures Volkes zur Verantwortung. Aus diesem Grund sind ab sofort alle Bündnisse, Handelsverträge und Friedensverträge hinfällig.

Ab diesem Zeitpunkt ist Fenral von allen Verträgen und Abmachungen entbunden und Ihr werdet als Feind der Krone Woberoks angesehen.

Sollte der Prinzessin in Eurer Obhut auch nur das geringste Haar gekrümmt, werden sofort Kriegshandlungen in die Wege geleitet.

 

In Respekt Kronprinz Regan von Woberok

 

Er hörte, wie sein Kamerad sein Pferd neben seines lenkte. »Wie geht es dir, Regan?«

Schwach schüttelte er den Kopf, ließ den Blick nicht von den Bergen in der Ferne schweifen. »Immer wieder denke ich darüber nach, was man ihr wohl antut.«

»Bestimmt geht es ihr gut.«, murmelte Raphael leise. »Wir müssen Vertrauen in die Götter haben, dass sie sie beschützen.«

»Wenn das so einfach wäre.« Regan schüttelte den Kopf noch einmal und blickte hinunter auf das Heerlager, dass sich in der Umgebung niederließ. Die Männer bauten provisorische Lagerfeuer auf und breiteten ihre Deckenrollen aus, denn Zelte aufzubauen, würde sich für eine Nacht nicht lohnen. Erst, wenn sie näher an Fenral waren, würde Regan den Befehl zum Aufbau erteilen.

Noch immer machte er sich Vorwürfe, sie eingeschlossen zu haben, aber das würde sie jetzt nicht weiterbringen. Alles, was zählte, war, sie nach Hause zurückzubringen. Sein Blick wanderte in den Himmel, wo die Sterne und Polarlichter flimmerten und ihn daran denken ließen, dass er sie liebte und wieder haben musste. Er schloss die Augen.

»Ich werde dich finden.«, flüsterte er, dann folgte er Raphael zum Lager zurück.

Kapitel 4

 

 

Die Luft war kühl auf seiner Haut und in seinem rabenschwarzem Haar und verhieß nichts Gutes. Etwas lag im Wind, wie ein Flüstern, ein Klagen, ein Schmerz. Der Wind pfiff um die Steintürme des Bergfriedes herum, heulte in den Ecken und Enden und beschleunigte, um ihm kalt in den Nacken zu pusten. Seine behandschuhten Finger umklammerten die Kante der Mauerzinnen, auf der er stand und in den Hof blickte. Im Innern des Hofes herrschte geschäftiges Treiben. Die Diener huschten herum, brachten Holz für die Kamine der Zimmer im Bergfried, Wachmänner wechselten ihre Schichten und die Welt war für wenige Augenblicke friedlich.

Seit Tagen herrschte Spannung im Erdkönigreich Fenral. Sein Vater und König war noch unerträglicher, als sonst, da vor wenigen Tagen die Nachricht des Kronprinzen von Woberok in Fenral eintraf. Ein woberokischer Bote brachte die Schriftrolle mit den gekritzelten Worten und verlor noch, bevor er zu Ende hatte sprechen können, sein Leben, indem König Eris ihm einen Dolch in den Hals rammte.

Noch in dem Moment, als die Diener sein Blut vom Steinboden wischten, erklärte König Eris Woberok ab nun zum Feind der Krone von Fenral. Jeder Woberoker, oder jemand, der woberokische Symbole trug oder mit Woberokern verkehrte, sollte festgenommen und in die königlichen Kerker geworfen werden. Solange, bis der König sich um dieses Problem kümmerte.

Seine Hände verkrampften sich und er atmete die kalte Luft fest ein und aus.

Nur, weil Malik nicht vorsichtig genug gewesen war! Nur deshalb war er aufgeflogen und Woberok wusste, dass Fenral etwas mit der Entführung der Prinzessin zutun hatte. Nur, weil sein Halbbruder hitzig und unüberlegt gehandelt hatte, wie immer! Was ihn am meisten daran störte, war, dass er wusste, dass er es besser gemacht hätte. Er hätte keine Spuren hinterlassen.

Auf einmal frischte der Wind auf, zerzauste ihm das Haar und er wusste sofort, dass seine Schwester nicht weit entfernt war. Leicht lehnte er sich von den Burgzinnen zurück und drehte den Kopf über die Schulter. Da stand sie. Seine Schwester war eine Schönheit. Ihr schmal geschnittenes Gesicht war ausdrucksstark, genauso wie ihre hellbraunen Augen mit den dunklen Rändern, die einen mit einer unglaublichen Intensität musterten. Ihr dunkelbraunes Haar war an den Seiten ihres Kopfes streng geflochten worden, doch mündeten sie in ihrer offenen, dicken Mähne. Wenn sie nicht gerade als Schildmaid das Schwert führte, traf man sie auch zur Abwechslung mit offnem Haar an. Ihr schlanker, wohlgeformter und muskulöser Körper steckte in einem dicken Wollkleid, um ihrer Taille herum lag ein breiter Ledergürtel mit Ornamenten verziert. Um sich zu wärmen, trug sie einen Bärenfellmantel und dunkle Lederhandschuhe.

Ihre dunkel geschminkten Augen folgten seinem Blick in die Ferne. »Du grübelst wieder einmal zu viel nach, Bruderherz.«

»Wenn nicht ich, wer dann?«, fragte er grimmig zurück und ließ den Blick über den Innenhof gleiten, in dem die Menschen herum rannten, um ihre Aufgaben zu erledigen. Im starken Kontrast dazu standen die Wachen reglos an ihren Posten.

»Du warst schon immer der Vernünftigste von uns vieren.«, erwiderte sie ihm und stellte sich neben ihn hin.

»Ich bin ja auch der Älteste. Von Anfang an musste ich euch beschützen und ich war mehr Vater für euch, als... du weißt schon.«

Sie nickte verstehend. »Ich weiß.«, murmelte sie und legte vorsichtig eine Hand auf seine. »Sorgst du dich um ihn?«

»Um ihn sorgen?« Er funkelte sie mit seinen sturmgrauen Augen an. »Ich sorge mich schon lange nicht mehr um Malik. Das müsstest du doch eigentlich wissen.«

Als er seine Hand ruckartig unter ihrer hervorzog, schloss sie die Augen. »Ich weiß, dass er dir viel angetan hat, Fenris, aber kannst du nicht verzeihen? Er ist immernoch unser Bruder.«

Seine Kiefermuskeln arbeiteten stark, sodass man die Muskelkontraktionen sogar durch seinen gepflegten Dreitagebart hindurch schimmern sah. »Du bist noch immer zu weich, Euros. Sieh dir Vater an, dann ihn. Er ist unser Bastardbruder und wird niemals mehr sein, als das. Und verlange nicht von mir, dass ich ihm vergebe.«

»Ihr wart Kinder, Fenris...«

»Genau aus diesem Grund.«, knurrte er und öffnete den Mund, um noch mehr zu sagen, aber in diesem Augenblick ertönte auf einmal ein Ruf vom Burgtor aus. Die beiden wechselten einen kurzen Blick, dann traten sie wieder zu den Zinnen und sahen hinab in den Burghof. Das Fallgitter wurde soeben empor gehievt und hindurch ritten drei schwer gepanzerte Männer mit ihren Pferden.

Fenris Gesicht wurde ausdruckslos, als er den Anführer der Gruppe erkannte.

»Malik«, sagte er tonlos.

»Was ist das?«, fragte Euros und sie zuckte zusammen, als sie aus der Ferne sahen, wie Malik an einem Seil zerrte, sodass ein dürrer, ausgemergelter Körper nach vorn stürzte und auf den gepflasterten Stein des Innenhofes fiel.

Fenris biss die Zähne aufeinander. »Nichts Gutes«, antwortete er und wechselte einen Blick mit seiner Schwester.

Sie sah genauso besorgt aus, wie er sich fühlte.

Dieses kleine, knapp bekleidete Bündel konnte niemand anderes sein, als der Grund, weshalb Malik beinahe ein ganzes Jahr fort gewesen war. Und nun stieg er wie ein Pfau von seinem Pferd, der eine besondere Trophäe heim brachte und dieses kleine Ding hinter sich herzerrte. Es stolperte immer wieder über seine eigenen Füße und fiel unsanft auf den Pflasterstein. Dann verschwand er im Innern der Burg und Fenris' Herz begann schneller zu schlagen.

»Lass uns reingehen.«, sagte er angespannt.

Euros nickte ebenso nervös und folgte ihm ins Innere der Burg. Sie durchliefen die Gänge und Treppen der Burg wie in Zeitlupe und eine Anspannung machte sich in der Luft breit. Sie knisterte regelrecht vor Spannung und Hitze. Als sie den Thronsaal über die höhere Etage erreichten, konnten sie bereits Stimmen vernehmen. Sie blieben auf dem Podest stehen und starrten einen Moment hinunter in die weite, dunkle Halle. Seit eine Krankheit an König Eris nagte, verabscheute er das Licht, sodass nur noch dunkle Vorhänge an die einst so gewaltigen Buntglasfenster erinnerten, die hinter ihnen versteckt waren. Nur Fackeln erleuchteten die dunkle Halle und den Thron, der direkt unterhalb des Podestes stand. Dieser war aus dickem, dunklem Eichenholz geschnitzt worden und sollte an die Liebe zum Königreich erinnern, an das mächtige Wappen.

Euros und Fenris betraten eine der mächtigen Treppen, die zu beiden Seiten des Thrones herab in die Halle führten.

Sofort eilte Euros an die Seite des Königs. »Vater«, flüsterte sie und legte ihre Hand auf seine.

Der König griff danach und drückte sie sachte. »Meine Tochter... Du siehst aus, wie deine Mutter.«

Leicht lächelte sie und nickte, denn das sagte der König immer, wenn er sie erblickte. Es war bereits zu einer Art Ritual geworden.

Wesentlich kühler fiel die Begegnung zwischen dem König und Fenris aus, der jedoch nur Augen für Malik hatte, der vor dem Thron stand, vor ihm hockte das Bündel, das er nun zum ersten Mal aus der Nähe betrachten konnte. Es war ein junges Mädchen, wenn man sie denn noch als Mädchen erkennen konnte, so dürr und abgemagert wie sie war. Dreck und Schmutz klebten an ihren Gliedmaßen und von ihr ging ein unglaublicher Gestank aus. Die Farbe ihres Haares erinnerte entfernt an ein rötliches Braun, der Rest war dunkel verfilzt. Blätter und Erde hingen in ihren Strähnen und Schmutz bedeckte den Großteil ihres Gesichtes. Doch viel schlimmer waren die Verletzungen, die sie am Körper trug. Ihre Gesicht war zur Hälfte angeschwollen und dunkelviolett verfärbt, als hätte man sie vor kurzem mit etwas Hartem geschlagen, an ihren Oberarmen befanden sich dunkle Fingerabdrücke und ihre Handgelenke waren blutig aufgerieben, aber das anscheinend schon seit Wochen.

Wut packte Fenris, als er die Geisel in diesem Zustand erblickte.

Er blieb angespannt neben dem Thron des Königs stehen und taxierte seinen Halbbruder mit kalten Augen.

»König Eris«, grüßte Malik seinen Vater und verbeugte sich knapp, dann deutete er auf das Mädchen, das vor ihm auf dem kalten Boden kniete, den Kopf halb gesenkt und verborgen unter der zottigen Filzmähne. »Das ist die Kartanerin, die Ihr wolltet.«

König Eris zeigte keinerlei Regung.

Eine ganze Zeit verging, in der sich das Mädchen kaum bewegte, außer, dass sie immer wieder leicht mit dem Kopf vor und zurück wippte, was Fenris Sorgen bereitete. Sie sah alles andere als gesund aus. Es lag nicht einmal so sehr an ihrer erbärmlichen Erscheinung, denn viel mehr an der blassen, beinahe gräulich wirkenden Haut, die mehr als genug zu sehen war und dem feinen Schweißfilm, der auf ihrer Haut glänzte. Ihre Augen konnte er nicht genau sehen, aber er konnte den Tod beinahe an ihr wittern.

»Das... das ist also die Kartanerin?« Die Stimme des Königs klirrte wie Eis.

Malik trat stolz einen Schritt hervor. »Ja.«

»Das ist die gefährliche Löwin, die Tochter des Feuers? Die Seherin? Das ist das Kind, das die Welt entweder ins Chaos oder ins Licht stürzen wird?«, wollte der König wissen.

»Ja.«, antwortete Malik mit einer Spur Unsicherheit.

»Du verdammerter Idiot!«, brüllte König Eris auf einmal los und sprang von seinem Thron, sodass er beinahe etwas schwankte, da er sich nicht auf den Beinen halten konnte. »Dieses Ding ist mehr tot als lebendig! Was nützt mir diese Waffe, wenn sie tot ist? Was hast du getan? Hast du auch noch andere Dinge getan, als sie halb ohnmächtig zu prügeln?!«

Blinzelnd senkte Malik den Kopf.

Hitze stieg in Fenris Ohren auf, während sein Vater seinen Halbbruder zurecht stutzte. Das Suspekte daran war, dass der König nicht anders war, als sein Bastardsohn, den er mit einer Mätresse gezeugt hatte. Waren alle anderen Kinder des Königs immer mehr wie die verstorbene Königin gewesen, so hatte Malik alle schlechten Eigenschaften seines Vaters geerbt.

»Hast du sie genommen?«

»Vater«, flüsterte Euros und wollte nach seinem Ellenbogen greifen, aber er schüttelte seine Tochter ab.

»Ob du sie gefickt hast, habe ich gefragt!«

Malik schüttelte den Kopf.

»Na wenigstens etwas.«, brummte König Eris und ließ sich zurück auf den Thron fallen. Dann wandte er den Kopf zu Fenris und nickte zu der Geisel hin. »Schau was ihr fehlt und, was dein dummer Bruder wieder angerichtet hat, danach können die Wachen sie auf ihr Zimmer bringen.«

»Wie Ihr befiehlt.«, antwortete Fenris und trat einige Schritte näher an das Bündel heran, während Malik noch immer stocksteif neben ihr stand und sich nicht einen Zentimeter vom Fleck rührte.

Während er näher trat wurde der Gestank noch heftiger und etwas eklig Fauliges mischte sich darunter, was ihm Sorgen bereitete. Zudem ging eine seltsame Hitze von ihr aus. Vorsichtig umrundete er sie, sie hockte noch immer unbeweglich da. Er weitete die Augen, als er die Katastrophe auf ihrem Rücken erblickte. Das Hemdchen, das sie kaum noch bedeckte, hing ihr zerfetzt vom Rücken, in den sich tiefe Kerben gegraben hatten. Das Fleisch war tief gerötet und eitrig entzündet, verursachte mit Sicherheit unsägliche Schmerzen. Zudem zitterte sie, was seinen Verdacht nur bestätigte. Es war Wundbrand... eine tödliche Infektion, die, wenn sie nicht behandelt wurde, schlimm endete. Und hier in Fenral kam man üblicherweise schnell zu diesem Ende.

»Ich glaube, die Wachen müssen sich noch gedulden.«, sagte Fenris atemlos, dann funkelte er seinen Bruder an und stieß ihn zurück. »Du Narr! Hast du ihre Verletzungen nicht gesehen? Du hast sie ihr doch zugefügt, oder nicht?!«

»Welche Verletzungen?«, fragte Euros und kam zu ihnen geeilt.

Sie kümmerte sich kaum um die beiden streitenden Männer, sondern kniete sich zu dem Mädchen hinunter. Seine Schwester hatte sich noch nie davor gescheut, Kranke oder Verletzte anzurühren oder jemand, der so entsetzlich ungepflegt aussah, wie diese Geisel. Sofort griff sie nach dem Gesicht des Mädchens. Dieses wehrte sich leicht, aber sie war bereits zu schwach, um Euros abzuschütteln. Kraftlos sackte sie in sich zusammen.

»Sie hat Wundbrand«, hauchte Euros und strich dem Bündel vorsichtig das Haar aus dem Gesicht. »Sie glüht, aber ihre Finger sind eiskalt... sie muss sofort behandelt werden.«

»Bringt sie auf das vorbereitete Zimmer. Ich werde die Kräuterfrau zu dir schicken, Tochter.«

»Ich danke dir, Vater.«, sagte Euros, als zwei Wachmänner das Mädchen aufhoben und halb zur Treppe schleppten. Euros folgte ihnen und musste sogar mit anpacken, als das Mädchen am Fuße der Treppe zusammenbrach und ohnmächtig wurde.

Fenris stieß Malik zurück, der ihn finster anfunkelte.

»Und du, Junge, du hast mir zwar das Mädchen gebracht, aber sie ist mehr tot, als lebendig. Wenn sie stirbt, wird es Konsequenzen haben!«, knurrte König Eris und deutete zum Ausgang der Halle. »Und nun geh mir aus den Augen.«

Fenris hörte Malik noch fluchen und zetern, kümmerte sich jedoch nicht darum und wandte sich seinem Vater wieder zu, der schwer atmend in den Thron zurücksank und sich die ergrauten Haare raufte. »Und du, geh zu deiner Schwester und hilf ihr bei der Versorgung des Mädchens. Beschütze diese Kartanerin, egal was geschieht. Du kennst Malik.«

Fenris nickte gehorsam und entfernte sich, blieb jedoch stehen, als der König erneut die Stimme erhob.

»Und sorge dafür, dass sie überlebt. Sie ist wichtig, Fenris.«

Wieder nickte er und folgte dann der Blutspur in den östlichen Turm, wo das Zimmer der Geisel lag.

 

Als er im östlichen Turm ankam, empfing ihn Euros' autoritäre Stimme. Sie bellte Befehle und die Diener huschten wie aufgescheuchte Hühner durch das Turmzimmer, um ihrer Prinzessin zu gehorchen. Handtücher, heißes Wasser und Arzneikästen wurden heran getragen. Das halb tote Mädchen lag seitlich auf dem Bett, das einige Diener in der Zeit, in der Malik fort war, um sie hierher zu holen, aufgestellt hatten. Sie sah so erbärmlich verloren in dem riesigen Bett aus, schoss es ihm sofort durch den Kopf, als er näher trat.

Fenris hob den Kopf und blickte seine Schwester an, die neben dem Bett stand und auf das kleine Bündel hinuntersah.

»Was hat sich Malik dabei nur gedacht?«, flüsterte sie und er hörte die unterdrückte Wut in ihrer Stimme.

Er schnaubte abfällig. »Wie immer wird er sich nichts dabei gedacht haben.«, bemerkte Fenris und umrundete das Bett, um das Gesicht der Prinzessin Kartans ansehen zu können.

»Es wird immer schlimmer mit ihm.«

Fenris hörte seiner Schwester schon beinahe nicht mehr zu, sondern betrachtete das Mädchen, das kaum mehr aussah wie eines. Sie war mager, ihre Schlüsselbeine ragten unter ihrer dünnen, beinahe durchscheinenden Haut hervor. An ihren rausstechenden Wangenknochen könnte man sich glatt ein Auge ausstechen und die tiefen, dunklen Ringe unter ihren Augen ließen nur erahnen, was Malik ihr angetan haben musste. Der Rest ihres Körpers war in einem noch schlechteren Zustand. Wenn sie überlebte, dann war es ein Wunder.

»Ich spüre etwas Dunkles in seiner Nähe.«, murmelte Fenris und sah sie ernst an.

Euros schüttelte bestürzt den Kopf und kaute an ihrem Daumennagel herum, was sie nur tat, wenn sie zutiefst beunruhigt war. »Ich fürchte um Nero. Er liebt Malik so sehr und ich habe Angst, dass er ihm nacheifert.«

»Ich werde ein Auge auf ihn haben.«

»Sollten wir Vater nicht Bescheid geben? Ich meine, wenn du schon etwas Dunkles spürst...? Auf deinen sechsten Sinn konnte man sich doch schon immer verlassen. Du wusstest es, als du... Nun ja.« Sie unterbrach sich und deutete auf das Mädchen auf dem Bett. »Wenn er ein völlig fremdes Mädchen schon so zurichtet...«

Fenris biss die Zähne aufeinander und schüttelte betrübt den Kopf. »Den König interessieren solche Dinge nicht. Wir müssen uns selbst darum kümmern. Du weißt, dass Nero nie wichtig für ihn war.«

Besorgt nickte Euros und seufzte. »Vermutlich hast du recht.«

In diesem Moment unterbrach sie eine alte, krächzende Stimme von der Tür des runden Turmzimmers aus. Die gebeugte, vermummte Gestalt mit den knochigen Fingern humpelte in langsamen Schritten in den Raum. Eine Kapuze, die über ihr Haupt lag, verdeckte ihr Gesicht und ihre Miene. Das stetige Klacken ihres Gehstockes, der aus einem gekrümmten Ast zu bestehen schien, hallte gespenstisch laut durch den gesamten Raum. Sie umrundete das Bett, sodass sie das Gesicht des Mädchens betrachten konnte.

Euros und Fenris traten respektvoll einen Schritt zurück und ließen sie machen.

Sie war die Kräuterfrau der Burg. Sie war es, die unter dem gesamten fenraler Volk mit dem Namen Hexe gefürchtet und bekannt war. Sie war die Kräuterhexe, die den König schon mehrere Male vor dem Tod bewahrt hatte. Einige böse Zungen glaubten jedoch auch, sie habe den König in den Wahnsinn getrieben und zu dem grausamen und unerbittlichen Mann gemacht, der heute Fenral regierte. Egal, was davon stimmen mochte, Fenris war ihr gegenüber immer misstrauisch und stets auf der Hut.

Diesem Weib war nicht zu trauen.

Umso besser musste er nun aufpassen, wenn sie die Kartanerin behandelte.

»Ist das das Mädchen?«

Euros trat einen Schritt näher. »Ja, Nevtis. Das ist die Auserwählte.«

»Im Moment sieht sie mehr aus, wie eine Leiche, als eine Auserwählte.«, bemerkte die alte Frau und hob die Hand über den scheinbar leblosen Körper.

Fenris runzelte die Stirn und beobachtete die Gebärden der Kräuterhexe.

»Ihr Herz schlägt schwach.«, murmelte die Alte mit krächzender Stimme, als sie sich auf die Bettkante sinken ließ. Ihre knochige Hand, an der die Nägel wie Klauen gebogen waren, strichen dem Mädchen eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht. Beinahe sanft legte sie ihren Daumen auf eines der Augenlider und hob es an. Die schwarze Pupille, eingerahmt durch strahlendes Blaugrün zog sich zusammen wie eine Murmel und die Hexe ließ das Augenlid wieder los. »Sie ist es tatsächlich... Ich hätte nicht gedacht, dass der Königsbastard es schaffen könnte, sie her zu bringen.«

»Woher wisst Ihr, dass sie die Richtige ist?«, wollte Fenris mit grimmiger Stimme wissen.

Sogar der König hatte, ob ihrer Erscheinung daran gezweifelt, dass sie die Auserwählte sein könnte. Woher wollte diese Frau dies nun mit einem einzigen Blick in ihre Augen erkennen?

Sie drehte den Kopf zu dem jungen Kronprinzen herum und blitzte ihn mit ihren unnatürlichen Reptilienaugen an. »Ich spüre es. Genauso wie du, Wolfsblut.«, zischte sie. »So wie jeder mit Magie im Blut es spüren kann, dass sie etwas besonderes ist. Dennoch muss sie behandelt werden... Prinzessin, helft mir, ihr dieses Ding auszuziehen. Und Ihr geht.«

Fenris biss die Zähne zusammen, sodass seine Kiefermuskeln hervorragten. Er packte die Hexe am Oberarm und sah ihr fest in die Augen. »Ich lasse mir von Euch keine Befehle erteilen!«, knurrte er. »Mein Auftrag lautet, sie zu beschützen und am Leben zu halten. Und deshalb werde ich genau hier bleiben, wenn Ihr sie behandelt. Der König und viele andere mögen Euch ja vertrauen, aber Euch vertraue ich mit Sicherheit nicht.«

»Lüstling«, spuckte sie.

»Was?!« Fenris weitete wütend die Augen und sein Blut kochte vor Zorn.

Euros erkannte die Situation zum Glück genau richtig und drängte sich zwischen die beiden. »Es reicht! Dann stell dich wenigstens an die Tür, wenn du den Raum schon nicht verlassen willst. Bitte, Fenris.«

Die Stimme seiner Schwester, wie immer sanft und eindringlich, beruhigte ihn langsam, so, wie sie es früher vermocht hatte. Er ließ die alte Frau los und drehte sich ruckartig um, stapfte zur Tür und blieb dort mit dem Rücken zur Wand stehen. Seine Augen beobachteten jeden Diener, der ins Zimmer kam und wieder ging, beobachteten jeden Handgriff seiner Schwester und der Kräuterhexe. Sie richteten das Mädchen auf und halfen ihr auf einen Stuhl. Da sie noch immer zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit hin und her dämmerte, musste Euros sie festhalten, während Nevtis das Stück Stoff von ihrem Körper schnitt und den Rest ihres mageren Leibes enthüllte. Ihre Haut war gräulich verfärbt und wirkte ungesund, an allen Ecken und Enden standen ihre Knochen hervor. Ihre Rückenwirbel und Schulterblätter wölbten sich heftig unter ihrer dünnen Haut, die durch die Peitschenmale durchtrennt war. Tiefe Kerben hatten sich in ihr Fleisch geschnitten.

Er hörte in den Stunden, in denen sich die beiden Frauen sorgsam um sie kümmerten, immer wieder die Schmerzenslaute der Geisel. Nevtis und Euros säuberten die Wunden, wuschen ihren Körper oberflächlich mit weichen Schwämmen, Wasser und Seife und irgendwann griff Euros zu einer Schere und die rostroten verfilzten Strähnen pflasterten den Boden um den Stuhl herum. Anschließend fertigte Nevtis einen Kräuterverband an und wickelte den gesamten Oberkörper des Mädchens damit ein. Danach hievten die Frauen sie wieder ins Bett und bedeckten sie mit dünnen Laken.

Und dann begann ihre Wacht.

Euros zog sich einen Schemel heran und wechselte immer wieder den kühlen Lappen, den sie auf die Stirn des Mädchens gelegt hatte. Sie zitterte wie Espenlaub, ihr Gesicht war fahl und bleich, unter ihren Augen wölbten sich dunkle Ringe und ihre Lippen waren blass, kaum durchblutet. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn und tränkten nun ihre kurzen, dunklen Strähnen. Zwar hatten Euros und Nevtis dem Mädchen einiges ihrer einst langen Mähne abgeschnitten, aber vermutlich musste man noch einmal mit der Schere an sie heran treten. Immer wieder kniff sie ihre ohnehin geschlossenen Augen zusammen, als würde sie furchbare Dinge träumen und ihre Hände, die neben ihren Hüften auf der Matratze lagen, zuckten immer wieder.

Fenris runzelte die Stirn.

In diesem Moment seufzte Euros. »Das hat nichts mehr mit einem Wutausbruch zutun.«, sagte sie leise und wirkte sehr nachdenklich dabei, wie sie das Mädchen ansah. »Sieh dir nur ihr Gesicht an. Wie oft muss er sie geschlagen haben? Und die Male auf ihrem Rückgrat... so werden noch nicht einmal Kriegsgefangene oder Mörder behandelt. Das war Folter... über mehrere Tage.«

»Ich weiß... wie sie im Thronsaal hockte. So, als hätte sie nicht mal das Geringste mitbekommen.«, antwortete er und zog sich ebenfalls einen Stuhl heran, ließ sich darauf sinken. »Wir verlieren die Kontrolle über ihn. Diese Mission, um sie hierher zu bringen, hätte er nicht alleine ausführen sollen. Niemand hat es gewagt, ihn zu stoppen, erst recht nicht Rodrig oder Arnor.«

»Sie wussten, wie aufbrausend er sein kann.«, murmelte sie und beugte sich zu dem Mädchen vor, strich ihr eine wirre Strähne ihres Ponys aus der verschwitzten Stirn. »Sie ist so dünn... und so jung. Wie ein Vogel ohne Gefieder. Ihre Haut ist beinahe durchscheinend.«

Mit einem kühlen Blick betrachtete er die Geisel. Sie war in der Tat der jung. Aus zuverlässigen Quellen wusste er, dass sie nicht älter, als siebzehn sein konnte und in diesen jungen Jahren schon die Frau des woberokischen Kronprinzen zu sein und künftige Königin, war eine Menge Verantwortung für einen so jungen Menschen. Doch Fenris wusste, dass sie noch viel wichtiger war, als ihr Königreich vermutet hatte. Die alten Texte der Bruderschaft erzählten von ihr, da wusste noch niemand, dass sie überhaupt geboren werden würde.

»Gewöhne dich nicht an sie, Euros. Wer weiß, ob sie die Nacht übersteht.«

Sie hob den Kopf. »Warum sagst du solche Sachen?«

»Weil es stimmt. Sieh sie dir an! Sieh dir an, was Malik mit ihr gemacht hat! Was ist mit dem letzten Mädchen passiert, von dem er hier besessen war?«, wollte Fenris wissen.

Seine Schwester seufzte. »Du musst mich nicht an die Mägde erinnern, die er zu Tode getrieben hat. Meinst du, dass es hier wieder so ist? Bei ihr?«

Der junge Mann zuckte die Schultern. »Du sagtest selbst, dass es Folter war. Malik ist gefährlich und ich bin überzeugt davon, dass er von diesem Mädchen besessen ist.«

Euros biss sich auf die Unterlippe. »Vater hat dir befohlen, sie zu beschützen, oder?«

Fenris nickte ernst.

»Ich verstehe. Bitte sei vorsichtig. Du kennst Malik, du kennst sein wahres Ich.«, sagte sie. »Und ich fürchte, er würde nicht vor einem Kampf zurückschrecken, falls er wirklich an sie heran kommen will.«

Daran bestand für Fenris kein Zweifel. Er hatte Maliks irres Funkeln in den Augen im Thronsaal gesehen, als er das Häufchen Elend vor sich präsentiert hatte, wie eine besondere Trophäe. Wie ein Stück Wild, das er erbeutet hatte, um nun jemandem, den er stolz machen wollte, seine Felle zu zeigen. Er hatte sie so zugerichtet, sie vermutlich über Wochen hungern und dursten lassen, weil es ihm gefiel, sie leiden zu sehen. Die dunklen Flecke auf ihrem Körper sprachen dafür, dass er sie verprügelt hatte und die Intensität und das Farbenspiel der verschiedenen Blutergüsse zeigten ihm, dass Malik diese Momente genossen haben musste.

Dieser Vorfall zeigte Fenris wieder einmal auf, wie gefährlich sein jüngerer Halbbruder war. Seit sie Kinder gewesen waren, war alles zwischen ihnen ein Kampf gewesen. Sei es darum gegangen, die Aufmerksamkeit und den Stolz ihres Vaters auf sich zu ziehen oder ihrer beiden Müttern zu gefallen. Königin Zeris war Fenris' Mutter und der König sein Vater, so war er Kronprinz. Doch, während die Königin mit ihm schwanger gewesen war, hatte sich der König eine Mätresse genommen und mit ihr den Bastard Malik gezeugt. Beide Männer hatten schon immer konkuriert, in allem und bei jedem. Dabei war Fenris schon immer bevorzugt worden, da er der rechtmäßige Thronerbe von Fenral war. Vielleicht war das einer der Gründe, dass Malik nun vollkommen außer Kontrolle war und scheinbar Gefallen daran fand, jeden Menschen in seiner Umgebung zu quälen.

Fenris lehnte sich zurück und blickte wieder auf das Mädchen hinunter.

Sein sechster Sinn sagte ihm, dass ihnen allen noch vieles bevorstand.

 

Kapitel 5

 

Die Nacht verging langsam. Immer wieder kam es vor, dass die Geisel sich umher warf, die Augen heftig zusammen gekniffen, als würden sie schreckliche Träume verfolgen. Ihre Gliedmaßen zuckten unruhig, auf ihrer Stirn perlte Schweiß und das Fieber stieg ins Unermessliche. Ihre bleiche Haut war fiebrig heiß und ein paar Mal musste Euros loslaufen, um Nevtis zu holen. Irgendwann bereitete die alte Kräuterhexe zusammen mit der fenraler Prinzessin kühle Wadenwickel, um das starke Fieber zu senken. Nach nur wenigen Minuten waren die feuchten Tücher wieder warm, sodass sie regelmäßig ausgetauscht werden musste. Die ganze Zeit über verbrachte Fenris damit, alles und jeden zu beobachten, der sich in diesem Zimmer aufhielt. Besonders die Geisel, die sich ein paar Mal auch herum warf, als wäre sie kurzzeitig im Fieberwahn gefangen.

Irgendwann, die frühen Morgenstunden waren bereits herangebrochen, beruhigte sich das Mädchen und schien in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen zu sein. Sie atmete ruhig und relativ gleichmäßig. Fenris hatte sich an das Fenster gestellt und spielte gedankenverloren an seinem Dolch herum, den er sonst immer im Gürtel stecken hatte. Noch immer saß seine Schwester neben der Geisel und überprüfte beinahe jeden zweiten Moment die Wadenwickel und den kühlen Lappen auf ihrer Stirn. Die Nacht war ziemlich lang gewesen und Euros hatte nicht einmal das Auge zugemacht, sodass Fenris sich von der Wand abstieß. Durch das Fenster strahlten bereits die ersten glühend orangen Sonnenstrahlen.

»Du bist völlig erschöpft.«, sagte Fenris leise, um die Geisel nicht aufzuwecken. »Gehe und ruhe dich aus.«

Sie schüttelte erschöpft den Kopf. »Ich sollte hier bleiben. Sie ist noch nicht über dem Berg.«

Fenris legte väterlich eine Hand auf ihre Schulter. »Hör auf damit. Verstanden? Hör auf, dich für jedes kleine, verrottete Bündel aufzuopfern. Du kannst nicht alle retten.«

»Vielleicht kann ich das nicht, Fenris. Aber ich kann sie retten. Ich sah so viele junge Frauen dahin gehen, nur wegen Malik. Sie werde ich nicht auch noch sterben lassen.«, sagte sie verzweifelt und griff nach der Hand des bleichen Mädchens.

Fenris schwieg und sah wieder auf das Mädchen hinunter. »Na schön. Wenn ich dich schon nicht davon abhalten kann, dann hör wenigstens in dieser Hinsicht auf mich. Geh zu Bett. Ich hole dich, wenn irgendwas passieren sollte. In Ordnung?«

Euros regierte für einen Moment nicht, dann jedoch nickte sie geschlagen. »Gut. Aber du holst mich sofort, wenn irgendwas mit ihr nicht stimmt!«, befahl sie ihm und er nickte mit einem ernsten Ausdruck im Gesicht.

Schließlich stand seine jüngere Schwester auf und legte die Hand ihres neuen Schützlings auf ihren Bauch, der sich langsam und gleichmäßig hob und senkte. Dann verließ sie den Raum, der als Quartier für die Geisel diente. Fenris setzte sich auf den angewärmten Schemel und betrachtete wieder das Mädchen, das dafür gesorgt hatte, dass Euros und er die ganze Nacht auf geblieben waren. Einige Male hatte er beinahe befürchtet, dem König unter die Augen treten zu müssen, um ihm die Nachricht ihres Todes zu überbringen. In diesem Falle hätte er seinen Vater wahrscheinlich mehr enttäuscht, als es Malik mit seinem Verhalten dem Mädchen gegenüber getan hatte. Er hatte die Aufgabe, diese Geisel zu beschützen, bis die Prophezeiung erfüllt sein würde.

Nachdenklich knetete er sein Handgelenk.

Er erinnerte sich noch gut daran, wie der König verkündet hatte, dass der Jahrhunderte alte geschlossene Bund, von nun an im Königreich Fenral aufgehoben war. Von diesem Tage an, hatte er Soldaten Fenrals, die besonders ausgeprägte Leistungen erbracht hatten, in der dunklen Magie unterweisen lassen. Sie wurden Berserker genannt. Männer und Frauen mit besonderen Fähigkeiten im Kampf. Und natürlich waren auch er, Euros und Malik in dieser dunklen Magie ausgebildet worden. Jahrelanges Training hatte sie zu Kampfmaschinen heran gezogen und eines Tages würde Fenris den Platz seines Vaters auf dem Thron einnehmen und diese Tradition fortführen. Dennoch war es ihm ein Rätsel, wie sein Vater die Tatsache, dass in Fenral Magie praktiziert wurde, bisher vor den anderen Königreichen geheim halten konnte.

Auf einmal öffnete sich die Tür und Fenris sah auf.

Ihm schrillten sofort die Alarmglocken, als er in der aufgehenden Sonne das kupferrote Haar Maliks schimmern sah. Sein jüngerer Halbbruder schloss die Tür hinter sich und lehnte sich gegen die Tür. Seine Augen wanderten sofort zu dem ausgemergelten Körper, der mehr tot, als lebendig auf dem Bett lag und fest schlief. Seine Finger zuckten nervös.

Fenris rührte sich nicht von der Stelle, seine Finger verharrten, aber er warf einen flüchtigen Blick zu dem Dolch, der auf dem Nachttisch lag, dann blickte er zurück zu seinem Bruder.

Malik hatte seinen Blick bemerkt, dann lächelte er leicht. »Du würdest mir doch nichts tun, oder, Bruderherz?«

»Gibt es denn einen Grund, dir etwas zu tun, Bruderherz?« Fenris blickte ihn schmaläugig an.

Das Lächeln in Maliks Gesicht schwand. »Ich weiß nicht. Gibt es einen?«

»Sag du es mir.«, forderte Fenris und presste die Kiefer zusammen. »Es grenzt an ein Wunder, dass der König dich nicht bestrafen ließ für das, was du mit der Geisel gemacht hast. Ich war der Überzeugung, dass des Königs Befehle eindeutig waren.«

Malik zuckte die Schultern und schlenderte im Raum umher, bis er neben dem Bett stand direkt auf der anderen Seite zur Linken der Geisel. »Die Kartanerin soll unversehrt nach Fenral gebracht werden.«, zitierte er den König und sah Fenris dann mit einem wahnsinnigen Funkeln in den Augen an. »Sollte ich ihr den Fluchtversuch etwa ungestraft durchgehen lassen? Wir sind alle keine Kinder mehr und die Welt ist nun einmal grausam. Du müsstest es am besten wissen, Brüderchen. Und sie kannte die Konsequenzen und musste damit leben.«

»Du hast sie beinahe umgebracht.«

Malik blinzelte und deutete auf das Mädchen. »Sie lebt doch.«

»Ja! Wegen Euros und der Kräuterfrau! Nicht wegen dir.«

»Tut das was zur Sache? Sie musste bestraft werden und schließlich wird sie überleben. Das ist die Hauptsache. Man kann sie ja auch so noch gebrauchen.«

»Sie wird diese Narben ihr Leben lang behalten.«, bemerkte Fenris und ballte die Fäuste.

»Es schmerzt mich ja selbst, Bruder. Glaub mir.«, antwortete Malik mit schwerer Stimme. »Du hättest sie sehen sollen, als sie so makellos war. So rein und weich... nicht so knochig und dürr. Sie wäre genau die Richtige für dich, wie ich gerade feststelle. Bestimmt hast du noch nicht darüber nachgedacht, aber... diese vollen Lippen geöffnet zu sehen, mit deinem eigenen Schwanz darin...« Malik strich mit dem Daumen über die leicht geöffnete Unterlippe des Mädchens.

Fenris Herzschlag verschnellerte sich und seine Hand griff ruckartig nach dem Dolch. »Fass sie gefälligst nicht an!«

Maliks Hand verharrte. »Eifersüchtig?«

»Nein.«, antwortete Fenris unvermittelt. »Sie ist wichtig und du es nicht wert, sie anzurühren.«

Maliks Kiefermuskulatur begann zu arbeiten, er wechselte einen Blick zu dem schlafenden Mädchen, dann wieder zu seinem Bruder. »Und du bist es wert, sie anzurühren, Kronprinz? Glaubst du, du bist mehr wert, als ein Bastardsohn?«

»Ich glaube vor allem, dass du ihr genug angetan hast.«, umging Fenris seine Frage und stand auf. »Du solltest jetzt besser gehen.«

Malik verlagerte das Gewicht und ließ seine Hand von dem Gesicht der Geisel gleiten. »Irgendwann werde ich sie ohne dich antreffen. Und dann gehört sie mir und niemandem sonst.«

Drohend hob Fenris seinen Dolch an. »Das werden wir noch sehen. Und jetzt verschwinde.«

Sein Bruder schnaubte noch leise, dann wandte er sich mit einem letzten Blick auf das Mädchen von ihm ab und verließ den Raum. Fenris ließ sich zurück auf den Stuhl sinken und betrachtete den Dolch in seinen Händen, dann blickte er zurück in das blau geschlagene Gesicht der Geisel. Dabei gingen ihm die grausigsten Dinge durch den Kopf, was passierte, wenn er sie tatsächlich nicht immer vor Malik beschützen konnte. Diese Gedanken spukten ihm noch mehrere Tage nach diesem Zusammentreffen im Kopf herum.

 

Tage vergingen, in denen es der Geisel mal schlechter, mal besser ging. Das Fieber stieg meist mit dem nahenden Abend und Fenris und Euros verbrachten mehr Zeit am Bett des kartanischen Mädchens als in ihrem eigenen. Mit dem nahenden Morgen sank das Fieber wieder und ihr Atem beruhigte sich, wurde flacher und gleichmäßiger. Es geschah noch zweimal, dass Fenris fürchten musste, dass sie ihren schweren Verletzungen erlag, aber irgendwie dauerte es dann nicht mehr lang, dass sie wieder ruhig schlief. Immer wieder, wenn er abends alleine bei ihr wachte, nachdem er Euros zu Bett geschickt hatte, dachte er über das Zusammentreffen mit seinem Halbbruder nach.

Malik hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er keinerlei Reue darüber empfand, was er dem Mädchen angetan hatte. Er hatte sie bestraft, weil sie versucht hatte, zu fliehen. War es denn verwunderlich gewesen, dass sie die Flucht gewagt hatte? Jeder mit gesundem Menschenverstand hätte einen Fluchtversuch unternommen. Aber sie dafür zu bestrafen und auf diese grausame Weise, war nicht normal. Fenris wurde wieder einmal bewusst, dass ihm die Kontrolle über seinen jüngeren Bruder entglitt. Früher hatte man ihn leichter zur Vernunft bringen können, indem man ihm damit gedroht hatte, es dem König mitzuteilen und viele Dinge waren dadurch einfacher gewesen, aber nun schien es für Malik keine Grenzen mehr zu geben. Es gefiel ihm... zu sehen, wie Menschen litten, schienen ihn regelrecht zu faszinieren und er empfand dem Mädchen gegenüber nicht nur das. Er hatte ihr gegenüber auch ein Verlangen. Fenris hatte es an jenem Abend gespürt. Wie er sie berührt hatte, wie er über sie geredet hatte, wusste er, dass Malik noch lange nicht mit ihr fertig war.

Am dritten Tag nach diesem seltsamen Abend hatte Fenris endlich die Möglichkeit, sich selbst einmal auszuruhen. Tatsächlich hatte sich Rodrig, der Hauptmann der königlichen Garde Fenrals, freiwillig gemeldet, bei der Kartanerin zu wachen, während Euros und Nevtis die Verbände wechselten. So hatte Fenris nach dieser langen Zeit, die Möglichkeit sich in seine eigenen Gemächer zurückzuziehen und sich auszuruhen. Das erste, was er tat, war zwei Dienerinnen zu rufen, die ihm den Badezuber in der einen Ecke seiner Räumlichkeiten mit heißem Wasser zu füllen.

Die beiden stummen Mädchen huschten wie Gespenster durch den Raum, lautlos und flink, wie man es ihnen eingebläut hatte. Alle Dienerinnen im Königshaus mussten spezielle Fähigkeiten aufweisen, wie zum Beispiel lautlos ihre Aufgaben zu erledigen. Nachdem sie den Zuber mit heißem Wasser und Lavendelölen gefüllt hatten, half die Schmalere von ihnen dem Kronprinzen aus der Kleidung. Danach schickte er die Mädchen weg und ließ sich in das heiße Wasser sinken.

Müde schloss er die Augen und seufzte angespannt.

Die Ereignisse der letzten Tage waren ziemlich kräftezehrend gewesen. Den ganzen Tag und die ganze Nacht, ohne kaum ein Auge zu machen zu können, an dem Bett der Kartanerin zu wachen und ständig fürchten zu müssen, dass die Auserwählte starb, hatte sehr an seinen Nerven gezehrt. Da er andauernd damit beschäftigt gewesen war, an ihrem Bett zu wachen, oder sich um seine erschöpfte Schwester zu kümmern, hatte er kaum Zeit gehabt, sich um sich selbst zu kümmern. Zu schlafen, zu baden oder zu essen. Und das alles nur, weil Malik dieses Mädchen so zurichten musste. Hätte er sie unversehrt nach Fenral gebracht, hätte man sie einfach in das Zimmer sperren, sie versorgen und dann zum Einsatz bringen, wenn es soweit war. Doch nun? Nun könnte sie jede Minute ins Totenreich übergehen.

Er lehnte den Kopf in den Nacken.

All diese Gedanken, die in seinem Kopf herum kreisten bescherten ihm einen unangenehmen Druck hinter den Augen. Genervt massierte er sich die Schläfen, ehe er einen weichen Schwamm nahm und seinen verschwitzten Körper damit säuberte. Wie immer erledigte er dies in Windeseile, da er seinen von Narben verunstalteten Körper nicht viel länger, als nötig betrachten wollte. Als er fertig war, erhob er sich tropfend und hüllte sich in ein Handtuch ein, das eine der Mägde über einen Stuhl gelegt hatte. Anschließend kleidete er sich nur mit einer einfachen Stoffhose an und ließ sich erschöpft in sein großes Bett fallen. Beinahe zeitgleich fielen ihm die schweren Augenlider zu.

Er genoss die kurzzeitige Ruhe.

 

Als er erwachte, war es bereits der nächste Tag. Benommen setzte er sich in seinem Bett auf und strich sich das tiefschwarze Haar aus der Stirn, ehe er die Beine über die Kante schwang und sich erhob. Er beeilte sich beim Anziehen und schnappte sich im Vorbeigehen einen Apfel aus der Schale, die auf dem Tisch stand, bevor er sich auf den Weg zum Ostturm. Als er dort ankam, stand Rodrig vor der geschlossenen Tür und hielt Wache. Fenris kam näher und der Hauptmann der Stadtgarde verneigte sich.

»Was ist los?«, wollte Fenris wissen.

Rodrig blickte ihn ernst an. »Sie ist wach.«

Fenris runzelte die Stirn. »Die Geisel?«

Rodrig nickte und öffnete die Tür, damit der Kronprinz eintreten konnte. Fenris ging an ihm vorbei in den Raum. Darin herrschte eine gespenstische Stille. Euros saß auf dem Schemel, auf dem sie die letzten Tage so oft gesessen und an ihrem Krankenlager gewacht hatte. Die Kräuterhexe hingegen saß auf der Bettkante und schien soeben mit dem Neuverbinden der Wunde des Mädchens fertig geworden zu sein. Fenris runzelte die Stirn, betrachtete sie aufmerksam. Sie saß aufrecht, starrte auf ihre Finger, die in ihrem Schoß lagen und wirkte seltsam abwesend. Ihr Gesicht war noch immer blau und grün, aber die Blutergüsse begannen allmählich zu heilen, die an ihren Armen waren jediglich noch gelb. Ihr kurz geschnittenes Haar hing ihr in wilden Strähnen ins Gesicht, verbarg ihre Mimik.

»Prinzessin Akira?«, flüsterte Euros sanft und berührte eine Hand des Mädchens.

Dieses fuhr heftig zusammen, blieb ansonsten jedoch still.

»Prinzessin? Könnt Ihr mich hören?«

Auf einmal begann sie leicht mit dem Kopf zu wippen, aber dies war sicherlich kein Nicken. Fenris konnte die Gefahr und die Angst, die von ihr ausging beinahe wittern. Im selben Moment, wie er das dachte, sprang sie auf und griff sich den Dolch, der auf dem Nachttisch lag und, den Fenris zu Euros' Schutz im Zimmer belassen hatte und sprang vom Bett. Sie krümmte sich, vermutlich, weil sie Schmerzen litt, aber ihr wilder Gesichtsausdruck wirkte beinahe wahnsinnig. Was musste ihr Malik noch angetan haben? Dinge, von denen niemand etwas ahnte?

Fenris schoss hervor und packte seine Schwester am Arm, die wütend protestierte, als er sie in Rodrigs Arme stieß.

Niemand wusste, wozu dieses Mädchen fähig war!

Sie stand da, halb gekrümmt vor Schmerz in diesem dünnen Nachthemd, das ihr um den ausgemagerten Körper schlackerte. So vieles hatte sie durchgemacht und man hatte ihr Unaussprechliches angetan, doch ihr Kampfgeist schien dadurch nur geweckt worden zu sein. Was in ihrem Kopf wohl vor sich ging? Sie erinnerte Fenris an einen geprügelten Hund, der vor Angst die Rute einkniff, aber dennoch die Zähne fletschte. Wie ein in die Enge getriebenes Tier.

»Prinzessin, beruhigt Euch!«, knurrte Fenris.

Sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, die so grün waren, wie der Ozean in der Nähe von Hafental. Doch sie schien ihn kaum zu registrieren, ihre Augen vermochten nichts zu sehen, als wäre sie noch zu benommen, um ihre Umgebung tatsächlich wahrzunehmen. Ihr Atem kam schnell und stoßweise und Fenris machte einen Schritt auf sie zu. Aber er hatte dieses kleine, schwächliche Mädchen unterschätzt, denn sie fuchtelte nicht einfach nur mit dem Dolch herum, sondern führte ihn mit tödlicher Präzision. Hätte er sich nicht so gut in der Waffenkunst ausgekannt, hätte sie ihm wohlmöglich mit ihrem Hieb die Kehle durchgeschnitten. Doch er packte ihr Handgelenk und sie schrie vor Schmerz auf, als er zudrückte, sodass sie den Dolch fallen lassen musste.

Dann presste er sie mit dem Rücken an sich, da sie wie wild herumzuzappeln begann. Ihre Wutschreie hallten durch die Gemäuer.

»Prinzessin Akira! Es ist alles gut! Ihr seid jetzt in Sicherheit!«, versuchte Euros auf sie einzureden, aber das Mädchen wehrte sich wie eine Wilde gegen Fenris kräftigen Griff und er hatte doch tatsächlich Mühe sie unter Kontrolle zu bekommen.

Sie kratzte um sich und versuchte sogar ihn in die Hand zu beißen, wand sich in seinem Griff wie ein Aal, sodass sie ihm aus den Händen schlüpfte. Es dauerte nur Sekundenbruchteile, bis sie sich gesammelt hatte und auf die Tür zuraste. Fenris packte wütend ihren Oberarm und riss sie zu sich herum. Kreischend stieß sie sich von ihm ab.

»Tu ihr nichts, Fenris! Bitte!«, rief seine Schwester erschrocken.

In diesem Moment erstarb die Gegenwehr der Geisel und sie hing atemlos in Fenris' festem Griff. Er starrte zu ihr herunter, sie reichte ihm gerade einmal knapp bis zur Brust und sie starrte ihn an, als wäre er eine Erscheinung. Über ihre von Blutergüssen gezeichneten Wangen strömten Tränen.

»R-regan?«, hauchte sie kaum hörbar und im gleichen Augenblick flatterten ihre Augenlider und sie sackte vor Erschöpfung in seinen Armen zusammen.

Er schob seinen Arm unter ihre Kniekehlen und hob ihren fliegengewichtigen Körper auf seine starken Arme, trug sie zum Bett hinüber und legte sie dort ab. Euros und die Kräuterhexe eilten zu ihm, um das Mädchen zu untersuchen, während Rodrig den Dolch aufhob, den sie zuvor fallen gelassen hatte. Fenris zog sich zurück und runzelte die Stirn, während Euros die Stirn der Geisel befühlte.

Als Rodrig ihm den Dolch zurückgab, zog Fenris ihn zur Seite. »Wie war eigentlich das Verhältnis zwischen ihr und dem Kronprinzen von Woberok?«

Der Hauptmann zuckte die Schultern. »Soweit ich weiß, standen sie sich sehr nahe, kurz bevor wir sie entführt haben.«

»Wie kommt es, dass sie mich ansieht und dann seinen Namen sagt?«

»Sie ist wirr im Kopf, Majestät. Und Ihr seht Kronprinz Regan schon etwas ähnlich. Vermutlich sind das noch die Auswirkungen der Verletzungen.«, murmelte Rodrig und blickte auf das Mädchen herunter.

Fenris runzelte die Stirn. »Wart Ihr dabei, als Malik ihr das angetan hat?«

»Ja, Majestät.«

»Habt Ihr so etwas schon einmal gesehen?«

Rodrig senkte den Blick. »Nein. Bei Kriegsgefangenen, bei Wilderern aus den Bergen, um Informationen zu bekommen. Aber nein... eine Frau aus reinem Hass auspeitschen zu lassen. Das habe ich noch nicht gesehen. Darf ich ganz ehrlich sein?«

Fenris nickte, während er zusah, wie seine Schwester die Decke wieder bis über ihre schmalen Schultern zog.

»Malik hat mir Angst eingejagt. Bisher hat mir nichts Angst gemacht, doch, als er mich aufforderte, ihren Platz einzunehmen oder den Mund zu halten, hatte ich Angst. Angst vor mir selbst, weil ich tief im Innern nicht an ihrer Stelle sein wollte. Ich wollte nicht Partei für sie ergreifen und jeder ihrer Schreie war, als würde die Peitsche meinen Rücken verunstalten. Weil ich es nicht gewagt habe, ein siebzehnjähriges Mädchen zu verteidigen. Weil ich keine Schmerzen empfinden wollte. Ich schäme mich und ihre Blicke verfolgen mich dabei.«

»Ihr könnt nichts dafür, was dieser durchgeknallte Bastardsohn ihr antat, Hauptmann.«, zischelte die Kräuterhexe.

»Ihr wart nicht dabei, Hexe«, sagte Rodrig kühl, dann blickte er wieder auf sie herunter. »Ich fühlte mich ihr verpflichteter, als Malik. Und ich habe sie verraten und enttäuscht. Das ist nie wieder gut zu machen.«

Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, verließ Rodrig das Turmzimmer und schloss die Tür hinter sich. Nachdenklich blickte Fenris ihm hinterher, dann sah er auf das Mädchen. Was an ihr war so besonders, dass sogar Hauptmann Rodrig an seiner Loyalität gegenüber Malik zweifelte, dem er schon so lange unterstellt worden war? Damals, vor über einem Jahr, hatte sich Rodrig freiwillig gemeldet, um mit Malik und Arnor, einem der besten Berserkerkrieger Fenrals, die Mission zu erfüllen. Die Kartanerin, die Auserwählte sicher nach Fenral zu bringen, sie zu bekehren und mit ihrer Hilfe den Magischen in dieser Welt wieder eine Chance auf ein friedliches Leben zu geben.

Fenris mochte sich nicht vorstellen, wie es für den Kriegerhauptmann gewesen war, mit anzusehen, wie Malik seine perfieden Spielchen mit der Kartanerin trieb, ohne dagegen etwas tun zu können. Zu sehen, wie Malik sie schlug, vermutlich Tag und Nacht und sie dann so brutal auspeitschte. Als er wieder auf das Mädchen sah, wurde ihm mit gravirender Härte klar, dass er ein Problem hatte. Und diesmal war es keine einfache Revalität zwischen ihm und seinem jüngeren Bruder. Es würde ein Kampf sein.

 

Den Tag über verbrachte Fenris wieder damit, in dem Turmzimmer Wache zu halten, und jeden Diener zu beobachten, der in das Zimmer kam und es wieder verließ. In Gedanken versunken lehnte er am Fenster und spielte mit dem Dolch in seiner Hand, ließ ihn in seinen Händen umher gleiten und das Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich in der rasiermesserscharfen Klinge, in die fenraler Runen eingraviert worden war. Er erinnerte sich noch, wie er von seinem Vater diese Klinge zu seinem achtzehnten Namenstag bekommen hatte. Er hatte Zeris gehört, der Königin und seiner Mutter. Der König hatte gesagt, dass sie vor ihrem Tod gesagt hatte, dass sie wollte, dass Fenris den Dolch bekam.

»Worüber grübelst du nach, Fenris?«, wollte Euros' sanfte Stimme wissen.

Er schüttelte leicht den Kopf. »Es war seltsam heute...«

»Was meinst du? Wie sie dich mit ihrem Ehemann verwechselt hat?«

»Unter anderem...« Fenris blickte aus dem Fenster über den Burghof. Noch immer waren Leute unterwegs, um ihre abendlichen Aufgaben zu erledigen. Auch er hatte Verpflichtungen, die er seit geraumer Zeit nicht mehr erfüllen konnte, da er hier drinnen saß und die Auserwählte beschützen musste. Er fragte sich, wie es weitergehen würde, sobald sie genesen war. Dann konnte er nicht jeden Tag hier drinnen hocken und auf sie aufpassen. Er musste sich etwas einfallen lassen, um seine Aufgabe, sie zu beschützen und gleichzeitig seine Pflichten erfüllen zu können.

Euros berührte seine Wange und forderte seine Aufmerksamkeit. »Was beschäftigt dich wirklich?«

Er seufzte, sie kannte ihn zu gut. »Sie ist so jung. Meinst du, dass sie... freiwillig geheiratet hat?«

Ihre Augen weiteten sich leicht. »Wie kommst du darauf?«

»Wenn ich darüber nachdenke, dass sie jünger ist, als du und schon... schon eheliche Pflichten zu erfüllen hat. Da dreht sich mir der Magen um.«

Euros zuckte die Schultern. »Ich nehme an, dass es ihre Pflicht war. Ich glaube nicht, dass sie es sich ausgesucht hat, Kronprinz Regan zu heiraten. Sieh mich an«, forderte sie und drehte sanft sein Gesicht herum, sodass Fenris seine Schwester ansehen musste. »Wenn wir es schaffen, dass sie versteht, dass wir nicht der Feind sind, Fenris, dann wird es nie wieder junge Mädchen geben, die gegen ihren Willen mit so viel älteren Männern verheiratet werden. Kein Mädchen von gerade einmal sechzehn Jahren muss ihre Beine für einen Mann spreizen. Kein Mädchen mehr wird nicht mehr, als ein lautloser Schatten ohne Stimme sein. Kein Mädchen wird mehr zum putzen oder kochen gezwungen werden und sich auf ihre Weiblichkeit reduzieren lassen.«

Langsam nickte Fenris und strich ihr eine wirre Strähne aus der Stirn, bevor er seine Lippen auf diese drückte und deutete zur Tür. »Ich hoffe, du hast Recht. Nachdem, was Malik getan hat, könnte ich es nur verstehen, dass wir für sie der Feind sind.«

»Ja, ich weiß. Aber wir müssen alles geben. Sie ist so wichtig.«

»Ich verstehe. Jetzt geh und schlaf ein wenig. Ich bleibe bei ihr.«

Euros gab diesmal nach, ohne Einwände dagegen zu erheben und verließ ihn. Dann setzte sich Fenris zu ihr ans Bett und betrachtete ihr friedliches Gesicht. Den ganzen Tag nach diesem Vorfall war sie nicht noch einmal aufgewacht oder hatte auch nur die geringste Regung gezeigt. Dieser Ausbruch vorhin musste ihr alle Kräfte genommen haben, die sie bis dahin gesammelt hatte.

Die Nacht verlief größtenteils ruhig und er nickte sogar selbst ein paar Mal weg, da die Stille ihn einlullte und ihn dazu verführte, ebenfalls zu schlafen. Die Geisel schlief ruhig und ohne auch nur einen Mucks von sich zu geben. Ihr Körper krampfte nicht unter Fieberträumen und sie atmete ruhig und gleichmäßig, was ihn beruhigte und ihm ebenfalls die Möglichkeit gab, endlich einmal zu entspannen. Den Dolch jedoch legte er nicht aus der Hand, falls sie doch noch aufwachte und sich verteidigen wollte. Sie hatte Angst und war verwirrt, dass sie da die erst beste Waffe ergriff, die sie in die Finger bekam, war vollkommen verständlich. So behielt er die Waffe fest in den Händen, auch, als er wegnickte.

Doch, als er am nahenden Morgen wieder erwachte, zuckte er erschrocken zusammen.

Das Mädchen saß aufrecht auf dem Bett und starrte ihn stumm an. Ihre großen, aufgerissenen Augen wirkten, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Ihr Blick wanderte hinunter zu dem Dolch in seinen Händen, dann wieder in seine sturmgrauen Augen und ihr Gesichtsausdruck wirkte so kühl wie die nordische Luft in Woberok. Wenn er jemals gedacht hatte, dass sie ihnen eines Tages vertrauen könnte, so bezweifelte er dies jetzt noch stärker, als jemals zuvor.

»Wer seid Ihr?«, fragte sie finster.

»Ich bin einer der Menschen, denen Ihr Euer Leben zu verdanken habt.«

Kapitel 6

 

Schwarze Schlieren wanden sich um mein Bewusstsein, um meinen Körper und meinen Geist. Es war so verlockend diesem Schleier der Dunkelheit nachzugeben, zu schlafen und nie wieder aufzuwachen. Keine Alpträume mehr, keine Probleme und Hindernisse - keine Schmerzen. Das war es, voraus mein ganzer Körper, mein Denken zu bestehen schien. Immer wieder spürte ich das Brennen, das bestialische Reißen meines Rückens. Niemand, der solch ein Gefühl nicht schon verspürt hatte, konnte sich vorstellen, wie es sich anfühlte, wenn eine Peitsche durch Haut, Sehnen und Muskeln schnitt bis auf die Knochen herunter. Wie es sich anfühlte, wenn einem das Fleisch vom Knochen getrennt wurde mit solch einer unheimlichen, chirurgischen Präzision, dass es einem Angst machte.

Immer wieder, wenn ich für wenige kostbare Sekunden mein Bewusstsein verwenden konnte, dachte ich nur daran. Daran, wie Rodrig mich mit diesem Blick ansah, der mir sagte, dass er niemals für mich Partei ergreifen würde, weil er nicht an meiner Stelle an dem Baum kauern wollte. Das Gefühl, dass Malik hinter mir stand mit dieser grausamen Freude daran, mich halb nackt, zitternd vor Angst auf dem Boden kauern zu sehen.

Als er die Peitsche auf meinen Rücken hatte niedersausen lassen, war etwas in mir zerbrochen, von dem ich noch nie geahnt hatte, dass ich es besaß. Es hatte mir etwas aufgezeigt. Ich konnte niemandem vertrauen und an das Gute in den Menschen zu glauben, war so dumm und naiv, wie man nur sein konnte.

Ich öffnete die Augen und erblickte zuerst eine spitz zulaufende Decke, rund, wie von einem Turm. Mein Rachen war trocken, vollkommen ausgedörrt und kratzte. Meine Zunge fühlte sich pelzig und auf die dreifache Größe angeschwollen an. Mein Körper war taub und träge, ich konnte kaum die Finger beugen, so sehr war ich mit Betäubungsmittel vollgepumpt. Auf der anderen Seite war es gut, denn ich fühlte nur ein leichtes Ziehen an meinem Rücken, was, in Anbetracht der heftigen Schläge, die mir Malik verpasst hatte, nicht sein konnte.

Langsam drehte ich den Kopf und erstarrte.

Neben mir auf einem Schemel saß ein hoch gewachsener Mann mit tiefschwarzem Haar. Für den Bruchteil einer Sekunde keimte die Hoffnung in mir auf, dass es Regan war, aber ich wurde im gleichen Moment enttäuscht. Dieser Mann hier war nicht Regan. Ich wusste nicht, wer er war, aber er sah meinem Mann zum Verwechseln ähnlich. Das tiefschwarze Haar, das ihm leicht in die Stirn hing und einen Teil seiner geschlossenen Augen verdeckte. Zwischen seinen dunklen Augenbrauen saß eine steile Falte, die so wirkte, als hätte sie sich schon in Kindestagen in seiner Haut festgesetzt. Sein Gesicht wurde von einem gepflegten dunklen Bartschatten eingerahmt und seine Figur wirkte ansonsten imposant, muskulös, jedoch nicht protzig. Eher filigran und etwas schlanker, als Regan. Er trug eine dunkle Lederhose, einen warmen Wollpullover und darüber eine lederne Jagdjacke, dazu polierte Stiefel, die ihm bis zu den Knien reichten. Insgesamt wirkte dieser Mann, wer auch immer er war, sehr gepflegt und ordentlich.

Mein Blick wanderte zu dem Dolch, den er in einer Hand hielt, als wäre er sogar im Schlaf davon ausgegangen, dass ihn jemand angreife.

Ich runzelte die Stirn und versuchte langsam, mich aufzusetzen. Es war schwer und die Haut meines Rückens spannte unangenehm. Gerade, als ich mich vollständig aufgerichtet hatte, erwachte der Mann neben mir, der mich zu bewachen schien. Er seufzte angespannt und öffnete die Augen, die so stahlgrau wie ein Sturmhimmel funkelten. Dies war in der Tat nicht Regan, denn das Eisblau seiner Augen würde ich niemals vergessen. Aber wie kam es, dass dieser Mann beinahe wie sein Zwillingsbruder aussah?

Der Mann fuhr kurzzeitig zusammen, als er merkte, dass ich wach war.

»Wer seid Ihr?«, fragte ich finster.

Er entspannte sich wieder und antwortete mit einer pentranten Ruhe in der Stimme: »Ich bin einer der Menschen, denen Ihr Euer Leben zu verdanken habt.«

Ich starrte ihn einen Moment lang an, dann sah ich mich noch einmal in dem Zimmer um. Es war klein und rund, was meinen Verdacht auf ein Turmzimmer bestätigte. Ich konnte mich nicht entsinnen, dass es in Woberok Außenposten mit Türmen gab und der Stil, mit dem das kleine Zimmer eingerichtet worden war, entsprach auch nicht der woberokischen Baukunst. Die Pfosten des Bettes waren kunstvoll, wenn auch schlicht geschnitzt worden. Weinreben und Bären rankten sich an ihnen empor, die eisernen Knaufe der Schubladen des Nachttisches waren zu Bärengesichtern geformt worden. Es gab keinen Zweifel mehr.

»Ich bin in Fenral.«, sagte ich kaum hörbar und mein Herz begann panisch zu klopfen.

»In der Hauptstadt Fenrals, ja.«, erwiderte der Mann kühl.

Ich warf ihm einen kühlen Blick zu. »Und dann soll ich Euch danken? Einer Eures Gleichen hat mich doch so zugerichtet!« Meine Stimme klang kratzig und viel zu hoch, aber es interessierte mich im Moment nicht.

Der Mann blickte zur Seite. »Ja. Ich weiß. Prinzessin Euros und unsere Kräuterhex... Kräuterfrau haben Euch gepflegt.«

»Prinzessin Euros... und, wer seid Ihr? Ihr Hofschneider? Ich will sofort hier raus!«, spuckte ich und schlug die Decke zurück, da erst wurde mir das Ausmaß dessen bewusst, was Malik angerichtet hatte. Meine Beine waren zwar schon immer schlank gewesen, aber niemals dürr oder abgemagert. Aber nun hatte ich das Gefühl, dass meine Knie dicker waren, als meine Unterschenkel. Meine Fußknöchel standen widerlich hervor. Ich hob erschrocken die Arme und sah, dass meine Arme nicht viel anders aussahen. Ich war herunter gehungert bis auf die Knochen.

»Ich bin Kronprinz Fenris von Fenral«, antwortete er mir.

Ich warf ihm einen finsteren Blick zu. »Und ich bin die Kaiserin der drei Regenbogenberge.«, knurrte ich sarkastisch, ehe ich meine knochigen Beine über die Bettkante schwang. Meine ebenso dürre Hand griff nach dem kunstvoll geschnitzten Bettpfosten, damit ich nicht sofort umkippte.

»Ihr solltet Euch wirklich wieder hinlegen, Prinzessin. Ihr seid noch schwach.«, sagte er und stand ruckartig auf, als ich mich erhob.

Meine Hände umklammerten den Bettpfosten, da meine Beine doch schwächer waren, als ich dachte. Sie schlotterten wie die ungelenken Beine eines neugeborenen Fohlens und fühlten sich so kraftlos und leicht an, dass ich mich klein und verwundbar fühlte. Als ich schwankte, wollte er nach meinem Oberarm greifen, um mich zu stützen, aber ich zuckte zurück und starrte ihn finster an.

»Wenn Ihr mich anrührt, schreie ich die ganze Burg zusammen!«

»Und den meisten wird es egal sein.«, bemerkte dieser seltsame Mann und deutete auf das Bett. »Bitte, Prinzessin. Setzt Euch wieder hin und ich werde meine Schwester holen lassen. Sie kümmert sich um Euch.«

»Ich will nicht, dass sich irgendjemand um mich kümmert!«, zischte ich und tat einen Schritt nach vorne, hangelte mich zum nächsten Bettpfosten, was schwierig war, da es keine Fußstütze gab. »Das Einzige, was ich will, ist hier raus zu kommen.«

»Das glaube ich nicht«, sagte er entschieden und kam zu mir.

Panik schnürte mir die Kehle zu und ich starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, als er meinen Arm packte. Seine Finger überlappten sich beinahe, so mager war ich geworden, als er mich zurück zum Bett derigierte. Protestierend stieß ich einen Laut der Frustration aus, da er mich einfach, wie ein bockiges Kind, zurück auf das Bett setzte. Er warf mir einen strengen Blick zu, als ich Anstalten machte, wieder aufzustehen, sodass ich wütend die Lippen aufeinander presste. Er ging zur Tür, aber nicht, ohne mich aus den Augen zu lassen und teilte einem Wachmann mit, dass Prinzessin Euros her kommen solle. Die Geisel sei wach.

Empört blickte ich ihn an, als er sich wagte, wieder in den Raum zu kommen. »Geisel?«

Er zuckte die Schultern und wandte sich dann ab, ging zum Fenster.

Eine ganze Weile passierte gar nichts, außer, dass er mich mit Luchsaugen beobachtete und mich keine Sekunde außer Sicht ließ. Schnaubend saß ich da, bis sich das Schnauben, in angestrengtes Atmen. Das Betäubungsmittel ließ nach und verwandelte meinen Rücken in ein Feuermeer. Ich krümmte mich zusammen und zog meine dürren Hühnerbeine an meinen Körper, um mir selbst Halt zu geben.

»Prinzessin?«

Die Stimme des Mannes war verschwommen und unklar.

Dann öffnete sich die Tür und eine junge Frau trat in den Raum. »Warum hast du mich nicht eher geholt?«, blaffte sie beinahe unfreundlich.

»Weil sie eben erst aufgewacht ist. Beruhige dich, jetzt bist du ja hier.«

Sie schnaubte nur und hockte sich vor mir auf den Boden, wie man es bei Kindern machte, um weniger bedrohlich zu wirken. Die Frau vor mir war wunderschön. Ihr dunkles Haar von einem tiefen Braun floss ihr wie Wasserfälle über den Rücken und ihre haselnussfarbenen Augen funkelten wach und besorgt.

»Prinzessin Akira? Hört Ihr mich?«

Ich funkelte sie an. »Natürlich höre ich Euch, ich bin ja nicht schwachsinnig!«

Sie fuhr kurz zurück, da kam auch schon dieser ungehobelte Grobian auf uns zu. »Zügelt Eure scharfe Zunge, Ihr sprecht hier mit der Prinzessin von Fenral.«, knurrte er.

Ich warf ihm einen finsteren Blick zu, aber er ging nicht weiter darauf ein und zudem forderte seine Schwester meine Aufmerksamkeit. Sie berührte vorsichtig meine Hand, die ich sofort unter ihrer hervor zog und ich Stück auf dem Bett von ihr weg rückte. Ihr Gesichtsausdruck wirkte leicht gekränkt, doch sie überspielte es ganz leicht, als sie aufstand und mich besorgt musterte.

»Habt Ihr Schmerzen?«

Ich presste die Kiefer zusammen und nickte verbissen.

Ich wollte meine Schwäche nicht zeigen, aber zur Zeit war das einfach nicht möglich. Mein Rücken war ein flammendes Feld, das immer noch mehr Brennstoff bekam, je weiter die Betäubungsmittel nachließen. Und mein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich explodieren, meine Arme und Beine waren schwach und im Großen und Ganzen fühlte ich mich mieserabel. Alles nur, weil ich einen simplen Fluchtversuch gestartet hatte und so dumm gewesen war, mich mit Malik anzulegen. Ich fragte mich, wo er gerade war. Ob er sich daran labte, mich nach Fenral gebracht zu haben?

Prinzessin Euros ging zu ihrem unfreundlichen Bruder hinüber und besprach leise etwas mit ihm, was ich nicht verstehen konnte, da sie flüsterten. Ich blickte mich in dem Zimmer um und wägte meine Möglichkeiten ab. Ich war in Fenral, so viel war schon einmal klar. Malik hatte mich hierher gebracht und war nun nicht zu geben, was irgendwie seltsam war, da ich damit gerechnet hätte, dass er das erste Gesicht sein würde, dass ich sehen würde, wenn ich erwachte. Stattdessen erblickte ich den Kronprinzen und die Prinzessin Fenrals, die mich versorgt zu haben schienen. Mein Rücken war zwar noch immer ein Flammenmeer, aber ich wertete es als gutes Zeichen, da ich immerhin meinen Körper spüren konnte. Zuvor war alles vor Schmerz taub gewesen und ich hatte den restlichen Weg nach Fenral nur in einer Art Delyrium mitbekommen. Nun saß ich in diesem Turmzimmer fest, nicht wissend, wo ich eigentlich genau war.

Die Frage, die mir im Kopf herum schwirrte, war, weshalb ich überhaupt hier war.

Der Prinz und die Prinzessin schienen mir nicht sagen zu wollen, aus welchem Grund ich nach Fenral gebracht worden war, denn ansonsten würden sie nicht so geheimnistuerisch flüstern. Sie vertrauten mir nicht und ich konnte mit Stolz sagen, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte.

Als hätten sie meine Gedanken gehört, verstummten sie und blickten zu mir herüber, aber ich wandte den Blick ab und auf meine Finger. Meine Nägel waren kurz und eingerissen, die aufgeriebene Haut meiner Handgelenke war verschorft und würde wahrscheinlich keine Narben hinterlassen, aber für den Rest meines Körpers sah ich schwarz. Die Wunden auf meinem Rücken, die Malik mir zugefügt hatte und von deren Ausmaß ich bildlich keine Vorstellung hatte, würden zwar heilen. Aber ich hätte immer eine Erinnerung daran. So gut heilte keine Haut.

Genau das hatte Malik beabsichtigt.

Dass ich immer an jene Nacht erinnert würde, in der er die Peitsche ergriff und mir das Fleisch vom Knochen schälte. Daran, wie ich besinnungslos die ganze Nacht an dem Baum hing, weil er mich dort zurückgelassen hatte. An die frühen Morgenstunden, in denen er mir kaltes Wasser über den Kopf kippte, damit ich wach wurde und mir ein Schrei des Entsetzens heraus gerutscht war, obwohl ich stark bleiben wollte. Und, wie er mich letztendlich den ganzen restlichen Weg nach Fenral, angebunden wie einen Hund an seinem Pferd, schleifte.

Prinzessin Euros schickte ihren Bruder schließlich hinaus, der widerstrebend ihrer Anweisung folgte und ließ eine gewisse Nevtis rufen. In der Zwischenzeit, als sie auf sie wartete, begann sie Dinge in dem beengten Turmzimmer herum zu rücken. Unter anderem schob sie eine Trennwand beiseite, sodass mein Blick auf einen hölzernen Waschzuber, der neben einem knisternden Kamin stand.

»Was tut Ihr da?«

Sie verharrte in der Bewegung, sie hatte Handtücher auf den Armen. »Euer Verband muss gewechselt werden. Außerdem könntet Ihr ein langes, heißes Bad vertragen. Oder nicht?«

Ich senkte beschämt den Blick. Stank ich so sehr?

»Dachte ich es mir doch. Wartet. Ich lasse ein paar Diener mit heißem Wasser aus der Küche kommen.«, erklärte sie und legte die Handtücher ab, um zur Tür zu eilen und Diener zu holen.

»Warum helft Ihr mir?«, fragte ich sie.

Sie blieb stehen und sah mich fragend an.

»Euer Bruder nannte mich Geisel. Dies scheint mir ein sehr komfortables Zimmer für eine Geisel zu sein.«, erklärte ich ihr.

Leise stieß sie die Luft aus und strich sich dann eine Strähne hinters Ohr, die sich aus ihrer edlen Frisur gelöst hatte. »Mein Bruder spricht gerne über Menschen, als seien sie Gegenstände, Prinzessin Akira. Gebt nichts auf seine Wortwahl. Er ist mit unter... sehr kalt. Aber Ihr seid gewiss mehr, als eine einfache Geisel.«

Ich runzelte die Stirn, aber bevor ich weiter nachbohren konnte, hatte sie sich abgewandt und öffnete die Tür. Obwohl ich gehofft hatte, dass sie mich kurzzeitig alleine lassen würde, damit ich mein scheinbares Gefängnis besser inspizieren konnte, sagte sie einem Wachmann, der vor der Tür Stellung bezogen hatte, dass sie einige Diener mit heißem Wasser für ein Bad hier erwartete - rasch. Dann schloss sie die Tür wieder und kam zu mir ans Bett.

Misstrauisch beäugte ich sie.

»Ich will Euch nur aufhelfen, Prinzessin.«, sagte sie. »Schaut mich nicht an, als wäre ich Euer Todfeind.«

»Woher weiß ich, dass Ihr das nicht seid?«

Sie hob den Kopf, ihr Blick war ernst. »Ihr seid am Leben.«

 

Es dauerte nicht lange bis die Diener mit den Eimern voll dampfendem Wasser durch den Raum strömten und den Badezuber bis knapp unter dem Rand füllten. Wasserdampf stieg auf, ließ die Temperatur auf angenehme Grade steigen. Als die Diener wieder fort waren, betrat eine alte, gekrümmte Frau, die eine lange grüne Robe trug, in die mystisch aussehende Ornamente gestickt worden waren. Sie stützte sich schwer auf einen hölzernen Gehstock, der gekrümmt und verwachsen aussah, als hätte sie ihn vom nächsten Baum gepflückt. Sofort, als diese Frau den Raum betrat, strahlte etwas unheimliches, düsteres von ihr aus und eine innere Stimme in mir sagte mir, dass ich mich vor ihr hüten sollte. Sie war gefährlich.

Sie ließ sich von Prinzessin Euros den Gehstock abnehmen, ehe sie mir befahl, aufzustehen.

Ich funkelte sie nur zynisch an. »Gebt mir noch drei Eisenkugeln und ich jongliere, wie die Barden auf dem Markt.«

Ihre dunkelgraune Augenbraue wölbte sich über ihrem grünen Reptilienauge. »Ich sah gleich, dass nicht nur Euer Haar vom Feuer geküsst ist, sondern auch Eure Seele Feuer besitzt. Und jetzt stellt Euch nicht an, wie ein kleines Mädchen. Ihr habt Biss, sonst wärt Ihr wohl nicht mehr am Leben. Steht auf.«

Ihre krächzige, alte Stimme war erstaunlich fest und etwas in mir lächelte beinahe bei ihren Worten. Sie sah Dinge, die andere nicht sahen und ihre Erfahrungen schienen sie zu jenem Punkt im Leben gebracht zu haben, von dem ich nur träumen konnte. Ich war lange nicht so weise, wie sie.

Ihrer Anweisung folgend schwang ich die Beine über die Bettkante, griff nach dem Bettpfosten und stemmte mich hoch. Meine Beine schlotterten und meine Knie fühlten sich wie Wasser an, als ich es endlich schaffte, mich einigermaßen gerade zu halten. Die Alte blickte mich zufrieden an, dann halfen sie und Euros mir aus dem Nachthemd, das die Alte einem stillen Dienstmädchen mit langen Fingern gab, um es zu waschen. So nackt und verwundbar vor den beiden zu stehen, erinnerte mich wieder an jene Tage, in denen ich mehr bewusstlos, als bei Bewusstsein durch die Landschaft gezerrt worden war. Halb nackt, stinkend und mich am Rande des Todes bewegend, als würde ich an einer Klippe entlang balancieren und aus der Tiefe würden lange scharfe Klauen nach mir greifen. Doch es war nicht nur das Gefühl des endlosen Schams gewesen, den ich bei meiner Nacktheit empfand. Es war das Gefühl von Schwäche, das mir mehr zusetzte. Ich war schwach... Schwächer, als ich zugeben wollte.

Ich begriff, dass ich niemals so etwas wie Stärke besessen hatte. Es war lächerlich zu glauben, dass ich einem Mann wie Malik etwas entgegenzusetzen hatte. Es war spielend einfach auf die Schwäche, auf die Dummheit eines Königreiches zu vertrauen, das seinen König dermaßen liebte, dass man jede andere Möglichkeit ausgeschlossen hatte. Auch die Möglichkeit einer Falle, die mir gegolten hatte.

Nun trug ich den Preis dieser Dummheit auf dem Rücken. Mein Leben lang.

Die Alte zog den Verband von meinem Körper und betastete die wunde Haut, wobei ich immer wieder zusammen zuckte, wenn sie eine überaus empfindsame Stelle erwischte. Meine Kiefer pressten sich zusammen und ich unterdrückte die Wuttränen, bis sie mich endlich in Frieden ließ mit der Meinung, dass die Wunden bald verheilt sein würden. Danach bekam ich noch Schmerzsaft und konnte anschließend in den heißen Waschzuber steigen.

 

Der Abend war hereingebrochen und ich saß frisch gebadet auf dem Bett. Stunden hatte ich in dem Zuber zugebracht, da mich das heiße Wasser auf andere Gedanken gebracht hatte. Es hatte mich dazu gebracht, nicht andauernd an Malik und die Pein zu denken, die er mir zugefügt hatte. Als ich fertig gewesen war, hatte die Kräuterfrau meine Wunden wieder verbunden und war ohne viele Worte gegangen. Prinzessin Euros hatte mir zurück zum Bett geholfen und nach Essen schicken lassen, damit ich wieder mehr Fleisch auf die Rippen bekam. Ich hatte in den Wochen der Gefangenschaft unter Maliks Führung sehr viel an Gewicht verloren.

Mit dem Essen jedoch kehrte ihr Bruder zurück. Er war stumm, beäugte mich nur misstrauisch und nahm seine gewohnte Stellung am Fenster wieder ein, den Dolch, den ich ihm in einem dämmrigen Bewusstseinsanfall genommen hatte, steckte in einer kleinen Scheide an seinem Rücken, eine weitaus prunkvollere Waffe in einer, die an seiner Hüfte an seinem Gürtel befestigt war. Seine sturmgrauen Augen beobachteten mich ununterbrochen, als fürchtete er einen weiteren Angriff meinerseits.

Ich würgte das Essen lustlos hinunter und stellte das Speisebrett, auf dem zuvor ein Stück Brot, Käse und Schinken gelegen hatte, auf den Nachttisch neben dem Bett. Dann herrschte Stille im Raum, die niemand zu füllen vermochte. Prinzessin Euros war vor einiger Zeit gegangen mit dem Versprechen im Morgengrauen wiederzukehren mit einem reichlichen Morgenmahl und weiteren Arzneihen für meine Wunden. Dann hatte sie mich alleine mit ihrem Bruder gelassen, der mich augenscheinlich bewachen sollte.

Ich seufzte genervt, als die Sonne endlich unter gegangen war. »Ihr müsst nicht die ganze Nacht hier sitzen und auf mich aufpassen, als wäre ich elf. Ich werde schon nicht versuchen, zu fliehen. Ich wäre dumm, wenn ich es täte.«

»Und? Tätet Ihr es?« Seine Stimme troff vor Spott und ich spürte, wie er mich herausforderte, versuchte, mich aus meiner Deckung zu locken.

»Haltet Ihr mich für dumm?«, entgegnete ich ihm ungerührt.

Einen Moment senkte sich Schweigen über uns, dann sagte er ruhig und besonnen: »Ich halte Euch für mutig. Und das scheint der Grund zu sein, weshalb Malik es für nötig hielt, Euch so zuzurichten.«

Ich wandte den Blick ab und biss die Zähne fest aufeinander. »Ihr scheint seine Beweggründe gut zu kennen. Seid Ihr befreundet?« Meine Stimme wurde honigsüß.

Er verengte die Augen zu Schlitzen. »Das, was Malik und mich verbindet, geht Euch nichts an, Kartanerin. Und Freundschaft wird es gewiss nicht sein.«

Ich presste die Lippen aufeinander. »Nennt mich nicht ›Kartanerin‹.«

»Wie sollte ich Euch ansonsten nennen? Prinzessin Akira?«

»Ihr könntet mich auch einfach ›Geisel‹ nennen.«, entgegnete ich blitzschnell und sah ihn kühl und unbeweglich an. Ich hatte nicht vor, irgendeinem meine wahren Gefühle und Gedanken zu verraten, sei es durch Worte oder Mimik. »Dieser Name ist durchaus passend, findet Ihr nicht?«

Kronprinz Fenris schwieg einen Moment und ich versuchte in seinem Gesicht zu lesen, was er dachte. Wenn ich Freund von Feind unterscheiden wollte, musste ich unbedingt lernen, wie man jenen erkannte. Ich hatte Malik falsch eingeschätzt und hatte den Preis dafür mit Blut gezahlt. Ich würde nicht noch einmal zulassen, dass dies passierte und noch wusste ich nicht, was ich von dem Kronprinzen und seiner Schwester halten sollte. Bei der Kräuterfrau war das etwas anderes. Bei ihr war ich noch mehr auf der Hut, da mir meine innere Stimme sagte, ich sollte es sein.

Aber je intensiver ich seine Gesichtszüge studierte, spürte ich, dass ich rein gar nichts erkannte. Er war unbeweglich und starr wie eine Statue und in seinen Augen sah ich Kälte. Doch nicht nur das strahlte von ihm aus, sondern ich erkannte noch etwas anderes. Eine unüberwindbare Mauer, die er im Laufe seines Lebens errichtet haben musste. Wie alt mochte er sein? Ich würde ihn so alt wie Regan schätzen, vielleicht etwas jünger oder älter. Das jedoch war unerheblich. Es war die schiere Kühle, die Abneigung, die Distanz, die mich nachdenklich machte. Er schien keiner einzigen Seele zu vertrauen, außer seiner Schwester.

Seine Augen verengten sich ganz leicht, als wollte er versuchen, meine Gedanken zu lesen, ehe er den Blick abwandte und die Schultern zuckte. »Wenn Euch dieser Name besser gefällt.«, entgegnete er, seine Stimme verriet nichts.

»Euch gefällt dieser Name sehr gut, oder? Ihr habt mich jedenfalls so genannt.«

»Seid nicht allzu beleidigt, Prinzessin. Ich nenne die Hälfte der Menschen in dieser Festung bei dem, was sie sind, nicht bei dem, wer sie sind.«, sagte er ruhig und seine tiefe Stimme wurde etwas härter. »Der König, der Leutnant...«

»Warum?«

»Weil wir Soldaten sind. Schachfiguren, die sich hin und herschieben lassen müssen von einem mächtigen Mann und jemand, der Gefühle zulässt und sich von ihnen hinreißen lässt, fällt ganz schnell auf dem Brett und wird ersetzt. Also überlegt Euch, wer Ihr in dieser Geschichte hier sein werdet. Die Geisel oder die Auserwählte. Und jetzt fragt mich nichts mehr und schlaft. Ihr werdet Eure Kräfte schneller brauchen, als Ihr denkt.« Er wandte sich ab und ging strammen Schrittes zur Tür.

Wieder einmal fragte ich mich, was er damit meinte, ich sei die Auserwählte. Das hatte ich bereits öfter gehört. Von den Dienern, die versuchten leise und lautlos durch das Zimmer huschten, ich hatte es Prinzessin Euros zu ihrem Bruder und zur Kräuterfrau flüstern hören, wenn sie dachten, dass ich schlief oder nicht zuhörte. Aber ich hörte es. Nicht nur von den Menschen, sondern auch von den Wänden, der Turmspitze, dem alten Gemäuer, in dem ich saß. Ich hatte es sogar vom Blut gehört, das mir über den Rücken geronnen war, als Malik mich auspeitschte. Ich hatte es in der Erde gefühlt und schmeckte es noch immer in der Luft.

Hier ging irgendetwas vor sich und ich spielte eine zentrale Rolle darin, ob ich es wollte oder nicht. Aus diesem einen Grund, der mir noch immer verborgen war, hatte mich Malik entführt und nach Fenral verschleppt. Aus diesem Grund bewachte er mich...

Kronprinz Fenris schloss die Tür hinter sich und ich hörte das Klicken eines Türriegels, aber ich wusste, dass er mich nicht alleine ließ. Er blieb vor der Tür stehen und wachte.

Kapitel 7

 

Am nächsten Morgen, ich hatte die Nacht geschlafen wie eine Bärin, so erschöpft war ich gewesen, tauchte Prinzessin Euros und die Kräuterfrau auf. Die Prinzessin kam in Begleitung mit zwei Dienerinnen, die ein Speisebrett und eine Waschschale herbei trugen. Während ich halb nackt auf dem Bett saß und mir den Rücken von der Kräuterfrau einreiben und verbinden ließ, stopfte ich die zwei Brotscheiben, etwas Käse und einen übel riechenden Kräutertee aus Kamillenblüten und Brennesseln hinunter, der meinen Selbstheilungskräften helfen sollte und bewirkte, dass die Schwellung meiner Haut zurückgehen sollte.

So fingen alle Tage in der nächsten Woche an. Meine Wunden heilten. Die körperlichen jedenfalls. Schorf bildete sich auf meinem Rücken, ich trank den Tee kaum noch mit angewiderten Murren, sondern brachte es hinter mich, der Schorf platzte ab, hinterließ frische, vernarbte Haut, die die Kräuterfrau jetzt mit einer dicken Salbe behandelte, damit die Haut etwas elastischer wurde. Doch es war anstrengend sich zu bewegen, es spannte. Aber ich ließ mir diese Art von Schmerz nicht anmerken. Ich ließ mir nichts anmerken, denn ich vertraute niemandem. Diesen Luxus konnte ich mir in einem Königreich, das mich entführen ließ nicht erlauben.

Die restliche Zeit saß ich in diesem Zimmer fest, das ich schon mehrmals nach einer Fluchtmöglichkeit durchsucht hatte. Ich musste es versuchen, denn ich konnte nicht darauf warten, dass Regan und seine Männer kommen und mich retten würden. Das würde nicht passieren. Sie wussten nicht, wo ich war und, um mich zu bekommen, würden sie wohl die Stadt erstürmen müssen. Das konnte ich nicht zulassen. Ich musste vorher einen Weg finden. Aber es gab keinen. Das einzige Fenster, an dem sich Kronprinz Fenris mit regelmäßiger Schönheit aufhielt, war verriegelt und ließ sich jediglich mit einer Axt öffnen. Da dies jedoch zu viel Krach verursachte, ließ ich den Gedanken genauso schnell fallen, wie er Form angenommen hatte. Zudem gab es keinen Fenstersims und es führte ein langer Fall hinunter in eine Gasse zwischen Festungsmauer und Turm. Ich würde mir alle Knochen brechen.

Die andere Möglichkeit wäre, durch die Tür. Allerdings standen entweder zwei bis an die Zähne bewaffnete Männer davor oder Kronprinz Fenris selbst.

Ich hatte keine Chance.

Noch nicht.

An diesem Morgen stand ich endlich einmal alleine in meinem Gefängniszimmer und stand vor dem Spiegel, den ich bisher immer gemieden hatte. Aber heute nach dem Morgenmahl hatte ich auf einmal das Bedürfnis, mir die Narben, die ich seit Tagen hatte, einmal anzusehen. Ich legte das Nachthemd ab und betrachtete meinen mageren Körper. Meine Beckenknochen standen hervor, meine Schultern waren mager und schmal, meine Rippen stachen hervor und meine ohnehin kleinen Brüste, waren noch winziger. Als ich mich umdrehte und mich betrachtete, stiegen Tränen in mir auf, aber ich verbiss sie mir so grimmig, dass mein ganzer Kopf schmerzte. Ich würde nicht mehr weinen. Nie wieder.

Mein kurzes, rostbraunes Haar berührte kaum meine Schultern, so kurz hatten sie es mir geschnitten.

Ich biss die Zähne fest aufeinander, griff nach dem Nachthemd und zog es mir in groben, wütenden Bewegungen wieder über den Kopf und zerrte eines der dünnen Laken vom Bett und warf es über den Spiegel. Ich wollte mich nie wieder im Spiegel ansehen, es tat zu sehr weh. Wie ein geprügelter Hund kroch ich umständlich auf die tiefe Fensterbank, auf der so viel Platz war, dass ich dort sogar eingerollt hätte schlafen können und blickte hinaus auf das Stück Mauer, das ich im frühen Morgenlicht sehen konnte. Die Sonne kroch gerade über die Bergspitzen im Norden und ich sah, wie die diensthabenen Wachmänner ihre Schicht tauschten, um sich auszuruhen. Hinter der Mauer konnte ich einen Teil der Stadt erkennen, dunkle braune Ziegel glänzten im Morgenlicht und Rauch stieg von den Kaminen auf. Hinter den Häusern, die sich im Sonnenlicht aufwärmten, duckten sich die Herrenhäuser der obersten Bevölkerungsschicht im Schatten des Hanges, auf dem ein mächtiger Tempel stand. Er war von der Baukunst her ganz anders, als der Göttertempel in Woberok, in dem ich meinen Mann heiratete. Ich erkannte dicke, massive Steinsäulen, ein robustes Dach und Holzwände, die so dick waren, als hätte man ganze Baumstämme für seinen Bau verwendet. Davor streckte sich der fenraler Sonnengott dem Himmel als Denkmalsstatue entgegen.

Es war eine beeindruckende Stadt.

Ich hätte sie gewiss schön gefunden, wenn ich hier drinnen nicht gefangen gewesen wäre.

In diesem Moment öffnete sich die Tür und Kronprinz Fenris trat in mein kleines Gefängniszimmer ein. Ich hob kurz den Blick, dann wandte ich mich jedoch wieder dem Fenster zu und ignorierte ihn.

»Ich hätte erwartet, dass Ihr im Bett liegt und noch schlaft.«

Genervt verlagerte ich das Gewicht und sah ihn an. »Ich schlafe bereits seit über einer Woche immer wieder. Außer Essen und Schlafen tue ich ohnehin nichts. Überrascht es Euch, dass ich irgendwann einmal ausgeschlafen bin?«

Er warf dem zugedeckten Spiegel einen nachdenklichen Blick zu. »Ich weiß ganz genau, dass Ihr mehr tut, als den ganzen Tag Essen und Schlafen.«, bemerkte er gerissen und warf mir einen bedeutsamen Blick zu. »Ich hoffe, Ihr seid zu dem Schluss gekommen, dass es aus diesem Zimmer kein Entrinnen gibt, wenn der König es nicht wünscht.«

Ich ließ die Beine über die Fensterbank baumeln und faltete die Hände im Schoß. »Gut. Wenn Ihr wollt, dass ich es zugebe, dann bitte. Ich habe nach einem Fluchtweg gesucht, ja. Wenn ich es durch einen unerfindlichen Grund schaffen sollte, einen Gegenstand zu finden, mit ich das Fenster einschlagen könnte, würde ich beim Versuch, aus dem Fenster zu klettern, mir das Genick brechen. Falls Ihr das noch nicht wusstet, das habe ich nicht vor.«, bemerkte ich und sprang von der Fensterbank, hielt aber inne, als ich zum Bett hinüber ging - meine Beine waren schon viel kräftiger. »Aber wer weiß, vielleicht lasse ich mich doch dazu hinreißen, wenn ich noch eine weitere Woche hier drinnen verbringen muss, ohne, dass Euer König mir sagt, was er von mir will. Oder ich sterbe vor Langeweile...«

Er verschränkte die Arme vor der muskulösen Brust, über der sein lederner Brustharnisch spannte. »Damit das nicht passiert, habe ich mir gedacht, dass ich Euch mitnehme.«

Ich erstarrte. »Wohin? Vor den König?«

»Nein. Ihr müsst Euch mit meinem Arbeitszimmer begnügen. Ich habe neben Eurer Bewachung noch andere Verpflichtungen, denen ich nachkommen muss. Und jetzt, da Ihr höchst wahrscheinlich nicht mehr in Lebensgefahr schwebt, wartet ein riesiger Stapel Papiere auf meinem Schreibtisch.«

»Und ich soll Euch dabei zusehen, wie Ihr den Papierkram erledigt?«, fragte ich wenig begeistert.

»Ihr könntet mir Wein einschenken und mir die Trauben schälen, wenn Ihr unbedingt eine Aufgabe wollt.«

Ich verschränkte genervt die Arme vor der Brust, wobei ich das Spannen auf meinem Rücken spüren konnte. »Ich könnte mich auch unter Eurem Schreibtisch hocken und Eure dreckigen Füße küssen.«

In seinen Augen funkelte es auf einmal belustigt, als wäre er von dieser Unterredung amüsiert. »Tut Euch keinen Zwang an.«, bemerkte er, dann deutete er mit einem Nicken auf den Schrank, der in der Ecke stand. »Kleidet Euch an. Ich warte vor der Tür. Klopft, wenn Ihr soweit seid.«

Er wandte sich abrupt um und verließ den Raum.

Unschlüssig stand ich in dem Raum, wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Einerseits war es mir zutiefst zuwider, diesem Mann zu folgen, andererseits war ich beinahe froh, um die Abwechslung. Wenigstens musste ich den Tag nicht alleine in diesem Zimmer verbringen, so, wie die übrigen Tage. Ich ging hinüber zu dem Kleiderschrank und öffnete ihn ruckartig. In der oberen Reihe lagen fein säuberlich gefaltete Nachthemden, in der zweiten dicke Wollkleider. Ich nahm eines heraus und bemerkte, wie unförmig es war.

Mit gerunzelter Stirn betrachtete ich eine Kiste mit verschiedenen Gürteln. Ich nahm den breitesten und kleidete mich an. So sah das Wollkleid wenigstens nicht aus, als hätte ich einen Kartoffelsack am Leib. Mit einer kleinen Bürste versuchte ich die Fransen zu richten, die mir wirr vom Kopf abstanden. Anschließend ging ich zur Tür und klopfte daran.

Es dauerte nicht lang und die Tür öffnete sich. Kronprinz Fenris betrachtete kurzzeitig meine Kleidung und stieß zischend die Luft aus. Als er den Mund öffnen und etwas sagen wollte, hob ich die Hand.

»Man spricht eine Frau nicht auf ihr Aussehen an.«, bemerkte ich spitz und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und außerdem wäre es mir auch egal, was Ihr darüber denkt.«

Seine Brauen hoben sich überrascht, bevor er anerkennend den Kopf neigte. »Das hätte mich auch gewundert. Schön, dann kommt.«

Ich nickte nur und folgte ihm, während er mir voran laufend den Weg wies. Am Ende des Ganges, der zu meinem Turmzimmer führte, befand sich ein Turm, dessen eng gewundene Treppe wir hinunter gehen, etwa zwei Stockwerke hinunter und dann gingen wir einen weiteren Gang entlang. Während wir liefen, versuchte ich mir immer wieder einen Überblick über die Situation und die Lage der Festung zu verschaffen. Aber die gewundenen Gänge und vielen Korridore, von denen der Hauptgang abwich, verwirrten mich. Außerdem bemerkte ich die Wachmänner, die in jedem Gang ihre Runden drehten und mich und den Kronprinzen ganz genau beobachteten, wenn wir an ihnen vorbei zogen.

»Die Festung wird gut bewacht«, erklärte er, als er meinen suchenden Blick bemerkte.

Ich senkte den Kopf und folgte ihm weiter, ohne zuzugeben, dass ich noch immer nach einem Ausweg suchte. Vielleicht, wenn ich an den Wachposten vorbei kommen könnte... Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich bis zu den fenraler Stallungen, von denen ich keine Ahnung hatte, wo sie lagen, gelangen könnte und ein Pferd stehlen könnte, wäre schwindend gering. Ganz zu schweigen davon, zu entkommen.

Wir traten in einen Gang ein, der am Ende eine einzige Tür beherbergte, ansonsten war er erstaunlich leer. Kein Wachposten lief hier Patrouille.

Kronprinz Fenris griff in seine hintere Hosentasche und zog einen einzigen Schlüssel heraus. Er öffnete die Tür und hielt sie mir auf, damit ich hinein gehen konnte. Ich betrat den Raum und blieb stehen, als ich das Innere sah. Ich stand in einer Art Vorzimmer, in dem sich ein massiver Schreibtisch und jede Menge Bücherregale befanden. Auf dem Tisch lagen verschiedene Papiere und Pergamentrollen verstreut, ein großer Stapel Formulare türmte sich darauf, als sei sich in letzter Zeit wenig darum gekümmert worden. Nachdenklich ließ ich den Blick schweifen. Die Regale quollen von Büchern über, sodass sich bereits Stapel von verschiedenen Büchern auf dem Boden befanden, da kein Platz mehr in den Regalen war.

Er schloss die Tür und blieb einen Moment stumm stehen, beobachtete mich, wie ich in diesem Vorzimmer umher lief und mir die Dinge ansah, die sich darin befanden.

»Das ist Euer Arbeitszimmer?«, fragte ich ihn, als ich mich zu ihm umdrehte.

Er blickte mich an und nickte. »Gewiss. Hier verbringe ich die meiste Zeit.«

Ich wölbte eine Augenbraue nach oben und dachte unweigerlich an Regan. Er hatte auch oft Stunden an seinem Pult verbracht und hatte Papiere bearbeitet, jedoch hatte er gleichzeitig die Kaserne geleitet und viel Zeit ins Training investiert, sowohl auch in die Patrouillen oder Wachdienste. Doch er verbrachte die meiste Zeit in seinem Arbeitszimmer?

»Warum das?«, fragte ich. »Bücher sind etwas stille Gesellschaft, oder nicht?«

»Sie widersprechen einem sehr selten«, bemerkte er und ging zu seinem Schreibtisch hinüber. Er legte den Gurt mit seinem Schwert und dem Dolch ab und legte beides auf eine hölzerne Truhe.

Ich lief gedankenverloren durch das Vorzimmer und zu dem Durchgang zu dem Raum dahinter. Überrascht hob ich die Brauen, als ich ein ausladenes Doppelbett mit aufwändig geschnitzten Bettpfosten und einem dunkelgrün behangenen Himmel. Ein Esstisch schmiegte sich in den Vordergrund eines großen Kamins, in dem ein leichtes Feuer vor sich her prasselte. Es war ein Wohnraum, bizarr schlicht eingerichtet, jedoch gemütlich, jedoch selten genutzt. Ein wahres Junggesellenenzimmer.

»Ihr habt Euer Arbeitszimmer direkt an Euren Gemächern?«

»So muss ich nicht quer durch die halbe Festung, wenn es abends spät wird.«, murmelte er abwesend.

Als ich mich umdrehte, hatte er sich schon längst an die Arbeit gemacht und las sich einige Dokumente durch.

Ich lehnte mich an die Wand. »Weshalb kümmert Ihr Euch um so viel Papierkram?«

Er unterbrach seine Tätigkeit und hob eine Augenbraue. »Ich kümmere mich um alle Regierungsgeschäfte des Königs. Ich weiß ja nicht, wie es in Eurer Heimat war, aber hier kümmert sich der Thronfolger um das meiste. Um sich auf den Thron und die Verantwortung für das Reich vorzubereiten. Und dank Euch habe ich eine Menge versäumt.«

Ich verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Das tut mir furchtbar leid. Bedankt Euch doch bei Malik.«, sagte ich und lächelte kühl.

»Das werde ich bei Gelegenheit.«, entgegnete er ruhig und betrachtete wieder das Papier in seiner Hand. »Und jetzt würde ich Euch bitten, den Rest des Tages ruhig zu sein. Ich habe zu arbeiten.«

Wütend starrte ich ihn an. »Und, was soll ich den ganzen Tag tun?«

Er zuckte die Schultern, reagierte jedoch nicht weiter, sodass ich mich genervt abwandte, mir wahllos irgendein Buch nahm, das sich in einem seiner Regale befand und hinüber in seine Gemächer trat, um mich an den Esstisch zu setzen. Wenigstens hatte er zwei riesige Regale und den Boden voller Bücher, die man lesen konnte. Ich setzte mich an den Tisch und zog ein Bein an meine magere Brust, schlug das Buch auf und stellte fest, dass es eine Märchengeschichte über ein junges Mädchen war, das ein Leben bei einem Nomadenstamm verbracht hatte, der durch die Steppen Fenrals gezogen war. Ob die Geschichte wahr war, oder Fiktion wusste ich nicht, aber die Geschichte fesselte mich und half mir über die lange Zeit hinweg, in der wir in diesem Zimmer hockten. Immer wieder hörte ich das Knistern von Papier, das Kratzen einer Feder oder das Scharren seines Stuhles, wenn er sich kurzzeitig die Beine vertrat oder das Gewicht verlagerte. Ab und zu stand ich ebenfalls auf, um mich in seinen Räumlichkeiten umzusehen, doch jedes Mal, wenn ich mich unbemerkt zu seinem Bett schleichen wollte, um zu schauen, ob er eventuell eine Waffe in einem seiner Nachttische versteckt hatte, lagen seine sturmgrauen Adleraugen auf mir. Das machte es mir beinahe unmöglich, mich genauer umzusehen. Irgendwann tappte ich zu seinen Regalen und ging die Titel der Bücher durch.

Kronprinz Fenris seufzte angestrengt und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, legte die Arme erschöpft auf die Armlehnen und rieb sich die Stirn.

Ich griff mir ein Buch und betrachtete den ledernen Einband, strich über die Symbole, die sich darauf befanden.

»Interessiert Ihr Euch für Bücher?«

Ich sah ihn kurz an, dann schob ich das Buch zurück ins Regal und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was bezweckt Ihr damit?«

»Was meint Ihr?«

»Das alles hier? Warum sagt Ihr mir nicht einfach, was Ihr von mir wollt? Nein, Euer König lässt mich von Malik entführen und hierher verschleppen. Seit fast einer Woche geht es mir wieder besser und noch immer hat Euer König nicht mit mir gesprochen. Warum nicht? Fürchtet er sich vor mir? Vor einem kleinen Mädchen? Der Auserwählten?«

Fenris blinzelte benommen. »Woher wisst Ihr davon?«

Spöttisch lachte ich. »Ich weiß, Ihr könntet es bezweifeln, aber ich habe durchaus Ohren am Kopf. Ich höre Euch und Eure Schwester sehr gut auf zwei Meter Entfernung und die Diener erzählen auch viel, wenn der Tag lang ist.«

Ich konnte die Wut darüber in seinen sturmgrauen Augen sehen, die finsterer wurden und ein Muskel zuckte an seinem verspannten Kiefer. Er wandte den Blick ab und starrte auf seine Papiere hinunter, als stände dort die Lösung für dieses Problem. Aber es gab keine und allmählich wurde mir dieses Schweigen lästig. Immer wieder hatte ich versucht, etwas aus der Prinzessin herauszubekommen, wenn sie Morgens mit der Kräuterfrau kam, um meine frischen Narben zu behandeln, aber sie tat meine Fragen, mein grimmiges Bohren immer wieder damit ab, dass die rechte Zeit noch nicht gekommen war.

»Sagt mir endlich, was Ihr von mir wollt.«, knurrte ich finster.

»Der König wird mit Euch darüber sprechen.«

»Wann?!«, schrie ich wütend und mein plötzlicher Ausbruch überraschte mich selbst. »Wann wird Euer feiger König mit mir reden? Wann? Wenn ich alt und grau bin? Ich habe es satt, dass jeder mich herum schubst und für mich bestimmt. Weder Ihr werdet das tun, noch Euer König!« Meine Stimme überschlug sich und ich kreischte beinahe, packte zwei Bücher und warf sie nach ihm.

Er duckte sich darunter hinweg. »Verdammt! Lasst das!«

»Erst, wenn Ihr mich endlich zu Eurem König bringt! Ich werde hier drinnen noch verrückt! Lasst mich endlich gehen!«

»Das kann ich nicht!«, rief er und ich schmiss weitere Bücher nach ihm.

Kronprinz Fenris stolperte von seinem Stuhl weg und wehrte ein Buch mit seiner Hand ab. Krachend fielen sie zu Boden. Wütend griff ich mir weitere Bücher, aber er kam auf mich zu, um mich zu stoppen. Ich warf ihm ein Buch gegen das Bein, er fluchte und packte mein Handgelenk. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich beiseite, schlug mit der freien Hand auf seinen Arm ein, aber er wirbelte mich herum und drückte mich gegen seinen Brustkorb. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich spürte ihn wieder hinter mir.

Ihn.

Malik.

Am Morgen, als er mir das Wasser über den Kopf und den Körper schüttete, damit ich aus meinem Dämmerzustand aufwachte. Ich spürte wieder, wie er mich an sich presste mit meinem flammenden Rücken an seinen harten Brustharnisch, als würde ihn mein Blut nicht im Mindesten stören. Wieder fühlte ich seinen heißen Atem in meinem Nacken, spürte, wie er meine Hand nahm und sie in seinen harten Schritt presste. Die Pein, die Scham, den Ekel vor mir selbst.

Mein Herz raste und ich warf mich mit aller Macht gegen ihn, aber er hielt mich fest.

»Lasst mich los! Lasst mich sofort los!«, schrie ich.

»Beruhigt Euch! Verdammt, was ist denn...?«

»Lasst mich los!«, kreischte ich und mir strömten Tränen über die Wangen, meine Stimme ging in ein klägliches Schluchzen über.

Er ließ mich so plötzlich los, dass ich umfiel wie ein Baum. Ich kroch auf allen Vieren über den Boden und presste mich mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand und starrte ihn schwer atmend an. Mein ganzer Körper vibrierte regelrecht und ich spürte die nassen Spuren auf meinen Wangen. Mein Atem rasselte.

»Fasst mich nicht an...«, hauchte ich kaum hörbar. »Nie wieder.«

Benommen schüttelte er den Kopf. »Das... das war nicht meine Absicht, Prinzessin. Ich wollte nicht...«

Ich schüttelte den Kopf und wandte bitter das Gesicht ab, zog die Beine eng an meinen Körper. In meiner Kehle stieg bittere Galle auf. Wieder war ich unheimlich schwächlich und das machte mich beinahe wahnsinnig. Ich hatte ihm gezeigt, dass ich Angst hatte und das war schlimmer, als alles andere. Ich hatte ihm meine Schwäche gezeigt, wieder einmal. Obwohl ich stark sein wollte, hatte ich wieder Schwäche zugelassen.

 

 

Er starrte auf das Mädchen herunter, das sich dort vor ihm an der Wand zusammenkauerte. Ihr ganzer Körper zitterte wie Espenlaub und auf ihren mageren Wangen glänzten feuchte Tränenspuren. Bei den Göttern, das hatte er nicht beabsichtigt. Aber die Wut war in ihm hochgekocht, als sie ihn so schamlos mit seinen eigenen Büchern beworfen hatte, nur, weil sie keine Geduld besaß. Auf der anderen Seite verstand er ihren Ausbruch sehr gut. Er wäre nicht anders, wenn er von einem Mann misshandelt worden wäre, in einem fremden Königreich aufwachte und dann geraume Zeit hingehalten werden würde, ohne, dass man ihm sagte, was eigentlich los war.

Sie war frustriert und verängstigt.

Fenris seufzte leise und fuhr sich durch das Haar, ehe er sich zu ihr herunterkniete.

Sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an und presste sich steif gegen die Wand.

»Ich will Euch nichts antun, Prinzessin Akira.«, sagte er ruhig und er war selbst überrascht, wie sanft seine Stimme klingen konnte.

»Ihr vielleicht nicht... aber andere werden kommen. Andere sind gekommen.«, murmelte sie und wischte sich mit den mageren Fingern zornig über die Wangen.

Er runzelte die Stirn. »Was hat er Euch noch angetan? Das auf Eurem Rücken kann doch nicht alles gewesen sein.«

Ihr von Hass erfüllter Blick traf ihn so unvermittelt, dass er die Brauen überrascht hob.

»Er tat Dinge, über die eine Prinzessin nicht spricht.«, zischte sie und ihre Stimme troff vor Zorn, als sie sich steif erhob und an ihm vorbei zurück in seine Gemächer ging. Er folgte ihr und blieb im Durchgang stehen, beobachtete, wie sie sich wieder an den Esstisch setzte, die Beine fest und abwehrend an ihre dürre Brust zog und so auf dem Stuhl sitzen blieb, den Blick starr auf den Geschichtenband vor ihr geheftet.

Nachdenklich senkte er den Blick, fuhr sich durch das wirre tiefschwarze Haar und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Dieser Vorfall hatte ihm bestätigt, dass Malik mehr mit ihr gemacht hatte, als sie bloß auszupeitschen. Wenn das nicht schon gereicht hätte. Zwar bestritt er, sie vergewaltigt zu haben, jedoch konnte man eine Frau auch quälen, ohne mit ihr zu schlafen. Und so, wie sie reagiert hatte, als er sie an seine Brust gezogen hatte, um sie zu beruhigen, war mehr vorgefallen, als das. Er musste sich ganz dringend Malik zur Brust nehmen und zusätzlich dem König berichten. Dieser wollte andauernd etwas über den Zustand der Geisel wissen. Nun wurde es Zeit, dass sie mit dem König, dem Drahtzieher der ganzen Geschichte sprach. Denn allmählich wurde es anstrengend, ihren Fragen auszuweichen und ihr immer wieder zu versichern, dass die rechte Zeit kommen würde.

 

Gegen Abend, als er die Prinzessin in die Obhut seiner Schwester gegeben und ihr leise erzählt hatte, was passiert war, brach er in den südlichen Flügel auf, in denen Maliks Gemächer lagen. Das Schwert hing fest an seiner Seite, seinen Dolch hatte er an seiner Kehrtseite unter dem Wams verborgen. Er traute Malik ebenso weit, wie er spucken konnte und er hatte immer einen Plan B, falls die Situation doch einmal eskalierte. Seine Schritte hallten durch die hochdeckigen Gänge, als er an der Festungsküche vorbei lief, aus der es immer leicht nach Essen duftete. Er ignorierte seinen leeren Magen und betrat den Gang, der zu Maliks Gemächern führte. Aus dem Gang drangen bereits obszöne Geräuschte und Fenris rollte schon mit den Augen.

Fenris öffnete die Tür und starrte auf die Szenerie, die sich vor ihm eröffnete.

Malik lag mitten in seinem Bett, auf ihm hockte ein junges Dienstmädchen, nackt und schön und ritt ihn, als gäbe es keinen Morgen mehr. Dabei sah sie jedoch alles andere, als glücklich aus. Ihre geballten Fäuste auf seiner Brust und der verbissene Gesichtsausdruck zeugte nicht von unterdrückter Lust, sondern vor Schmerzen. Er hatte sich wieder eine der schüchternen Dienerinnen genommen.

»Verzeih, dass ich dich störe«, erhob Fenris die Stimme, um die beiden zu unterbrechen.

Erschrocken hob das Mädchen den Kopf und verkrampfte sich noch mehr auf Maliks Schoß.

Dieser ließ sich genervt zurücksinken und fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. »Musst du mich eigentlich immer nerven, wenn es gerade unpassend ist?«

»Tut mir leid, das kann nicht warten. Wenn du uns alleine lassen würdest, Mädchen?«

Als sie schüchtern nickte und von Maliks Schoß aufstehen wollte, packte dieser ihre Hüfte und presste sie fester auf seinen Schritt. »Das Herzchen kann ruhig hier sitzen bleiben. Das stört mich nicht«, grinste er.

Fenris' Kiefermuskeln mahlten. »Mich aber«, sagte er kühl. »Und jetzt nimm das Mädchen von deinem Schoß.«

Genervt rollte Malik mit den Augen. »Bist du eifersüchtig? Dass du mir nicht einmal den Spaß mit einem jungen Mädchen gönnst? Was kann ich dafür, dass du dich für ein Leben in Enthaltsamkeit entschieden hast?« Beim Sprechen ließ er das Mädchen endlich seitlich von seinem Schoß gleiten. Dieses rutschte weiter vom Bett und ergriff ihre dünne Dienerkluft, stülpte sie sich rasch über den Kopf und huschte an Fenris vorbei. Er konnte ihre Angst und die Scham an ihr wittern, genauso, wie er sie an der Auserwählten gerochen hatte, als er sie an seine Brust gedrückt hatte.

Beide Mädchen teilten die gleiche Angst vor ihm.

Malik stand auf und wandte seinem Bruder den Rücken zu. Fenris sah zu, wie er gemächlich seine Kleidung vom Boden aufhob und sich die Hose überstreifte. Sein muskulöser Rücken glänzte vom Schweiß. Dabei sah er die Narben auf dem Rücken seines jüngeren Bruders. Eine, die sein linkes Schulterblatt entzwei teilte, eine, die knapp über seiner Lendenwirbelsäule entlang lief und die Letzte, die quer über seinen Rücken reichte und, die ihm der König höchst selbst beigebracht hatte, nachdem Maliks Mutter gestorben war.

Sein jüngerer Bruder ging zum Tisch hinüber und schenkte sich Wein in einen kleinen, bauchigen Kelch. »Auch? Ewige Jungfrau?«

Fenris spürte, wie ungewollt die Wuthitze in seine Ohren stieg. Er hasste es, wenn Malik ihn damit drangsalierte. »Du weißt ganz genau, dass das nicht stimmt.«

»Gut, gut. Ich sage ja gar nichts mehr. Willst du jetzt, oder was?« Malik hielt ihm den Kelch entgegen.

»Danke«, knurrte Fenris. »Ich könnte daran ersticken.«

Malik lachte verächtlich, zuckte die Schultern und nahm einen kräftigen Zug aus dem Kelch. »Gibt es einen bestimmten Grund, weshalb du mich beim Vögeln störst, oder muss ich raten?«

»Was hast du dem kartanischen Mädchen angetan?«

»Hat es eigentlich einen triftigen Grund, weshalb du nie den Namen einer Person sagst, Brüderchen? Sind das immer noch die Komplexe, die du wegen Zeris hast?«

»Hierber geht es nicht um sie. Und du kennst den Grund.«

Malik verdrehte die Augen und wackelte mit den Augenbrauen. »Ja, da hast du wohl recht. Wie immer bin ich an allem Schuld, was? Warum fragst du nicht deine kleine Kartanerin? Oder hat sie keine Lust mit dir zu reden?«

»Sie ist heute beinahe zusammengebrochen, als ich sie festgehalten habe. Und der Grund steht, wie immer, vor mir. Was hast du mit ihr gemacht, außer sie halb tot zu peitschen?«

Der Gesichtsausdruck seines Bruders wechselte von heiter, zu ausdruckslos. Seine unheimlichen Augen wurden eisig hart und ein Ausdruck mischte sich darin, den man beinahe, als wahnsinnig bezeichnen konnte. Er würde ihm nicht sagen, was er mit dem Mädchen noch getan hatte und sie würde bei so wenig Vertrauen zu ihm oder Euros nie selbst davon sprechen. Niemals würde sie ihm erzählen, was geschehen war auf dem Weg nach Fenral.

»Ich denke, du hast deine Antwort, Bruder«, raunte Malik, als er hinter Fenris vorbei schlich und dann zurück zu seinem Bett ging. »Wenn du das Dienstmädchen durch Zufall siehst, sag ihr, dass sie den Mund über das hier halten soll, ansonsten reiße ich ihr den Schädel von den Schultern.«

Und so meinte er das auch.

.

 

 

 

 

 

 

 

Höre das Beben des Bodens.

Höre das Heulen des Ostwindes.

Höre das Klagen der Bären.

 

Leitfaden der großen Häuser des Kaiserlandes, Fenral

Kapitel 8

 

Er ließ den Blick über das Heerlager wandern, beobachtete die Männer und Frauen, die ihren täglichen Aufgaben nachgingen. Männer hatten sich zu Gruppen zusammen geschlossen, hielten ihren Wachdienst ab, Pferde wurden herum geführt von einem Ort zum anderen, der königliche Hundeführer zerrte seine laut bellende Schar an Spürhunden den Hauptweg durch das Lager zu den neu errichteten Zwingern. Während er das alles beobachtete, ging er im Kopf immer wieder die Möglichkeiten durch, die ihnen blieben. Immer wieder wurden Spähtrupps ausgesandt, doch es gab noch immer kein Zeichen von Prinzessin Akira.

Übermüdet, da er dem letzten Suchtrupp angehört hatte und gerade erst ins Lager zurückgekehrt war, es dämmerte zum Abend, erklomm er die Anhöhe, auf der Regans Zelt stand. Er strich die Zeltplane beiseite und fand ihn mitten in den Papieren und Formularen vor. Er hockte mit der Feder und den Gedanken wieder einmal mitten in der Arbeit.

»Regan.«, grüßte er ihn.

»Raphael«, murmelte Regan zurück, schaute jedoch nicht von dem Pergament auf, das er in der Hand hielt. Das Siegel war gebrochen, doch Raphael erkannte es beinahe sofort. Es war der Rabe von Ikard.

»Deine Schwester schickt Nachricht?«, wollte Raphael so beiläufig wie möglich wissen, jedoch begann sein Herz bei dem Anblick zu rasen.

Regan nickte, fuhr sich durch das raspelkurze Haar. »Caspian schickt einhundert Mann zur Verstärkung des Heeres, um die zufkünftige Königin zu retten...«

Die Pause, die Regan daraufhin einlegte, gefiel Raphael nicht. Er war seit einiger Zeit verschlossen, wie ein Buch mit sieben Siegeln. Er sprach kaum noch mit irgendjemandem über seine Pläne oder verließ auch nur das Zelt. Beinahe Tag und Nacht verbrachte er an dem Pult in diesem Zelt und bearbeitete irgendwelche Papiere, von denen Raphael keine Ahnung hatte, ob sie überhaupt nützlich waren. Außerdem machte es ihn stutzig, dass er die Raben nicht mehr aussendete, um Informationen zu erhalten. Die Spürhunde wurden seit einer Woche im Lager Spazieren geführt. Irgendetwas stank hier zum Himmel.

»Was ist los, Regan?«

Sein Freund stützte den Kopf in eine Hand. »Esme hat das Kind verloren.«

Wie betäubt stand Raphael neben dem Schreibtisch und die Welt um ihn herum schwankte gefährlich. Der Boden unter seinen Füßen schien beinahe nachzugeben und seine Beine drohten einzuknicken, als er den Sinn hinter Regans Worten begriff. Esme hatte das Kind verloren. Das Kind, das sie zu Regans und Akiras Hochzeit im Leib getragen hatte. Das Kind, das...

Raphael drehte sich um und verließ fluchtartig das Zelt, denn die Luft schien ihm mit einem Mal viel zu dünn. Er rang um Atem und lief weiter. Immer weiter, bis er die Ruinen des alten fenraler Außenpostens erreichte. Die dunklen Steine ragten brüchig und unheilvoll in den bereits dunklen Nachthimmel. Die Kühle der Nacht vermochte jedoch nicht sein wild pochendes Herz zu beruhigen. Nur schwer konnte er dem Drang widerstehen, sich auf ein Pferd zu schwingen und zu desertieren, um nach Norden zu reiten. Das war doch alles nicht wahr!

»Du bist der Vater gewesen, oder?«

Raphael drehte den Kopf, während er sich mit dem Rücken gegen die alte Mauer lehnte, um nicht umzukippen.

Regan stand da, seine Miene war unbeweglich, eiskalt und uneinschätzbar. Er war so kalt und es machte ihm Angst, wie er einfach nur so dastand und ihn musterte von Kopf bis Fuß. Als wäre Raphael ein Fremder, den er nicht kannte.

»Regan, ich...«

»Deshalb gingst du in angeblichen Patrouillengängen in regelmäßigen Abständen fort? Weil du hinter meinem und Caspians Rücken meine Schwester vögelst?« Seine Stimme klirrte wie Eis.

»Ich wollte das alles nicht«, raunte Raphael schmerzvoll.

»Du wolltest nicht mit ihr schlafen, verstehe ich das richtig? Hat sie dich also niedergedrückt und dich gezwungen?«

Raphael schüttelte heftig den Kopf und wich zurück, als Regan einen Schritt auf ihn zu machte. »Nein! Natürlich nicht! Ich... Verdammt, du wusstest doch, was ich für sie empfinde.«

»Ich weiß, dass sie eine verheiratete Frau ist! Ich müsste dir eigentlich den Schädel einschlagen und im Moment habe ich auch große Lust dazu!«, brüllte Regan außer sich vor Zorn. »Und John? Was ist mit ihm? Ist er auch von dir?«

Er senkte den Blick, wagte es nicht mehr, Regan auch nur anzusehen. Etwas zu sagen wagte er erst recht nicht.

Bitter lachte Regan auf. »Ich fasse es nicht! Es geht so lange schon? Seit vier Jahren?«

»Schon, seit sie Caspian geheiratet hat, Regan. Verstehst du nicht? Sie ist unglücklich in ihrer Ehe. Und ich ertrug es nicht, sie so zu sehen. Ich liebe sie, verdammt! Und unseren Sohn.«

Regan schüttelte den Kopf. »Es ist nicht euer Sohn, Raphael. Es ist Caspians Sohn.«

Verzweifelt fuhr sich Raphael durch das kurze Haar. Die Wut kochte wieder in ihm hoch. Die Wut über diese ganze Situation. Er wusste noch genau, wie es damals war, bevor Esme verheiratet gewesen war. Es hatte ihn verrückt gemacht, sich nachts heimlich aus der Festung zu stehlen, wenn Regan dort schlief und sich dann in den Stallungen, in den geheimen Höhlen unter der Stadt oder im Wald außerhalb Woberoks mit seiner Schwester zu treffen. Nur, damit er mit ihr schlafen konnte. Wie oft hatten sie sich im Schutze der Dunkelheit geliebt? Wie oft? Hunderte Male? Tausende? Er hatte schon aufgehört nachzuzählen, weil er so glücklich mit dem Mädchen seiner Träume gewesen war.

Bis zu jenem Tag, als er in den Wäldern auf sie wartete.

Sie kam an, ihr Gesicht bleich wie das eines Gespenstes. Raphael hatte schon befürchtet, sie wäre erkrankt und hatte sie in seine Arme gezogen. Doch sie hatte ihn weggestoßen, über ihre Wangen waren Tränen gelaufen und sie erzählte ihm, dass der König sie mit Lord Caspian von Ikard verheiraten wollte. Dass sie fort gehen würde. Er war so wütend gewesen, dass er am liebsten die ganze Welt zusammengeschrien hätte. Er hatte sie gepackt und an sich gezogen und sie hatte in seinen Armen geweint, während sie sich gegenseitig auszogen, sich streichelten, küssten. Ihrer verzweifelten Liebe Raum verliehen und sich gleichzeitig Lebe Wohl sagten.

Doch sie konnten nicht voneinander ablassen. Nicht einmal, als Esme verheiratet und auf Ikard war. Es dauerte nur zwei Monate, als sie ihm einen Brief schickte und ihm mitteilte, sie sei schwanger. Von ihm. Zuerst hatte ihn Furcht ergriffen, dann hatte er Stolz empfunden und Liebe. Sofort war er aufgebrochen, um sie zu sehen. Immer wieder trafen sie sich heimlich in Ikard, direkt vor Lord Caspians Nase. Sie hatte Raphael versichert, dass er sie gut behandelte, dass sie der großen Mutter Skadi dankte, dass Caspian sanft und freundlich zu ihr war. Er erinnerte sich noch genau an jenen Moment, als er die Hand auf ihren Bauch gelegt und die winzige Wölbung gespürt hatte, sowohl wie er, mehrere Monate später, die Hand auf ihren ausgewachsenen Bauch gelegt und das Treten seines Sohnes gespürt hatte.

So ging es weiter, Monate und Jahrelang. Immer wieder und auch dieses Kind, das Esme nun verloren hatte, war seines gewesen.

»Ich weiß, was du denkst.«, flüsterte Raphael, während er sich weiterhin an die Mauer lehnte. »Du denkst, es wäre eine einfache Liebschaft. Etwas, ohne Bedeutung für uns. Für mich. Aber, Regan, es ist nicht so, wie bei dir und Igred.«

»Sag so etwas nicht!«, knurrte Regan und trat einen drohenden Schritt auf seinen besten Freund zu. »Das, was ich mit Igred hatte, ging zehn verdammte Jahre. Zehn! Und das, was euch beide verbindet, sind gerade einmal ein Bruchteil dieser Zeit.«

»Und unser gemeinsamer Sohn, Regan!«, knurrte Raphael zurück. »Du kannst es ja vielleicht leugnen. Vielleicht willst du das auch, aber John ist mein Sohn! Niemand mag es wissen und für ganz Woberok wird er immer Caspians Sohn sein, aber ich weiß es besser. Wir wissen es besser. Ich werde immer etwas haben, das Caspian niemals haben wird.«

Regan schüttelte erneut den Kopf, als könnte er nicht fassen, was gerade passierte.

»Außerdem«, fuhr Raphael fort und es dürstete ihn, Regan aus der Reserve zu locken. »was hattest du denn mit Kira? Das war auch nur ein Bruchteil der Zeit dessen, was du mit Igred verbracht hast. Nicht mal ein Jahr hattet ihr zusammen!«

Regan hob den Kopf, aus seinen Augen sprühten Funken und er schoss auf Raphael zu, blind vor Wut. Er packte Raphael am Kragen seiner ledernen Jagdjacke und rammte ihm die Faust in den Magen. Raphael keuchte schmerzerfüllt auf, wehrte sich jedoch nicht gegen die Schläge. Es war die erste emotionale Reaktion, seit Regan das Heer zusammengerufen hatte, um die zukünftige Königin zu retten. Bisher hatte auch niemand gewagt, ein Wort über Prinzessin Akira zu verlieren. Doch nun schien er aus seiner Starre zu erwachen, die ihn durchhalten ließ. Er wirkte mehr denn je verletzlich und verzweifelt.

Irgendwann, als Regan ihm einige Schläge verpasst hatte, strauchelte er zurück und rieb sich seine aufgeplatzten Knöchel.

Raphael wischte sich unter der blutigen Nase entlang und vernahm schließlich ein klägliches Schluchzen. Er sah auf und blickte Regan erstaunt an. Noch nie hatte er ihn schluchzen hören. Nicht einmal, wenn er Schmerzen litt. Nicht, als er seinen ersten Tag mit dem Schwert in der Hand hinter sich hatte und seine Muskeln vor Schmerz glühten. Doch nun weinte er, wie ein kleiner Junge.

»Regan...«

Wieder und wieder schüttelte er den Kopf. »Ich konnte sie nicht beschützen.«

»Sag soetwas nicht«, murmelte Raphael.

»Es stimmt. Ich habe sie eingeschlossen. Ich habe die Tür zugesperrt und ihr Schicksal besiegelt. Hätte ich das nicht getan, dann...«

Raphael packte seine Schulter und stieß ihn gegen die Ruinenmauer, in dessen Nähe sie das Heerlager errichten ließen. »Verdammt nochmal! Regan, hör auf damit. Das alles wird ihr nichts bringen! Du musst stark bleiben. Bleib stark! Für sie! Für euch!«

»Wie schaffst du es?«

Raphael blinzelte. »Was meinst du?«

»Sie gehen zu lassen.«

Nachdenklich sah er in den Himmel. »Es dauert zehn Mal so lange sich zusammenzusetzen, wie es dauert zu zerbrechen. Aber es geht, Regan. Und für euch gibt es eine Zukunft. Ihr seid Mann und Frau und eines Tages wirst du sie wiederhaben. Für mich und Esme wird es keine Zukunft geben. Sie wird immer Caspians Frau sein... und John wird sein Sohn sein.«

Regan senkte beschämt den Blick. »Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe.«

»Du sagtest nur die Wahrheit, Regan.«, antwortete Raphael. »Du hast recht. Er kennt mich ja gar nicht.«

»Dennoch ist er der deine.«, murmelte Regan. »Ich hätte es eher sehen müssen. Bei meiner Hochzeit... habt ihr da...?«

Raphael hob eine Augenbraue. »Willst du wirklich wissen, wann und wie oft Esme und ich...?«

Regan schnaubte kurz. »Nein. Nicht wirklich. Du hast recht.«, brummte er und lehnte den Hinterkopf gegen die Mauer. »Ich muss sie zurück bekommen. Wenn ich mir vorstelle, was sie ihr antun...«

»Hör auf damit! Denk nicht darüber nach, sondern konzentriere dich auf ihre Rettung!«

»Wie soll ich das? Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, seit sie weg ist. Mein Vater ist daheim und umgeben von den koruppten Räten, meine Cousine trauert immer noch, weil es keine Nachricht von Kiras Bruder gibt und meine Frau liegt in den Fängen Fenrals. Und nun hat meine kleine Schwester ihr zweites Kind verloren. Alles geht den Bach runter.«

Raphael hörte die Verzweiflung in der Stimme seines Freundes. Er selbst empfand diese Verzweiflung bei der Nachricht vom Verlust seines zweiten Kindes. Zu gerne wäre er jetzt bei ihr. Wollte wissen, wie es ihr ging, was sie tat. Er wollte sie halten, ihr sagen, dass alles gut werden würde. Dass sie immer noch John hatte und er so ein wunderbarer, schöner Junge war. Nur, wegen ihr. Raphael wusste, dass er rein gar nichts dazu beigetragen hatte. Zu riskant war es, sie immer zu besuchen, da wäre es noch riskanter gewesen, John die Wahrheit zu sagen. Er war ein kleiner Junge, der nicht verstehen würde, was sie ihm versuchen würden, zu erklären. Es war besser so, wie es war.

»Wir müssen Vertrauen in die Götter haben.«, murmelte Raphael.

»Die Götter sind dabei mir alles zu nehmen.«, zischte Regan. »Sie nahmen mir meine Frau und keiner von ihnen hilft mir sie zurückzubekommen.«

Raphael packte seine Schulter und drückte ihn fester gegen die Mauer. »Regan, du darfst nicht verzweifeln. Ich habe gerade erfahren, dass Esme mein zweites Kind verloren hat. Und dennoch muss ich stark bleiben für das, was kommt. Und du musst stark sein für Kira. Sie braucht dich. Genau jetzt. Los. Bitte!«

Regan nickte langsam und der Kampfgeist kehrte in seine eiskalten blauen Augen zurück. Er klopfte Raphael auf die Schulter und schob sich an ihm vorbei. Er folgte seinem Freund zurück ins Lager und spürte neue Hoffnung zur Rettung der Prinzessin, als er sah, wie die Spürhunde von den Leinen gelassen wurden.

 

 

 Ich hatte die Beine eng an meine hagere Brust gezogen und starrte hinaus auf die Stadt. Die Sonne begann sich hinter den Bergkuppen zu verkriechen und das dämmrige Licht ließ die Stadt zum Leben erwachen. Überall leuchteten Fackeln und die Feuer auf den Mauern wurden entzündet, um den diensthabenen Wachmännern Licht zu spenden. Nachdenklich ließ ich meinen Blick zum Horizont gleiten und fragte mich einmal mehr, ob Regan nach mir suchte. Wo er war, wie es ihm ging. Ob meine Familie in Kartan schon von meinem Verschwinden wusste?

Müde sah ich wieder auf den Text, der vor mir auf der Fensterbank lag. Es war das Buch über das Mädchen, das in einem Nomadenstamm aufwuchs. Ich war bei jenem Kapitel, als sie gegen ihren Willen an einen Mann verheiratet wurde und ihren Stamm verlassen musste, um mit ihm zusammenzuleben. Zuerst haben sich die beiden regelrecht gehasst, doch aus Hass wuchs eine Liebe heran, die Stärker war, als alles andere. Manche Dinge hatten eben Bestand, auch, wenn sie frisch und zerbrechlich waren, wie ein Pflänzchen. Stärker als jede Entfernung, als das Mädchen von Plünderern verschleppt wurde und zwangsweise einem der Plünderer als Frau gegeben wurde. Stärker, als der Tod, als sie zurückkehrte und durch einen hinterlistigen Trick getötet wurde.

Ich schlug das Buch so heftig zu, dass mir schwindelig wurde und, als meine Hand den Einband berührte, durchzuckte es mich wie ein Blitz. Ich keuchte auf, spürte beinahe den Pfeil, der den Rücken des Mädchens durchbohrte. Meine Hand presste sich auf meine Brust und ich stieß das Buch weg, da wurde die Tür geöffnet.

Benommen blinzelte ich und spürte im nächsten Moment die große, muskulöse Hand von Kronprinz Fenris auf meiner schmalen Schulter. Heftig fuhr ich zusammen und starrte ihn an, beinahe ärgerlich, da er meine Worte, mich nicht mehr anzurühren, offensichtlich ignorierte. Auch meinen finsteren Blick ignorierte er, oder es war ihm egal.

»Ihr hattet eine Vision, nicht wahr?«

Ich funkelte ihn an und rückte ein Stück ab. »Visionen haben Wahrsager und Verrückte. Glaubt Ihr, dass ich eines von beiden bin?«

Sein Mundwinkel zuckte, als würde ihn meine Frage amüsieren. »Ich glaube, Ihr seid die Auserwählte. Ihr wolltet doch wissen, was es damit auf sich hat, oder? Dann habt Ihr heute Abend die Gelegenheit dazu. Der König bittet Euch an seine Tafel. Im kleinen Kreis, es werden nicht viele Leute anwesend sein.«

Kurzzeitig durchflutete mich Freude, weil ich endlich vor den Mann stehen würde, der mich hierher verschleppen ließ. Jedoch legte sich diese Freude sehr schnell, wenn ich an die vergangenen Tage dachte. Daran, dass Prinzessin Euros und die Kräuterfrau jeden Morgen meine Narben versorgt hatten, daran, wie ich jeden Tag um eine Audienz gebeten hatte, um ihn zu treffen. Und, dass er es nicht für nötig erachtet hatte, mich zu treffen.

Ich reckte stolz das Kinn in die Höhe, rutschte vom Fensterbrett und stolzierte an ihm vorbei zum Bett. »Vielen Dank für diese Einladung.«, antwortete ich ihm. »Teilt dem König meine Abwesenheit mit. Ich ziehe es vor, in meiner Zelle zu dinnieren.«

»Was?«, stieß er hervor. »Seit Tagen nervt Ihr mich damit, dass Ihr mit dem König sprechen wollt. Ihr werft mit Büchern nach mir und jetzt wollt Ihr seiner Einladung nicht folgen? Warum?«

»Weil es Eurem König anscheinend gefällt mit seinen Geiseln zu spielen, Kronprinz Fenris«, erwiderte ich kühl. »Ich nehme die Herausforderung an. Sagt ihm, dass es mir zuwider ist, mich an seine Tafel zu setzen und mich seinen Pläuschen hinzugeben, als wäre ich ein Gast seines Hauses. Ich bin eine Gefangene und Ihr wisst das ganz genau. Schließlich habe ich meinen neuen Spitznamen von Euch.«

Er wandte den Blick ab, als wäre es ihm unangenehm.

Das konnte es ruhig!

Ich schlug die Decke des Bettes zurück, um mich zu setzen, aber er erhob wieder die Stimme.

»Der König wollte mit Euch darüber sprechen, weshalb Ihr hier seid. Was es bedeutet, die Auserwählte zu sein. Und der König ist sehr viel ungeduldiger, als ich es bin, Prinzessin Akira. Also, um dieses höfliche Geplänkel beiseite zu lassen«, sagte er knurrend und warf einen grünen Stoffhaufen neben mich auf das Bett. »rate ich Euch, Euren Arsch in das Kleid zu verfrachten und Euer Haar zu bürsten. Ihr werdet nämlich vor den König treten, ob Ihr nun ein Kleid anhabt oder das Nachthemd dort.«

Ich starrte ihn trotzig an, wagte es nicht, den Blick abzuwenden, denn ich wollte und durfte keine Schwäche mehr zeigen. Das, was in seinem Arbeitszimmer passiert war, hatte schon zu viel von mir entblößt. Zu tief hatte ich ihn bereits in meine geschundene Seele blicken lassen. Zu viel von mir selbst preisgegeben. Es durfte auf keinen Fall mehr auf dieser Liste werden.

Irgendwann brach er den Blickkontakt ab und ging, wie so oft, zur Tür. »Ich warte, bis Ihr klopft. Wenn Ihr in zehn Minuten nicht klopft, hole ich Euch, egal, ob Ihr halbnackt dasteht.«

»Was glaubt Ihr, bringen Euch Eure Drohungen?«

Er zuckte die Schultern. »Vielleicht glaube ich, dass ich so meinen Willen durchsetzen kann, Prinzessin.« Danach schloss er wortlos die Tür hinter sich und ich stand unschlüssig neben dem Bett.

Vor Wut knirschte ich mit den Zähnen, ehe ich den Stofffetzen packte und wütend auseinander faltete. Es war ein schlank geschnittenes, grünes Wollkleid mit einem weiten Ausschnitt, der die Schultern freiließ, sodass man meine mageren Knochen hervorstechen sehen würde. Nachdenklich blinzelte ich. Obwohl man durch das Kleid meinen mageren Leib sehen würde, hatte ich nicht das Gefühl, dass mich Kronprinz Fenris bloßstellen wollte. Es war eine Möglichkeit des Trotzes. Ein Zeichen der Gegenwehr.

Ich presste die Lippen zusammen und blickte zur Tür.

Danach zerrte ich das Nachthemd über meinen Kopf und streifte das grüne Kleid über. Wie beabsichtigt ragten meine Schulterknochen und Schlüsselbeine hervor und ich zog einen ledernen Gürtel um meine schmale Taille, bevor ich mein Haar bürstete, das mir wie immer wild in alle Richtungen abstand. Ich bekam das kurz abgeschnittene Haar einfach nicht gebändigt, sodass ich es dabei beließ und zur Tür stapfte, dagegen hämmerte und auf eine Reaktion wartete. Kronprinz Fenris öffnete wie immer kurz darauf die Tür und sah kurzzeitig an mir herab, als wollte er prüfen, dass ich auch wirklich das Kleid an hatte, das er mir gegeben hatte.

Er streckte die Hand aus und ließ es mir offen, sie zu ergreifen.

Nachdenklich runzelte ich die Stirn, gab meine Hand jedoch in seine, die darin beinahe vollständig verschwand. »Warum habt Ihr mir dieses Kleid gegeben?«

Eine steile Falte erschien zwischen seinen schwarzen Brauen. »Wir brauchen alle eine Waffe, die wir schwingen können. Es muss nicht immer eine Waffe aus Stahl sein.«

Ich blinzelte und folgte ihm, als er mich den Gang entlang führte. Es stimmte mich nachdenklich, dass er so sprach. Ich hatte bisher niemanden getroffen, der so redete wie er.

Kronprinz Fenris führte mich die Treppe hinunter und auf einen breiten Gang, der der Hauptgang zu sein schien. Der Hauptgang mündete in einem großen Balkon, an dem zwei Treppen hinunter in den Thronsaal führten. Verschwommen erinnerte ich mich daran, wie ich vor Malik auf dem Boden gehockt hatte, die verschwommenen Stimmen gehört hatte, als ich mehr tot als lebendig vor dem König gesessen hatte. Genau erinnerte ich mich allerdings nicht mehr.

Wir stiegen die rechte Treppe hinunter und bogen in einen Nebengang ein und betraten einen geräumigen Saal. Mitten im Raum stand ein gewaltiger Eichenholztisch mit anmutig geschnitzten Tischbeinen, daran standen eine ganze Reihe niedriger, jedoch nicht weniger prunkvolle Stühle. Auf dem Tisch war eine beinahe festliche Tafel gedeckt. Runde silberne Teller, an silbernem Besteck und silberne, gravierte Kelche ganz im fenraler Stil. Die Wände waren mit fenraler Fahnen, Banner und Bildern geschmückt. Eine Kommode stand an der Wand, auf der sich eine teure Vase befand, die aufwändig bemalt worden war. Unschlüssig blieb ich stehen und sah mich um.

Es war so anders, als in Woberok.

Kronprinz Fenris ging zu einem niedrigen Tischchen hinüber und griff sich einen kleinen Kelch, den er mit einer dunkelroten Flüssigkeit füllte, die er aus einem Krug goss, auf dem ein Bärenkopf gestanzt war.

Die Fenraler vergötterten ihr Wappentier.

Er kam zu mir zurück und hielt mir einen Kelch hin.

Ich hob skeptisch eine Augenbraue und sah ihn an. »Warum sollte ich Euch vertrauen?«

»Weil, wenn ich Euch hätte vergiften wollen, ich es schon längst getan hätte.«, bemerkte und ein Grübchen grub sich in seine Wange, als er schief lächelte und mir die Hand auffordernd entgegen streckte. Dieses Lächeln erinnerte mich an das spöttische Grinsen von Regan. Er hatte mich auch oft genug mit diesem Blick angesehen.

Ich nahm den Kelch und setzte ihn unter seinem wachsamen Blick an meine Lippen. Einen tiefen Zug nehmend, hielt ich seinem Blick stand.

Dann wurden wir jedoch unterbrochen von Stimmenwirrwarr. Eine der zahlreichen Türen, die in diesen Raum führte, öffnete sich und Prinzessin Euros trat mit einem Jungen an ihrer Seite in den Saal. Der Junge besaß hellbraunes Haar, das ihrem sehr ähnlich sah. Auch seine Augen waren hellbraun, beinahe golden. Er blieb wie angewurzelt neben der Prinzessin stehen.

»Was macht sie hier?«, knurrte der Junge.

»Nero«, ermahnte ihn Prinzessin Euros. »Der König wollte ihre Anwesenheit heute Abend. Außerdem ist sie die Auserwählte. Sie hat das Recht, sich im Palast frei zu bewegen.«

Der Junge warf ihr einen kurzen Blick zu, dann starrte er mich noch einmal finster an und stapfte an mir vorbei, riss einen der Stühle am Ende der Tafel zurück und setzte sich.

Irritiert blickte ich ihn an, dann zu Prinzessin Euros, die in einen edlen, dunkelgrünen Fellumhang gehüllt war. Das dunkelgrüne Wollkleid, das sie am Körper trug, lag eng um ihre Taille. Weite Trompetenärmel ließen ihre Arme schlank und weiblich wirken. Hingegen sah ich bestimmt dürr und mikrig aus. Sie lächelte mich entschuldigend an, als hätte sie das Verhalten dieses Jungen zu verantworten. Dann wandte sie sich dem Tisch zu und setzte sich.

Ich spürte auf einmal Fenris' warme Hand an meinem Rücken und einen sanften Druck, der mich Richtung Tisch derigierte. Obwohl sich alles in mir sträubte, mit diesem Jungen an einem Tisch zu sitzen, der mich augenscheinlich nicht ausstehen konnte, gab ich seiner Hand nach und setzte mich auf den Stuhl, zu dem er mich führte. Dann setzte er sich mir gegenüber ebenfalls an den Tisch. Ich wusste nicht, woran es lag, aber die Anwesenheit dieses Mannes beruhigte mich, denn insgeheim wusste ich, dass er zu meinem Schutz da war. Die ganze Zeit, die er in dem kleinen Turmzimmer verbrachte, diente nur einem Zweck. Sicher zu gehen, dass es mir gut ging.

Auf einmal öffnete sich eine der Türen und ein alter Mann trat in den Raum hinein. Er war sehr alt und sah für sein geschätztes Alter auch nicht besonders gut aus. Graues Haar hing ihm wirr bis auf die Schultern, auf denen ein schwerer Bärenfellmantel lastete. An seinem Körper trug er einen fenraler Brustharnisch in den typischen Erdfarben, die jeder trug und die in jedem Gegenstand in Fenral einspielten. An seiner Hüfte blitzte das scharfe Metall eines Schwertes auf.

Ein Schwert? Am Essenstisch?

Unwillkürlich huschte mein Blick zurück zu Fenris.

Auch unter seiner Kleidung konnte ich das Aufblitzen tödlichen Metalles erkennen. Wie konnte es sein, dass man bei Tisch Waffen trug? Fürchtete der Kronprinz sogar beim Abendessen um sein Leben? Und der Mann, der ganz offentsichtlich der König Fenrals war? Glaubte er, von seinen eigenen Kindern ermordet zu werden? Das alles ergab für mich keinen Sinn, da in Woberok stets darauf geachtet worden war, dass bei Tisch keine Waffen getragen wurden.

Der ältere Mann blieb stehen und hob den Kopf. »Ah...«, sagte er und seine Stimme strahlte Zufriedenheit aus, ehe er sich mit einem kurzen Blick zu Kronprinz Fenris, auf den größten und prunkvollsten Stuhl sinken ließ, der am Tisch stand. »Wie ich sehe, habt Ihr es geschafft, dass die junge Prinzessin ihre Gemächer verlässt.«

»Es war schwierig genug.«, entgegnete Fenris.

»Es ist vollbracht, das ist die Hauptsache«, murmelte der König weiterhin an Fenris gerichtet, während er sich zwei dicke Geflügelkeulen von einem Tablett vor sich nahm und nach einer Schale Preiselbeeren griff, die ihm eine Dienerin auf einer silbernen Platte hinhielt. »Die größte Hürde ist überwunden.«

Die Dienerin ging weiter und bot nun mir die Platte dar und wartete, dass ich mir meinen Teil herunter nahm, aber ich reckte nur das Kinn und ignorierte sie geflissentlich. Ich konnte nicht fassen, dass mich dieser Mann einfach so ignorierte, als wäre ich gar nicht vorhanden! Er hatte nicht einmal den Anstand besessen, sich mir vorzustellen. Zwar wusste ich, wer er war, da es kaum zu übersehen war, dass er der König Fenrals war, welcher befohlen hatte, mich zu verschleppen. Aber, dass er nicht einmal Respekt davor hatte, wer ich war. Nein. Ganz im Gegenteil behandelte er mich, als wäre ich eine dieser Dienerinnen, die hier um den Tisch herum huschten.

Ich biss die Kiefer zusammen, in meinen Ohren rauschte das Blut und ich spürte, wie sich meine Nägel in meine Handflächen bohrten, weil ich die Hände unter dem Tisch zu Fäusten ballte.

»Tochter, du wirst morgen zur Kaserne am Stadtrand reiten und dort für die nächsten Wochen die Patrouillenpläne kontrollieren.«, sagte der König, dann biss er herzhaft in die fettige Geflügelkeule und kaute das weiche Fleisch schmatzend.

Mein Herz pochte fester in meiner Brust und das vor Wut.

»Das ist meine Aufgabe, Vater«, erwiderte Fenris, der ebenfalls noch nichts angerührt hatte. »Warum soll Euros sich plötzlich um die Kaserne kümmern?«

Der König schluckte und begann mit der Keule in seiner Hand herum zu wedeln. »Weil Euros genauso geeignet ist, wie du, die Kaserne zu führen. Die Männer respektieren sie und sie hat ein Schwert in der Hand gehabt, als sie weniger Sommer zählte, als du, Junge. Außerdem hast du genug damit zu tun, dich um das Mädchen zu kümmern, das dein Bruder angeschleppt hat.«

Meine Hand krachte auf den Tisch und das Geschirr klirrte von der Erschütterung. Sowohl Nero, als auch Euros hielten in der Bewegung Inne, als sie sich etwas auftun wollten. Fenris blieb stumm, starrte mich jedoch warnend an, aber das ignorierte ich genauso, wie der König mich die ganze Zeit unbeachtet gelassen hatte.

Mein Puls pochte mir in den Schläfen, als ich den König kalt und verächtlich anstarrte. »Ich hoffe, dass Ihr gerade nicht von mir gesprochen habt.«, zischte ich gefährlich ruhig.

Der alte Mann glotzte mich mit einem trüben Blick an, als würde er mich nicht richtig erkennen, dann legte er den Kopf leicht schief, was mich eher an eine Schlange erinnerte, als an einen mächtigen Bären. »Gibt es, außer meiner Tochter, an diesem Tisch noch ein Wesen mit einem Schlitz zwischen den Schenkeln?«

Meine Augen sprühten garantiert Funken. »Wisst Ihr, ich tue jetzt einfach mal so, als hätte ich diese Unverschämtheit überhört und werde Euch stattdessen etwas fragen. Es ist schwer zu übersehen, dass Ihr König Eris von Fenral seid, jedoch stellt man sich dort, wo ich herkomme, erst einmal gebührend vor. Das zeugt von Respekt, aber da Euch dies scheinbar ein Fremdwort ist und Ihr derjenige seid, der den Auftrag gab, mich zu entführen, werde ich gleich zum Punkt kommen.«, sagte ich ruhig und emotionslos. »Was wollt Ihr von mir?«

König Eris hob eine seiner grauen Augenbrauen an, dann legte er die Keule beiseite. »Ich hatte Euch unterschätzt, Prinzessin.«, sagte er und lächelte mich durch seine dunklen Zahnstümpfe kalt an. »Als ich hörte, dass die Frau des jungen Kriegers und Kronprinzen Regan von Woberok, eine kleine Kartanische Jungfer sei, dachte ich, Ihr wärt ein kleines Mädchen. Ein Vögelchen, das aus ihrem goldenen Käfig nie die Sonne sah, geschweige denn, dass sie wüsste, was es heißt, eine Ehefrau zu sein. Und dann auch noch bei diesen verklemmten Nordmännern, die ihre Weiber nur fürs Ficken gebrauchen.«

Ich biss die Zähne aufeinander und versuchte meinen Ekel zu unterdrücken, den ich empfand, wenn ich darüber nachdachte, wie dieser alte Mann sich mir als unterwürfiges Weibsbild vorstellte, das Nacht für Nacht nur darauf wartete, die Schenkel zu spreizen.

»Und, dass Ihr von den kartanischen Löwen abstammen solltet, konnte ich mir erst recht nicht vorstellen. Aber Ihr belehrt mich eines besseren. Und das bestätigt mir, dass Ihr unserer Sache sehr dienlich sein werdet.«, fuhr er fort, ohne darauf zu warten, dass ich ihm antwortete. »Mein Sohn und meine Tochter verzichteten also darauf, Euch darüber aufzuklären, weshalb Ihr hier seid.«

»Sie waren nicht sehr gesprächig«, erwiderte ich kühl.

König Eris nickte wissend mit einem widerlichen Lächeln im Gesicht. »Ganz interessant. Dann lasst mich Euch aufklären, kleine Löwin.«

Kapitel 9

 

Ihre Schritte hallten unheimlich in den Weiten des Thronsaales wieder, als sie den Speisesaal verließen. Fenris hatte die Hände hinter seinem Rücken zu Fäusten geballt und folgte ihnen in sicherem Abstand, dennoch lag sein Blick unverwandt auf dem mageren Nacken der Geisel. Die Prinzessin Kartans war so dürr, dass er beinahe befürchtete, sie würde irgendwann unter dem Gewicht ihrer Knochen nachgeben. Aus einem Grund, der sich ihm nicht erschloss, gefiel es ihm nicht, dass sie von dem Abendmahl nichts angerührt hatte. Insgeheim nahm er sich vor, sofern sie nicht noch etwas essen würde, am späten Abend mit einem Speisebrett zum Turmzimmer zu gehen. Das Mädchen musste wieder Fleisch auf die Rippen bekommen.

»Kommt, kleine Löwin«, raunte König Eris, als er die Stufen zu seinem Thron empor schritt und sich schwer in den hölzernen Stuhl sinken ließ. »Ihr habt keine Ahnung, was Ihr eigentlich seid, nicht wahr?«

Prinzessin Akira blieb am Fuße des Thrones stehen, schien sich nicht ohne Fenris weiter voran zu trauen. Oder aber sie blieb aus Vorsicht einige Meter weiter vom König entfernt stehen. Sie war vorsichtig und er nahm es ihr nicht übel, dass sie niemandem hier vertraute. Er war schließlich genauso und das hier war immerhin seine Familie, da war es nicht abwegig das sie dieses Gefühl bei für sie Fremde empfand.

»Was bin ich denn?«, fragte die Kartanerin mit einer Stimme wie Honig, dabei konnte er den glühenden Unterton in ihrer Stimme ganz genau heraus hören.

Prinzessin Euros stand an des Königs Seite und blickte ihren Vater fragend an, dieser nickte und seine Schwester kam langsam die Stufen herunter geschritten, die sie kurz zuvor erklommen hatte. Ihr Gesicht war ernst, jedoch musterte sie die Auserwählte mit einer Mischung aus Mitgefühl und Ehrfurcht. »Um Euch diese Frage zu beantworten, Prinzessin Akira, müssen wir Euch eine Geschichte erzählen.«

Prinzessin Akira verlagerte das Gewicht, sie reckte das Kinn und wirkte mehr denn je wie die Herrscherin, zu der sie das Schicksal auserkoren hatte. Sie war die Richtige, die eine. Sie musste es sein. Nie hatte Fenris wirklich verstanden, was es bedeutete, wenn sein Vater wie ein Wahnsinniger von ihr sprach. Wie er davon sprach, dass die Götter ihm ein Bild sandten. Das Bild einer Frau, die die Welt, wie sie war auf den Kopf stellen würde. Eine Frau, geküsst vom Feuer. Eine flammende Löwin, für die Männer in den Krieg ziehen würden. Für die Männer sterben würden. Für die er sterben würde. Akira würde diejenige sein, die dieses geteilte Land vereinen und diese Welt heilen würde.

Und daran glaubte er und zwar nicht, weil sein Vater daran glaubte, sondern, weil seine kleine Schwester das glaubte.

»Was für eine Geschichte?«

»Eine Geschichte über Euch«, antwortete Euros und blieb vor ihr stehen. »Kennt Ihr die Landesgeschichte Eures Ehemannes, Prinzessin Akira?«

Fenris beobachtete, wie Akira sich ein Stück weiter aufrichtete, als wolle sie Würde beweisen und das tat sie auf eine unheimliche Art und Weise. Obwohl sie dürr und mager war und alles andere, als beeindruckend, sie strahlte eine Stärke aus, die er ihr niemals zugetraut hätte. Vor allem nicht, nachdem, was Malik ihr angetan hatte.

»Natürlich kenne ich die Landesgeschichte meines Mannes«, zischte Akira und ihre Stimme klirrte wie das Eis des Nordens.

Euros lächelte leicht und legte den Kopf leicht schief. »Das tut Ihr nicht«, widersprach sie ruhig. »Ihr kennt die Version der Woberoker, aber nicht die offiziellen Geschehnisse. Lasst mich Euch erleuchten.«

Akiras Augen verengten sich zu Schlitzen und sie öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Euros kam ihr zuvor.

»Einst bestand unser Land aus vier gespaltenen Nationen. Die Fenraler kamen über das Meer ins Kaiserland und besiedelten den Osten. Die Kartaner waren ein Wüstenvolk des Südens, doch als sie in den Norden zogen nach fruchtbareren Ebenen, verloren sie ihre dunkle Hautfarbe, gebleicht vom Schnee. Und die Woberoker gehörten einst zu den Wilderern in die Berge. Bis ein Mann kam, ein junger Häuptlingssohn, der etwas besseres wollte für sein Volk. Ein Mann, der den Lauf der Geschichte veränderte.«

Fenris bekam jedes Mal, wenn seine Schwester diese Geschichte erzählte, eine Gänsehaut. Sie erzählte Nero diese Geschichte so oft, wenn er schlafen ging. Dabei ging sie natürlich eher auf die Entstehungsgeschichte Fenrals ein, da dies seine Heimat war, aber sie sprach auch oft genug über das Schicksal der Magischen. Das Schicksal ihrer Brüder und Schwestern.

»Woberok war jung, als er sich gegen seinen Vater und Chief des Wildererstammes auflehnte. Er scharte Verbündete um sich und führte sie in ein unbekanntes Land, von dem er nicht wusste, ob es den Tod bedeutete oder einen erhofften Neuanfang. Es dauerte zehn Jahre, bis er die Festung Woberoks aufgebaut hatte. Und noch länger, bis er seine Frau kennenlernte.«

»Königin Aenna.«, antwortete Prinzessin Akira, doch sie schien noch immer nicht ganz zu verstehen, was Euros ihr mit der Geschichte vermitteln wollte.

»Königin Aenna«, bestätigte Euros und ging um Akira herum. »Königin Aenna war eine junge Frau, die in einem Nomadenvolk aufwuchs. Ihr Volk stammte aus den eisigen Ebenen des Nordens und jagte die großen Wildtiere, die es heute nicht mehr gibt. Sie und ihr Volk waren tief mit der Magie dieses Landes verbunden und der neu gekrönte König fand Gefallen an dem jungen Mädchen, das er alle paar Monate vor den Toren seiner Stadt lagern sah. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie sich vermählten.«

Fenris beobachtete, wie sich eine steile Falte auf der Stirn der Kartanerin bildete. Diesen Teil der Geschichte schien sie nicht zu kennen.

»Einige Menschen sagen, dass Woberok der Ursprung des woberokischen Volkes sei, weil er der Namensgeber einer ganzen Nation ist, jedoch ist Aenna die wahre Urahnin der Woberoker. Noch immer haben die Mitglieder des Königshauses ihr Aussehen. Schwarzes Haar...«

»... und eisblaue Augen.«, ergänzte Fenris mit ruhiger Stimme.

Prinzessin Akira warf ihm einen kurzen Blick zu, ihre Miene war zu Eis erstarrt. Nichts ließ darauf schließen, was sie wohl dachte.

»Aenna war jedoch nicht die Art Frau, die ihr aus dem heutigen Woberok kennt«, fuhr Euros fort. »Sie war eine überaus starke Frau, die genau wusste, was sie wollte. Sie war nicht nur des Königs Frau. Sie war seine persönliche Beraterin und seine Stellvertreterin. Sie war ihm gleichgestellt.«

»Wenn das stimmen würde, was es nicht tut, dann hätte man das in den Geschichtsbänden Woberoks erwähnt.«, sagte Akira mit gerunzelter Stirn.

»Ah«, sagte Euros und hob einen Finger. »Es sei denn, man hätte es mit Absicht außen vor gelassen.« Euros blieb stehen und sah Akira ruhig und besonnen an, ehe sie fortfuhr: »Aenna war eine Seherin. Eine Magische, die die Fähigkeit besaß, Dinge zu sehen, die andere nicht sahen. Sie konnte Dinge sehen, die waren. Dinge, die sind und Dinge, die sein würden. Sie konnte sehen, wenn der Feind einen Angriff plante, sie konnte sehen, ob die Ernte im nächsten Jahr gut werden würde. Sie war eine der vielen Magischen, die zu dieser Zeit auf der ganzen Welt lebten, die im stetigen Aufbau war.«

Es herrschte Stille und die Kartanerin war leicht eingesunken, als müsse sie die Bedeutung der Worte erst begreifen und ihr Hirn würde nicht so schnell folgen können, dann hob sie den Kopf. »Sie war die Königin... Bei der Säuberung wurden alle Magischen vernichtet.«

Euros' Blick wurde beinahe sanft. »Es gibt vier Elemente, in die die Königreiche eingeteilt waren. Das Feuer Kartans, die Löwen des Südens. Fenral, aus der Erde auferstanden und das Eis, aus dem Woberok hervorbrach. Und die Drachen, die durch die Luft flogen und vernichtet wurden. Doch es gab noch ein Element, das älteste, das es auf der Welt gibt.«

»Die Magie selbst«, mischte sich nun König Eris ein und erhob sich von seinem Thron.

Akiras Augenpaar lag nun auf dem König, der zum ersten Mal Informationen preisgab, ohne, dass er diese Aufgabe einem seiner Kinder auftrug.

»Die Magischen wurden von je her, die Kinder des Alten Blutes genannt. Menschen mit unglaublich mächtigen Fähigkeiten. Sie stellten die Gesetze der Welt auf den Kopf. Sie taten so viel Gutes mit ihrer Magie. Doch wie bei jeder großen Macht gab es jene, die sie ausnutzten.«, raunte König Eris. »Jene, die sie dazu benutzten Verrat und Angst zu sähen. Und die normalen Menschen sind Geiseln ihres eigenen Aberglaubens und ihrer Angst. So auch der junge König Woberok. Niemand weiß genau, ob ihn jemand dazu trieb, seine Angst schürte, aber der König verlor das Vertrauen zu seiner Frau. Das Vertrauen zu den Magischen. Er schloss einen tödlichen Pakt mit den Königen Kartans und Fenrals. Sie planten die Säuberung.«

Plötzlich wurde Akira blass und starrte ihn an, als wäre er ein Geist.

Fenris griff nach ihrem Oberarm und stützte sie, denn sie taumelte rückwärts. Ob sie eine Vision hatte?

»Kurz darauf ließ er Königin Aenna einsperren.«, sagte Euros sanfter. »Monatelang, bis die Säuberung ihren Höhepunkt erreichen sollte, lebte sie im Gefängnis. Dort brachte sie auch den gemeinsamen Sohn und Thronerben zur Welt, der ihr sofort nach der Geburt von der Mutterbrust gerissen wurde. Sie sah ihn niemals. Nie. Nicht einmal zu ihrer eigenen Hinrichtung. Sie wurde auf dem Richtplatz von Woberok auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Als die Flammen nach ihrer Haut leckten, sprach sie einen Fluch aus. Eine Prophezeiung, die Woberok zeigen sollte, dass er die Magie niemals auslöschen könnte.«

»Die eine wird kommen.«, raunte Fenris ehrfürchtig, als würde der Geist der verstorbenen Königin noch immer in der Welt wandeln. »Die eine vom Feuer geküsst. Die flammende Löwin, die die Welt in Finsternis oder Licht tauchen wird. Die eine, für die Wolf gegen Wolf kämpft. Die eine, die diese Welt heilen wird. Die Tochter des Alten Blutes.«

Prinzessin Akira schüttelte den Kopf und riss sich von Fenris los, als hätte sie sich an seiner Haut verbrannt. Er sah sie ruhig an, ehe er sie bittend musterte.

»Ihr«, flüsterte Euros, die hinter Akira stand. »Versteht Ihr denn nicht? Ihr werdet dieses Land heilen. Ihr seid die Tochter des Feuers! Ihr werden uns eine neue Chance geben, in dieser Welt leben zu können.«

Akira schüttelte benommen den Kopf und wich von ihm und seiner Schwester zurück, als wären sie eine potenziell tödliche Gefahr. Sie sah verstört aus, ihr Gesicht war bleich und Fenris konnte erkennen, dass ihre Hände zitterten. Sie rang nach Atem und drückte sich eine Hand auf die Brust, als würde sie nicht genug Luft bekommen.

»Prinzessin...« Euros' Stimme klang sanft, als wollte sie sie beruhigen, doch Akira fuhr herum und funkelte sie beide voller Wut an. Ihre Augen schimmerten geradezu vor Zorn.

»Ihr wollt mir weismachen, dass ich eine verdammte Magische sein soll? Dass alles, was ich über das Volk meines Mannes weiß, eine Lüge ist? Das alles kann nicht wahr sein!«, hauchte sie und presste sich die geballten Fäuste auf die Augen, als hätte sie schreckliche Kopfschmerzen, dann wandte sie sich von ihnen ab und begann wie ein eingepferchtes Tier vor ihnen hin und her zu tigern.

»Bitte, ich weiß, dass es im Moment schwer zu verstehen ist, aber versucht es. Versucht Euch darauf einzulassen. Wir sind nicht der Feind, Akira. Wir wollen Euch helfen, Eure Fähigkeiten zu kontrollieren.«, raunte Prinzessin Euros, jedoch bewegte sie sich nicht von der Stelle, da sie wahrscheinlich wusste, wie durcheinander die Auserwählte war.

Fenris blieb nichts anderes übrig, als neben seinem König stehen zu bleiben und die beiden Frauen in Ruhe sprechen zu lassen. Er hätte ohnehin niemals die richtigen Worte gefunden, um die Situation, wie sie war, auch nur ansatzweise plausibel zu erklären. Zumahl hätte er kaum die Menge an Mitgefühl für sie aufbringen können, die sie im Moment wohl dringend brauchte. Schließlich stellten sie nun mit dieser Geschichte, mit dieser Tatsache, ihr ganzes Leben und Denken auf den Kopf. Alles verschwamm und sie musste sich nun fragen, wer sie eigentlich war, nicht nur, was sie war. Vor allem musste die Frage in ihr hämmern, wie ihr Ehemann sie von nun an ansehen würde. Wäre sie ein Freund oder ein Feind?

Akira fuhr herum und funkelte Euros vernichtend an. »Wie wollt Ihr mir helfen?! Ihr habt doch keine Ahnung, was ich überhaupt durchgemacht habe! Wieso sollte ich Euch vertrauen? Wieso?! Ihr habt mich entführen lassen von einem Mann, der mich über Wochen gefoltert hat und dem es gefiel, wie ich vor ihm gekrochen bin! Er hat mich verunstaltet und Dinge getan, über die eine Prinzessin nicht spricht. Niemals. Und Euch soll ich vertrauen? Ihr müsst größenwahnsinnig sein!« Sie schrie beinahe und Fenris konnte den Zorn an ihr wittern, ja sogar die Angst, die durch die Poren ihrer Haut drang. Sie versteckte ihre Angst hinter Zorn, was zugegebener Maßen ziemlich schlau war, denn getarnte Angst konnte man nicht so leicht erkennen.

»Weil wir genauso sind wie Ihr«, antwortete Euros.

Akiras Stirn verwandelte sich erneut in ein Feld aus Furchen. »Warum sollte ich Euch das glauben?«

Seine Schwester trat auf sie zu und reckte das Kinn, so wie es Prinzessin Akira zuvor getan hatte, um Würde zu zeigen. »Seht mich an und sagt mir ins Gesicht, dass ich Euch anlüge.«

Kurz flackerte etwas in den dunkelgrünen Augen der kartanischen Prinzessin auf, als wollte sie nach etwas suchen, was Euros Lügen strafte. Aber sie schien auch mit großer Mühe nichts zu finden. Dann zitterte plötzlich ihr Kinn und ihre Augen wurden riesig. Im gleichen Augenblick sträubten sich die feinen Härchen in Fenris' Nacken, Schritte erklangen.

»Ich habe soeben den Speisesaal betreten und Nero saß dort ganz alleine«, säuselte eine ihm nur allzu bekannte Stimme. »Wolltet Ihr dieses Spektakel etwa ohne mich ausführen?«

 

 

Das alles war zu viel. Meine Welt schien sich vor meinen Augen zu drehen, Schweiß brach mir durch jede Pore aus und mein Herz wummerte in meiner Brust, als wäre es mit den aufgeregten Flügeln einer Motte verwandt. Alles, was ich kannte, alles, was ich wusste, sollte eine Lüge sein? Die Geschichte meines Mannes sollte auf Lügen aufgebaut sein, damit die Woberoker sich besser fühlten? Als Prinzessin Euros vor mir stand und mich mit ernster, klarer Stimme aufforderte, sie der Lüge zu bezichtigen, hätte ich nichts lieber getan, als das. Zu gerne hätte ich sie angeschrien, dass sie eine Verrückte und eine Hochstablerin war, doch der eisenharte Ausdruck in ihren hellbraunen, beinahe goldenen Augen hielt mich davon ab.

Es war die Erkenntnis, dass sie keine Lügen erzählte.

Ich spürte es beinahe. Wie feine Wurzeln rankte sich die bittere Wahrheit meine Füße hinauf, schlang sich um meine Beine bis hin zu meiner Brust. Diese wurde daraufhin enger und enger, bis ich um Atem rang und das Gefühl hatte, beinahe zu ersticken. Ich spürte das Kribbeln auf meiner Haut, wodurch sich die kleinen Härchen auf meinen Armen aufstellten. Alles, was sie gesagt hatte, stimmte. Die Geschichte über die damalige Königin, die Säuberung, mit der die Magischen von dieser Erde getilgt worden waren. Ich...

Mein Atem stockte und meine Augen wurden größer, als ich den Schatten sah, der aus dem dunklen Gang getreten kam, aus dem wir vor nur wenigen Minuten gekommen waren. Der Mann war hoch gewachsen und muskulös und trug ein einfaches Seidenhemd und dunkle Jagdhosen, dennoch wirkte er bedrohlicher, als jedes Raubtier. Meine Nackenhaare sträubten sich und meine Brust wurde noch enger.

»Was macht Ihr für ein Gesicht?« Seine süffisante Stimme jagte unangenehme Schauder über meinen Rücken.

»Was tust du hier, Junge?«, fragte der König mit gleichgültiger Miene.

Malik blieb stehen und blickte mir unverwandt in die Augen, als er antwortete. »Ich, Vater, bin doch immer noch ein enges Mitglied Eures Hofstaates und habe das Recht auf ein warmes Abendessen im Kreise meiner Familie.«

Ich sog die Luft scharf ein und riss meinen Blick von seinen stechenden Augen ab, um Kronprinz Fenris anzusehen. Auch, ohne mich selbst zu sehen, wusste ich, dass mein Blick gleichermaßen fragend wie vorwurfsvoll war. Eine weitere Lüge von ihm und diesem Königreich, ein weiterer Grund ihnen nicht zu vertrauen. Er hatte es nicht für nötig gehalten, mir zu sagen, dass Malik sein Bruder und Euros' Bruder war und ein Prinz Fenrals! Warum um alles in der Welt sollte ich ihnen vertrauen? Auch nur einen Hauch?!

Der König schnaubte nur abfällig, als wäre Maliks Antwort das Geplappere eines unreifen Kindes, jedoch sagte er nicht mehr dazu. Vielleicht war ihm Maliks Verhalten egal, vielleicht kümmerten ihn die Ränke auch nicht, die sein Sohn schmiedete, oder, was er der heiß begehrten Geisel angetan hatte. Aber vielleicht hatte Malik auch eine zu hohe Stellung in Fenral, als dass der König etwas zur Bestrafung unternehmen könnte, dafür, was Malik mir angetan hatte. Also konnte ich die Hoffnung darauf, dass Malik bekommen würde, was er verdiente, wohl aufgeben. Gerechtigkeit musste man sich eben selbst verschaffen.

Malik wandte sich mir zu und trat einen Schritt auf mich zu, aber bevor er mich erreichen konnte, hatte sich Fenris blitzschnell zwischen uns geschoben. Grinsend hob Malik die Hände, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war.

»Ich tue deiner kleinen Blume schon nichts.«

»Sie ist nicht meine kleine Blume«, presste Fenris zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als müsste er sich zur Ruhe zwingen.

»Dann müsstest du nichts dagegen haben, wenn ich mich etwas mit ihr unterhalte.«

Euros kam ein Stück näher. »Malik, bitte...«

»Keine Angst, süßes Schwesterchen, ich will ihr nichts tun.«, säuselte Malik.

Meine Erstarrung verwandelte sich in unbändigen Zorn. Es fühlte sich an, als würde ein Feuer in meiner Brust zum Leben erwachen, das ich zuvor nicht kannte. Es war mehr, als das Gefühl, das ich damals verspürt hatte, als ich Regan endlich sagen konnte, dass ich ihn vielleicht niemals in mein Bett bitten würde. Mehr, als ich empfunden hatte, als ich den Fenraler tötete, der mich im Wald angegriffen hatte und mich hatte vergewaltigen wollen. Es war mehr, es war persönlicher. Obwohl es mir zuwider war, aber dieses Feuer brannte nur für Malik. Für den Moment, in dem er mir die Kleider vom Leib riss und mich mit seiner Peitsche brandmarkte. Es war für den Moment, der eines Tages kommen würde - der Moment, in dem ich ihn töten würde.

»Wenn Ihr mir nichts hättet tun wollen, wäre ich kein halbes Gerippe!«, fauchte ich mit neuem Mut, den mir mein Zorn verlieh, doch als ich auf ihn zustürmen und ihm eigenhändig die Augen auskratzen wollte, packte Fenris meine Taille und schob mich ruckartig hinter sich. Meine Finger krallten sich in seinen Unterarm und das so fest, dass er mit Sicherheit Halbmonde in seiner Haut haben musste, aber er verzog nicht einmal das Gesicht.

Malik schmunzelte, was mich noch viel rasender machte.

Dieser Mann hatte mir alles genommen! Er hatte mich bloßgestellt, hatte mir unsägliche Schmerzen zugefügt und hatte mich jeder Würde beraubt, von der ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich sie besaß. Und nun verspottete er mich. Er lachte mich aus. Vor seiner Schwester, seinem Bruder und seinem Vater. Und niemand tat etwas dagegen!

»Wenn ich Euch wirklich etwas tun wollen, Prinzesschen, wärt Ihr jetzt nicht mehr am Leben.«, sagte er leicht lächelnd. Seine Augen blitzten vor Schalk, denn wir wussten es besser. In diesem einen Augenblick, der nur uns beiden gehört hatte, hatte er gewusst, dass ich sterben wollte. Ich hatte ihn angefleht. Die ganze restliche Zeit auf dem Weg nach Fenral. Immer, wenn er mich an einen Baum gebunden und weiter hungern gelassen hat, mich mit meinem Wunden Rückgrat an die harte Rinde presste, hatte ich um den Tod gebettelt. Es war der persönlichste Moment mit einem Mann, den ich jemals gehabt hatte: Ein Opfer und ein Peiniger. Irgendwann würde wieder so ein Moment kommen, aber ich würde ihn nicht foltern und quälen. Ich würde nur den überraschten Ausdruck in seinem Gesicht sehen, wenn ihm klar wurde, dass ich ihn getötet hatte.

Ich funkelte ihn kalt und voller Verachtung an, ehe ich mich von Fenris losriss. »Verlasst Euch darauf, das vergesse ich Euch nicht.«, sagte ich kalt.

Sein Lächeln verschwand, wurde zu einer ausdruckslosen Maske, als er den Kopf hob. »Darauf freue ich mich schon, Prinzessin.«

Mühevoll beherrscht neigte ich den Kopf und wandte meinen kühlen Blick dem König zu. »Vergebt mir, Euer Majestät. Ich fühle mich nicht wohl, ganz plötzlich. Ich ziehe mich zurück.«

»Wie Ihr wünscht, Prinzessin Akira.«, sagte König Eris und neigte den Kopf respektvoll, was ich nicht erwartet hätte, dann ließ er mich gehen.

Ich ging den Weg zurück, den Fenris mich bis zum Speisesaal geführt hatte. Als ich außer Sicht war, beschleunigte ich meinen Gang, um das zitterige Gefühl aus meinen Beinen zu vertreiben. Es dauerte nicht lange, da hörte ich Fenris' Schritte hinter mir. Er lief ruhiger, dennoch waren seine Schritte schnell und flink. Er wollte mich einholen, aber ich war schneller und erreichte das Turmzimmer eher, als er. Benommen riss ich die Tür auf und schlug sie ihm geradewegs vor der Nase zu.

»Prinzessin Akira! Macht die Tür auf!«

»Ich denke noch nicht einmal daran!«, schrie ich zurück und lehnte mich gegen die Tür, atmete heftig ein und aus, da sich meine Brust erneut zum Zerreißen spannte. Jetzt, wo ich nicht mehr den aufmerksamen Augen der anderen ausgesetzt war, kehrte die Panik darüber zurück, was mir Prinzessin Euros offenbart hatte. Was in mir ausgelöst wurde, als ich Malik zum ersten Mal seit dem Tag wiedersah, an dem ich halb tot hier in Fenral ankam.

 Fenris Faust krachte so stark gegen die Tür, dass ich für einen Moment befürchtete, dass die Tür nachgeben würde. »Ich sage es nicht noch einmal, macht die Tür auf und zwar schnell! Ansonsten breche ich die Tür auf!«

Ich starrte an die gegenüberliegende Wand, presste meine Lippen aufeinander und unterdrückte die Angsttränen. Das konnte doch alles nicht wahr sein. All das, was ich an diesem Abend erfahren hatte. Die Säuberung war von dem Urahn meines Mannes eingeleitet worden, der nicht gezögert hatte, seine junge Ehefrau dafür zu opfern. Ich sollte eine dieser Magischen sein, die Auserwählte, die das Land vereinen und heimlichen Magischen wieder einen Grund zu leben bringen sollte. Wie sollte ich die Hoffnungen dieser Menschen erfüllen, wenn ich nicht einmal die Königin Woberoks hatte sein wollen? Ich hatte damals ja noch nicht einmal heiraten wollen. Alles, was ich für unheimliche Alpträume gehalten hatte, waren wahr.

Und dann war da noch Malik, der mich vor allen verspottete. Mein Peiniger, der ganz offen zeigte, wie sehr er es genoss, mich weiterhin zu quälen. Der mich weiter quälen würde, jetzt wo er wusste, dass ich wieder gesund war. Er würde sich nicht davon aufhalten lassen, dass wir jetzt im Herzen seines Landes waren und mehr Personen seine Launen mitbekamen, als nur zwei einfache Soldaten. Der König hatte mir zu verstehen gegeben, dass er nichts unternehmen würde. Malik erwartete keine Strafe.

Auf einmal fuhr ein Ruck durch die Tür und ich stolperte nach vorne, denn Fenris hatte seine Drohung wahr gemacht und die Tür aufgebrochen. Der Riegel brach mit einem lauten Krachen ab und klirrte auf den Steinfußboden, wurde gegen die Wand geschleudert und prallte davon ab. Solch eine Kraft... kein Mensch, nicht einmal ein Mann mit Regans Stärke hätte diese massive Tür jemals aufbekommen.

Ich prallte mit dem Rücken gegen einen Bettpfosten und biss mir auf die Lippe bis ich Blut schmeckte, um keinen Schmerzenslaut auszustoßen, dann starrte ich ihn an. Schnaubend stand er in der Tür und seine Augen flimmerten wie die einer Katze oder eines Hundes, wenn ein Lichtschein vorbei fuhr. Mit Entsetzen in den Augen sah ich ihn an.

»Was bei allen Höllen seid Ihr?!«, stieß ich hervor und umrundete das Bett, um etwas zu haben, was zwischen uns stand.

»Euros sagte Euch, was wir sind.«, antwortete er ruhig und trat in den Raum, schloss die Tür soweit, wie sie sich schließen ließ und blieb im Raum stehen.

»Ihr lügt«, knurrte ich. »Ihr lügt und tut es, ohne auch nur eine Miene zu verziehen! Euros sagte, dass ihr Magische wärt, aber nicht was ihr seid. Ihr lügt mich an, wann Ihr nur könnt. Ihr habt mir nicht einmal gesagt, dass Malik Euer geliebter Bruder ist!« Meine Stimme schoss ungewollt in die Höhe und ich spürte eine verräterische Träne, die meinen Hals hinunter lief.

Auf einmal schoss Fenris hervor und packte meine Oberarme so stark, dass ich zusammenfuhr und leise erschrocken aufkeuchte. Sein Gesicht war meinem so nahe, dass ich die wärme seines Atems auf meinem Gesicht spürte. Seine Augen funkelten mich so vernichtend an, dass mein Herz sich zusammenkrampfte. Ich begann zu zittern, denn der Ausdruck in seinem Gesicht glich dem Zorn, mit dem er mich umbringen wollte.

»Er ist nicht mein geliebter Bruder, Prinzessin Akira«, murmelte er, dann sackten seine Schultern herab und ich bemerkte erstmals wie angespannt er gewesen war. »Man kann sich seine Familie schließlich nicht aussuchen, oder?« Langsam ließ er mich los und trat einen Schritt zurück.

Benommen blickte ich auf seinen Hals, an dem sein Adamsapfel nervös zuckte.

»Was seid Ihr?« Meine Stimme war nur ein Hauch und zuerst glaubte ich, dass er mich nicht gehört hatte, doch dann seufzte er leise und trat einen Schritt zurück.

»Der König war der Meinung, dass wir uns genug versteckt haben. Nach dem tragischen Tod der Königin... er beschloss, dass er sein Volk wieder an die Magie heranführen wollte. Musste.«, erklärte er, sein Gesicht wirkte jetzt völlig erschöpft und er ließ sich auf mein Bett sinken, stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel. »Mein Volk war einst ein Kriegervolk, dass die Kraft der Natur nutzte. Die Kraft von Tieren. Sobald ein Krieger im Kampf Blut leckte, verfiel er in eine Art Blutrausch. Die Krieger verwandelten sich in die mächtigsten Kreaturen des Nordens: in Bären.«

Blinzelnd starrte ich ihn an, hielt es zunächst für einen Scherz, doch er war kein Mann, der scherzte.

»Ist das die Wahrheit?« Meine Stimme war ernst und ausdruckslos.

Fenris hob den Kopf und blickte mir unverwandt in die Augen. »Sagt Ihr es mir.«

Ich blickte ihm in die sturmgrauen Augen. Sie funkelten wie dunkle Gewitterwolken, tief und unendlich kraftvoll. Sie waren so rein und klar, dass es mir einen Stich versetzte. Nein, er log mich nicht an. Er sagte nichts, als sie kalte aufrichtige Wahrheit. Die Krieger dieses Volkes konnten sich also während einer Schlacht in ihr so heiß geliebtes Wappentier verwandeln. Meine Hoffnung, Regan könnte mich mit Waffengewalt befreien, schwand innerhalb eines Wimpernschlages. Wie sollten die woberokischen Soldaten gegen Kriegerbären ankommen?

Ich atmete zitterig ein, schloss die Augen und drehte ihm den Rücken zu, um ihn nicht länger ansehen zu müssen. All das war ein Schock, ein Trauma und ich fühlte mich, wie in einem Alptraum gefangen. Das alles musste doch ein schrecklicher Traum sein, das konnte gar nicht real sein. Ich krallte meine Finger in den Rock meines Kleides und versuchte ruhig zu atmen.

»Ihr könnt es sehen, oder?«

»Was?«

Ich hörte, wie er aufstand. »Ihr könnt sehen, wenn jemand lügt und wann nicht.«

Ich fuhr zu ihm herum und wich einen Schritt zurück, weil er so nahe vor mir stand. Dabei wich ich seinem Blick aus und zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, was Ihr meint.«

»Ihr könnt in meinen Augen sehen, dass ich Euch nicht anlüge.«

Nachdenklich sah ich zum Fenster, nur, um ihn nicht ansehen zu müssen, doch anworten konnte ich ihm nicht. Ich wusste ja selbst nicht, wozu ich fähig war. Alles hatte mit dem Tag begonnen, als ich im Wald auf den Fenraler getroffen war, der mich beinahe vergewaltigt hatte und, den ich umgebracht hatte. Ab da fing alles an, seit er mich geschlagen hatte. Seit diesem Tag hatte ich Visionen. Ob es eine weitere Fähigkeit war, einem Menschen anzusehen, wenn er log oder die Wahrheit sprach?

»Ich werde Euch noch etwas zu Essen bringen lassen, Prinzessin.«, sagte Fenris leise, als er merkte, dass ich ihm nicht mehr antworten würde.

Ich wollte ihm widersprechen, doch er hatte sich schon abgewandt und war zur Tür heraus. Für einen Moment überlegte ich, ob ich die Situation nutzen sollte und mich durch die erzwungermaßen offen stehenden Tür davonstehlen sollte. Doch etwas sagte mir, dass ich hier bleiben sollte. Obwohl der Drang so stark war, zu fliehen, blieb ich in meinem Turmzimmer und rollte mich voll bekleidet im Bett zu einer Kugel zusammen und kniff die Augen zusammen. Dabei hoffte ich, dass ich am nächsten Morgen in meinem Ehebett in Woberok erwachen würde - neben meinem geliebten Ehemann.

Kapitel 10

 

Nachdenklich starrte ich zum Fenster hinaus, als wenige Tage nach meinem ersten Zusammentreffen mit Malik, Kronprinz Fenris in meinen Gefängnisturm kam und sich vernehmlich räusperte. Ich verdrehte leicht die Augen, da ich eigentlich keine Lust hatte, ihn wieder mal in sein Arbeitszimmer zu begleiten, um dort den Tag zwischen langweiligen Büchern zu verbringen, während Totenstille zwischen uns hing, wie ein Vorhang. Seit dem Abend hatten wir kaum mehr ein Wort miteinander gewechselt.

Wieder räusperte er sich.

Lustlos drehte ich mich herum und blickte ihn an, wobei ich registrierte, dass er nicht wie üblich ein helles Hemd und dunkle Reiterhosen trug, sondern eine Jagdjacke übergestreift hatte, als wolle er die Burg verlassen. Ich runzelte die Stirn und faltete die Hände auf Hüfthöhe. »Ihr seht aus, als würdet Ihr fort gehen.«

Er schloss leise die Tür. »Das werde ich.«, antwortete er und ein kleines Lächeln, das in seinem Gesicht irgendwie fehl am Platz wirkte, bildete sich auf seinen Lippen. »Und Ihr werdet mich begleiten.«

Blinzelnd hielt ich inne. »Was? Warum?«

Seine rechte Augenbraue fuhr in die Höhe. »Ich hätte eher erwartet, dass Ihr mir dankbar um den Hals fallt, dass ich Euch hier heraus hole.«

Ich musste tatsächlich leicht schmunzeln, als ich zu ihm trat und an ihm vorbei zur Tür ging. »Wir wollen es langsam angehen lassen, Kronprinz Fenris.«, meinte ich und deutete auf die Tür. Er kam meiner Aufforderung tatsächlich nach und öffnete sie mir, dann führte er mich den Gang entlang. Schweigend liefen wir nebeneinander her. Wir folgten den Gängen des Bergfriedes, durch verschlungene Tunnel, Türme hinunter und bis in den Hof.

Als wir hinaus traten, erschauderte ich unwillkürlich. Nur noch verschwommen konnte ich mich an meine Ankunft in Fenrals Bergfried erinnern. Ich erinnerte mich nur noch an das Gefühl von nacktem, kalten Pflasterstein und Erde unter mir, an den Geruch von Stroh und dem Feuer des Waffenschmiedes, der auch heute Stahl mit dem Hammer bearbeitete. Die Geräusche waren dumpf an ein Ohr gedrungen, das Wiehern von Pferden, das Hämmern des Hammers auf Stahl, das Gemurmel und Geplappere der Menschen, die hier tagtäglich arbeiteten. Und das Geräusch vom Klappern der Hufe des Pferdes, an das ich angebunden gewesen war, wie ein Hund, den man an der Leine spazieren führte. Nur, dass ich hinter ihm hergezerrt worden war.

Dieser Tag war einer der schlimmsten Tage gewesen, die ich erlebt hatte, seit Malik mich entführt hatte.

Doch heute wirkte das rege Treiben der Burgbewohner friedlich, beinahe idyllisch.

Fenris blieb kurzzeitig stehen und blickte mich auffordernd an, bevor er kehrt machte und den Innenhof überquerte. Er steuerte direkt auf die fenraler Königsstallungen zu. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu dem imposanten Gebäude mit Bogendach zu folgen. Wie alles in Fenral bestand der Stall aus hellem Holz und dunklem Gestein. Die Fenraler waren schon immer ein Reitervolk gewesen, das durch die Weite Fenrals gezogen war, bevor sie sich niederließen. Man spürte die Liebe zu dieser Tradition beinahe so sehr, wie man die Liebe zu ihrem Wappentier spürte, in das sich gewisse Fenraler angeblich verwandeln konnten. So recht glaubte ich diese Geschichte noch nicht, auch, wenn ich wusste, dass Kronprinz Fenris mich nicht anlog. Es war so vieles, was ich erst noch begreifen musste.

Schweigend führte er mich durch das große, geöffnete Stalltor ins Innere der Stallungen. Schon von außen hatte dieses Gebäude imposant und beeindruckend gewirkt, doch innen war es noch viel schöner. Die windig geschnittenen Rösser sahen gepflegt und wohlgenährt aus, jedes von ihnen stand in einer eigenen, geräumigen Box. Die hölzernen Stützsäulen, die die mächtige Decke hielten, waren mit Schnitzereien versehen. Es roch nach Heu und warmen Tierkörpern.

»Folgt mir, Prinzessin«, sagte Fenris und führte mich an arbeitendem Stallpersonal vorbei tiefer in den Stall hinein.

Der Mittelgang war gesäumt mit großen Heubergen, die auf die verschiedenen Boxen verteilt wurden. Die Burschen gingen den verschiedensten Aufgaben nach. Einige kümmerten sich um das Ausmisten der großen Boxen, andere fütterten die Pferde und füllten Wasser nach, wieder andere wachsten die Sättel oder striegelten die Tiere.

»Wessen Pferde sind das?«

Er verlangsamte seinen Schritt, sodass er neben mir laufen konnte. »Das ist die persönliche Pferdezucht des Königs. Alle Tiere, die hier seht, entstammen einem uralten Blutsgeschlecht. Angeblich sollen die meisten von Ashanti, dem Schlachtross des ersten Königs von Fenral, entstammen.«

Ich nickte interessiert und blickte mich um. Die meisten Tiere besaßen ein Fell von feurigem Fuchsrot, Hellbraun, Braun bis Dunkelbraun. Seltener waren Schwarze darunter und helle Tiere sah man gar nicht. Ich vermutete, dass das Schlachtross Ashanti wohl ebenfalls eine solche Fellfarbe besessen hatte und dieses Merkmal an diese vielen Erben seines Blutes weitergegeben hatte.

»Reitet der König?«

Er hob eine Augenbraue, bog in einen anderen Stallgang ein, ein ruhigerer Teil. »Nicht wirklich. Der König verlässt den Bergfried niemals. Wir müssen Burschen schon anweisen, die Tiere zu bewegen, damit sie nicht fett werden.«

»Weshalb hält er sie dann?«, fragte ich verwirrt und blieb stehen.

Fenris hielt ebenfalls an und zuckte die Achseln. »Sie sind Trophäen.«

»Das ist grausam.«

»Ist es das?« Fenris blickte mich tiefgründig an. »Sind wir nicht alle Trophäen? Die Trophäen mächtigerer Menschen, als wir es sind? Was ist mit Eurem Mann?«

Ich stutzte und warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Was soll das denn heißen?«

»Seid Ihr keine Trophäe für ihn?«

»Ich bin seine Ehefrau«, erwiderte ich und krallte die Finger ineinander, weil mich seine persönliche Frage wütend machte. »Und ich werde eines Tages seine Königin sein. Das ist es, was ich bin, und keine Trophäe oder sonst etwas.«

Er schwieg einen Moment, dann lächelte er, aber es sah freudlos und kühl aus, als wolle er mich verspotten. »Ihr seid eine Kartanerin. Eine Löwin, die von ihrem Löwenvater an einen Wolf verkauft wurde. Ihr seid fern der Heimat in den Norden geschickt worden, um einen Wildfremden zu heiraten, seine Frau zu werden und den heiligen Eid des Eheversprechens zu schwören. Und Euch fragt niemand, ob Ihr die Beine für ihn breit machen wollt und seine Kinder gebären wollt. Es ist Eure Pflicht.«

»Ich wüsste nicht, was Euch meine breiten Beine anginge«, knurrte ich.

Fenris schüttelte den Kopf. »Es geht auch nicht um Eure breiten Beine. Es geht darum, dass Ihr die Augen aufmachen solltet und Euch eingesteht, dass Ihr Eures Mannes Trophäe seid. So war es in Woberok schon immer. Auch in Kartan...«

»Und in Fenral«, fügte ich spitz hinzu, ohne auf die Bemerkung einzugehen, dass ich angeblich Regans Trophäe sei. Das stimmte nicht und ich wusste das. Ich war kein Pokal, den Regan in einen Schrank stellte, ich war seine Frau, seine Geliebte. Ich wusste, dass ich ihm wichtig war.

Er neigte zustimmend den Kopf. »Und Fenral«, wiederholte er und deutete mir an, ihm wieder zu folgen. »Aber Fenral hat erkannt, dass es so nicht weitergehen kann. Die eine Hälfte des Volkes unterdrückt die andere Hälfte, weil diese Hälfte angeblich schwächer ist. Habt Ihr je eine Waffe in der Hand gehalten, Prinzessin?«

Mir wurde warm und ich blinzelte. Ich hatte mich mehr als schwer damit getan, Regan die Wahrheit zu sagen. Ihm zu sagen, dass es kein Zufall war, dass ich mich im Wald vor dem fenraler Deserteur verteidigen konnte. Dass ich mit einem Messer sehr wohl umgehen konnte. Dass ich mehr konnte, als verzweifelt um Hilfe zu schreien, wenn mich jemand angreifen würde. Wie sollte ich da einem Wildfremden so etwas anvertrauen?

Ich schüttelte zögerlich den Kopf.

Ich konnte niemandem vertrauen.

»Das werdet Ihr noch lernen«, versprach er mir. »Eine Frau des Nordens sollte mit einer Waffe umgehen können.«

»Eure Schwester kann mit einer Waffe umgehen.«

Er nickte. »Sie schwingt das Schwert wie fast kein anderer.«

Ich presste die Lippen aufeinander und nickte, da mich der Gedanke nervös machte, dass ich lernen würde, mit einer Waffe umzugehen. Ein geübtes Auge würde sofort erkennen, dass ich keine blutige Anfängerin wäre, die zum ersten Mal eine Waffe in der Hand hielt. Er würde es sehen und wissen, dass ich gelogen hatte. Ob das gut war oder schlecht, würde ich wahrscheinlich bald herausfinden.

Fenris blieb vor der hintersten Box im hintersten Teil des Stalles stehen und deutete auf das gepflegte Pferd im Inneren. Es war goldfarbener Falbe mit dunkelbraunen Fesseln und einer Mähne so schwarz wie die Nacht. Der Hengst war wunderschön mit seidig, goldfarbenem Fell, das glänzte wie eine Spiegeloberfläche im duseligen Fackelschein des Stalles. Die dunklen Augen waren treu und wild.

Ich blickte zurück zum Kronprinzen und sah ihn fragend an. »Er ist wunderschön, aber...«

»Er gehört Euch«, sagte er.

Meine Augen weiteten sich sicher, dass ich für kurze Zeit eine undefinierbare Fratze zog. »A-aber... Das geht nicht, ich kann doch nicht...«

»Könnt Ihr nicht reiten?«

Ich blinzelte. »Doch schon. Aber Ihr könnt mir nicht einfach, ein Pferd Eures Vaters schenken. Wieso solltet Ihr mir überhaupt ein Pferd schenken?«

»Ich kann und ich werde Euch dieses Pferd schenken.«, sagte Fenris und seine Stimme klang ernst dabei. »Mein Vater will ihn nicht, weil er nicht so aussieht, wie die anderen. Und ich schenke ihn Euch, damit Ihr ausreiten könnt, damit ich tagsüber zu ihm gehen und ihn streicheln könnt.«

Verwirrt runzelte ich die Stirn. »Ihr lasst mich hinaus? Ihr würdet mich mit einem Pferd ausreiten lassen?«

»Natürlich mit Begleitung, aber ja. Ihr dürft die Burg verlassen.«

Mein Herz machte einen Sprung und für einen Moment wusste ich wirklich nicht, was ich sagen sollte. Sollte ich ihm danken? Schließlich hatte er mir ein königliches Palastpferd geschenkt, einfach so. Weil sein Vater es nicht mehr wollte und das, weil es nicht so aussah, wie die übrigen Nachkommen Ashantis. Dennoch war er wunderschön und so stattlich. Mich interessierte es nicht, wie er aussah. Ich war nur glücklich, endlich eine sinnvolle Beschäftigung zu haben und jemanden, der mich nicht ständig mit Argusaugen beobachtete.

»Darf ich?« Ich deutete auf die Boxentür.

Er nickte und verzog leicht den Mund, was einem echten Lächeln schon näher kam. »Er gehört Euch. Nur zu.«

Ich schüttelte den Kopf. »Er gehört niemanden. Jeder gehört nur sich selbst.«

Fenris neigte respektvoll den Kopf und ich nickte mit einem schwachen Lächeln. Dann entriegelte ich die Box und trat zu dem wundervollen Hengst. Interessiert hob er den Kopf und betrachtete mich. Ich blieb stehen und streckte vorsichtig die Hand aus, um den Hengst nicht zu verschrecken. Aber er war nicht verschreckt. Er war mutig und schien feurig, denn er kam auf mich zu und stupste meine Finger mit den weichen Nüstern an. Ich musste lächeln, als mich die feinen Härchen kitzelten. Dann schmiegte der Hengst seinen Kopf an meine Seite, ich kicherte leise.

»Er mag Euch«, sagte Fenris, der sich auf die Boxenwand gestützt hatte.

Ich musste ihn einfach anlächeln. »Und ich mag ihn. Er ist zauberhaft. Wie ist sein Name?«

»Abendstern.«

Sanft fuhr ich dem Tier durch das Ponyhaar, das ihm über die Stirn fiel, und einen weißen Stern verdeckte, den er auf der Stirn als Abzeichen trug. Der Name passte gut zu ihm. Er wirkte nicht wie das schwarze Pferd Kestral, das Regan in Woberok immer geritten war. Nicht wie dunkle Nacht oder einen nahenden Abend. Er sah mehr aus, wie eine Sternschnuppe, golden und schimmernd.

»Kommt, Prinzessin, ich lasse ihn von einem Stallburschen satteln.«, sagte Fenris und öffnete die Boxentür, damit ich zu ihm aus der Box treten konnte.

Ich strich dem Hengst noch einmal über die Nase, dann verließ ich ihn und folgte Fenris hinaus vor die Stallungen. Der Tag war kühl und klar. Der Himmel strahlte eisblau und die Sonne strahlte, dennoch konnte ich meinen Atem als Wölkchen in der Luft sehen. Zwei Diener brachten uns Reitausrüstung und warme Fellmäntel, die wir tragen würden, wenn wir reiten würden. Reitstiefel, gefütterte Wollsocken und Reithandschuhe wurden mir gebracht. Einer der beiden Diener half mir, die Schuhe anzuziehen und legte einen hellen, Kaninchenfellmantel um meine Schultern, bevor Fenris ihn fort schickte.

Er trat zu mir und bat um meine eine Hand. Beinahe zart schob er die hellbraunen Lederhandschuhe über meine Finger, dann ließ er meine Hände sinken, starrte auf mich herunter und ich starrte zu ihm hinauf. Seit einer Weile war mir ein Mann schon nicht mehr so nahe gekommen. Das letzte Mal war mit unsäglichen Schmerzen verbunden gewesen, denn Malik hatte mich gezwungen, mit zerschlissenen Rücken hocken zu bleiben und seinen Schritt anzufassen. Seither hatten sich Frauen um mich gekümmert, hatten mich zwangsweise berührt, weil sie mich versorgen mussten. Aber das... er war der erste Mann, der meine Hand hielt, seit mir diese schrecklichen Dinge passiert waren.

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, besann mich dann aber eines besseren und zog meine Hände aus seinen fort. Im selben Moment tauchten zwei Burschen auf, die die gesattelten Pferde brachten. Die Situation war seltsam genug und ich war froh, dass ich nicht gezwungen war, etwas zu ihm zu sagen. Doch, als ich Fenris' gesattelte Stute erblickte, hob ich überrascht die Augenbrauen. Die Stute war beinahe genauso groß wie Abendstern, doch sie besaß silbergraues Fell, das zu den Knien immer dunkler wurde und letztendlich schwarz zu den Fesseln reichte. Ihre schwarze Mähne glänzte seidig und eine weiße Blesse zog sich von der Stirn bis zu den Nüstern. Sie war ein silbern schimmernder Traum.

Ich wandte mich Fenris zu. »Ich hätte gedacht, der Kronprinz Fenrals reitet auf einem Nachkommen von Ashanti.«

»Ich hatte einen dieser Nachkommen. Er war mein erstes Pferd und das stureste Wesen, das ich kannte. Er war das erste Pferd, das ich bestiegen hatte und ich bin keine drei Sekunden später auf meinem Hintern gelandet. Alles, was ich zur Belohnung für meinen Eifer, ein Pferd zu reiten, bekommen habe, war also ein riesiger blauer Fleck auf dem Arsch und ein ausgekugelter Arm. Danach habe ich Pferde gehasst. Bis sie kam.« Er nickte zu der Stute hin. »Ich war siebzehn, hatte bis dahin nie auf einem Pferd gesessen. Mein Vater war immer wütend deswegen. Sogar Euros ritt Pferde, nur sein ältester Sohn und Thronerbe hatte Schiss auf einen Gaul zu steigen... Ich sah sie auf einem Schlachthof außerhalb Fenrals. An dem Schlachthof grenzte eine Metzgerei, die Blutwürste aus Pferdefleisch herstellte. Sie stand auf einer Koppel, ein Fohlen und ich ein junger Bursche. Ich habe sie dem Schlachter abgekauft, wahrscheinlich habe ich viel zu viel bezahlt, aber das war mir egal. Ich liebte sie und sie mich. Ich habe sie gezähmt, sie eingeritten und nun ist sie mir eine treue Begleiterin.«

Wieder musste ich lächeln, denn seine Worte waren voller Wärme, was sonst, wenn er sprach, nie der Fall war. Er sprach mit einer monotonen Gleichheit in der Stimme, als wären Gefühle fremd für ihn. Doch, als er von diesem Pferd sprach, spürte ich die Verbundenheit zwischen den beiden. Fenris lächelte schwach zurück, als wäre es ihm neu, dass er es überhaupt konnte und trat zu der Stute. Diese freute sich sichtlich ihn zu sehen, anscheinend hatte er sie in den letzten Wochen etwas vernachlässigt. Wegen mir...

»Ich bin sicher, dass sie sehr froh ist, Euch gefunden zu haben.«, sagte ich.

Er hob den Kopf und blickte mich nachdenklich an, ehe er nickte, jedoch nichts weiter kommentierte. Die Zügel beider Pferde in der Hand führte er auch Abendstern zu mir.

»Wisst Ihr, wie man aufsteigt?«

Ich hob eine Augenbraue. »Ich bin eine Prinzessin, natürlich habe ich Aufsteigen gelernt.« Ich griff nach dem Sattelhorn und schwang mich geübt in den Sattel. Dann gab er mir die Zügel in die Hand und ich wartete, bis er selbst im Sattel saß. Gemeinsam passierten wir das Hintertor, das hinaus auf eine kurze Straße führte. Es war nur ein sehr kurzer Weg bis zum hintersten Stadttor. Wir passierten das Tor und eine kleine Gruppe berittener Wachmänner schloss sich uns an. Ich wusste nicht genau, wohin wir ritten, aber es war mir auch egal. Bloß raus aus diesem verdammten Turmzimmer. Bloß raus aus dieser Stadt.

Ich genoss die frische Luft und Freiheit, die ich für einen Moment der Ruhe auskosten durfte.

Wir nahmen einen schmalen Pfad, der durch die Wälder führte und es dauerte auch nicht besonders lang, bis wir einen kleinen Außenposten erreichten. Einige Bauern hatten in der Umgebung einige Hütten und Felder angelegt und bewirtschafteten das Land. Es war ein beinahe idyllisches Bild, wenn ich den Hintergedanken beiseite schob, dass sie mich hier immer noch gefangen hielten und ich nicht zurück zu meinem Mann konnte.

Der Außenposten bestand aus kaum viel mehr, als einem hohen Turm, ein paar Mauern, die ihn einrahmten und einem hölzernem Tor, an dem zwei Männer Wache standen. Rauch stieg von einer Feuerstelle neben dem Tor auf, an dem drei weitere Wachmänner saßen. Auch hier konnte man die Liebe zum Königreich Fenral fühlen. Bärenbanner hingen über dem Tor und Flaggen flatterten im Wind. Die Männer trugen Rüstungen, in denen der Bär eingestanzt war und die Schilde, die sie trugen waren mit dem Wappen bemalt worden. Es herrschte geschäftiges Treiben.

»Wer verlangt Einlass?«

Fenris ließ seine Stute stoppen und legte den Kopf schief. »Erkennst du mich nach all den Jahren nicht mehr, Göran?«

Der Angesprochene, stutzte und nahm langsam den Helm ab. Das Gesicht, das zum Vorschein kam, war noch jung. Vielleicht war der Krieger so alt wie Fenris war, vielleicht etwas älter oder jünger. Eine lange Narbe teilte seine linke Augenbraue und verlief bis hinunter zu seinem Kiefer. Er hatte tiefgrüne Augen und helles, strohblondes Haar, was jedoch etwas dunkel aussah. Wahrscheinlich hatte er schon eine lange Wachschicht am Tor hinter sich.

»Fenris Wolfsblut, ich glaube es nicht!«, lachte der Mann.

»Göran Stahlfaust«, lächelte Fenris zurück und stieg von der grauen Stute herunter. Die beiden Männer gingen aufeinander zu und umarmten sich kräftig, während mir einer der Männer, die uns begleitet hatten, von Abendstern herunter half. Ich blieb stehen und beobachtete die beiden, wie sie sich begrüßten. Die Herzlichkeit und Wärme in ihrem Umgang miteinander, verriet mir schon, dass sie sich eine lange Zeit kannten. Aber vor allem überraschten mich die Emotionen, die von Fenris ausgingen.

Irgendwann löste sich der Kronprinz von dem jungen Mann, dieser sah über Fenris' Schulter zu mir. »Und was bringst du uns für eine hübsche Nordblume?«

Hübsche Nordblume? Sprach der Witzbold etwa von mir? Im Moment war ich alles andere als hübsch... Ich war abgemagert, mein Haar kurz und glanzlos und meine Haut blass. Ich hatte es gerade mal geschafft, ein wenig Fett auf meine Rippen zu bekommen, ohne, dass ich Angst haben muss, zu verhungern. Bis ich endlich wieder die Figur von früher hatte, würden Monate vergehen.

»Prinzessin Akira aus dem Königreich Kartan«, erwiderte Fenris und deutete zu mir herüber.

Göran Stahlfaust machte große Augen. »Die Auserwählte? Dann seid ihr sicher wegen Lady Thalia hier.«

Fenris nickte nur.

»Folgt mir«, sagte Göran und deutete auf das Tor.

Unsicher lief ich hinter Fenris her, bis er stehen blieb und eine Hand leicht auf mein Kreuz legte, mich vorwärts schob, als wäre es ihm unangenehm, wenn ich hinter ihm ging. In diesem Moment wehrte ich mich nicht gegen ihn, sondern folgte Göran Stahlfaust, der uns durch einen kleinen Hof führte, in dem gackernde Hühner umher liefen und Menschen ihrer täglichen Arbeit nachgingen. Wir kamen zum Hauptturm des Außenpostens, den ich bereits von Weitem gesehen hatte. Eine Wache öffnete die Tür und wir betraten den Turm. Eine Vielzahl von Stufen führte den Turm hinauf und mir schwindelte es bereits jetzt, diese ganzen Stufen hinauf steigen zu müssen.

»Lady Thalia ist in ihren Gemächern. Steigt die Stufen bis zum Turmzimmer hinauf.«, sagte Göran und deutete hinauf.

Ich verdrehte leicht die Augen und ging voran. »Prima. Noch eine Frau, die in einem Turmzimmer sitzt. Da sind wir uns ja gar nicht so unähnlich.«, schnaubte ich, als ich Fenris' Schritte leise hinter mir hörte.

Leise grunzte er. »Glaubt mir, Prinzessin, sie hat auch Euren schwarzen Humor.«

Ich brummte etwas unfreundliches, dann konzentrierte ich mich auf die Stufen. Es dauerte länger als gedacht, die Stufen zu erklimmen und weniger lange, bis ich komplett außer Atem war. Daraufhin griff Fenris nach meiner Hand, mit dem anderen Arm umschlang er meinen Rücken und hob mich mühelos an seine Seite. Ich wollte schreien, dass er mich gefälligst loslassen sollte, doch da sprang er schon die Stufen hoch wie ein energiegeladener Springbock. Ehe ich realisierte, was geschah, standen wir vor einer dicken Eichenholztür. Benommen taumelte ich gegen Fenris, als er mich wieder auf dem Boden absetzte.

»Gern geschehen, Prinzessin«, sagte Fenris, als ich nicht die Anstalten machte, ihm zu danken.

Finster funkelte ich ihn von der Seite an. »Wagt es noch einmal, mich anzufassen und Ihr könnt etwas erleben!«

Er wölbte eine Augenbraue, als würde er nicht so recht an meine Worte glauben. »Wie Ihr meint.« Ohne noch etwas dazu zu sagen, ging er an mir vorbei und klopfte leise an die hölzerne Tür vor uns.

Ich schnaubte leise. »Auf jeden Fall meine ich...«, brummte ich leise vor mich hin, ehe ich ihm folgte.

Sobald ich den Raum betrat, flog mir beinahe eine Tonschale gegen den Kopf. Ich konnte mich noch rechtzeitig wegducken, bevor mich das Geschoss getroffen hätte. Empört blickte ich zu dem Verantwortlichen und bemerkte, dass es eine Frau gewesen war. Sie stand an einem bunt verglasten Fenster und stierte hinaus. Ihr wohlgeformter, schlanker und durchaus sinnlicher Körper steckte in einem blutroten Kleid, dass ihre Sinnlichkeit noch unterstrich. Ihr Haar war so schwarz, wie die Flügel eines Raben und schimmerte bläulich.

»Ich hoffe, Ihr habt mir etwas besseres gebracht, als diesen Fraß der letzten drei Tage. So etwas würde nicht mal ein Bauer anrühren!« Ihre Stimme war rauchig und ich konnte mir vorstellen, dass sie sowohl gebieterisch, wie schmeichelnd sein konnte.

»In jedem Fall, Magierin. Spürt Ihr ihre Anwesenheit nicht?«

Ich zuckte bei Fenris' dunkler Stimme hinter mir zusammen.

Schweigsamkeit tauchte den Raum in absolute Stille. Ich hörte nur, wie die Frau leicht einatmete und dabei beinahe genüsslich klang. Dann wandte sie den Kopf und ich bekam eine allererste Kostprobe ihrer Macht. Die Augen dieser Frau glänzten in einem unheimlichen, tiefen Gelbton. Ihre Lippen waren genauso blutrot wie ihr Kleid und ihre spitzen, beinahe zu Klauen gefeilten Nägel besaßen den gleichen Ton.

»Jetzt wo Ihr es sagt, mein Prinz«, raunte die Magierin, ihre Stimme klang sinnlich. »Doch ihre Flamme brennt schwach... und es fühlt sich anders an, als die, die bisher hierher gebracht wurden. Welches Blut fließt in ihren Adern?«

Fenris trat vor, schob mich ebenso vorwärts, damit die Frau mich ansehen konnte. Ich kam mir fast vor, wie eine besondere Attraktion, die man bestaunen musste.

»Sie ist das Kind des Alten Blutes«, sagte Fenris und seine Worte wirkten bedeutungsschwer.

Lady Thalias Augen weiteten sich kurzzeitig, dann schien sie ihr Gesicht wieder unter Kontrolle zu haben. Sie trat auf mich zu und legte ihre Hand an meine Wange. Ich wollte augenblicklich zurückweichen, aber sie ließ mich nicht gehen. Ihre gelbfarbenen Augen wurden mit einem Mal strahlend blau, ehe sie die Hand wieder zurückzog.

»Ihr sprecht die Wahrheit.«

»Das tue ich.«, sagte Fenris hinter mir und ich drehte den Kopf zu ihm. Doch er würdigte mich keines Blickes, sondern sah stur geradeaus zu der Magierin.

»Weshalb bringt Ihr sie zu mir, Wolfsblut?«

Fenris verlagerte das Gewicht. »Weil sie verstehen muss, wie wichtig sie eigentlich ist.«

Ich wollte schon den Mund aufmachen, als ich einen stummen Blicktausch zwischen ihnen bemerkte. Es gab noch immer Dinge, die sie mir verschwiegen. Und es machte mich wahnsinnig, dass ich immernoch so wenig zu wissen schien.

»Wartet draußen, Majestät. Wir haben einiges zu besprechen.«, sagte die Magierin dann.

Ohne zu protestieren, folgte Fenris ihrer Anweisung und verließ das Turmzimmer mit einem letzten, kurzen Blick auf mich.

Dann war ich mit der Frau alleine.

 

Kapitel 11

 

»Ich nehme an, man hat Euch schon über die Ursache für unseren Untergang informiert?«, fragte die Magierin beinahe beiläufig und schritt an mir vorbei zu einem Schreibtisch, welcher über und über mit Büchern, Pergamenten und anderen Schriftstücken beladen war.

Leicht presste ich die Lippen aufeinander. Ich wusste, was sie vor hatte. Ich konnte es ahnen. All diese Dinge, die sie mir erzählten, dieser Ausflug hierher, den Kronprinz Fenris angeleiert hatte. All das sollte mich dazu bewegen, nicht länger misstrauisch zu sein. Sie wollten mein Vertrauen. Sie brauchten mein Vertrauen. Scheinbar war ich für sie sehr wichtig, denn ansonsten konnten sie ihren Plan vergessen. Was auch immer ihr Plan war.

»Ihr sprecht, als wäre ich eine von euch.«, entgegnete ich, ohne auf ihre Frage einzugehen.

»Das seid Ihr, Prinzessin.« Die Magierin griff sich einen Krug und schüttete den blutroten Inhalt in zwei Kelche, einen von beiden reichte sie mir anschließend.

Misstrauisch nahm ich ihn entgegen, wagte jedoch nicht, auch nur einen Schluck zu nehmen. Ich kannte diese Frau nicht und mein Instinkt sagte mir, dass ich bei jedem auf der Hut sein musste. Vor allem bei Dingen, die ich nicht kannte.

»Also ich nehme mal an, man hat Euch darüber informiert, dass die Säuberung unser Untergang war.«

»Warum sollte ich das glauben?«

Sie strich sich eine ihrer kohlschwarzen Locken auf ihren Rücken und drehte sich zu mir um, blickte mich mit ihren unheimlichen gelben Augen intensiv an. Dann hob sie leicht das Kinn und begann zu lächeln. »Ihr besitzt die Gabe, die Wahrheit zu sehen. Also, warum solltet Ihr mir glauben?«

Ich atmete zitterig ein, während ich ihr in diese intensiven gelben Augen blickte. Diese Farbe wirkte so unnatürlich und der Anblick machte mir das Atmen schwer, sodass ich ihr kurzzeitig den Rücken zuwandte. Sie sollte meine wahren Gefühle nicht in meinem Gesicht ablesen. Es war die Erschrockenheit, dass sie recht hatte. Ich konnte sehen, dass sie nicht log, genauso wie ich sah, dass Prinzessin Euros nicht gelogen hatte. Die Säuberung war der Untergang der Magischen. Doch, wie es aussah, nicht aller Magischen. Einige mussten überlebt haben, ansonsten gäbe es wohl keine mehr.

»Magie entspringt nur außergewöhnlichen Seelen«, sagte Lady Thalia und schritt in dem Raum herum. »Ihr seid eine solche Seele.«

Ich beobachtete sie ganz genau. »Wieso habe ich dann früher nichts davon bemerkt? Man muss doch etwas davon merken.«

»Vielleicht habt Ihr es verdrängt. Vielleicht war Eure Magie blockiert. Wer weiß...«, sagte sie. »Es gibt so viele unterschiedliche Gründe. Vielleicht habt Ihr auch Veränderungen bemerkt, ihnen aber keinen Wert beigemessen?«

Ich senkte den Blick und runzelte die Stirn. Unweigerlich musste ich an meine Träume denken, die ich bereits in meiner Zeit in Woberok gespürt hatte. Sie waren beängstigend gewesen, aber ich hatte sie oftmals schlicht als Alpträume abgetan. Vielleicht, weil ich einfach nicht wissen wollte, ob mehr dahinter steckte.

»Ich habe oft Alpträume gehabt... Jedenfalls dachte ich, es wären Alpträume.«

Lady Thalia nickte sanft und lächelte leicht. »Bei mir fing es auch mit Träumen an. Oftmals wollen wir ihre Bedeutung nicht verstehen, weil uns die gezeigten Bilder Angst machen. Seien wir mal ehrlich, oftmals sehen wir nicht besonders schöne Dinge.«

Ich atmete hörbar aus. »Was muss ich tun?«

»Ihr müsst lernen, Eure Fähigkeiten zu kontrollieren und im richtigen Moment einzusetzen. Kümmern wir uns nicht darum, kann die Folge katastrophal sein.«

»Inwiefern kastastrophal?« Mir rutschte das Herz in die Hose.

Lady Thalia trat näher an mich heran und öffnete die Handfläche. In ihrer Hand lag nun ein kleines Feuer. Eine winzige, sich züngelnde Flamme. Ihr Licht malte Schatten an die Wände des Turmzimmers. Sie war friedlich, so wie das Feuer einer brennenden Kerze.

Plötzlich wurde die Flamme jedoch unruhig, züngelte von einer Seite zur anderen und wurde größer, aggressiver. Dann erstarb sie in ihrer Hand. »Die Magie ist eine mächtige Waffe. Das Problem ist, dass sie fest mit unseren Emotionen verbunden ist. Für einen ungeübten Geist bedeutet jeder Gefühlsausbruch eine mögliche Gefahr für andere um euch herum. Noch ist nichts geschehen, die Magie in euch befindet sich noch in einem schlafenden Zustand. Aber sie wird langsam wach, das zeigen die Träume. Wir müssen anfangen, Eure Magie zu kontrollieren, bevor sie vollständig erwacht, ansonsten wird es viel schwieriger, sie unter Kontrolle zu bekommen.«

Mir schwirrte der Kopf von so vielen Informationen. »Was muss ich tun?«

»Ich habe bereits mit dem König einen genauen Plan über Eure künftigen Aktivitäten ausgearbeitet. Drei Tage in der Woche werdet Ihr mit mir Eure magischen Fähigkeiten trainieren. Ich werde Euch zeigen, wie Ihr Eure Visionen deutet, sowie Ihr die Magie im Kampf einsetzt und sogar heilen könnt, sofern Ihr die Fähigkeit dazu besitzt. Den Rest der Woche werdet Ihr mit dem Kronprinz Eure Waffenkünste verfeinern... und ich würde Euch raten, kräftig zu essen, um wieder Fleisch auf die Rippen zu bekommen. Dieses Training wird das härteste, was Ihr je durchstehen musstet.«

Das bezweifelte ich zwar stark, dennoch nickte ich nur. In mir keimte plötzlich eine Hoffnung auf, die vorher nicht da gewesen war. Ich würde in der Waffenkunst unterrichtet werden und zwar vom Kronprinz persönlich. Zwar hatte ich ihn noch nicht kämpfen sehen, dennoch hatte ich das Gefühl, dass er sehr stark war. Selbst Malik hatte es nicht gewagt, sich ihm ernsthaft entgegen zu stellen, auch, wenn er ihn immer wieder verbal herausforderte. Und ich würde in der Magie trainiert werden. Mein Wunsch, der tief in meiner Magengrube humorte, Malik sein dreckiges Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, rückte in greifbare Nähe. Wenn ich mich anstrengte, könnte ich ihm ebenbürdig werden, vielleicht sogar übertreffen und einen Kampf für mich entscheiden. Und dieser Kampf würde kommen, das wusste ich. Das wollte ich.

Mit einem Fingerwink ihrerseits sprang die Tür zum Turmzimmer auf. Fenris trat vorsichtig ein, als würde er sich vor dieser Frau fürchten.

»Wir haben alles besprochen, was vorerst wichtig ist. Die Prinzessin ist bereit das Training aufzunehmen. In drei Tagen geht es los, solange solltet Ihr dafür sorgen, dass sie genug zu sich nimmt. Das Training wird hart.«

Fenris nickte nur und winkte mich zu sich. Ich folgte ihm und wir verließen den Turm der Magierin. Unten bei den Pferden angekommen, kramte Fenris unter Vorwand in seiner Satteltasche. Ich stand etwas verloren in der Landschaft und musste mich erst einmal sammeln.

»Ist sie wie ich?«, hörte ich mich fragen, ohne, dass ich meinen Lippen den Befehl dazu gegeben hatte.

Fenris hielt inne, dann seufzte er. »Nein, Akira. Sie ist nicht wie Ihr.«

»Was ist sie dann?«

Er fuhr sich durch das schwarze Haar, das in der Sonne glänzte. »Sie ist eine schwarze Hexe. Dunkelheit lebt in ihrem Herzen und sie ist gefährlich. Glaubt mir, wir sperren sie nicht ohne Grund in diesen Turm und, wenn es noch andere Magier gäbe, die Euch unterrichten können...«

Nachdenklich blickte ich an den Turm hinauf. Es befand sich nur ein einziges, vergittertes Fenster dort oben. Sie war eingesperrt, wie ein Vogel im Käfig. Ich wusste nicht, was ich darüber denken sollte, aber ich empfand irgendwie Mitleid mit ihr. Ich hatte gespürt, wie es sich anfühlte, eine Gefangene zu sein. Jetzt durfte ich immerhin die Burg verlassen, sie jedoch war immer eingesperrt. Vielleicht wollte ich die Finsternis, die von diesem Ort ausging, in diesem Moment einfach noch nicht sehen. Im Moment fühlte ich mich nur in irgendeiner Weise mit dieser Frau verbunden, weil wir dasselbe Schicksal geteilt hatten.

»Lasst uns aufbrechen. Ich will Euch etwas zeigen.« Fenris schwang sich auf seine Stute und trabte los.

Ich beeilte mich, ihm zu folgen und wir ritten zurück nach Fenral. Anders als auf dem Hinweg zum Turm, passierten wir nun ein anderes Burgtor. Wir ritten durch die Straßen Fenrals. Die Bewohner der Stadt waren unterwegs ihre täglichen Aufgaben zu erledigen. Was mich überraschte und, was ich aus Woberok nicht kannte war, dass die Leute stets freundlich waren, sich gegenseitig halfen und lächelten.

Wir hielten schließlich auf einem großen Marktplatz und Fenris gab einem Burschen ein Kupferstück, damit dieser unsere Pferde tränkte und auf sie aufpasste, während wir über den Markt liefen. Dieser Markt war das Lebendigste, das ich seit meiner Reise von Zuhause weg zu meinem künftigen Ehemann gesehen hatte. Überall waren Marktstände mit frischem Obst, Gemüse, Fleisch und Wurstwaren, Fisch, Kleidung, Schmuck und Dinge für den täglichen Bedarf. Die bunten Markisen der Marktstände strahlten in grün, weiß, braun, blau und rot und flatterten im leichten Wind. Von irgendwoher erschallte Jahrmarktsmusik und über dieser ganzen fröhlichen Szenerie ragte eine Statue in Form eines riesigen Bären, der auf beiden Hinterläufen stand. Der Bär von Fenral schien über diesen riesigen Platz zu wachen.

Fenris führte mich zuerst zu einem Stand mit Backwaren und der Duft der süßen Teilchen machte mir erst bewusst, was für einen Hunger ich eigentlich hatte. Auch, wenn ich zum Beginn meiner Zeit hier, eher in den Hungerstreik hätte treten wollen, wusste ich nun um die Dringlichkeit, wieder Fleisch auf die Rippen zu bekommen. Ich befand mich noch immer im Heilungsprozess und solange mein Körper damit beschäftigt war, die Wunden zu versorgen, konnte er sich nicht darauf konzentrieren, Muskeln aufzubauen. Und das brauchte ich für mein Training. Und den Kampf gegen Malik.

Der Kronprinz bestellte bei der rundlichen, rotwangigen Bäckerin ein großes Weißbrot und zwei süße Teilchen mit Pudding- und Himbeerfüllung. Mir lief der Geifer im Mund zusammen, als ich zusah, wie die Bäckerin die Sachen verpackte. Fenris ließ ihr ein paar Kupferstücke da, bevor wir zum nächsten Stand gingen. Er kaufte noch eine Flasche mit einer merkwürdig trüben Flüssigkeit, sagte mir aber nicht, was das war, dann gingen wir zum letzten Stand, den wir besuchten. Er bat einen Gerber um gut sitzende, aber etwas weitere Lederhosen für mich, sowie einen Lederbrustharnisch, sowie Gürtel und Stiefel. Der Gerber nahm meine Maße, berechnete jedoch ein, dass ich noch zunehmen würde und notierte sich alles in einem kleinen Lederbüchlein. Dann gab er Prinz Fenris einen Zettel, auf dem das Datum und die Adresse der Gerberei stand, in der alles in ein paar Tagen abgeholt werden konnte.

Danach verließen wir den Marktplatz, holten unsere Pferde und führten sie eine einsame Gasse entlang. Die Straßen wurden leerer und dunkler. Die Häuser sahen zunehmend verlassener aus und mir wurde etwas mulmig. Bald schon war keine Menschenseele mehr zu sehen. Vor uns ragte bald ein zerlöcherter Wehrturm auf. Die Ruine war mit der Stadtmauer verbunden und nur ein kleiner Truppe Wachmänner schien diesen Abschnitt der Mauer zu bewachen. Sie grüßten den Prinzen, als wäre es gar nicht merkwürdig, dass sich der Kronprinz hier in einem so verlassenen Stadtviertel herumtrieb.

Schweigend band Fenris die Pferde an einen Pfosten, dann stieß der die Tür zum Wachturm auf. Ich folgte ihm ebenso schweigend, wir stiegen die Treppen hinauf. Es war noch anstrengend für meine hageren Beine, aber ich nahm die Gelegenheit, die Kraft in ihnen etwas zu trainieren. Und wenn es nur Treppenlaufen war. Ganz oben angekommen, stieß Fenris eine weitere Tür auf und wir befanden uns in einem Raum, der wohl früher eine Art Besprechungsraum war. Ein alter runder Tisch mit alten verstaubten Karten befand sich in der Mitte des Raumes, an den Wänden lehnten zerbrochene Waffengerüste, die keine Waffen mehr hielten. Die vordere Wand war fast vollständig herausgebrochen und das schwächer werdende Tageslicht malte Muster auf den Steinfußboden. Efeu rangte durch die Löcher ins Innere des Turmes, nahm Wände und Fußboden teilweise in Beschlag.

»Wo sind wir hier?«, fragte ich leise, beinahe ehrfürchtig, da ich Sorge hatte, die Ruhe dieses Ortes zu stören.

Fenris ging zu der zerlöcherten Wand und setzte sich auf die Kante, ließ die Beine über den Rand in die Tiefe baumeln. »Ein Ort, an den ich manchmal fliehe, wenn ich das Gefühl habe, da drinnen zerdrückt mich alles.«, sagte er ebenso leise und deutete hinaus auf den Bergfried, den man von hier in der Ferne sehen konnte. Seine Stimme wirkte schwermütig, aber ich wagte nicht, nachzufragen.

Stattdessen setzte ich mich still neben ihn.

Fenris packte das Brot und die Teilchen aus und brach die Hälfte ab. Er gab mir Brot, dass ich widerstandslos aß. Nach dem Brot folgten die Teilchen und bald waren nur noch Krümel übrig, während die Sonne sich dem Horizont zuneigte. Das Licht wechselte von strahlendem Gelb in ein tiefes sattes Orange. Ich genoss die Strahlen auf meiner ausgemergelten Haut und die frische klare Luft, das Zwitschern der Vögel. Würde man mich nicht immer noch in diesen Mauern festhalten, könnte es sich tatsächlich etwas nach Freiheit anfühlen.

»Ihr werdet mich niemals gehen lassen, nicht wahr?«, brach es auf einmal unvermittelt aus mir heraus. Meine Stimme war noch immer leise, ehrfürchtig vor diesem Ort gesenkt.

Fenris schwieg eine ganze Weile, bevor er leise einatmete. »Ihr seid zu wichtig, um im Norden als brave unterwürfige Ehefrau zu versauern.«

Leise und etwas bitter musste ich auflachen. »Das war ich, nicht wahr? Oh wie habe ich nur gedacht, dass ich mit so einem Leben zufrieden sein könnte? Was für eine Zeitverschwendung.«

»Warum Zeitverschwendung?« Er sah mich aufmerksam an.

Ich zuckte die Schultern. Eigentlich wollte ich mir keine Blöße vor ihm geben, aber ich fühlte mich verpflichtet, ihm etwas zurückzugeben, jetzt wo er mir diesen Ort, der ihm heilig zu sein schien, gezeigt hatte. »Bevor ich entführt wurde«, sagte ich ruhig und ließ die Geschehnisse Revue passieren. »habe ich mich mit meinem Ehemann gestritten. Er hat nicht verstanden, was ich will. Ihr hattet Recht mit dem, was Ihr gesagt habt. Die Woberoker wollen ihre Frauen unterwürfig und still. Ich konnte nicht fassen, dass er auch dieser Ansicht war. Obwohl er wusste, dass ich mehr konnte. Ich kann nämlich sehr wohl, mit Waffen umgehen.«

Seine Augenbrauen hoben sich leicht, ansonsten war er jedoch still.

»Aber er wollte nicht, dass ich wieder eine Waffe benutze. Ich weiß nicht, ob ich ihn in seinem männlichen Stolz gekränkt hatte, oder was der Grund für seine Wut darüber war. Aber unser Streit eskalierte und er schloss mich in unseren Ehegemächern ein. Um auf Jagd nach dem Attentäter zu gehen, den Malik erfunden hatte, damit er mich ungehindert entführen konnte.«

»Er hat Euer Schicksal besiegelt.«, murmelte Fenris leise.

Ich nickte leicht. »Das war aber nicht das Schlimmste. Vermutlich wäre alles so oder so gekommen, wie es gekommen war. Das Schlimmste war, dass er mich nicht ernst genommen hat. Dass er mich eingesperrt hat, wie ein Haustier, das ihm gehörte.«

Er schwieg wieder, blickte in die Ferne und zusammen beobachteten wir, wie die Sonne hinter dem Bergfrieg unterging und die Stadt lange Schatten warf. Nach einer Weile packte Fenris die Flasche mit der trüben Flüssigkeit aus, zog den Korken und nahm einen kräftigen Schluck. Die Falte zwischen seinen dunklen Brauen zuckt, als er die Flasche absetzte. Danach hielt er sie mir hin. Ich sparte mir die Frage, was da drin war. Mittlerweile war ich überzeugt davon, dass keiner - außer Malik vielleicht - vor hatte, mich zu vergiften.

Ich nahm einen großen Zug aus der Flasche. Die Flüssigkeit rann mir brennend die Kehle hinunter.

»Manchmal ist es schwer, diejenigen zu lieben, die uns am meisten enttäuschen.«, sagte Fenris nach einer Weile.

Ich sah ihn von der Seite her an, drängte ihn jedoch nicht, mir zu erzählen, was er damit meinte. Er drängte mich auch nicht dazu und ich fand es nur fair, diesen Gefallen zu erwidern. Wortlos reichte ich ihm die Flasche zurück, nachdem ich einen weiteren großen Schluck genommen und mir den Mund mit dem Ärmel abgewischt hatte.

Er nahm sie nickend und trank ebenfalls einen mächtigen Schluck. »Ihr wollt dennoch zu ihm zurück, oder?«

Ich schwieg. Ich wusste nicht warum, aber in meiner Magengegend ballte sich ein Knäul zusammen. Diese direkte Frage überrumpelte mich, denn ich hätte vor diesem Tag ohne zu Zögern mit "Ja" geantwortet. Jetzt war ich mir nicht mehr sicher. Was wäre, wenn ich augenblicklich wieder in den Armen meines Mannes landen würde? Die Antwort auf diese Frage wollte ich mir nicht so recht eingestehen, aber sie pochte mir unangenehm gegen die Rippen: Ich würde mit ihm heimkehren, meinen Platz als Ehefrau neben ihm wieder einnehmen und jeden Monat auf eine frohe Botschaft bezüglich der Sicherung seiner Blutlinie warten. Mehr hatte das Schicksal nicht für mich übrig, würde ich jetzt nach Woberok zurückkehren. Meine Chancen, mich mit Malik zu messen und ihn zu töten für das, was er mir angetan hatte, wären unwiderbringlich dahin. Und wer wusste, wozu ich fähig war, wenn ich meine neu entdeckte Magie nicht lernte zu kontrollieren? All das... würde Regan nicht verstehen. Im Moment jedenfalls nicht. Er würde mir nie erlauben, gegen Malik zu kämpfen, wenn er mir schon den Umgang mit einer Waffe verbot. Und ich hatte es satt, mir von irgendwem etwas verbieten zu lassen. Ich hatte es satt, um Erlaubnis zu fragen!

»Nein«, hörte ich mich in den hereinbrechenden Abend sagen. Auch, wenn meine Stimme leise war, war sie fest.

Fenris sagte nichts, reichte mir nur die Flasche und ich trank den Schluck, den er mir übrig gelassen hatte, in einem Zug aus.

 

 

 

Nachdenklich blickte er in die Ferne. Er wusste nicht genau warum, aber als sie nach einer ganzen Weile mit "Nein" antwortete, wurde sein Herz leichter, als wäre eine Last von ihm abgefallen. Er war erleichtert, dass sie nicht zu ihrem Mann zurück wollte. Es ärgerte ihn, dass er erleichtert war. Die Gefühle, die er fühlte, ärgerten ihn. Es musste am Alkohol liegen, dass er sich so merkwürdig fühlte. Kurz fragte er sich, warum er sie überhaupt mit hierher genommen hatte. Zwar konnte er sich nun sicher sein, dass er vorerst keinen Fluchtversuch von ihr befürchten musste, andererseits hatte er ihr dafür den mit Abstand privatesten Ort gezeigt, den er sein eigen nennen konnte. Hierher war er geflüchtet, nachdem er Zeris...

Er kniff die Augen zusammen und atmete tief ein. Er roch den blumigen Duft der Kartanerin neben ihm. Jetzt wo sie regelmäßig badete und die Reise mit Malik von ihrer Haut gewaschen war, roch er ihren natürlichen Duft. Sie roch nach Lavendel und Sonne, wie die Felder im südlichen Fenral zur Sommerblüte. Er war erst einmal dort gewesen, aber diesen Duft würde er nie vergessen. Auf einmal spürte er den Wunsch in sich, sie einmal dorthin zu bringen, um ihr die Felder zu zeigen. Bis zum Horizont blühende Felder Lavendel, die heiße Sommersonne und das Summen der Insekten bei kühlem Eistee unter einer Eiche. Der warme Sommerwind, der ihre Kleider durchlüftete. Wie der Rock ihres Kleides über die Schenkel hoch wehte...

Fenris schluckte hart und vertrieb beinahe wütend dieses Bild aus seinem Kopf. Vielleicht hätte er statt Rum doch nur ein leichtes Bier kaufen sollen. Der Alkohol trübte seine Sinne und gestattete seinen niederen Trieben an die Oberfläche zu sprudeln.

Seine Hand auf ihrem Bein wanderte nach oben, ihre Wangen waren gerötet, ihr Mund stand leicht offen. Und sie liebten sich heiß und feurig unter der Eiche bei helligtem Tage im warmen Sommerwind. Sie saß auf seinen Hüften und seine Hand liebkoste ihren vernarbten Rücken, während sein Gesicht in ihren Brüsten vergraben war, ihre Finger in seinem rabenschwarzem Haar.

Er stand ruckartig auf, um die Vorstellung zu vertreiben. Es war dunkel geworden, sein Herz hämmerte ihm gegen die Rippen und er musste an sich halten, damit seine Hose nicht zu eng wurde. Als sie ihn fragte, was los war, grunzte er nur unverständlich, dass sie zurück mussten. Er sammelte die Sachen ein und ging, ohne zu warten, ob sie ihm folgen würde, den Turm hinunter. Sie kehrten schweigend zur Burg zurück und er war froh, als er sie an ihren Gemächern absetzen konnte, um zu gehen.

»Fenris«, sagte sie in die Stille der Nacht.

Er hatte sich schon umgewandt, hielt in der Bewegung aber inne. Warum nur hämmerte sein Herz so stark? Konnte sie es hören?

»Danke.«

Er hörte, wie die Tür knarzte und dann ins Schloss fiel. Noch ein paar Minuten blieb er so stehen, lauschte, was im Inneren des Zimmers passierte. Sie zog sich um, wusch sich und ging direkt schlafen. Es dauerte nicht lang, bis er ihren gleichmäßigen Atem hörte. Er verschloss leise die Tür und stellte eine Wache ab, um die Tür zu bewachen. Nicht, weil er ihr nicht glaubte, dass sie nicht fliehen würde. Er vertraute ihr in dieser Aussage, denn ihr Hass auf Malik sorgte dafür, dass sie genau dort blieb, wo auch er war. Es war Malik, dem er nicht vertraute. Irgendwann würde er sie alleine antreffen, das hatte sein Bruder ihm praktisch geschworen.

Fenris zog sich in seine Gemächer zurück und verriegelte die Tür. Verloren tiegerte er durch sein Arbeitszimmer, betrachtete seinen Esstisch, auf dem die Bücher verstreut lagen, die sie die letzten Tage gelesen hatte. Ihre Auswahl war faszinierend. Er konnte ihren Duft an den Büchern wahrnehmen und schloss die Augen. Was hatte er sich da nur wieder eingebrockt?

 

 

Hart schlug mein noch ausgemergelter Körper auf den staubigen Sandboden auf, als Fenris mich herumwirbelte und niederschlug. Keuchend wischte ich mir die verschwitzten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ich hatte Sand im Mund und ich schmeckte Blut. Ich wischte mir über die Lippe und merkte, dass sie aufgeplatzt war. Wut stieg in mir auf, ich stemmte mich auf die Beine.

Seit einer Woche trainierte ich abwechselnd mit Prinz Fenris und der Magierin im Turm. Doch alles, was ich zustande brachte war es, auf dem Hintern zu landen und lediglich ein paar Funken in der Hand zu erzeugen. Es war frustrierend, da ich gedacht hätte, dass ich schneller Fortschritte machen würde. Als ich früher mit meinen Brüdern trainiert hatte, hatten sie immer gesagt, ich wäre eine schnelle Lernerin. Entweder hatten sie mich nicht wirklich auf den Kampf auf Leben und Tod vorbereitet oder die Kartaner sind nicht so stark, wie ich immer gedacht hatte. In Fenral ging es auf jeden Fall rauer zu, als in Kartan. Denn Fenris schonte mich kein bisschen, obwohl ich noch schwach war und heilte, zögerte er nicht, mich durch die Gegend zu schleudern wie eine Trainingspuppe. Seit unserem Ausflug zu seinem Turm war er ruhiger geworden, redete kaum mit mir und wenn wir uns sahen, dann nur zum Training. Sein Arbeitszimmer hatte ich seit jenem Tag nicht mehr gesehen.

Ich spuckte aus und rannte voller Zorn auf ihn zu, stellte mir vor, er wäre Malik. Mit voller Kraft holte ich aus, aber er fing meine geballte Faust locker mit der Handfläche ab, lenkte die Wucht meines Körpers durch einen einfachen Griff seitlich von ihm um, sodass ich vorn über flog und hinter ihm im Staub landete. Erneut.

Seit drei Stunden versuchte ich ihn nun schon zum Boden zu bringen, aber es nützte nichts. Er war größer, muskulöser und einfach stärker als ich. Und er schien nicht einmal zu schwitzen, obwohl die erbarmungslose Sommersonne auf unsere Häupter knallte und der Sand unter meinen Fingern kochte. Und das, obwohl er einen Brustharnisch, kniehohe Stiefel und eine Lederhose trug.

»War das schon alles?«, fragte er grimmig.

Ich atmete schwer, stemmte mich auf alle viere hoch und spuckte Blut auf den Sand. »Sehr witzig! Macht ihr das doch mal, wenn Euer Körper ein Wrack ist!«

Fenris gab seine Kampfhaltung auf und ließ die Schulter sinken. Er kam zu mir und wollte mir aufhelfen, aber ich schlug seine Hand wütend weg und stemmte mich selbst hoch. Meine Beine zitterten, die Muskeln waren gespannt, aber zu schwach, um noch weiter zu trainieren.

»Kommt, wir machen eine Pause.«

Ich schnaubte und ging an ihm vorbei zur Bank, die im Schatten der Kaserne stand. Ein Bursche hatte uns einen Wassereimer und Getränke hingestellt. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und trank gierig.

»Statt mit roher Gewalt anzugreifen, müsst Ihr taktischer vorgehen, Akira.«, sagte er und klang dabei wie ein Oberlehrer.

Ich ließ mich ermattet auf die Bank sinken. »Aber ist Kampf nicht rohe Gewalt?«

Fenris hob eine Augenbraue. »Hört Ihr mir eigentlich zu, wenn ich Euch etwas erkläre?«

Leise schnaubte ich.

»Ihr seid viel schwächer und kleiner als ich. Dafür aber flinker und wendiger. Das müsst Ihr nutzen! Kampf ist nämlich vor allem eines: Taktik!«

Wütend blitzte ich ihn an. »Ich gebe mir ja Mühe!«

»Aber nicht genug!«, knurrte er und seine sturmgrauen Augen bekamen einen dunkleren Ausdruck. »Wenn Ihr Malik so gegenüber tretet, dauert Euer Kampf nicht einmal fünf Minuten!«

Ich presste wütend die Lippen aufeinander und atmete schwer ein und aus. Auch, wenn mich seine arrogante Haltung nervte, hatte er Recht. So würde ich gegen Malik nicht das Geringste ausrichten können. Dieser Gedanke machte mich innerlich rasend. Ich musste besser werden, denn die alleinige Existenz dieses Mannes machte es mir unmöglich jemals wieder Frieden zu finden. Der Gedanke, dass er atmete, aß, trank und herumvögelte, machte mich wahnsinnig. Ich schmetterte den Becher auf die Bank, sprang auf und holte so schnell ich konnte aus.

Fenris war von meinem Angriff so überrascht, dass er sichtlich Mühe hatte mir auszuweichen und dabei nicht zu stolpern. Er war trotzdem schneller, aber ich hatte mir seine Worte zu Herzen genommen und attackierte seine Beine, um seinen festen Stand zu schwächen. Er musste grinsen, als wäre er auch ein bisschen stolz darauf, dass ich den Überraschungsmoment genutzt hatte. Dennoch konnte er mich abwehren, herum wirbeln und ich landete erneut im Sand.

Keuchend stemmte ich mich auf alle Viere.

»Das war sehr gut. Genug für heute?«

Ich verzog den Mund zu einem Lächeln. »Ich habe noch nicht einmal angefangen!«

 

Kapitel 12

 

 Rafael stand neben ihm und fühlte sich sichtlich unwohl. Sie hatten das Heerlager verlassen, um einen Abend in einer ländlichen Gastschenke zu verbringen. Es war Rafaels Vorschlag gewesen, denn am Liebsten hätte sich Regan in seinem Zelt verkrochen und hätte das Gesicht in seinem Kissen vergraben. Allmählich machte sich Rafael Sorgen um ihn. Es waren bereits zwei Wochen vergangen, seitdem er erfahren hatte, dass Rafael mit seiner Schwester ein Kind hatte. Seither hatte sich Regan beinahe nur noch in seinem Zelt aufgehalten. Das Essen, das ihm eine Dienerin brachte, rührte er kaum an und seit zwei Wochen kamen keine weiteren Befehle von ihm. Irgendwas stimmte nicht mit ihm. Regan schien eine dunkle Aura zu umgeben. Er lachte nicht, sprach nicht viel und war ansonsten auch sehr reserviert geworden. Zwar war Regan immer schon ein ernsthafter Mann, aber so kühl und distanziert hatte Rafael seinen Freund noch nicht erlebt.

 

 

Regan sah sich in der Schenke um. Am liebsten wäre er sofort wieder gegangen, aber er wollte Rafael nicht vor den Kopf stoßen. Dennoch hatte er beinahe ein schlechtes Gewissen, wenn er sich hier amüsierte, während seine Frau in Fenral gefangen war. Was sie ihr wohl antaten? Er konnte kaum darüber nachdenken, ohne wahnsinnig zu werden. Der Gedanke, sie würde gefoltert oder vergewaltigt, raubte ihm die Luft zum Atmen.

Rafael führte ihn zur Theke und bestellte zwei große Biere.

»Oh Mist! Ich habe meinen Geldbeutel in der Satteltasche gelassen! Warte hier, ich hole ihn!«, sagte Rafael verlegen und sprintete zwischen den anderen Gästen hindurch zur Tür.

Die Gaststätte war beinahe zum Bersten gefüllt mit Reisenden, die ein trockenes Nachtlager und etwas Verpflegung brauchten. Seit Tagen regnete es und es war noch lange kein Ende in sich. Einerseits war es das, was dieses ausgedörrte Land nach der letzten Hitzewelle brauchte, doch nun schien man beinahe zu ertrinken.

»Regan? Seid Ihr das?«, hörte er eine nur allzu bekannte Stimme. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. »Tatsächlich! Was macht Ihr hier?«

Er drehte den Kopf und erblickte Igreds Gesicht. Ihre rotgoldenen Haare leuchteten im Feuerschein, ihre Augen blitzten erfreut. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte er sie aus Woberok regelrecht fortgejagt. Nie hatte er Kira erzählt, wie nahe sie sich gestanden hatten und, dass er beinahe bis zur Hochzeit ein Verhältnis mit ihr gehabt hatte. Und obwohl ihre letzte gemeinsame Erinnerung keine erfreuliche war, spürte er eine gewisse Freude sie zu sehen.

»Igred.«, grüßte er sie. »Mein Land befindet sich im Krieg. Das Heerlager westlich von hier ist meines.«

Ihre Augen weiteten sich. »Der Krieg mit Fenral.«

Er hob fragend eine Braue.

»Die Menschen reden, mein Prinz. Viele fürchten sich vor einem Krieg mit Fenral. Habt Ihr nicht die neuesten Gerüchte gehört?«

Regan wurde starr. War etwas mit Kira?

»Es wird erzählt, dass Fenrals König, die Magie in sein Land einziehen ließ, um stärker zu werden. Viele seiner Soldaten sollen wieder zu Berserkern ausgebildet worden sein.«

Sein Herz beruhigte sich. »Ja. Das weiß ich. Das ist ja nichts Neues.«

Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Lasst mich mal zu Ende reden. Eine Magierin sollen die Fenraler auch auf ihrem Land haben.«

»Eine Magierin? Ich dachte, die wären mit der Säuberung ausgelöscht worden?«

Igred zuckte die Schultern. »Das dachte ich auch. Aber der Fenraler, der mir das erzählt hat, wirkte aufrichtig.«

Regan schnaubte. »Muss ich raten, ob er dabei noch zwischen deinen Beinen gesteckt hat?«

Sie lächelte. »Eifersüchtig?«

Seine Miene wurde finster. »Manchmal vermisse ich die unbeschwerte Zeit mit dir. Als es noch keine Frauen zu ehelichen gab und ständig einer Ansprüche an mich stellte.«

»Oh, Ehekrach? Seid Ihr deshalb auf der Flucht in den Krieg? Ist das besser als das Ehebett zuhause?«

Regan ließ sich schwer auf den Barhocker fallen. »In gewisser Weise, ja. Sie wurde von Fenral entführt. Nur deshalb sind wir mit ihnen im Krieg.«

Igred machte große Augen. »Verzeiht mir, ich wusste nicht...«

»Wie denn auch? Es ist nicht deine Schuld... nur meine...«

Sie runzelte die Stirn, schien sich unwohl zu fühlen. Sanft nahm sie seine Hand in ihre und führte ihn zwischen den Gästen hindurch zur Treppe in die zweite Etage. Sie schloss ihr Zimmer auf und brachte ihn hinein, setzte ihn auf ihr Bett und nahm seine Hand. Noch immer bedeutete er ihr viel, schließlich hatten sie zehn Jahre miteinander verbracht, ohne Ansprüche zu stellen und es waren gute zehn Jahre. Dass er so litt, tat ihr im Herzen weh. Auch, wenn sie seine Ehefrau nie leiden konnte und auch eifersüchtig auf sie war, da dieses Gör etwas hatte, was sie sich im tiefsten Innern immer gewünscht hatte, so tat ihr die Situation leid. Vor allem um Regan tat es ihr leid.

Er erzählte ihr leise und mit brüchiger Stimme was geschehen war. Sie hörte es sich mit Entsetzen an, danach nahm sie seine Hand und drückte sie. »Ihr werdet sie wiedersehen.«

»Es ist hoffnungslos... Fenral ist viel stärker und ich konnte sie noch nicht mal beschützen, als sie noch sicher im Herzen Woberoks war.«

Sanft legte sie die Hand an sein Gesicht und sah ihm fest in die Augen. »Ihr werdet sie wiedersehen.«

Ihre Augen funkelten im schwachen Licht einer Kerze, die im Fenster stand. In diesem Augenblick fühlte sich Regan unglaublich schwach und kraftlos. Die Verzweiflung nahm von ihm Besitz an und er konnte sich nicht länger gegen seine Triebe wehren. Verzweiflung und Frustration hatten sich in den letzten Wochen und Monaten angestaut, sodass er ihnen nun einfach nachgab, sich vor beugte und seinen Mund auf Igreds presste. Er hasste sich für das, was danach geschah und die Schuldgefühle wollten ihn ersticken. Aber der Wunsch, irgendetwas zu fühlen außer Schmerz ließen ihn, ihren Körper an sich pressen. Er zog sie auf seinen Schoß, ihre Hände vergruben sich in seinem Haar und sie fingen an, einander auszuziehen. Ihre warme, weiche Haut duftete nach Zitrone und Rosmarin. Ganz anders, als Kira. Er schob den Gedanken beiseite.

Er liebte Igred in dieser Nacht nicht nur einmal. Und er war auch nicht sanft dabei, aber Igred beschwerte sich nicht, genoss es vielmehr ihn noch einmal für sich zu haben. Sie wusste, dass es das letzte Mal war, dass sie ihn je sehen würde und sie wusste, dass Regan auch nicht mit ihr schlief, sondern im tiefsten Innern mit seiner Frau. Die verzweifelten Küsse und groben Berührungen ließen sie seine Verzweiflung spüren. Nachdem er zum letzten Mal in ihr gekommen war, sackte sein schweißnasser auf ihr zusammen und salzige Tränen tropften auf ihre Brust. Ineinander verschlungen schliefen sie ein.

Am frühen Morgen war er bereits angezogen und verließ Igred. Sie schlief noch in Laken gehüllt, die Sonne war noch nicht aufgegangen. Regan küsste sie auf die Stirn und dankte ihr im Stillen für diese Nacht, die ihn wachgerüttelt hatte. Er hatte Kira verraten und hintergangen. Und das bereute er zutiefst. Dennoch hatte er neue Kraft bekommen. Indem er Kira verraten hatte, hatte er neuen Antrieb gewonnen, sie zurückzubekommen.

Als er vor die Gaststätte trat, empfing ihn Rafael, der mit verschränkten Armen neben den Pferden stand. Sein finsterer Blick verriet Regan, dass er über alles Bescheid wusste. Aber Regan war nicht in Stimmung für eine Moralpredigt, er griff Kestrals Zügel und führte den Rappen den schmalen Pfad entlang Richtung Lager. Rafael dachte jedoch gar nicht daran, sich abwimmeln zu lassen. Er stellte sich Regan in den Weg.

»Ist das dein verdammter Ernst?« Rafael funkelte ihn an.

Regan blickte ungerührt zurück. »Was willst du von mir hören?«

Verächtlich schnaubte Rafael. »War es denn schön? Hat es dir Spaß gemacht, sie zu ficken?«

»Erwartest du jetzt ein Ja als Antwort?«, knurrte Regan.

»Nein, sicher nicht. Ich habe mich in dir getäuscht. Deine Frau wurde entführt und du vögelst gleich deine ehemalige Geliebte. Ganz große Klasse, Regan! Ich hatte dich für was Besseres gehalten, als das!«

So schnell, wie Rafaels Kopf herum flog und er rückwärts auf dem Hintern landete, konnte er gar nicht schauen. Er würgte und hielt sich die gebrochene Nase, aus der das Blut tropfte.

»Urteile nicht über mich. Ich bin immer noch dein Prinz und deine Moralpredigt habe ich nicht nötig. Das geht nur mich und Igred was an!«

»Und deine Frau!«, knurrte Rafael. »Schon mal an Kira gedacht? Sie ist eine Freundin, wie soll ich ihr so jemals unter die Augen treten? Du verdammter Verräter!«

Regan holte erneut aus, aber Rafael dachte nicht einmal daran, auszuweichen.

»Ja! Los, schlag mich! Wenn es dir dann besser geht! Wenn du die Wahrheit nicht verträgst, dann leck mich doch!« Rafael schnaubte, Blut spritzte auf den Boden. Er wandte sich ab und ging zu seinem Pferd. »Ich bin fertig mit dir!«

Regan wandte sich um. »Wo willst du hin?«

»Ganz egal, Hauptsache weg von dir!«

»Du willst desertieren, dann nur zu! Ich lasse dich köpfen, wenn du jetzt abhaust!«

Rafael schwang sich auf den Fuchs und riss die Zügel herum. »Na los! Worauf wartest du dann noch!«

Regan biss die Zähne zusammen, blieb jedoch wie angewurzelt stehen, als er seinen Freund davon stürmen sah. Er nahm die Straße, die vom Lager weg, Richtung Fenral führte. Als er vollständig im Sprühregen verschwunden war, senkte Regan kraftlos die Schultern. Jetzt hatte er auch noch seinen besten Freund verloren. War er eigentlich nur in der Lage, die geliebten Menschen um sich zu verjagen?

 

 

 

Schmerzerfüllt ließ ich mich in das heiße Wasser des Waschzubers sinken. Es war dunkel draußen und ich hatte einen harten Trainingstag hinter mir. Den ganzen Vormittag hatte ich Telepathieübungen gemacht und Nachmittags hatte mich Fenris für ein spontanes Ausdauertraining quer durch die halbe Stadt gejagt, gefolgt von Krafttraining und erneut sollte ich versuchen, ihn zu Boden zu ringen. Jetzt tat mir alles weh und ich seufzte erleichtert, als das heiße Wasser meine Muskeln lockerte. Ich fasste mir in das mittlerweile schulterlange braune Haar. Es fühlte sich gesund und kräftig an, genau wie mein Körper sich immer gesünder und kräftiger anfühlte. Zwar war ich noch immer nicht dort, wo ich körperlich hin wollte, aber meine Knochen standen immerhin nicht mehr hervor. Unter meiner Haut, die mittlerweile von der Sonne gebräunt war, die tagtäglich auf mich niederprallte, zeichneten sich sanfte Muskelstränge ab.

Es klopfte an der Tür.

Ich sank tiefer in die Wanne und ignorierte es, pustete kleine Blubberblasen ins Wasser.

Es klopfte erneut.

Genervt drehte ich den Kopf. »Ja?«

Die Tür öffnete sich und Fenris trat ein, blieb wie angewurzelt stehen und räusperte sich peinlich berührt. Demonstrativ starrte er auf das gegenüberliegende Fenster an mir vorbei.

Mein Herz begann nervös zu hüpfen. »Gibt es irgendwas?«

»Ich... ähm... wollte Euch nur zum Abendessen holen.«

»Ich bin gleich fertig.«, sagte ich und so schnell, wie er aus der Tür war, konnte ich gar nicht schauen.

 

 

 

 Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und verfluchte sich innerlich, dass er nicht einfach gewartet hatte, dass sie ihn herein bat. Er beruhigte seinen schneller gewordenen Herzschlag, lauschte, wie sie sich im Innern umzog. Dann öffnete sie die Tür. Die Lederhose, die sie trug, umspielte ihre sanften Kurven viel zu gut. Das Leinenhemd spannte seit ein paar Tagen mehr über ihrer Brust, die wieder weiblicher wurde.

Ihre Selbstheilungskräfte waren enorm. Kurzzeitig hatte er sich mit Euros darüber unterhalten, da nicht nur ihm die körperliche Veränderung aufgefallen war, sondern auch ihr. Er hatte kurzzeitig geglaubt, dass er sich dies nur eingebildet hatte, weil er in letzter Zeit viel zu gerne ihren Körper betrachtete. Wenn es jedoch auch Euros auffiel, konnte es nicht nur an seinen niederen Trieben liegen. Die Narben auf ihrem Rücken sollten laut seiner Schwester und der Kräuterhexe zwar noch sehr sichtbar, aber weitaus besser abgeheilt sein, als sie für möglich gehalten hatten. Dass sie in den wenigen Wochen seit Trainingsbeginn auch wieder beinahe eine normale weibliche Figur hatte, war erstaunlich.

Fenris ging voraus in den Speisesaal, blieb jedoch wie angewurzelt im Türrahmen stehen. Malik saß neben Nero an der Tafel, von seinem Vater und Euros war nichts zu sehen. Er hatte geglaubt, dass sie vor Malik noch eine Weile Ruhe hatten, aber seine Anwesenheit in der Burg, die er vor drei Wochen für eine Mission im Süden verlassen hatte, sagten Fenris, dass er seine Figuren auf dem Schachbrett zum Angriff formierte.

Kira stockte, als sie Malik erblickte und Fenris konnte ihre Angst wittern. Der Geruch verflog jedoch schnell und wich dem des blanken Zorns.

»Hallöchen, Prinzessin! Wie geht es Euch denn? Ihr seht ja sehr gut aus an diesem Abend.«

Fenris spürte, wie angespannt Kira neben ihm war, sie gab sich jedoch die größte Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen. »Ich fühl mich herrlich.«, sagte sie gepresst und finster.

»Na das ist doch sehr schön«, zwitscherte Malik und strubbelte Nero über den Kopf. »Nicht wahr, kleiner Bruder?«

Nero nickte nur lächelnd und Fenris kam beinahe die Galle hoch, als er die Verehrung in Neros Augen aufleuchten sah. Er merkte, dass er seinen jüngsten Bruder viel zu lange Maliks Fängen ausgesetzt hatte. Es würde schwer werden, ihn von Malik abzubringen. Er musste unbedingt mit Euros darüber reden.

In diesem Moment betrat König Eris den Saal, blinzelte einmal überrascht, ehe er sich wortlos setzte.

Fenris und Kira grüßten den König respektvoll, ehe sie zur Tafel gingen. Malik setzte sich Kira provozierend gegenüber und lächelte sie breit an. Eine Reihe blanker weißer Zähne schimmerte ihr im Fackelschein wie ein Haigebiss entgegen. Fenris spürrte die Spannung im Raum und sie war nicht auszuhalten. Dieses Abendessen würde garantiert nicht so entspannt wie die letzten werden, bei denen sogar der König ihren Gast wie eine Tochter Fenrals behandelt und sogar gelacht hatte. Dieses Essen würde düster sein. Die elektrische Spannung konnte man in der Luft fühlen.

Er griff nach Kiras Hand, die auf dem Tisch zur Faust geballt war. Augenblicklich entspannte sich der nervöse Muskel in ihrem Nacken, dennoch presste sie die Kiefer zusammen und ihr Blick war starr auf den Feind gerichtet.

»Ach nee, ist das süß! Habe ich etwas verpasst, oder warum haltet ihr Händchen?«

Fenris fuhr zusammen, wagte kaum zu atmen und ließ Kiras Hand ruckartig los.

Kira verspannte sich sofort wieder, ehe sie mit fester Stimme sagte: »Ich bin verheiratet, Malik. Scheinbar hat Euch nie jemand die Hand gehalten, wenn Ihr angespannt wart. Das würde zumindest einiges erklären.«

Die grünen Schlangenaugen wurden schmal wie Schlitze, das Lächeln fror ein und Fenris hätte schwören können, es gäbe einen Temperaturabsturz. Bevor die Situation eskalieren konnte, brachte die Dienerschaft das Mahl.

 

Euros tauchte beim gesamten Abendessen nicht auf, was Fenris bedauerte, da er gerne mit ihr über Nero gesprochen hätte.

Als das Abendessen vorrüber war, brachten Zofen den kleinen Prinzen auf seine Gemächer und der König gratulierte Kira zu ihren Trainingsfortschritten, bevor auch er sich zurückzog. Kira unterhielt sich einen Moment lang mit einer Dienerin, sodass Malik die Situation sofort ausnutzte und sich zu seinem älteren Bruder gesellte. Sein süffisanter Gesichtsausdruck verriet nichts Gutes.

»Was willst du?«, fragte Fenris genervt.

»Ich kann es dir nicht verübeln, Bruderherz«, säuselte Malik und betrachtete Kira ungeniert, die ihnen den Rücken gekehrt hatte.

»Was verübeln?«

»Dass du sie willst, was denn sonst? Komm schon, Bruder, sieh mich nicht so an. Ich kann es an dir riechen, das Verlangen. Ich bin nicht sauer, ich spüre es ja auch. Manchmal frage ich mich, was in mich gefahren ist, dass ich sie nicht gleich, nachdem ich sie hatte, genommen habe.«

Fenris starrte seinen Bruder wütend an. »Ich will sie nicht.«, presste er hervor.

»Leugne es nicht. Ihr seid den ganzen Tag zusammen, verschwitzt auf dem Trainingsfeld. Hast du nie daran gedacht? Oder hast du sie etwa schon...?«

Ihm brannte beinahe eine Sicherung durch. Er hatte sich solche Mühe gegeben, die Gefühle zu unterdrücken, die er seit geraumer Zeit für sie in sich spürte. Genau aus diesem Grund! Er hatte seinem Bruder damit die perfekte Angriffsfläche geboten. Denn warum sollte sich Malik auch damit zufrieden geben, nur Kira zu foltern, wenn er jetzt auch noch gegen Fenris einen Trumpf im Ärmel hatte. Denn Malik wusste, dass es nicht nur Verlangen war, das Fenris für sie empfand. Er wusste, dass es mehr war.

»Wenn du sie auch nur anrührst...«, zischte Fenris leise.

Malik begann zu lächeln und Fenris wusste, dass dieser Satz ein gewaltiger Fehler war, noch bevor er ihn zu Ende gesprochen hatte.

»Oh glaub mir, Bruderherz, ich werde es genießen, wenn ich sie vor deinen Augen vögle und ihr danach die Kehle durchschneide, bevor du dran bist.«

Fenris war kurz davor, alle Vorsicht, alle Planung über Bord zu werfen, sich in den Finger zu beißen und seinem Monster die Arbeit zu überlassen. Das Einzige, was ihn davon abhielt war Kiras Anwesenheit und die Gefahr, sie ebenfalls zu verletzen.

Als sie auf die beiden zukam, zwang er sich zur Ruhe.

Malik lächelte Kira herzlich an und streckte die Hand aus. Sofort begann sie sich zu versteifen, jedoch zwang sie sich mit unglaublicher innerer Stärke dazu, die Etikette zu wahren, schob ihre Hand in seine. Er griff fest zu, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten, jedoch wich sie nicht aus, sie hielt seinem Schlangenblick stand. In diesem Moment geschah etwas, so wusste Fenris, wovon er kein Teil war. Eine stille Übereinkunft, ein lautloses Rüsten für die Schlacht. Malik lächelte noch immer, es wirkte steif wie bei einer Puppe, ehe er Kiras Hand zu den Lippen hob und ihre weißen Knöchel küsste.

»Meine Prinzessin. Ich warte auf Euren Zug.«

Kira nickte nur und endlich zog sich Malik zurück. Er verschwand in einem dunklen Seitengang wie eine Natter in ihrer Höhle. Fenris sah ihm finster nach. Die Drohung, die Malik ausgesprochen hatte, war nicht einmal ansatzweise falsch zu verstehen. Er hatte seine Karten offen auf den Tisch gelegt, die Absichten, die er mit allem verfolgte und jetzt hatte er einen gewaltigen Trumpf gegen Fenris in der Hand. Wenn er Kira wehtat, konnte er seinem Bruder wehtun.

 

 

Finster blickte ich ihm hinterher, wie er in dem dunklen Gang verschwand. Es dauerte lange bis ich mich entspannen konnte. Fenris deutete mir an, ihm zu folgen und ich tat es. Wir vertraten uns nach diesem schweren Mahl die Beine und liefen im Burghof ein paar Runden, ehe er mich durch das Burgtor führte und wir in Richtung Kaserne durch die Gassen stiefelten.

»Wie geht es Euch?«

Ich atmete tief durch und zuckte die Schultern. »Ich würde lügen, wenn ich gut sagen würde.«

Er grunzte hart auf. »Da sind wir ja schon zwei.«

Ich sog die kühle Nachtluft tief in meine Lungen, dann blickte ich ihn von der Seite an. »Ihr habt lang nichts mit mir außerhalb des Trainings gemacht.«

Fenris blieb unvermittelt stehen, dann seufzte er, als wäre er erschöpft.

»Was ist los?«, fragte ich ihn.

Seine sturmgrauen Augen waren dunkel in dem schwachen Schein der Straßenlaternen. »Akira... ich beschränke unseren Kontakt auf das Training, weil es besser so ist. Für jeden von uns. Es ist einfach besser, wenn es nicht zu persönlich wird.«

Ich starrte ihn für ein paar Sekunden verwirrt an. Er war einer der wenigen Menschen, denen ich im Moment in gewissem Maße trauen konnte. Er half mir, mich auf den kommenden Kampf mit Malik vorzubereiten und meine Kräfte unter Kontrolle zu bringen. Er war nett zu mir und ich hatte das Gefühl gehabt, dass wir uns einander annähern. Ich hatte das Gefühl gehabt, endlich so etwas wie einen Freund zu haben in dieser Burg voller Feinde.

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass ich Euer Lehrer bin und Ihr eine Schülerin und mehr nicht.«

»Und mehr nicht?«, fragte ich, denn ich spürte, dass er log. Ich konnte es ihm ansehen, alles an ihm schrie das Gegenteil. Seine verspannten Muskeln, seine dunklen Augen in der Nacht. All die Tage und Wochen, die wir nun ständig miteinander verbracht hatten, trainiert hatten, gelacht und geredet hatten. Und jetzt sollte ich nicht mehr als eine Aufgabe für ihn sein? Das glaubte ich ihm nicht, ich hatte gespürt, dass mehr zwischen uns war. »Ich dachte, wir wären-«

»Freunde?«, sagte er hart, aber ich konnte spüren, dass ihm diese Kühle zwischen uns Kraft kostete. »Ich wünschte, wir wären nur das.«

Ich erstarrte und mein Atem stockte. Nur das? Plötzlich spürte ich eine Anziehung zwischen uns, sodass die Luft beinahe elektrisch knisterte. Seine Augen waren dunkel, beinahe schwarz im schwachen Licht des Burghofes und er schien mir direkt in die Seele blicken zu können. Ich fühlte mich plötzlich nackt und verwundbar, meine Hände zitterten und mein Kopf war wie leergefegt. Mein Herz pochte mir gegen die Rippen und ich fühlte ein aufgeregtes Zittern in der Brust.

Fenris' öffnete leicht den Mund und beugte sich zu mir herunter.

Ich wusste, es war falsch. Irgendwo in meinem vernebelten Verstand sagte mir etwas, dass ich verheiratet war und mein Herz einem anderen gehörte. Aber ich wollte mich einfach nicht mehr schlecht fühlen. Ich wollte etwas Gutes fühlen.

Bevor sich unsere Münder berühren konnten, lehnte Fenris die Stirn an meine. Ich spürte seinen warmen Atem im Gesicht, seinen starken Körper vor mir, seine Hände hielten zart mein Gesicht. Aber er küsste mich nicht. Er blieb einfach so stehen.

»Oh Kira«, flüsterte er. »Ich wünschte, du würdest mir gehören.«

Ich wagte nicht, ihm zu antworten.

Im nächsten Moment ließ er mich schon los und ich erhaschte nur noch einen kurzen Blick in seine Augen. Sie wirkten leer und schmerzerfüllt. Er wandte sich von mir ab und ging zurück zum Burgeingang. Dort blieb er stehen, ohne mich anzusehen. Wie ein stiller Wächter, eine Statue wartete er darauf, mich zu meinem Zimmer zurückzubegleiten.

Ich wusste nicht wie lange ich dort stand, bis sich meine Füße wie von selbst in Bewegung setzten. Schweigend gingen wir zu meinem Zimmer, ich trat ein, ohne mich umzudrehen, da schloss sich die Tür und der Riegel wurde vorgeschoben. Ich wusste, dass er gegangen war und da erst wagte ich, wieder zu atmen. Meiner Kehle entsprang ein seltsamer Laut zwischen Schnappatmung und Schluchzen. Heiße Tränen rannen mir über die Wangen und ich sackte in die Knie. Götter, was hatte ich getan?

 

 

Seine grünen Schlangenaugen blinzelten in die Finsternis seines Schlafgemachs. Es war Neumond und außer der Fackeln konnte er nichts im Burghof erkennen, doch seine Mundwinkel verzogen sich nach oben, als er seinen Bruder und die Prinzessin von Woberok im Fackelschein erkannte. Interessiert beugte er sich nach vorn und bekam bestätigt, was er zuvor beim Abendessen schon flüchtig an Fenris gerochen hatte. Jetzt hatte er die absolute Bestätigung. Als er sah, wie Fenris sich zu ihr herunterbeugte, wollte ihm schon fast die Hose aufplatzen. Doch Fenris nutzte die Chance nicht, sondern wandte sich von ihr ab. Beide verschwanden wieder in der Burg.

Keuchend stützte sich Malik gegen die steinernde Wand und bearbeitete seinen Schritt mit der Hand. Dabei stellte er sich vor, wie er sie in feuchtes Gras unter sich presste, sein Gesicht drückte sich in das vernarbte Gewebe ihres Rückens. Er spürte unter seinen Lippen, wo er sie fürs Leben gezeichnet und an sich gebunden hatte. Ihre Geräusche waren eine Mischung aus Schmerz und Lust, während er sie immer heftiger stieß, er spürte, wie er ihr Haare ausriss, als er sie in eine kniende Position zerrte. Als er sich vorstellte, wie er ihr die Kehle mit dem goldenen Dolch seines Vaters aufschlitzte, konnte er nicht mehr an sich halten und kam lauthals in seiner eigenen Hand.

Lachend und weinend gleichzeitig stützte er sich gegen den Fensterrahmen aus Stein und sackte in die Knie. Die Vorstellungen wollten nicht abreißen, er biss die Zähne aufeinander und verfluchte seinen Bruder im Stillen. Er hatte einfach alles. Er hatte sie. Malik hatte gesehen, dass sie ihn wollte, obwohl sie vorhin beim Abendessen so tugendhaft behauptet hatte, sie wäre verheiratet. Aber er hatte auf so große Entfernung gesehen, dass sie sich nicht gegen einen Kuss gewehrt hätte.

»Töte ihn«, säuselte es ihm ins Ohr. »Er ist das Einzige, was zwischen deinem Traum und dir steht.«

»Töte sie beide!«, zischte es von der anderen Seite. »Fick sie beide und schlitz ihnen die Kehlen auf!«

Seine Bestie brüllte auf, sie rüstete sich für den Kampf. Doch er würde Verbündete brauchen, denn noch war er nicht stark genug, um gegen die Bestie seines Bruders zu bestehen, auch, wenn er diese, im Gegensatz zu Malik, nicht kontrollieren konnte.

Keuchend stemmte er sich auf die Beine, wusch sich und zog sich einen schwarzen Umhang über und die Kapuze tief ins Gesicht. Die Unterwelt von Fenral verdiente einen Besuch von ihrem Prinzen.

Kapitel 13

 Die Stadt war wie ausgestorben an diesem Abend. Als würden die Bürger die tödliche Wut spüren, die von Malik in diesem Moment ausging. Wäre ihm auch nur ein Mensch auf der Straße begegnet, hätte ihn Malik vermutlich in Stücke gerissen.

Er schlich wie ein Schatten durch die schmalen Gassen der Unterstadt, über rattenverseuchte Wege, die nur spärlich von Laternen erleuchtet wurden. Der Eingang zur Unterwelt von Fenral war ein unscheinbares Gitter in einer Häuserwand. Malik stieg die feuchten, nach Pisse und Scheiße stinkenden Stufen hinunter. Er brauchte nichts zu sehen, denn er wusste genau, wo er war. So oft war er hier schon hinab gestiegen, seit er ein Kind war hatte er sich hier herum getrieben. Damals duldete ihn der König, dessen Bastard er war, noch nicht in der Burg. Erst als die Königin starb, wurde er eingeladen in der Burg zu leben. Vorher hatte er bei seiner Mutter in der Küche der Burg und hier auf den Straßen gelebt. Als kleiner Wicht hatte er schnell gelernt, sich die Unterwelt zum Freund zu machen. Vielleicht hatte er schon damals gespürt, dass sie ihm unwahrscheinlich nützlich werden würde.

Die dunklen Gänge wurden durch spärliche Fackeln beleuchtet. Ein paar Fässer wurden hier gelagert, ansonsten erblickte er bloß Knochen und Dreck. Die Ratten flitzten an ihm vorbei.

Tief sog er die Luft ein, seine Nase brannte davon. Er lief schneller und die Haare sträubten sich in seinem Nacken.

 »Stop!«, rief eine tiefe grimmige Stimme.

Malik blieb stehen, seine Mundwinkel verzogen sich nach oben.

Ein großer Glatzkopf mit Tätowierungen und einer stachelbesetzten Keule löste sich aus dem Schatten, hinter Malik tauchte eine Frau mit schmaler Brust und langen Zottelhaaren auf und ein dürres Kerlchen und diversen Zahnlücken kam von Links.

»Haben wir uns etwa verlaufen?«, fragte die Frau grinsend, sie zog einen stumpfen Dolch hervor. Die Klinge blitzte im Fackelschein.

Malik richtete sich auf und atmete tief durch. »Ich bin genau da, wo ich hinwollte.«, lachte er und zog sich die Kapuze vom Kopf.

»Der Prinz!«, rief der Dürre und warf sich vor Malik auf die Knie.

Der Glatzkopf und die Frau neigten respektvoll die Köpfe.

»Was führt Euch her, Euer Gnaden?«, fragte der Glatzkopf.

Malik strich sich genüsslich das Haar aus der Stirn. »Uns bietet sich allmählich die Gelegenheit...«

Die Frau blickte freudig zu dem Glatzkopf hinauf. »Kommt mit zu den anderen, sie werden sich freuen, von Euch zu hören.«

Malik nickte und folgte den Dreien ins Herz der Unterwelt. Die vielen Tunnel verliefen unter der ganzen Stadt, es gab hunderte Zugänge von denen sicher nicht einmal der König wusste. Das war auch besser so, denn diese Tatsache war für Maliks Plan entscheidend. Sie trafen noch mehr Wachposten auf ihrem Weg ins Herz und Malik spürte ein Gefühl von alles umfassender Überlegenheit. Die in der Burg hatten nicht die geringste Ahnung, was ihnen bevorstand.

Im Herzen angekommen, bot sich ihm ein Bild der Verwahrlosung. Es stank bis zum Himmel und er erblickte all die Seelen, die von den Menschen dort oben in der Burg, einfach verstoßen und vergessen wurden. Er hatte einst zu ihnen gehört und geschworen, dass es eines Tages anders werden würde. Dieser Tag war gekommen.

»Meine Freunde!«, rief Malik den Menschen zu, die sich interessiert zu ihm drängten. »Unsere Zeit ist gekommen! Uns bietet sich die Gelegenheit, endlich Herren über diese Stadt zu werden! Endlich aufzusteigen in ein Leben ohne Sorgen. Ich habe euch versprochen, euch zu befreien! Und jetzt habe ich die perfekte Waffe, um zurückzuschlagen.«

»Was ist das für eine Waffe?«, rief jemand.

Malik machte eine dramatische Geste. »Ein Mädchen, das in der Burg lebt.«

Die Menschen sahen einander verständnislos an. »Ein Mädchen?«

»Sie ist das Kind der Prophezeiung!«, verkündete Malik. »Das die Welt zum Frieden führen oder ins Chaos stürzen wird! Die Frau, für die sich Armeen bekriegen und Könige gegeneinander in den Krieg ziehen werden. Sie ist dort oben in der Burg und sitzt bei meinen Geschwistern am Essenstisch. Bei diesen Verrätern! Sie haben geschworen, ihr Volk zu beschützen, aber gehört ihr nicht auch zu ihrem Volk! Sie haben euch verraten, haben diese Stadt verraten! Mit diesem Mädchen kann ich euch befreien. Wenn ich sie aus den Fängen meiner ach so geliebten Familie befreie!«

Zustimmendes Jubeln war zu hören und Malik spürte, dass dies der Beginn seiner Herrschaft war.

Der Glatzkopf meldete sich zu Wort. »Aber wie machen wir das?«

Finster lächelnd blickte Malik sich um. »Wir töten den König.«

 

 

Fenris starrte aus dem Fenster seiner Gemächer hinunter auf die Stadt. Es war dunkel und nur vereinzelt leuchteten Fackeln. Seine Gedanken kreisten und waren unruhig. Seit zwei Tagen hatte er Kira nun nicht aufgesucht und hatte das Körpertraining auf Euros abgewälzt. Er hatte es nicht gewagt, ihr unter die Augen zu treten, nachdem was im Burghof beinahe geschehen wäre. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Sie war so nahe gewesen, ihre weiche Haut unter seinen Fingerspitzen war so wohltuend. Lange hatte er nicht mehr so eine Nähe zu einem Menschen empfunden. Zum Glück hatte er sich noch rechtzeitig unter Kontrolle gehabt. Nur die Götter wussten, was sonst zwischen ihnen geschehen wäre. 

Er schob die Gedanken an Kira beiseite und beobachtete die Stadt. Seit dieser Sache hatte er das Gefühl, als läge irgendwas in der Luft. Malik hatte ihn vollkommen in Ruhe gelassen, war nicht mal mehr zum Abendessen aufgetaucht und er hatte ihn auch sonst nirgends gesehen. Irgendwas war im Anmarsch und Fenris war sich sicher, dass dies nichts Gutes zu bedeuten hatte. Die Luft fühlte sich elektrisiert an. Wie die Ruhe vor dem Sturm. Es machte ihn wahnsinnig, nicht zu wissen, was vor sich ging.

Leise schnaubte er und machte sich auf den Weg zur Kaserne. Er musste überschüssige Energie loswerden und sein Schwert auf irgendwas einprügeln lassen.

 

 

Keuchend starrte ich Euros an, die mir auf dem Sandplatz gegenüber stand. Sie sah aus, als wäre sie gerade frisch aus dem Badezuber entstiegen und nicht, als würden wir bereits anderthalb Stunden trainieren. Mir hingen meine braunen Haarsträhnen zerzaust ins Gesicht, klebten mir an den schweißnassen Wangen. Die Sonne brannte mir auf den Nacken und überall war Sand. Immer wieder griff ich Euros an, doch sie drehte sich elegant und wich mir aus, sodass ich im Staub landete.

Sie gab ihre Verteidigungshaltung auf und lächelte leicht. »Wollen wir eine kurze Pause machen?«

Dankbar nickte ich und schleppte mich zu ihr an den Rand des Trainingsplatzes. Wir schöpften mit einer Kelle Wasser aus einem Holzeimer und tranken gierig. Dann ließen wir uns auf eine Bank sinken und beobachteten einige Soldaten, die auf einem anderen Platz trainierten.

»Kann ich Euch etwas fragen, Euros?«

Die Prinzessin drehte sich zu mir. »Sicher.«

»Euer Bruder...«

»Ich habe kein besonders gutes Verhältnis zu Malik, wie Ihr Euch vorstellen könnt, Prinzessin. Ich will nur dafür sorgen, dass Ihr Euch wehren könnt, wenn er...« Sie schwieg kurz. »Ihr seid nicht die erste Frau, von der er besessen zu sein scheint. Es gab schon einige Mägde, die das Pech seiner Aufmerksamkeit gepachtet hatten.«

Ich holte kurz Luft. »Was wurde aus ihnen?«

Sie senkte den Blick. »Sagen wir es so, Ihr seid die einzige, die so lange überlebte.«

Wut kam in mir hoch, doch ich schluckte sie hinunter. »Danke, dass Ihr so ehrlich seid. Aber ich wollte eigentlich nicht über Malik sprechen.«

»Fenris?« Sie hob die Augenbrauen.

»Ja. Ich habe ihn jetzt schon eine Weile nicht gesehen und Ihr habt mein Training übernommen.«

Euros atmete tief durch. »Akira, ich kann euch vermutlich genauso wenig von Fenris erzählen, wie von Malik. Meine Brüder hatten beide viel zu kämpfen in der Vergangenheit, jeder auf seine Weise, während ich nun immer im Genuss des Wohlwollens unseres Vaters stand. Meine beiden Brüder sind mit den Schmähungen ihrer Kindheit anders umgegangen. Ich weiß, ich sollte Euch nicht so viel davon erzählen, aber ich finde, Ihr habt ein Recht darauf, jetzt, wo Ihr zum Königshof gehört.«

Ich sah sie aufmerksam an, wagte nicht, sie zu unterbrechen, denn endlich erklärte mir jemand mal ein paar Dinge.

Sie seufzte leise. »Akira... Meine Mutter starb, da war ich gerade vier Jahre alt, Nero war ein Jahr und Fenris war sieben. Nach dem Tod meiner Mutter machte mein Vater ihm das Leben zur Hölle, während er Nero und mich größtenteils ignorierte. Er machte Fenris für ihren Tod verantwortlich. Und ein, wenn ein Kind, das auch nur Liebe und Trost gebraucht hat, sich für den Tod der eigenen Mutter verantwortlich fühlt... nun ja, er hat eine ziemlich starke Mauer um sich herum aufgebaut, die niemand einzureißen vermag. Auch ich kann nur manchmal an der Oberfläche kratzen, bevor er eine neue Schicht nachzieht.«

Mein Herz klopfte hart gegen meine Brust.

»Nun ja und Malik ist ein Bastard, den mein Vater mit einer Küchenmagd gezeugt hat, kurz nachdem meine Mutter mit Fenris schwanger wurde. Beide sollten sich eigentlich ähnlich sein, aber Malik wurde, wie es nun mal üblich ist, nicht in der Burg geduldet. Er lebte die ersten sechs Jahre seines Lebens auf den Straßen oder in der Küche der Burg bei seiner Mutter. Die starb auch früh und er musste sich alleine durchschlagen. Nachdem meine Mutter gestorben ist, wurde er als Bastardprinz akzeptiert.«

Ich runzelte die Stirn, verdrängte jedoch die Dinge, die ich eben über Malik gehört hatte.

»Wie starb Eure Mutter?«, wollte ich wissen.

Euros öffnete den Mund, doch eine schneidend strenge Stimme schnitt ihr noch im selben Augenblick das Wort ab.

»Euros! Ich dachte, ihr trainiert hier und haltet kein Teekränzchen ab!«

Ich fuhr zusammen und drehte mich zu Fenris um, welcher uns mit seinen sturmgrauen Augen wütend ansah. Noch nie hatte ich ihn so zornig gesehen. Er gebot mir aufzustehen und ich wagte in dem Moment nicht, ihm zu widersprechen. Er schickte Euros weg, die den Kopf senkte und sich davon machte. Sie wusste, dass sie Mist gebaut hatte, indem sie mir so viel erzählt hatte.

Mit ruckartigen Bewegungen zog sich Fenris die Lederjacke aus und das Leinenhemd über den Kopf. Seine nackte Haut spannte sich über harte Muskeln. Ich hatte seinen nackten Oberkörper noch nie gesehen. Eine Narbe zeichnete sich quer über seine Bauchmuskeln und teilte seinen Bauchnabel.

»Los! Zeigt, was Ihr gelernt habt!«

Ich starrte ihn kurz an, doch da sprang er schon auf mich zu und packte meinen Arm. Entsetzt schnappte ich nach Luft, als er ihn mir schmerzhaft auf den Rücken drehte. Ich wand mich in seinem Griff wie ein Aal im Netz, aber er hielt mich fest. Mit dem Ellenbogen versuchte ich ihm in den Magen zu schlagen, aber er hielt meinem Angriff stand, dann begannen unsere Beine gegeneinander zu kämpfen. Jeder versuchte dem anderen, die Beine wegzuziehen und ihn zum Umfallen zu bringen. Ich schaffte es natürlich nicht und sein Knie drückte sich zwischen meine Schulterblätter. Ich schrie wütend auf.

»Das ist alles? So wollt Ihr Malik entgegentreten?! Er wird Euch in der Luft zerfetzen, Ihr habt nicht den Hauch einer Chance! Er wird Euch nicht nur töten, Akira! Er wird Euch nehmen, wie ein Rüde seine Hündin im Dreck und er wird lachen dabei!«

»Nein!«, rief ich und wand mich unter ihm.

»Doch! Ihr wisst es genauso wie ich! Er wird Euch ficken und er wird Euren Schmerz genießen, Eure Scham, so wie er sie beim ersten Mal auf dem Weg hierher genoss!«, knurrte Fenris, in seiner Stimme schwang Wut und noch etwas anderes mit. Ich hätte es für Schmerz gehalten, hätte ich es nicht besser gewusst.

Heiße Tränen schossen mir über die Wangen bei diesem Gedanken. Ich hatte nicht den Hauch einer Chance gegen Malik. Ich wusste es. Ich konnte mich ja nicht einmal aus so einem lächerlichen Griff Fenris' befreien, der mir nicht mal ernsthaft schaden wollte. Wie sollte ich dann Malik, der mir sonst was antun wollte, besiegen? Ich war klein, schwach und konnte nichts ausrichten. Ich zappelte unter Fenris, doch er hielt mich fest. Mein Arm war schmerzhaft verdreht und sein Knie bohrte sich tiefer in meinen Rücken. So hockte er über mir und ich war ihm und seiner Wut völlig ausgeliefert.

»Malik wird nicht die geringste Mühe mit Euch haben und so einfach überlasst Ihr ihm das Feld?! Ihr seid erbärmlich, sitzt hier mit meiner Schwester und tratscht über mich und Malik, während Ihr eigentlich für einen Kampf vorbereitet sein solltet! Ich habe gedacht, Ihr wollt es Malik heimzahlen! Aber vielleicht wollt Ihr ja von ihm-«

 

 

Sie schrie, über ihre Wangen liefen Tränen und plötzlich tat ihm sein Ausbruch leid. Doch auf einmal wurde er durch eine gewaltige Druckwelle ans andere Ende des Platzes geschleudert. Hart kam er auf dem Rücken auf und sämtliche Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst. Wind peitschte und sein Haar flatterte aufgeregt im Wind, unter ihm bebte die Erde. Sand wirbelte um ihn herum und formte sich wie ein Wirbelsturm um die junge Frau, die er eben noch zu Boden gedrückt hatte.

»Fenris!« Euros kam auf ihn zugerannt und hockte sich neben ihn, um ihm aufzuhelfen, doch das Beben der Erde raubte auch ihr das Gleichgewicht. »Was hast du getan?«

»Ich-« Er konnte nicht weitersprechen, sah, wie eine Horde der Stadtwache auf Akira zurannte, die Schwerter gezückt. »Nein! Tut ihr nichts!«

Durch den Lärm schienen sie ihn nicht zu hören.

Plötzlich stand Akira mitten auf dem Platz, die Männer rannten auf sie zu. Sie schien sich gar nicht wehren zu wollen, ihre Augen glühten wie blaues Feuer, ihr Gesicht war wütend verzerrt. Sie sah plötzlich gar nicht mehr aus, wie die junge Frau von Einst. Sie hob nur eine Hand und die Männer flogen gegen die Mauer, die die Kaserne umschloss. Mehr Männer betraten den Innenhof. Akira wischte sie mit einer Handbewegung aus dem Weg.

»Bei den Göttern«, hauchte Euros neben ihm, denn auch sie konnte nicht glauben, was sie da beobachtete.

Der Boden bebte heftiger, Risse zogen sich über den Boden bis in das Gemäuer der Kaserne. Steine bröckelten herunter. Der Torbogen zur Kaserne zerbarst und versperrte den Weg hinaus.

Dann plötzlich wurde der Wind weniger, der Boden bebte nicht mehr und Fenris sah, wie Akira zusammenbrach. Er rappelte sich auf und rannte zu ihr. Sie atmete noch, war jedoch bewusstlos. Sanft strich er ihr die zerzausten Haare aus dem Gesicht, schob seinen Arm unter ihren Körper, den anderen unter die Knie und hob sie auf. Euros stützte ihren Kopf, als sie über die Trümmer hinweg zurück zur Burg eilten.

»Holt die Heilerin!«, rief Euros.

 

Er stand da wie angewurzelt, während die Heilerin und Dienstmägde um ihn herum huschten.

»Es war nicht deine Schuld«, flüsterte Euros ihm zu.

Doch. Es war seine Schuld, dass Kiras Fähigkeiten unkontrolliert hervorgebrochen waren. Er hatte dafür gesorgt, indem er sie zwang, in Gedanken das, für sie schlimmste, Szenario durchzumachen, das es gab. Sie, Malik vollkommen unterworfen und ausgeliefert, besiegt. Er hatte sie zu sehr unter Druck gesetzt. Nur, weil er so wütend gewesen war und selbst nicht mit dem Gedanken leben konnte, dass sie ihn für ein Monster hielt, das seine eigene Mutter getötet hatte. Dafür hatte er ihr lieber wehgetan.

Er drehte sich von Euros weg.

»Du liebst sie.«

Er starrte sie an, dann packte er sie am Arm und zog sie vor die Tür.

»Wem hast du das erzählt?«

Jetzt starrte sie ihn an. »Du leugnest es nicht.«

Fenris schüttelte den Kopf. »Das ist falsch. Einfach nur falsch.«

»Warum ist das falsch?«, fragte Euros. »Sie ist die erste Frau, die du jemals ernsthaft angesehen hast.«

»Ich könnte sie verletzen... noch mehr, als ich es heute getan habe.«

Euros lächelte. »Meinst du nicht, sie kann sich verteidigen?«

Er schüttelte aufgebracht den Kopf und tigerte auf und ab. »Sie ist verheiratet. Es wäre nicht möglich. Außerdem empfindet sie nicht dasselbe.«

»Achso? Hast du sie gefragt?«

»Wie gefragt? Nein.«

Sie lächelte wieder. »Vielleicht empfindet sie dasselbe.«

Fenris schloss die Augen und rieb sich darüber. Er musste an den Abend im Burghof denken, als sich ihre Münder so nahe waren. Er hätte sie küssen können. Und sie hätte sich nicht gewehrt, das wusste er. Sie hätte seine Lippen begrüßt. Sie hätten zusammen sein können und es wäre in Ordnung gewesen. Auch, wenn sie eigentlich zu jemand anderem gehörte. Er wäre immer da. Regan. Der Kronprinz von Woberok, ihr rechtmäßiger Ehemann. Das konnte er nicht tun, es wäre Verrat.

»Sie würde ihren Ehemann hintergehen, Euros. Diese Bürde kann ich ihr nicht aufhalsen. So sehr ich es mir wünschen würde.« Den letzten Satz flüsterte er nur, er atmete tief durch. »Ich bin dazu da, sie auszubilden. Mehr wird zwischen uns nie sein.«

Euros schaute ihn traurig an, verstand jedoch seine Beweggründe. Zusammen traten sie wieder ins Zimmer. Akira war gewaschen worden und mit Salben behandelt und ein feuchter Lappen lag auf ihrer Stirn. Sie schlief tief und fest und schien auch erst einmal nicht aufzuwachen. Die Heilerin trat zu ihnen, nachdem die Mägde den Raum verlassen hatten.

»Sie ist sehr schwach«, sagte die Heilerin.

»Wie kann das sein? Sie hat die Erde zum Beben gebracht.«, sagte Euros, ihre Stimme klang besorgt.

»Ich nehme an, dass die Magie sie viel Kraft gekostet hat, mehr noch... Magie, meines Wissens, bezieht eine andere Art der Energiequelle, als körperliche Anstrengung. Sie zieht von der Seele. Ist die magische Kraft nicht stark genug, kann das auf die Gesundheit des Anwenders Einfluss nehmen. Ihr sagtet, sie hat die Soldaten mit einem Handwischen weggestoßen?«

Euros und Fenris nickten.

»Ich glaube, in ihr wohnt große Kraft. Das war das erste Mal, dass sie Magie so angewendet hat?«

»Sie trainiert mit der Magierin aus dem Turm. Aber so etwas hat sie noch nie getan. Sie war sonst bei vollem Bewusstsein.«, erwiderte Fenris.

Die Heilerin blickte zu Akira hinüber, die nun ruhig schlief. »Wir sollten das im Auge behalten. Es kann sein, dass so etwas nun öfter passiert.«

Euros und die Heilerin gingen und Fenris war alleine mit ihr. Er trat an ihr Bett und sah auf ihr friedliches Gesicht hinunter. Es schmerzte ihn, sie so zu sehen. Sie war so jung, so zart und zerbrechlich und er hatte sich aufgeführt wie ein Hornochse. Er hatte sie verletzt und zwar auf eine andere Art und Weise, als er immer befürchtet hatte. Seine Augen brannten und er rieb sich darüber, ehe er sich vor das Bett kniete und ihre Hand in seine nahm. Sie war so klein und verschwand fast gänzlich in seiner. Erschöpft sank er zusammen und machte sich daran, an ihrem Bett zu wachen. Das war er ihr schuldig.

 

 

Er führte seinen Rappen weiter voran und erblickte die Felder und Wälder Fenrals. Neue Hoffnung keimte in Regan auf, denn Fenral war nicht mehr weit. Höchstens noch einen Wochenritt samt seiner Armee im Rücken und er würde vor Fenrals Toren stehen. Bisher hatte sich auch ein Trupp kartanischer Soldaten seinem Heer angeschlossen, doch auch sie konnten nicht sagen, was aus Kiras Bruder geworden war. Sein Truppe war einfach verschwunden und bisher war kein Lebenszeichen zu sehen.

Regen wies ein paar Soldaten an, dem Heer mitzuteilen, dass sie hier rasten würden, als ein Bote auftauchte.

Er hielt Kestral an und sah auf den keuchenden Soldaten herunter. »Was gibt es?«

»Ein Rabe aus Woberok, Euer Gnaden! Er ist von Eurer Schwester.«

Regan stieg von seinem Pferd und nahm dem Jungen das Pergament ab. »Trink einen Schluck Wasser.«

Der Junge nickte und eilte davon.

Regan brach das Siegel und las die Zeilen.

 

Regan.

Ich wünschte, ich hätte angesichts der Situation bessere Kunde für dich.

Unser Vater liegt im Sterben. Seit ein paar Wochen geht es ihm sehr schlecht und ich fürchte, du wirst die Bürde der Krone früher erben, als gedacht.

Mein Gemahl befestigt derweil die Stadt, wenn es wirklich zum Krieg kommen wird. Ich bete zu den Göttern, dass es nicht so weit kommt.

Ich erwarte deine heile Rückkehr voller Ungeduld.

Deine dich liebende Schwester

 

Regan rollte das Pergament ein und rieb sich die Augen.

Er atmete tief ein, aber etwas schien ihm die Brust einzuschnüren und er starrte in den wolkenverhangenen Himmel. Was hatten die Götter nur vor? Warum quälten sie ihn so sehr? Er knüllte das Pergament wütend zusammen und warf es in den Schlamm. Genau in diesem Moment begann es zu regnen. Das kühle Nass durchweichte seine Kleidung und bahnte sich einen Weg unter seinen Brustpanzer. Kroch in ihn hinein.

»Euer Gnaden, was sind Eure Befehle?«

Regan packte die Zügel seines Hengstes und blickte den Soldaten fest an. »Bringt das Heer wieder in Bewegung, wie marschieren die Nacht durch.« Damit schwang er sich wieder auf sein Pferd und marschierte Richtung Fenral. Wenn es nötig war, würde er diese Burg niederbrennen und jeden Bewohner töten, um seine Frau zurückzubekommen.

Kapitel 14

 

Finsternis umgab mich, dunkle Schleier waberten um mich herum, sodass ich den Boden nicht sehen konnte. Ich runzelte die Stirn, sah an mir herunter. Ich trug eine silbern schimmernde Rüstung, einen metallernden Brustpanzer, Armschienen und die Sehne eines Bogens lag mir über der Brust. Ich spürte die Federspitzen der Pfeile im Köcher in meinem Nacken. Die Symbole meines Hauses Kartan waren in die Rüstung eingearbeitet worden. Ich war gerüstet für eine Schlacht, doch ich wusste nicht, auf welcher Seite ich stand.

Ich lief durch den undurchdringlichen Nebel der Finsternis ohne mein Ziel zu kennen.  »Hallo?!«

Niemand antwortete mir.

Plötzlich tauchte eine Gestalt vor mir auf. Es war ein Mann. Er war größer als ich, war voll gepanzert und ein Umhang war von einer roten Farbe. Ein Mann Kartans. Die Haare waren kurz geschoren und plötzlich wurde mir eiskalt. Ich lief schneller, doch je schneller ich lief, desto weiter schien sich der Soldat von mir zu entfernen. Als ich ihn nach endlos scheinender Mühe endlich erreicht hatte, erkannte ich mit Entsetzen, dass er gar keinen roten Mantel trug, sondern Blut aus einer tiefen Wunde über seinen Rücken bis in die Stiefel lief.

 »Hallo?« Ich flüsterte fast nur, da mir die Gestalt unglaublich bekannt vorkam.

Mein Herz schlug mir so hart gegen die Rippen, dass ich das Gefühl hatte, es wolle hinausspringen. Meine Hände zitterten, als ich nach dem Arm des Mannes griff, ihn herum drehte, um sein Gesicht zu sehen. Mein Atem stockte und ich bekam kaum Luft, heiße Tränen flossen mir in Strömen über die Wangen.

Der Mann blickte mit toten Augen auf mich herunter.

 »Harris?«, flüsterte ich kaum hörbar.

Er rührte sich nicht.

 »Bruder? Bist du es?« Meine Hände zitterten so stark, als ich nach ihm griff.

Blut strömte aus einer gewaltigen Wunde, die quer über seine Brust verlief. Es sah aus wie der Prankenhieb eines riesigen Tieres. Die Krallen hatten das Metall mühelos durchdrungen und hatten die Haut und die Knochen darunter zerfetzt. Der Mann hob die Hände, Blut tropfte an ihnen herab.

 »Kira«, flüsterte er, die Stimme klang mir fremd.  »Ich habe mein Leben für Kartan gegeben. Ich habe versucht, dich zurückzubekommen. Du solltest wieder nach Hause kommen.«

Ich schluchzte auf.  »Aber... ich gehöre doch jetzt nach Woberok. Weißt du nicht mehr?«

 »Du bist eine Löwin, keine Wölfin«, sagte Harris, sein blutüberströmtes Gesicht verzog sich zu einem sanften Lächeln, was jedoch einer blutigen Fratze gleich kam.

 »Bruder, wo bist du? W-Wer hat dir das angetan?«, fragte ich mit bebender Stimme.

 »Sie war es... die Eine... die Dämonin.«, keuchte Harris, er packte meine Hand.  »Ich habe nicht viel Zeit. Hüte dich vor der Schlange im Bärenpelz. Könige fallen wie die Fliegen, Wolf kämpft gegen Wolf, zwei Männer sind dein Schicksal. Und der Drache schlummert im Berg.«

Ich schüttelte verwirrt den Kopf, das Blut floss mir über die Hand.  »Wo bist du jetzt, Harris? Wo kann ich dich finden?«

Seine Augen wurden dunkel und verloren an Glanz.  »Mein Körper liegt auf einem Moor in der Nähe der Burg Tamrid. Bring meine Überreste zu meiner Frau und meinem Sohn, damit ich in Frieden ruhen kann.«

Mein Atem stockte und ich schüttelte den Kopf. Das konnte nicht wahr sein! Das war einfach nicht wahr! Harris war tot? Mir liefen die Tränen über die Wangen und meine Brust schmerzte so sehr, dass ich keine Luft bekam. Er war es, der mir als Erster das Bogenschießen beibrachte, der mir zeigte, wie ich meinen ersten Hasen ausnahm, der mir ein gutes Versteck für meinen Bogen zeigte, damit unsere Mutter davon nichts mitbekam. Er war mein großer Bruder und ich war seine kleine Schwester, seine Prinzessin. Sein ein und alles und als er uns verließ für seine Frau, fiel es ihm unglaublich schwer, mich zurückzulassen. In den Fängen unserer strengen Mutter.

Seine Hand ließ meine los.  »Du bist unglaublich stark, Kira. Du hast von deinen Kräften nicht die geringste Ahnung. Doch bleib dir treu, du darfst in der Wut und in deiner Trauer nicht vergessen, was wichtig ist.«

Ich hob den Kopf und er war fort. Löste sich auf, wie eine Rauchwolke im Wind.

 »Harris?!« Ich schrie seinen Namen. Ich schrie ihn so lange, rannte durch die Finsternis bis ich keine Stimme mehr hatte. Kraftlos sackte ich in die Knie, starrte auf meine blutüberströmten Hände, in denen Harris' Dolch lag. Ich starrte auf das verfluchte Gold des kartanischen Familienerbstücks herab, meine Tränen wuschen das Blut fort.

 

 

Kira schrie auf und fuhr aus dem Schlaf hoch.

Fenris war selbst weggenickt und erschrak, sodass ihm das Herz kurzzeitig bis zum Hals schlug. Er griff nach ihren Händen, die plötzlich einen goldenen Dolch fest umklammert hielten. Woher hatte sie dieses Messer? Sie atmete abgehakt, schluchzte und Tränen rannen ihr über die Wangen. Er kam sich so schlecht vor, dass er sie dermaßen durcheinander gebracht hatte.

 »Kira, es ist alles gut! Ich weiß, ich habe einen Fehler gemacht, ich hätte nicht so grob zu dir sein sollen-«

Sie schüttelte den Kopf.  »M-Mein Bruder«, stammelte sie.

Fenris konnte sie kaum verstehen.  »Was sagst du?«

Als sie sich langsam beruhigt hatte, starrte sie an ihm vorbei an die Wand. Ihre Augen wirkten leer und trostlos, ihre Finger umklammerten das Metall des Dolches so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

 »Mein Bruder«, sagte sie tonlos, die heißen Tränen tropften auf seine Hand und sie blickte ihm jetzt direkt in die Augen. Der Schmerz der gesamten Welt lag in ihrem Blick.  »... ist tot.«

Fenris starrte sie an. Zuerst glaubte er, sie hätte geträumt. Er hatte auch oft genug nach dem Tod seiner Mutter von ihr geträumt. Nachdem er nach seinem Blutrausch erwacht war, hatte er auch alles für einen Traum gehalten. Doch Kira sah ihn so voller Ernst, voll bitterem Bewusstsein an, dass er wusste, sie hatte nicht geträumt. Sie wusste es. Sie wusste, ihr Bruder war tot. Doch woher wusste sie es?

 »Wer hat Euch das gesagt?«, flüsterte Fenris, um sie nicht zu erschrecken.

Kira senkte den Blick auf den Dolch.  »Er sagte es mir.«

Er starrte auf ihre Hände, die sich fest umklammert hatten. Er löste vorsichtig eine und legte sie an ihre Wange, wischte die Tränen fort, die sofort von neuen ersetzt wurden. Sie schluchzte schmerzerfüllt auf. Fenris zog sie in seine Arme. Es zerriss ihm fast das Herz, sie so zu sehen, weil er den Schmerz, den sie jetzt fühlte, nur allzu gut kannte. Jemanden zu verlieren, den man so liebte, war so furchtbar, dass man das Gefühl hatte, die Welt müsse für einen Augenblick stillstehen. Sie konnte sich doch nicht einfach weiterdrehen!

Kiras Körper erbebte in seinem Griff, sie schluchzte und stieß gequälte Laute aus, presste ihr Gesicht gegen seine Brust. Ihm blieb nichts anderes, als sie festzuhalten und da zu sein. Jedes tröstende Wort, jeder Satz klang in seinem Kopf einfach nur dämlich. Denn es gab einfach keine tröstenden Worte. Der Schmerz war da und er würde nicht plötzlich fortgewischt durch ein paar Worte. Ihre Finger gruben sich in sein Hemd, hielten sich an ihm fest, während ihr Körper immer wieder von der Welle des Schmerzes erbebte.

Sein Blick fiel auf den Dolch, der neben ihnen auf der Decke lag. Es war der Königsdolch, den nur der Kronprinz bei sich trug. In diesen hier waren die Insignien Kartans eingraviert, der goldene Löwe und der Rubin, der die Farbe ihres Hauses trug. Sein eigener Königsdolch, den er als Kronprinz trug, sah diesem sehr ähnlich. Sie musste die Wahrheit sprechen, irgendwie hatte ihr Bruder Kontakt zu ihr aufgenommen und ihr diesen Dolch gegeben. Denn diesen hatte er noch nie zuvor bei Akira gesehen. Wie stark konnten ihre Kräfte sein, dass sie Kontakt zu ihrem toten Bruder aufnehmen konnte?

Ihr Schluchzen wurde nur langsam weniger, bis es irgendwann ganz versiegte. Die Kerzen in ihrem Zimmer waren bereits heruntergebrannt und draußen war es dunkel geworden. Nur das schwache Licht des Kaminfeuers malte sanfte Lichtsprenkel auf die Decke und ihre Haut.

Irgendwann löste sie sich von ihm. Ihre Augen waren rot geweint, auf ihrem Gesicht lag eine sanfte Röte.

 »Vergebt mir, Euer Hemd ist ganz nass«, murmelte sie und rieb über einen großen nassen Tränenfleck auf seiner Brust.  »Ihr hättet mich nicht trösten müssen. Das machen Lehrer und Schüler wohl nicht.«

Fenris starrte auf ihre Hand, die auf seiner Brust lag. Direkt darunter galoppierte sein Herz. Er hob den Kopf und sah ihr vom Feuerschein nur schwach erleuchtetes Gesicht nur schwach, doch er hörte ihr Herz mindestens genauso schnell schlagen, wie seines. Er legte eine Hand auf ihre, die an seiner Brust lag. Es war, als würde sanfte elektrische Blitze über ihre Haut jagen.

»Ist doch egal, was Lehrer und Schüler machen«, murmelte er und beugte sich kapitulierend nach vorn.

Ihre Lippen berührten sich und es fühlte sich für ihn an, als hätte er nach tagelangem, wochenlangem Marsch endlich sein Ziel erreicht. Eine Last schien von ihm genommen und, wenn er dachte, dass das alles falsch war, umso besser fühlte es sich nun an, sie zu küssen. Er schob das schlechte Gewissen einfach fort und in diesem Moment dachte er nicht daran, dass sie eine verheiratete Frau war und er wohlmöglich die Trauer, in der sie sich gerade befand, ausnutzte. Es fühlte sich gut an und auch für Kira schien es sich gut anzufühlen, denn sie wich ihm nicht aus. Sie erwiderte die sanfte Frage nach Nähe, ihre Hand wanderte von seiner Brust zu seinem Hals und er umfasste ihre Schulter. Sie waren vorsichtig, zart und sanft. Sie trauten sich kaum, die Gefühle zuzulassen, die hervorzubrechen versuchten.

Sanft lösten sie sich voneinander und atmeten schwer ein und aus. Sie lehnten die Stirn aneinander und sogen den Duft des jeweils anderen ein.

Fenris zwang sich zuerst wieder zur Vernunft. »Wir müssen aufhören.«, flüsterte er, auch, wenn alles in ihm schrie, sie fest an sich zu drücken und nie wieder loszulassen.

»Bitte«, flüsterte sie zurück, ihre Stimme war verzweifelt. »Ich will dich nicht verlieren... also lass mich nicht mehr los.«

Er löste seine Stirn von ihrer, um ihr in die Augen zu sehen. Er wusste nicht, ob es durch die Trauer kam, dass sie sich an ihn zu klammern schien, oder ob es reines Verlangen nach Körperlichkeit war, oder tatsächlich so etwas wie Liebe. In dem Moment war es ihm auch egal, was ihr Beweggrund war. Er wollte nur endlich einmal etwas Gutes spüren. Liebe spüren, auch, wenn sie vielleicht nicht echt war.

Fenris beugte sich erneut zu ihr und küsste sie, diesmal härter, verzweifelter. Sie erwiderte den Kuss, ihre Hände fanden den Weg in sein kurzes, schwarzes Haar, vergruben sich darin und zogen ihn näher an sich. Seine Hände fuhren von ihren Schultern über ihren vernarbten Rücken, was ihr ein Keuchen entlockte. Ob vor Lust oder Unbehagen wusste er nicht. Er packte ihre Hüfte und zog sie vom Bett zu sich auf den Schoß. Sie öffnete den Mund in einem leichten Seufzen, was er ausnutzte, um seine Zunge in ihren Mund gleiten zu lassen. Sie erwiderte den stürmischen Kuss, der darauf folgte.

 

 

Meine Hände erkundeten ihn, spürten die harten Muskelstränge und wie sie sich bewegten. Mir schoss eine Gänsehaut nach der anderen über den Körper, ich spürte das Ziehen im Unterleib und das Verlangen in mir, endlich wieder jemanden bei mir zu spüren. Etwas Gutes zu fühlen, einfach nur für einen Moment glücklich zu sein. Die Nähe zu ihm ließ mich alle Schuldgefühle vergessen. Wenigstens für einen Moment.

Als er mich auf seinen Schoß zog, schwindelte es mir, denn ich spürte sein Verlangen direkt zwischen meinen Beinen. Seine Hände liebkosten meinen Körper immer noch mit einer gewissen Vorsicht, als wäre er darauf vorbereitet, mich sofort loszulassen, falls ich das alles doch nicht wollte. Aber ich wollte es, ich wollte nicht an den Schmerz denken, der mich zuvor fast taub gemacht hatte. Ich wollte nicht mehr an die Wut und die Scham denken, die ich jeden Tag empfand, den Malik weiterhin frei umherstolzierte. Und ich wollte auch nicht an die Schuldgefühle denken, die ich ohne jeden Zweifel empfinden würde, wenn ich daran dachte, dass ich mein Ehegelübnis brechen würde und Regan hinterging.

Ich griff nach dem Saum seines Leinenhemdes und zog es nach oben. Er half mir und stülpte es sich über den Kopf. Sein Oberkörper war vom harten Training und Kämpfen gezeichnet. Dunkle Brusthaare zeichneten eine Linie bis zu seinem vernarbten Bauchnabel. Ich ließ meine Finger die Linie nachzeichnen und seine Muskeln erzitterten unter meiner Hand. Ich schluckte leicht, als seine Hand meinen Oberschenkel empor strich und das Nachthemd hinauf bis zu meiner Hüfte hoch schob. Seine andere Hand zog den Träger des Hemdes hinunter und legte meine Schulter frei. Er strich mit seinen Fingern über mein Schlüsselbein, bevor er seine Lippen darauf presste.

Ich seufzte hörbar, spürte seine Lippen, die meinen Hals hinauf wanderten.

Er presste mich an sich und ich hauchte meinen Atem gegen sein Ohr, wodurch eine Gänsehaut über sein Oberkörper jagte. Meine Finger wanderten zu dem Knopf seiner Hose, doch bevor ich ihn befreien konnte, damit wir endlich etwas anderes fühlen konnten als diesen Schmerz und die Angst, wurde die Tür zu meinen Gemächern geöffnet.

Fenris fuhr zusammen und setzte mich so ruckartig auf das Bett, als hätte ich plötzlich die Pest an mir.

»Ich... oh! Oh bei den Göttern, verzeiht mir!«, rief Euros und ich konnte mir ihr erdbeerrotes Gesicht geradezu vorstellen.

Ich zerrte den Träger wieder über meine Schulter und den Rock des Nachtkleides herunter.

Fenris schloss den Kopf der Hose und griff nach seinem Hemd. Ohne mich noch einmal anzusehen, rannte er aus dem Zimmer und ließ mich mit seiner Schwester alleine. Fassungslos starrte ich auf die offene Tür und auch Euros sah den Gang hinunter hinter ihm her. Peinlich berührt wandte sie sich an mich.

»Ähm... ich wollte nur... nun ja, also...«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, dann schüttelte ich den Kopf und lächelte gepresst. »I-Ist schon gut. Ist vermutlich besser so«, krächzte ich.

»Geht es Euch gut? Ich meine, das eben...«

Ich nickte nur. »Alles gut, schließt Ihr bitte die Tür? Ich muss noch etwas schlafen.«

Euros nickte. »Ja... a-aber natürlich.«

Als sie endlich verschwunden war, presste ich eine Hand auf meinen Mund, um das Schluchzen zu ersticken. Ich blinzelte fassungslos in die Dunkelheit meiner Kammer. Er hatte mich alleine gelassen. Einfach so, nur, weil seine Schwester hineingeplatzt war. Statt da zu bleiben und sie wegzuschicken. Oder was weiß ich zu tun! Er hatte sich geschämt, das hatte ich gesehen und dann war er davon gerauscht. In meiner Brust bildete sich ein Knoten. Ich stand auf und lief auf und ab. Wir wollten uns gerade lieben, gerade besser fühlen und jetzt war er verschwunden! Ich starrte die verschlossene Tür an, ich wusste nicht wie lange ich das tat, bevor ich auf sie zu ging. Ich zog an der Klinke, doch die Tür war verschlossen. Von Außen.

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

Ich war wieder eine Gefangene.

Hart lachte ich in die Dunkelheit.

War ich denn je etwas anderes gewesen? Meine Knöchel traten weiß hervor, so sehr umklammerte ich die Klinke. In meiner Brust zog es schmerzhaft und heiße Tränen rannen mir über die Wangen. Überall wo er mich berührt hatte kribbelte es wie tausend stechende Stecknadeln. Ich ließ die Klinke los, ballte eine Faust und schlug so heftig gegen einen Mauerstein in der Wand, dass dieser zerbarst und sich Risse über das Gemäuer zogen. Meine Hand tat weh, doch das spürte ich kaum. Meine Knöchel waren aufgeplatzt, Blut lief mir über die Hand und tropfte zu meinen Füßen auf den Boden.

Nun brach auch die gesamte Scham dessen über mich herein, was ich im Begriff gewesen war, zu tun. Ich hätte um ein Haar Regan betrogen. Im Prinzip hatte ich ihn schon betrogen, indem ich Fenris auch nur geküsst hatte. Ich war eine furchtbare Ehefrau. Benommen schüttelte ich den Kopf, ehe ich zum Bett ging, den Dolch meines Bruders nahm und mich auf dem Bärenfell vor dem erlöschenden Kaminfeuer einrollte. Ich schlief tief und traumlos ein, aber der Schmerz in meiner Brust blieb und begleitete mich durch meinen Schlaf.

 

 

Keuchend lehnte er sich in dem winzigen Nebengang irgendwo in den Tiefen der Burg an die Wand und versuchte zu Atem zu kommen. Er war so schnell davon gestürmt, dass ihm schwindlig geworden war. Er hielt den Kopf zwischen den Knien. Was hatte er bloß getan! Er hätte beinahe mit ihr geschlafen! War er denn komplett wahnsinnig?! Er rieb sich mit dem Hemd über die Arme und den Nacken, um ihren Geruch loszuwerden, doch es half nichts. Er war überall. Ihr schwerer Sommerduft. Lavendel und Sonne. Dieser Duft zog sich ihm um den Hals wie eine Schlinge. Warum hatte er sich bloß dazu hinreißen lassen?!

»Mhm, was für ein interessanter Duft an dir, Bruderherz«, zischte es aus der Dunkelheit.

Fenris stockte der Atem, als er die grün funkelnden Augen von Malik sah, bevor dieser ins Licht trat.

»Du kannst deine Triebe langsam nicht mehr ignorieren, was?« Malik blieb vor ihm stehen und lehnte sich an die gegenüberliegende Wand, sodass sie sich genau ansahen.

Fenris wagte nicht, sich zu bewegen. Die Situation war angespannt.

Langsam sank Malik zu Boden, sodass beide auf dem Boden hockten. »Du hast es nicht zu Ende gebracht, wie ich rieche. Hast du ihn nicht hochbekommen?«

Fenris funkelte ihn an, sagte jedoch nichts.

»Ach wirklich? Dass du Probleme mit solchen Dingen hast, wusste ich gar nicht, Bruderherz. Was wird wohl Vater dazu sagen, wenn er hört, dass du nicht in der Lage bist, Erben zu zeugen?«

»Ich habe keine Probleme damit!«, knurrte Fenris.

Malik lachte leise. »Verzeihung. Was soll sonst der Grund sein, dass du die Chance, sie zu vögeln, nicht genutzt hast?«

»Anders als für dich, ist sie für mich keine Trophäe, die ich von einer Liste streichen kann, wenn ich sie gehabt habe.«, knurrte Fenris.

Langsam nickte Malik. »Das ist sie für mich auch nicht.«, sagte er und seine Stimme hatte jeden Schalk verloren. »Sie ist etwas Besonderes. Sie ist die Eine. Und, wenn ich sie habe, wird keine andere ihr das Wasser reichen. Nach ihr wird keine mehr etwas bedeuten. Wenn ich sie töte, wird das auch mein Tod sein. Und doch gibt es keinen süßeren Schmerz, als die Erkenntnis, das genau das, eines Tages passieren wird. Keiner von uns beiden kann leben, wenn der andere überlebt. Doch, zumindest für mich, wird das mein Tod sein, wenn sie stirbt.«

Benommen starrte Fenris seinen Bruder an.

Seine grünen Augen funkelten in der Dunkelheit wie zwei schwache Glühwürmchen. »Du solltest nicht warten, um sie einmal in deinem Leben zu lieben, Bruderherz.«

»Warum sagst du mir so etwas?«, fragte Fenris leise.

»Veränderung liegt in der Luft und sie wird dir nicht gefallen.«, murmelte Malik. »Die Schachfiguren sind Position, der König ist verwundbar und die Dame schwankt zwischen beiden Seiten. Sie wird sich bald entscheiden müssen. Und die Entscheidung wird dir auch nicht gefallen... Warum gehen eigentlich immer alle davon aus, dass sich der Held für das Gute und nicht für das Böse entscheidet?«

Fenris gefror das Blut in den Adern. »Was hast du vor?«

Maliks Mund verzog sich zu einem animalischen Grinsen, was sein Gesicht durch seine glühenden Augen in eine Fratze verwandelte. »Was glaubst du, Bruderherz, warum ich sie noch nicht gleich getötet habe, wenn mir doch bewusst ist, dass ich mit ihr sterben würde? Warum sollte ich meinen unvermeidbaren Tod hinauszögern?«

Fenris stemmte sich auf die Beine und auch Malik stand auf. »Du hast sie absichtlich gefoltert und sie nicht vergewaltigt.«

»Weißt du, Schmerz, der in einer riesigen Welle auftaucht, zerstört alles auf seinem Weg.«, sagte Malik langsam. »Aber Schmerz in kleinen Wellen formt die Landschaft zu deinen Gunsten.«

Fenris bekam kaum Luft und stolperte zur Seite. »Was hast du vor mit ihr?«

»Ich forme sie zu meinen Zwecken und das heute Abend kommt mir natürlich sehr gelegen. Vielen Dank, dass du mir dabei hilfst.«

Fenris lief zum Ausgang des Tunnels, doch da stand schon jemand. Ein großer Mann, der in einen schwarzen Umhang gehüllt war. Fenris wandte sich zu Malik um, der ihn wahnsinnig lächelnd anfunkelte. Dann spürte er einen Schlag auf den Hinterkopf und seine Welt versank in tiefster Finsternis.

»Keine Sorge, Bruderherz, ich passe gut auf deine Lavendelblüte auf.«

»Was sollen wir mit ihm machen?«, fragte einer der Männer, die mit Malik in die Burg eingedrungen waren.

»Bringt ihn in die Katakomden. Ich habe etwas vorbereitet, damit er sich nicht einfach von den Ketten losmachen kann. Und fesselt ihn gut daran, er darf unseren restlichen Plan nicht behindern.«, sagte Malik und machte sich auf den Weg in die Gemächer des Königs.

 

 

Ich hörte Unruhe auf den Gängen vor meinen Gemächern. Benommen setzte ich mich auf, es war noch immer stockduster draußen und das Kaminfeuer war gänzlich erloschen. Ich runzelte die Stirn und ging zum Kleiderschrank, zog mir meine Hose über und ein Leinenhemd, das ich mit einer schmalen Korsage fixierte, ich schob den Dolch in meinen Gürtel und ging zur Tür. Diese war natürlich noch immer verschlossen, was mich gleich wieder wütend machte. Meine Knöchel schmerzten, sodass ich einen Lappen darum band und die Tür näher inspizierte. Von draußen ertönte Lärm, Stimmen riefen durcheinander und das Klirren von Schwertern war zu hören.

Ich fuhr zurück, als etwas gegen die Tür krachte.

Mein Herz schlug mir gegen die Brust und ich packte den Schaft des Dolches fester. Wieder krachte die Tür, ein schmerzerfülltes Stöhnen war zu hören und plötzlich flog die Tür auf. Malik stand darin mit einem wahnsinnigen Lächeln. Er hielt Euros an der Kehle gepackt, die verzweifelt um Luft rang.

»Lasst sie los!«, brüllte ich.

»Sonst was?«, lächelte er, hinter ihm tauchte eine Handvoll finsterer Gestalten auf.

Er betrachtete seine Schwester noch einmal, ehe er einen Dolch hervorzog. Mir stockte der Atem, als ich diesen erkannte. Es war derselbe, den ich selbst gerade in der Hand trug, nur mit einem dunkelgrünen Smaragd und den Insignien Fenrals. Es war Fenris' Dolch. Ich schrie, als er den Dolch in Euros' Körper stieß, sie schrie ebenfalls und er schleuderte sie in eine Ecke des Zimmers.

»Schlaf schön, Schwesterchen«, zwitscherte Malik und kam auf mich zu.

Ich wollte ihm ausweichen und Euros zur Hilfe eilen, doch ich konnte mich nicht bewegen. Ich war wie festgefroren, konnte ihm nur in die tiefen grünen Augen starren, die stetig auf mich zukamen. Dann stand er vor mir, es passte kaum eine Hand zwischen uns. Ich starrte ihn an und er starrte mich an. Zwei Schachfiguren, die in Position gebracht sind. Egal, wer anfängt, es heißt Schachmatt. Sein Duft umwölkte mich, drohte mich zu ersticken. Meine Brust war zum Zerreißen gespannt, ich spürte seinen widerlich süßen Atem auf dem Gesicht und seine Körperwärme. Seine eledige Körperwärme, die mir sagte, dass er immernoch am Leben war.

Plötzlich, wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, hoben wir beide den Arm und legten einander den Dolch des jeweils anderen an die Kehle. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

»So stehen wir also hier«, sagte er leise und die Welt gehörte nur uns. Es war als wären alle Menschen auf der Welt fort und wir wären die letzten beiden Menschen auf der Welt. Absolute Stille, absolute Einsamkeit. Nur er und ich im unendlichen Universum der Zeit gefangen. Und plötzlich wurde mir etwas bewusst. Ich wäre niemals alleine. Er würde niemals sterben. Auch, wenn ich ihn irgendwann umbringen würde, würde er niemals sterben. Ich würde ihn niemals besiegen, denn er würde in mir weiterleben. In meinen Gedanken und Träumen wäre er stets anwesend.

Ich senkte den Arm und ließ den Dolch fallen.

Irgendwo hörte ich Euros brüllen, dass ich ihn doch töten sollte, wenn ich die Chance hatte.

Aber das konnte ich nicht. Nicht in diesem Moment. Und ich war mir dessen bewusst, dass er nun freie Bahn hatte, um mich zu töten, zu vergewaltigen, zu foltern. Egal was er vor hatte, ich war ihm ausgeliefert.

Malik lächelte leicht und senkte ebenfalls den Dolch, legte seine freie Hand an meine Wange und küsste mich. Mein Herz gefror zu Eis, als ich seinen Körper an meinem fühlte. Ich war ihm wieder ausgeliefert und wieder zerstörte dieses Gefühl etwas in mir. Niemand war da, um mich zu beschützen. Ich war wieder alleine. Wieder musste ich alleine kämpfen und mich verteidigen, weil es niemand tat. Weil mich niemand vor diesem Mann beschützte... Ich schloss die Augen und Tränen flossen mir über die Wangen.

Beinahe sanft ließ er von mir ab und ich öffnete die Augen.

»Wenn du wolltest, würdest du mich töten«, sagte Malik.

»Das würde ich«, antwortete ich ihm ruhig.

»Aber du kannst es nicht.«

Ich sagte nichts.

»Tu, was ich dir sage und es wird alles gut.«

»Warum sollte ich nicht gegen dich kämpfen?«

»Weil ich etwas habe, das dir etwas bedeutet.« Malik wedelte mit dem Dolch vor seinem Gesicht herum und lächelte triumphierend. »Und du willst nicht, dass meine Beserker deinen Mann schlachten, so wie sie deinen Bruder schlachteten.«

Mir fiel alles aus dem Gesicht und mein Herz hörte für einen Augenblick auf zu schlagen. Mein Kopf war leer und ich hörte nur noch ein Rauschen in den Ohren. Mein Atem kam nur stockend wieder in Gang und meine Haut kribbelte.

»Du... Monster«, hauchte ich, doch ich konnte nicht einmal mehr weinen.

Malik lächelte überheblich. »Du musst nicht mit Komplimenten um dich werfen.«, grinste er und trat einen Schritt rückwärts. »Tu, was ich dir sage und weder meinem Bruder, noch deinem Mann passiert ein Leid.«

Euros schrie frustriert auf, mittlerweile hatte sich eine Blutlache unter ihr gebildet, doch sie kämpfte immer noch, um aufzustehen.

Ich zitterte, dann nickte ich nur. »Was willst du?«

»Dein Mann führt ein Heer nach Fenral. Es wurde schon bei Anbruch der Nacht gesichtet. Schick sie weg und Fenris passiert nichts. Wenn sie angreifen, töte ich meinen Bruder vor deinen Augen und auch deinen Mann wird man stückeweise vom Schlachtfeld bergen.«

»Woher weiß ich, dass du ihn nicht schon längst getötet hast?«

»Du wirst mir wohl vertrauen müssen.«

Ich lachte hart auf. »Dir?«

»Gut, hast recht. Schlechter Witz. Ich zeige ihn dir, wenn du willst.«

Mein Atem kam flach, doch ich nickte.

 

Kapitel 15

 

 Malik und seine finsteren Gestalten führten mich quer durch die halbe Burg. Euros hatten sie zum Sterben zurückgelassen und auch, wenn ich mich gewehrt und sie, um Verzeihung, flehend angesehen hatte, hatte sie mich zur Tür herausgezerrt. Ich konnte nichts für sie tun und es machte mich schier wahnsinnig. Die dunklen Gänge waren verlassen, keinerlei Wachposten waren auf den Gängen zu sehen, mit unter lief nur ein Trupp von Maliks Leuten uns über den Weg. Die ganze Burg schien von ihnen gefüllt zu sein, was mich unweigerlich an die Soldaten der Stadtwache, den König und den jungen Prinzen Nero denken ließ. Was ist mit ihnen, wenn Malik die Kontrolle über die Burg erlangt hatte?

»Die meisten sind tot«, sagte Malik, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Die, die nicht zu uns überlaufen wollten.«

Ich starrte seinen Hinterkopf an, seine weißblonden, kurzen Strähnen wirkten wie ein Totenschleier. »Der König?«

»Tot«

Ich schluckte. »Nero?«

Malik stockte kurz. »Was habt ihr mit dem Prinzen gemacht?« Er sprach nicht mit mir, sondern seinen Leuten.

»Wir haben ihn noch nicht gefunden.«

Malik fuhr herum. »Dann tut das gefälligst!«, knurrte er, ehe er mich am Arm packte und vorwärts schob. »Und du, beweg dich!«

Ein Teil des Trupps lief davon, vermutlich, um Nero zu finden, der Rest begleitete uns immer tiefer in die Burg, immer mehr Treppen abwärts. Irgendwann erreichten wir die Katakomden der Burg, nur der Schein der Fackeln zeigte uns den Weg. Malik öffnete eine Eisentür. Wir liefen an unzähligen ungefüllten Zellen vorbei, durch mehrere Eisentüren hindurch und noch mindestens drei Treppen abwärts in die Finsternis, bis wir in einen Gang bogen. Dieser endete mit einer einzigen runden Zelle, nur die Götter wussten, wo unter der Burg wir uns befanden. Malik öffnete diese Zelle und die übrigen Männer befestigten die Fackeln in den Halterungen neben der Tür.

Dann ließ Malik mich eintreten und da hing er.

Fenris war wie ein geschlachtetes Tier an den Handgelenken mit Eisenfesseln aufgehängt. Sein Körper war schlaff und von Blutergüssen übersät. Seine Schläfe war aufgeplatzt, doch kein Blut war zu sehen. Meine Lippe zitterte und Malik machte keine Anstalten, mich aufzuhalten, als ich vor Fenris auf die Knie fiel.

»F-Fenris?«, flüsterte ich mit bebender Stimme und nahm sein Gesicht in die Hände.

Schwach hob er den Kopf, seine Augenlider flatterten. »Kira? Oh nein...«

Seine Muskeln spannten sich und er stöhnte vor Schmerz.

»W-Was passiert hier?«, flüsterte ich ihm zu.

Er krampfte sich zusammen und stöhnte erneut, entzog sich meinem Griff. »Bitte, verschwinde!«, knurrte er mich an.

Ich fuhr zurück. »Aber... Fenris!«

»Verschwinde!« Seine Stimme wurde auf einmal dunkel und klang mehr wie die von einem Tier.

Auf einmal fuhr ein Ruck durch seinen Körper und er brüllte schmerzerfüllt auf. Ich hob die Hände, aber Malik zerrte mich am Handgelenk von Fenris weg. »An deiner Stelle würde ich ihn nicht anfassen. Durch ihn schießt gerade unheimlich viel Strom.«

»Strom?«

»Elektrische Energie, wie von Blitzen.«

Wütend funkelte ich ihn an und riss mich los. »Ich weiß was Strom ist«, knurrte ich und starrte wieder auf Fenris hinunter.

Sein Körper erschlaffte und er hing nur noch in seinen Ketten. Ich ließ mich zu ihm auf die Knie fallen und hob seinen Kopf an, damit er mich ansah. Mir flossen Tränen über die Wangen. »Was passiert mit dir?«

Er schüttelte nur schwach den Kopf.

»Er hat dir nichts gesagt, oder?« Malik trat zu uns, griff in Fenris Haar und riss seinen Kopf hoch, sodass er ihn ansehen musste. Wütend biss Fenris die Zähne zusammen. »Tut mir sehr leid, Bruderherz. Du hattest deine Chance, dann werde ich mal deine Lavendelblüte aufklären.«

»Malik... tu es nicht, ich bitte dich.«

»Wovon spricht er, Fenris?« Ich sah ihn suchend an, aber er starrte Malik weiterhin durchdringend an.

»Bitte«, flehte Fenris.

Malik schüttelte den Kopf. »Nicht einmal in unserer Kindheit hättest du auf mein Mitgefühl bauen können, warum flehst du mich dann jetzt an?« Er lächelte und ließ Fenris los. »Fenris ist ein Beserker, genau wie ich. Doch seine Bestie ist anders, als unsere.«

Verwirrt sah ich Malik an, dann sah ich zu Fenris.

Dieser wich meinem Blick aus.

»Fenris hat seine Mutter getötet, als er gerade einmal sieben Jahre alt war.«, sagte Malik. »Weil er sich in einen Wolf verwandelt hat, als er sich einen Finger aufgeschnitten hatte und ihn sich in den Mund gesteckt hat. Ist das nicht Ironie? Immer, wenn er Blut schmeckt verwandelt er sich in eine Bestie.«

»A-Aber das ist doch immer bei Berserkern!«, stammelte ich. Das wusste jedes Kind.

»Aber er kann es nicht kontrollieren. Noch nie, er wird es auch nie.«, sagte Malik. »Sonst hätte er dich schon längst gevögelt. Aber die Gefahr, dich dabei zu beißen und zu töten hat ihn abgehalten, mit dir zu schlafen.«

Benommen blickte ich Fenris an. »Ist das wahr?«

Fenris stöhnte schmerzerfüllt auf. »Ich... ja, es ist wahr.«

»Also wolltest du mich schon die ganze Zeit...«

Fenris schüttelte den Kopf. »Nein! So war das nicht, er verdreht alles! Ich wollte dich nicht verletzen!«

Ich fuhr hoch und kam wackelig auf meine Beine. »Warum bist du so schnell abgehauen vorhin?«

Er starrte mich an. »Ich... ich war froh, dass Euros uns gestört hat. Ich wollte von dir weg, um dich zu schützen.«

Mein Blick wurde kühl. Seine Beweggründe waren ehrenhaft und vielleicht bedeutete ich ihm wirklich etwas. Das, was mich so wütend machte, was mich mehr verletzte als die Tatsache, dass er einfach gegangen war, um mich zu beschützen, war, dass er mich angelogen hatte. Mich wieder wie eine Frau behandelte, der man nichts zutraute. Nicht mal selbst entscheiden zu können, wie ich mit der Situation umgehen wollte, dass er ein Beserker war.

»Du hättest es mir sagen sollen«, flüsterte ich in die Stille der Kammer.

»Ich wollte es... glaub mir, ich wollte es in jeder Sekunde. Das erste Mal wollte ich es dir im Turm sagen.«

Ich lächelte verbittert, während mir Tränen über die Wangen flossen. »Das ist Monate her.«

Fenris schüttelte den Kopf. »Ich weiß... ich wollte nicht, dass du mich für ein Monster hälst.«

»Dafür halte ich dich jetzt für einen Lügner.« Wir starrten uns an und ich schluckte gegen die Verbitterung in meiner Kehle an. »Ich dachte, ich könnte dir trauen. Ich dachte, du wärst mein Freund.«

Fenris spannte sich in den Ketten an, wollte zu mir und griff nach mir, doch die Ketten hielten ihn zurück. Ich wich einen Schritt vor ihm zurück. »Das kannst du auch! Das kannst du, Kira! Bitte! Ich bin dein Freund! Das ist genau das, was er will! Siehst du das nicht? Er will einen Keil zwischen uns treiben!«

 

 

Sie wischte sich über das Gesicht und wich noch einen Schritt zurück. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. »Freunde tun so etwas nicht... Weißt du, ich dachte, er wäre die ganze Zeit mein Feind. Dieses verschlagene Lächeln und diese grausamen Dinge, die er jedem Menschen antut, der in seiner Nähe ist. Trotzdem ist er der einzige hier, der Klartext mit mir geredet hat. Er hat von Anfang an seine Absichten klar gemacht und mich nicht für eine Närrin gehalten.«

Fenris rutschte das Herz in die Hose und er wusste, dass er von Anfang an einen riesigen Fehler gemacht hatte. Er war nicht ehrlich zu ihr gewesen und genau das war es doch, was sie am meisten gehasst hatte. Sie im Dunkeln zu lassen, zu bevormunden und Entscheidungen für sie zu treffen. Das Vertrauen zu ihm war erschüttert, das wusste er. Er hatte sie verletzt.

»Kira, bitte.«, flehte er und er spürte, wie seine Augen glasig wurden.

Ihr Gesicht war hart und schmerzverzerrt. Sie drehte sich um und verschwand durch die Tür.

»Kira! Kira, bitte! Bitte komm zurück! Ich wollte dir nie wehtun!«

Malik schlich um ihn herum. »Tja, das hast du aber. Ehrlichkeit währt nun einmal am Längsten. Sei dir sicher, ich passe auf sie auf.«

Fenris knurrte animalisch und versuchte nach ihm zu greifen, doch Malik verpasste ihm einen heftigen Schlag ins Gesicht, was ihn aufkeuchen ließ. »Du Monster wirst sie zerstören!«

»Nein, Fenris. Ich werde sie zu ihrer wahren Bestimmung führen. Und du hast deine Rolle wunderbar gespielt. Weißt du, zertrümmert man einen Knochen, wird er nie wieder die volle Stärke erreichen. Bricht man ihn jedoch fachmännisch an der richtigen Stelle, wächst er stärker zusammen als zuvor. All diese feinen Bruchstücke setze ich nach und nach zusammen und niemand wird sie und mich mehr aufhalten können. Von uns wird man noch in hunderten Jahre als das mächtigste Paar aller Zeiten sprechen. Und du wirst nur einer ihrer Liebhaber sein, der sie hat sitzen lassen.«

Fenris wurde fast wahnsinnig vor Wut, doch dann fuhr wieder ein Blitz durch seinen Körper und er sank kraftlos zurück.

Malik lächelte noch einmal und blickte seine Wachen an. »Sorgt dafür, dass er hier drin bleibt. Tötet ihn, wenn es nötig ist.«

Damit verschloss er die Tür und war verschwunden.

 

 

 Wie betäubt lief ich hinter Malik her, als dieser mich in den Thronsaal führte und durch das Burgtor und durch die Straßen. Ich konnte es nicht fassen, dass auch Fenris mich anlog und mir nichts zutraute. Zuerst hatte ich dieses Gefühl, diese Enge in der Brust gespürt, als Regan mich in unseren Gemächern eingeschlossen hatte. Dann als sie mich wochenlang nicht aus dem Turmzimmer gelassen hatten und nun hatte ich Regan betrogen mit einem Mann, der nicht anders war, als er. Ich hatte gedacht, er sähe in mir eine starke Frau, die auf sich aufpassen konnte und ihre eigenen Entscheidungen treffen konnte. Ich hatte immerhin die Entscheidung getroffen, meinen Ehemann zu hintergehen und ich hätte vorhin mit Fenris geschlafen, hätte Euros uns nicht unterbrochen.

Malik hielt mir seine Hand hin und ich ergriff sie. Er führte mich vor sich aus den Stadttoren am Horizont erblickte ich das woberokische Heer. Malik legte die Hände auf meine Schultern, hinter ihm formierte sich eine Armee. Wo war diese so schnell her gekommen?

»Schick ihn und sein Heer weg, dann passiert meinem Bruder und deinem Mann nichts.«

Ich blickte mit leeren Augen auf die Armee, spürte Maliks Atem im Nacken.

»Und, wenn ich ihm sage, er soll mich heim bringen? Oder, dass ich erpresst werde?«

»Hm«, sagte er in mein Ohr, seine Nase berührte meine Ohrmuschel. »Du bist wirklich schlau, gut. Ich gebe dir noch etwas dafür. Ich unterrichte dich in der Kampfkunst. Und glaub mir, ich schone dich nicht so, wie mein Bruder. Ich bringe dir bei, wie man mich wirklich besiegt.«

Ich drehte mich zu ihm um, um seine Augen zu sehen.

Ruhig stand er vor mir, sein Blick war unverwandt auf mich gerichtet. Er hob eine Hand und strich mir beinahe zärtlich über die Wange.

Ich hob den Blick, als mich Regentropfen trafen. »Schwör es mir.«

Er legte den Kopf leicht schief, dann lächelte er und zog Fenris' Dolch, schnitt sich in die Hand. »Ich schwöre dir, ich werde dir beibringen, mich zu töten und jeden, der es wagt, dir Schmerz zuzufügen.« Er hielt mir den Dolch hin.

Ich zögerte, blickte auf die Armee, die näherrückte. Dann ergriff ich den Dolch und schnitt mir die Hand, ergriff seine und unser Blut vermischte sich. Das letzte Mal, als ich dies tat, war mein Ehegelübnis. Das, was ich gebrochen hatte. Einen Jahrtausende alter Schwur. Diesen würde ich halten.

»Ich schwöre dir, ich werde bei dir bleiben und trainieren bis ich dich töten kann. Und ich werde dich töten und bis dahin werden unsere Schicksale miteinander verbunden sein.«

Malik lächelte mich an und es wirkte aufrichtig. »Es ist das erste Mal, das wir das aussprechen.«

Ich nickte und ließ seine Hand los. Unsere Finger hielten sich für den Bruchteil einer Sekunde länger fest, dann nahm er den Dolch und steckte ihn zurück in seinen Gürtel. Ich wandte mich ab und ging auf das näher rückende Heer zu. Mein Herz pochte mir hart in der Brust. Die woberokischen Soldaten rückten näher, die Fahnen Woberoks wehten im Wind und der Regen peitschte regelrecht auf uns nieder. Es war nichts zu hören, als das Prasseln und Stapfen hunderter Stiefel.

Meine Beine waren weich und ich spürte, wie der Regen mich durchnässte. Meine Haare klebten mir im Gesicht.

Plötzlich tauchte der Rappe meines Mannes vor mir auf und ein hochgewachsener Mann saß auf seinem Rücken. Er fing zu galoppieren an und kam schnell näher. Zwei Männer begleiteten ihn und ruckartig kamen sie vor mir zum Stehen.

Der Mann sprang vom Rücken des Pferdes und riss sich den Helm herunter. »Kira?!«

Die Stimme meines Mannes zerschnitt die Luft wie ein Schwert.

War ich mir eben noch vollkommen sicher gewesen, so rutschte mir nun doch das Herz in die Hose.

Regan stürmte auf mich zu, packte mich und wirbelte mich herum. Er presste mich so fest an sich, dass es beinahe schmerzte.

»Oh ihr Götter! Danke, danke!«, flüsterte er an meinem Ohr. »Ich habe so lange nach dir gesucht!«

Ich starrte ihn nur an, sah die Freude in seinem Gesicht... die ich gleich zerstören würde. Ich flehte im Stillen die Götter an, er möge mir eines Tages verzeihen, was ich ihm gleich antun würde. Er hatte sich solche Sorgen gemacht, schien fast wahnsinnig vor Angst um mich geworden zu sein. Er hatte eine Armee aufgestellt, um mich zurückzuholen. Und nun würde ich all das vernichten.

Er beugte sich zu mir und presste seine Lippen auf meinen Mund. Ich spürte die Verzweiflung, die Liebe und Sehnsucht in seinem Kuss. So gerne hätte ich ihm nachgegeben und hätte mich in diesen Kuss fallen lassen. Doch ich konnte es nicht. Fenris und er würden sterben, wenn ich nicht tat, was ich tun musste. Das wäre das Schlimmste, was mir passieren konnte. Es war schlimmer, als wenn er mich für immer hassen würde.

Ich stieß Regan von mir und es zerriss mir das Herz.

»Kira, was...?«

Ich funkelte ihn an. »Geh.«

Regan fuhr zurück und starrte mich entgeistert an. »Was?«

»Du sollst gehen.«

Er blickte zu seinen Männern, die ein Stück entfernt standen, dann auf seine Armee, dann wieder zu mir. »Aber, Kira! Du bist jetzt in Sicherheit! Es ist alles gut, wir können nach Hause!«

Ich lächelte bitter und schüttelte den Kopf. »Nach Hause... Woberok ist nicht mein Zuhause. Ich bin hier zuhause.«

Regans Augen weiteten sich, er wollte nach mir greifen, aber ich entzog mich ihm.

»Ich will, dass du gehst.«, sagte ich erneut.

»Was zur Hölle soll das heißen? Bist du wahnsinnig? Wir gehen jetzt nach Hause!« Er kam auf mich zu, aber ich wich ihm erneut aus.

»Wir gehen nirgendwo hin und ich lasse mir keine Befehle mehr von dir erteilen!«, fauchte ich ihn an und spürte tatsächlich Wut in mir. »Du hast mich nie respektiert. Du hast mir immer nur Befehle erteilt und mir gesagt, was ich zu tun habe. Wie sähe unser Leben aus, wenn ich jetzt mit dir käme, hm?«

Er sah so verwirrt aus, dass es mir das Herz brach. Doch es wäre eine Lüge, wenn ich sagen würde, dass ich diese Frage nur gestellt hätte, um ihn zu verjagen.

»Das dachte ich mir.«, sagte ich kühl. »Nein. Ich bin nicht mehr bereit dazu. Ich bin stärker geworden, seit ich hier bin. Du warst nicht da, als ich dich gebraucht habe. Als ich beinahe zu Tode gefoltert wurde.«

»Sie haben was getan?!«, knurrte er.

»Sie haben mich stärker gemacht!«, brüllte ich zurück. »Sie haben mir beigebracht, dass nur ich mir helfen kann. Dass ich mich auf niemanden verlassen kann und besonders nicht auf einen Ehemann, der mich behandelt, als wäre ich sein Eigentum.«

»Kira, bitte. Lass uns nach Hause gehen, dann wird alles gut. Dann hast du Frieden, wir schaffen das. Egal, was sie mit dir gemacht haben, wie sehr sie dich verdreht haben, wir schaffen das.« Er wollte meine Hände berühren, aber ich riss sie fort.

»Sie haben mich nicht verdreht!« Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben mich aufgeweckt. Mir gezeigt, wer ich wirklich bin. Und ich bin kein braves Mütterchen, das vor dem Kamin Söckchen strickt! Ich bin eine Kriegerin, die Männer schlachtet.«

»Oh bei den Göttern, was haben sie nur mit dir gemacht?!«

Langsam kochte die Wut in mir hoch und die Sorge, dass er bei dem, was er erfuhr, erst recht nicht abziehen würde. Er würde sterben, wenn ich ihn nicht zum Gehen bewegen konnte. Aber er hörte mir überhaupt nicht zu! Verzweifelt suchte ich nach einer Möglichkeit, ihn fortzujagen. Ein für alle Mal, er musste einfach weggehen! Plötzlich kam mir eine Idee. Eine grausame Idee, die alles, was uns bisher verbunden hatte, zerstören würde. Unwiderbringlich dahin wäre unsere Liebe, die wir einst füreinander empfunden hatten.

Ich atmete ruhig und schloss die Augen, spürte den Regen auf meinem Gesicht. »Ich liebe dich nicht mehr.«

Regan zuckte zusammen.

Ich öffnete die Augen, sah ihn unverwandt an. Mein Gesicht war vollkommen gleichgültig.

»Was sagst du da?«

»Ich liebe dich nicht mehr. Ich liebe einen anderen.«

Er zuckte erneut zusammen. »Was...«

»Und jetzt verschwinde.« Ich zog meinen Ehering vom Finger, kam zu ihm und drückte den Ring in seine Hand.

»Ist das dein Ernst?«

Ich antwortete ihm nicht.

Voller Verbitterung starrte er auf den Ring, dann sah er auf seinen eigenen Ehering. »Ich bin für dich um die halbe Welt geritten...«

Mein Herz zerriss. »Das hättest du nicht tun müssen.«

»Du bist meine Frau. Ich hätte alles für dich getan.«

»Ich bin nicht mehr deine Frau, Regan. Deine Frau ist in dem Moment gestorben, als du sie in deinen Gemächern eingesperrt hast wie einen Singvogel.«

»Also ist es meine Schuld, dass du dich an den Hals von einem anderen schmeißt?« Er knurrte die Worte, zwischen seinen Brauen entstand eine steile Falte. »Hast du mit ihm geschlafen?«

»Willst du wissen, ob er besser fickt als du? Das ist deine einzige Sorge?« Mir wurde heiß und kalt und Wut kochte in mir hoch. Zwar wollte ich, dass er ging, dass er mich hasste. Dass er nur darin einen Sinn sah, dass ich einen anderen hatte, machte mich jedoch unglaublich wütend.

»Anders sehe ich keinen Sinn in dem, was du sagst«, knurrte er.

Ich lachte, mein Herz tat so unglaublich weh. »Gut. Wenn das scheinbar für dich der einzige plausible Grund ist, warum du verschwinden sollst, dann bitte. Ja, ich habe mit ihm geschlafen. Und ja, er fickt besser als du.«, log ich. Ich musste mich beherrschen, um dieses Schauspiel aufrecht zu erhalten.

Er zerrte den Ehering von seinem Finger und schmiss beide Ringe ins nasse Gras. »Wunderbar. Dann werd glücklich hier!«, knurrte er und wandte sich um.

Ich starrte ihm wütend hinterher, mein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Tränen mischten sich in den Regen.

Kurz vor seinem Rappen blieb er ruckartig stehen und kam wieder zurück. »Dann kann ich es dir ja sagen, jetzt wo wir kein Ehepaar mehr sind!«

»Was?«, rief ich und zwang mich zur Ruhe.

 

 

»Ich habe auch mit einer anderen Frau geschlafen! Ist nicht mal zwei Wochen her und weißt du was?! Es hat sich gut angefühlt!« Sein Gesicht war schmerzverzerrt und er schmeckte Tränen auf seinem Gesicht. Wie konnte sie ihm das nur antun? Was glaubte sie eigentlich, wer sie war? Er spürte solch eine Wut in sich und am liebsten hätte er mit dem Schwert auf irgendwas eingedroschen. Wie sie einfach dastand und ihm sagte, dass ein anderer Mann sie berührt hatte, sich ihren Körper zu Eigen gemacht hatte. Die Vorstellung alleine machte ihn fast wahnsinnig, wie ein fremder Mann sie in das Bettfell drückte, ihre Kleidung herunter zerrte und sich in ihr versenkte. Sie berührte, zum Stöhnen brachte und sie über diese Klippe stieß, die ihr absolute Erlösung brachte.

Er hätte sie ohrfeigen können, solche Wut hatte er auf sie.

Wie konnte sie ihm das antun?

Eine Frau Woberoks hätte nicht einmal gewagt, an so etwas zu denken.

»Kartanische Hure«, fauchte er und er konnte einfach nicht mehr an sich halten.

 

 

Benommen sah ich ihm in die eisblauen Augen. Er hatte mich betrogen? Als er noch gar nicht wusste, dass ich ihm diese Lügen auftischen würde? Der Schmerz in meiner Brust machte mich beinahe taub, sodass ich die Beleidigung beinahe gar nicht vernahm. Doch dann blieb der Regen in der Luft stehen und ich starrte ihn jetzt unverwandt an.

»Verschwinde, bevor ich mich vergesse.«, knurrte ich ihn an und meine Stimme klirrte wie Eis. »Ich bin eine Löwin und auch, wenn ich dich betrogen habe, warst du nicht besser. Ich begebe mich immerhin nicht auf so ein Niveau herab.«

Regan sah sich um, sah wie die Regentropfen einfach in der Luft hingen, dann warf er noch einen verächtlichen Blick auf mich, ehe er ausspuckte und sich auf sein Pferd schwang. Er riss die Zügel herum und deutete seinen Männern an, ihm zu folgen. Ich beobachtete eine ganze Weile lang den Horizont, bis nichts mehr darauf deutete, dass diese Armee jemals da gewesen war.

Kraftlos sackte ich in die Knie und die Regentropfen klatschten lauthals zu Boden, bevor es normal weiterregnete. Ich kroch auf allen Vieren durchs Gras bis ich die Eheringe gefunden hatte. Ich presste sie fest an mich und ließ sie in meine Tasche gleiten, bevor Malik es mitbekommen würde. Benommen hob ich den Kopf und blickte in den Himmel, an dem die Gewitterwolken vorbei zogen. Alles war fort. Alles, was ich liebte war weg.

Mein Mann glaubte, ich hätte eine Affäre. Er selbst hatte eine und jetzt hasste er mich. Fenris hatte mich angelogen. Mein Bruder war tot. Ich schluchzte auf und spürte den Schmerz tief in meiner Brust. Alles war zerstört. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich auch den letzten Rest verlieren würde, den ich liebte. Meine Eltern, meine noch lebenden drei Brüder, meine Freunde in Woberok waren schon weg. Ich war alleine.

»Gut gemacht«, hauchte Malik leise.

Ich sah zu ihm hoch.

Er war das Einzige, was mir blieb. Malik war der fleischgewordene Schmerz, das dumpfe Pochen im Hinterkopf, die Gänsehaut, wenn ein kühler Luftzug über mich strich. Er war das Flüstern im Wind. Er war die Pein, die Scham, das Leid. Und er würde immer bleiben. Er war tatsächlich der einzige Mensch, den ich niemals verlieren würde. Malik, der Mensch, den ich am wenigsten in meinem Leben wollte, wäre der Einzige, der nie gehen würde.

Er hielt mir eine Hand hin.

Ich schmeckte das Salz meiner Tränen und ergriff seine Hand.

Kapitel 16

 

Er wusste nicht, wie viel Zeit verging. Sie ritten und ritten bis Fenral weit hinter ihnen lag. Seine Männer waren unruhig und wütend, da der Kampf, auf den sie sich vorbereitet hatten, nicht stattgefunden hatte. Regan hatte Mühe, zu verbergen, dass Kira ihn einfach fortgeschickt hatte. Wie einen reudigen Köter in seine Hundehütte. Wie würde er vor den Soldaten dastehen, wenn herauskäme, dass er als Kronprinz nicht einmal sein Weibsbild unter Kontrolle hatte, geschweige denn ein ganzes Land? Verzweiflung und Frust stach ihm im Herzen und er konnte es noch immer nicht fassen, was sie getan hatte. Sie hatte den heiligen Bund der Ehe gebrochen und war mit einem anderen Mann ins Bett gegangen.

In diesen Momenten, in denen ihm diese Gedanken kamen, verdrängte er den Gedanken, dass er nicht besser war, als sie.

Er ließ sich in den Tavernen volllaufen und vögelte eine Frau nach der anderen, weil er irgendwas anderes spüren wollte, als den Schmerz darüber, was auf dem Schlachtfeld vor Wochen geschehen war. Er hatte sich einfach wegschicken lassen! Er war ihr gegenüber ausfällig geworden. Er hatte ihre Ringe weggeschmissen. Er hatte sie einfach kampflos aufgegeben. Er kam sich vor wie ein kleines Kind, das nichts auf die Reihe bekam.

Als wenige Wochen später der Brief in sein Zelt wehte, der König in Woberok sei tot, fasste er einen Entschluss. So konnte es nicht weitergehen. Seine Frau hatte er zwar verloren, doch sein Königreich brauchte ihn. Er befahl, alle Zelte abzubrechen und unverzüglich gen Heimat zu reiten. Der Krieg mit Fenral war noch lange nicht abgeblasen, doch er musste seinen rechtmäßigen Platz als König einnehmen und das Chaos beseitigen.

 

 

Ich sah auf die Stadt hinunter, meine Finger umklammerten das Gemäuer. Kühle Nachtluft umwirbelte mein dunkles Haar. Langsam legte ich die Finger um die Ringe, die an einer Kette um meinen Hals gelegt waren. Als ich eines Morgens auf dem Trainingsplatz erschien und Malik die Ringe sah, war er langsam auf mich zugekommen, hatte beinahe sanft mit den Fingern über sie gestrichen und hatte mich dann ruckartig mit einer fließenden Bewegung in den Sand gerammt, dass es mir zwei Rippen gebrochen hatte. Er bestrafte mich dafür und ich ließ mich bestrafen, denn der Schmerz machte mich stärker. Mehr noch, ich forderte ihn heraus. Ich forderte den Schmerz von Malik ein.

Ich wusste, dass ich keine Chance gegen ihn hatte, wenn er mir wirklich etwas antun wollte. Mein Mann war zwar in Sicherheit, Fenris jedoch war noch immer ein Gefangener, den er auf der Stelle töten konnte. Ich würde nicht fliehen, bis unser Schwur erfüllt war. Und solange tat ich das, was ich tun musste, um zu überleben. Es ging nur darum, zu überleben. Und das machte mich stärker, von Minute zu Minute. Malik wusste das. Was seine Beweggründe waren, wusste ich nicht. Er hätte mich auch einfach töten können, dann hätte er sein Ziel erreicht. Er hätte sonst was mit mir anstellen können und ich hätte mich nicht gewehrt.

Aber er fügte mir immer nur so viel Schmerz zu, dass ich es ertragen konnte. Dass ich überlebte.

Ich spürte ihn, noch bevor er das Zimmer betrat. Seine Präsenz, seine Dunkelheit. Die Luft war wie elektrisch aufgeladen, wenn er in der Nähe war. Es dauerte noch einen Moment, bevor ich die Tür zu meinen Gemächern hörte. Seine Schritte waren federnd, langsam. Dann spürte ich seine Hände auf meinen Schultern.

Es lief mir kalt den Rücken runter.

»Vielleicht freut es dich zu hören, dass wir alle Verräter gefunden haben. Die Stadt ist gesäubert und ich werde demnächst zum König gekrönt.«

Ich schluckte kaum hörbar. »Was ist mit Eurem Bruder und Eurer Schwester?«

Sein Griff versteifte sich und wurde härter. »Sie werden nicht weit gekommen sein.«

»Also habt ihr nicht alle Verräter gefunden.«, sagte ich mit einem Lächeln im Gesicht.

Er drehte mich sanft herum, ich sah ihm in die grün leuchtenden Raubtieraugen, bevor ich den Schlag im Gesicht spürte. Ich fuhr mit der Hand zu meinen Lippen und fühlte Blut an den Fingern.

»Es macht dir Spaß, mich immer wieder herauszufordern«, flüsterte er an meinem Ohr.

»Hättet Ihr mich sonst ausgewählt?«, erwiderte ich und ging an ihm vorbei ins Innere des Zimmers. Mein Blick fiel auf die Ecke, in der ich Euros hatte verbluten sehen. Nur noch die verfärbten Steine erinnerten an den Tag vor vier Wochen. Als wir in die Burg zurückgekehrt waren, hatte Malik mich auf mein Zimmer gebracht. Erst da bemerkte er, dass seine Schwester verschwunden war. Es gab nicht einmal Schleifspuren, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Er hatte die Tür verriegelt und mich tagelang alleine gelassen. Ich hatte wieder gehungert und ich hatte diese Zeit über nur vom Regenwasser auf dem schmalen Balkon gelebt. Bis er mir eines Abends ein Kleid aufs Bett warf und mir befahl, mich zu waschen. Er hatte mich in den Festsaal geführt und mir eine Festtafel auftischen lassen. Überall an den Ausgängen standen seine neuen Stadtwachen. Es waren zwielichtige Männer und Frauen, doch ich erkannte auch bekannte Gesichter. Die, die sich ihm unterworfen hatten. Alle anderen waren hingerichtet worden.

Er hatte mich nach dem Mahl auf die Stadtmauer geführt und mir ihre aufgespießten Schädel gezeigt. Ich hatte mich sofort übergeben müssen, als ich die bekannten Gesichter von Dienern sah, die mich gebadet hatten, mich versorgt hatten oder auch nur mit mir geredet hatten. Ich sah Rodrigs Gesicht, der mich vor Malik nicht nur einmal versuchte zu verteidigen. Ich sah das Gesicht von Arnor, dem ich auf dem Weg nach Fenral das Leben gerettet hatte. Ich sah das Gesicht der Heilerin, die mir das Leben gerettet hatte. Und ich sah das Gesicht des Königs, an dessen Tod ich bis zu diesem Moment noch gezweifelt hatte. Das Summen der Fliegen hallte mir noch heute in den Ohren wieder, ihr Blut lief die Stadtmauer herunter.

Ich war in die Knie gesackt, Tränen flossen mir über die Wangen und ich starrte Malik fassungslos an.

»Ihr habt Euren Vater getötet«, flüsterte ich.

Ein befriedigendes Lächeln lag auf seinem Gesicht. »Er war der Einzige, der mich immer zurückgehalten hat, meine wahre Bestimmung auszuleben. Nur, weil Fenris, dieser Bastard von seiner Königin geboren wurde und meine Mutter eine Küchenmagd war. Ich habe mehr Recht auf den Thron gehabt, als mein älterer Bruder. Aber er wählte ihn.«

»Was soll das heißen?«, murmelte ich.

Malik kniete sich vor mich. »Das heißt, dass mein Bruder ein Bastard der Königin ist und mein Vater wählte einen unehelichen Sohn zu seinem Nachfolger, statt seinem Fleisch und Blut.«

Ich öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch er schlug mir ins Gesicht und ich erstickte beinahe an den Worten. Danach hatte er mich zurück in mein Zimmer geschliffen und die Tür verriegelt.

Malik trat zu mir in das Zimmer, betrachtete die Bücher, die auf meinem Bett lagen. »Wie geht es den Rippen?«

Ich trat zum Kamin, um mich aufzuwärmen. Wenn er im Raum war, fiel augenblicklich die Temperatur. »Ich kann morgen wieder trainieren.«

»Sehr gut.«, sagte er und nahm eines der Bücher. »Was macht deine Magie?«

Ich drehte mich zu ihm. »Was ist mit der Magerien im Turm? Warum trainiere ich nicht mit ihr? Ist sie auch tot?«

Er lachte leise, drehte das Buch und warf es dann auf mein Kopfkissen. »Nein, ist sie nicht. Sie ist wohlauf.«

Der Ton in seiner Stimme hatte sich verändert und mir wurde flau im Magen. »Sagt mir nicht, sie hatte etwas mit alldem hier zutun?«

»Dann sage ich es dir eben nicht«, lächelte er und zuckte die Schultern.

Es fiel mir schwer, zu atmen. »Sie hatte nie vor, mir wirklich beizubringen, mich zu verteidigen, oder? All das sollte passieren.«

»Es war Teil der Abmachung. Ich bekomme die Macht über Fenral, wenn ich sie aus dem Turm lasse.«

»Was habt Ihr getan?«, flüsterte ich fassungslos, denn mir waren Fenris' Worte noch zu genau in den Ohren. Es gab einen Grund, warum sie dort oben eingesperrt war.

Malik trat vor mich und nahm mein Gesicht sanft in die Hände. »Das, was ich tun musste, um dich zu bekommen. Und meinen rechtmäßigen Platz als König von Fenral einzunehmen. Und du wirst an meiner Seite herrschen, wenn du endlich verstehst, wofür wir bestimmt sind.«

Meine Tränen tropften auf den Boden.

Seine Hände ließen mich los und er schlug so fest zu, dass es mich von den Füßen riss. Benommen stemmte ich mich auf den Ellenbogen und legte eine Hand an meine pochende Wange.

»Deine Tränen bedeuten gar nichts!«, knurrte er und kniete sich vor mich, nahm meine Hand von meinem Gesicht und ergriff mein Kinn. Er zwang mich, ihm in die grün schimmernden Augen zu blicken und diese Farbe bohrte sich in meine Seele. »Eine Kriegerin muss ihre Tränen töten.«

Wut kochte in mir hoch. Wut darüber, was er mit mir machte. Wut darüber, dass er mir noch immer Lektionen erteilte. Wut darüber, dass ich weinte wie ein kleines Mädchen. Mittlerweile sollte mich eigentlich nichts mehr schocken. Mittlerweile müsste ich darüber erhaben sein. Ich sah ihm unverwandt in die Augen, wagte nicht, meinen Blick abzuwenden. Ich wollte ihm zeigen, dass ich diese Lektion verstanden hatte.

Zufrieden ließ er mich los. »Ich erwarte dich morgenfrüh vor Sonnenaufgang auf dem Trainingsplatz. Wir trainieren mit Magie. Und ich verspreche dir, ich breche dir sämtliche Knochen.«

Ich kam auf die Füße, sah ihn fest an. »Ich wäre über alles andere enttäuscht.«

Er lächelte schief, dann war er aus der Tür verschwunden.

 

 

Er starrte auf das aufgehäufte Holz. Seine Finger waren klamm und umgriffen den Knauf seines Schwertes so fest, dass es schmerzte. Es war totenstill auf dem Platz vor dem Göttertempel. Wie betäubt, ergriff er die Fackel, die ihm ein Diener in die Hand drückte. Wie in Trance ging er über den Platz zu dem Scheiterhaufen. Sein Vater lag darauf einbalsamiert und in weißes Leinen gehüllt. Der König sah aus, als steckte er in einer Art Kukon, bereit, wieder aufzuerstehen.

Regan steckte den Scheiterhaufen mit der Fackel an, trat einen Schritt zurück und sah zu, wie die Flammen den Körper seines Vater zerfraßen. Regentropfen trafen ihn und er streckte das Gesicht gen Himmel. Die Luft stank nach verbranntem Fleisch, raubte ihm fast den Atem. Sein Haar klebte ihm nass an den Schläfen, doch das Feuer ließ sich von der Regenflut nicht stören, bäumte sich schwarz qualmend auf und leckte nach dem Himmel.

Es dauerte drei Stunden, bis vom ehemaligen König nichts mehr übrig war als nasse Asche. Er blieb stur dort stehen.

Die Menschen hatten sich verabschiedet, waren gegangen und nun stand er, nur in Gesellschaft weniger Wachmänner, im Herzen Woberoks und konnte nicht fassen, was in den letzten Monaten geschehen war. Sein Heimweg hatte schier ewig gedauert und mit jedem Tag, den sie weiter Richtung Heimat geritten waren, war er ängstlicher geworden.

Was wäre, wenn er zuhause war? Wie sollte sein Leben ohne Kira aussehen? Was würde man denken, wenn man erfuhr, dass Kira ihn verlassen hatte? Er hatte gewusst, wie sein Leben ausgesehen hätte, als sie noch da war. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie schwanger geworden wäre. Einen gesunden Sohn geboren hätte. Sie hätte viele Kinder bekommen und er hätte seine Pflichten als Kronprinz erfüllt, später als König und sie wäre immer da und hätte auf ihn gewartet. Wäre freudestrahlend im Burghof auf ihn zugekommen, wenn er nach einer langen Reise heimgekommen wäre. Solange hätte sie die Geschäfte im Bergfried übernommen und hätte an seiner Statt geherrscht. Und nun? Diese Zukunft war unweigerlich dahin. Sollte er wieder heiraten? Ein Krieg stand unweigerlich bevor. Auch, wenn Kira ihre Seite gewählt hatte, konnten Fenrals Handlungen nicht ungestraft bleiben.

Er riss sich von dem Anblick der verglühenden Asche los und ging in den Göttertempel. Seine Knie waren weich, als er den Ort erblickte, an dem er sie geheiratet hatte. Dieser Tag war so voller Glück gewesen. Er hatte sie begehrt in ihrem weißen Hochzeitskleid. Ihre zarte Figur, deren Kurven von weißen Schleiern umschmeichelt wurden. Er schloss die Augen, erinnerte sich an ihre Hochzeitsnacht, als er für sie das Blutopfer brachte und auf sein Recht verzichtete, mit ihr zu schlafen. Wie sie sich langsam annäherten und endlich ihre erste gemeinsame Nacht verbrachten. Wie sie sich geliebt hatten.

Er berührte den Finger, an dem, Wochen zuvor, noch ein Ehering gesteckt hatte. Er hatte sie einfach fortgeworfen und jetzt lagen sie irgendwo vor Fenrals Toren im Matsch.

Regan schnürte dieser Gedanke, die Kehle zu. Er hatte nichts, was an ihre Existenz erinnerte. Als wäre sie nur Einbildung gewesen. Nie wirklich da. Als hätte sie nie wirklich ihm gehört... sie hatte nie wirklich ihm gehört.

»Regan?«

Er zuckte zusammen und drehte sich um.

Esme stand dort, ihr schmaler Körper war in ein schwarzes Kleid gehüllt, ihre Augen waren glasig. »Geht es dir gut?«

Regan schluckte hart gegen den Kloß in seiner Kehle an und nickte. »Ja. Ja, es geht mir gut... Nein... Nein es geht mir nicht gut.« Er schluchzte auf und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten.

Esme verzog traurig das Gesicht und kam zu ihm, schlang die Arme um ihn. »Es tut mir alles so leid!«, flüsterte sie.

Er stieß einen schmerzverzerrten Laut aus. »Ich habe sie verloren. Ich habe alles verloren!«

»Die Götter sind grausam, Regan.«

»Das waren nicht die Götter, Esme«, knurrte er und wischte sich über das Gesicht. »Das war ich. Nur ich.«

»Du darfst dir nicht die Schuld daran geben.«, murmelte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann niemand anderem die Schuld geben.«, sagte er verächtlich. »Ich habe sie eingesperrt und sie ihrem Schicksal ausgeliefert. Fast ein Jahr war sie in den Fängen dieser... Menschen. Und jetzt habe ich sie für immer verloren. Und ich war nicht hier, als mein Vater starb. Ich war nicht hier, als du dein Kind verloren hast und mich gebraucht hättest. Ich habe euch alle im Stich gelassen... für nichts.«

Sie schüttelte den Kopf und die Tränen flossen ihr über die Wangen.

»Und weißt du, was das Schlimmste ist?«, rief er, ließ sie los und tigerte im Kreis auf und ab.

»Was?«, hauchte sie.

Er schüttelte wieder den Kopf, als könne er noch immer nicht fassen, was geschehen war. »Ich habe mit allem gerechnet. Ich habe damit gerechnet, dass sie nur noch ein Schatten ihrer Selbst ist. Ich habe damit gerechnet, dass sie sie missbraucht hätten, sie geschlagen, ihr sämtliche Knochen gebrochen hätten. Ehrlich gesagt... ich habe sogar damit gerechnet, dass sie tot ist.«, seine Stimme war zum Ende hin immer kraftloser geworden. »Aber, dass sie mich verlässt. Für einen anderen. Damit hatte ich nicht gerechnet.«

»Es tut mir so leid«, flüsterte sie.

Regan rieb sich über das Gesicht. »Wie selbstgefällig ich war. Wie überheblich ich sie angesehen habe.«, murmelte er. »Ich konnte es nicht fassen, dass sie mich verlässt. Als wäre ich der einzige Mann auf der Welt, der sie glücklich machen könnte. Als wäre ich so ein toller Fang. Götter, ich bin so ein Vollidiot! Weißt du, was ich zu ihr gesagt habe?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich habe sie eine kartanische Hure genannt!«, knurrte er und rieb sich die Augen. »Anstatt mit ihr zu reden und das zu klären, ist mir nur eine Beleidigung eingefallen! Ich habe ihr gesagt, dass ich sie betrogen habe. Ich wollte ihr wehtun und dann habe ich sie beleidigt, obwohl ich kein Deut besser bin, als sie!«

Esme atmete tief durch und rieb sich die Tränen von der Wange. »Was hast du jetzt vor?«

Regan schüttelte wieder den Kopf. »Ich weiß es nicht. Bei den Göttern, Vater ist tot! Einfach so. Ich kann nicht mal meine Ehefrau zurück nach Hause holen, wie soll ich ein Land regieren? Ich kann das alles nicht.« Er ließ sich an dem Altar herab auf den Boden sinken und schloss erschöpft die Augen.

Esme kniete sich vor ihn und ergriff seine Hände. »Regan, jetzt hör mir mal zu. Ich weiß, diesen Schmerz, den du jetzt fühlst... er ist kaum zu ertragen. Aber du musst jetzt stark sein. Ich habe auch keinen Ausweg aus meiner Trauer gesehen. Aber irgendwie muss man weitermachen. Dein Volk braucht dich jetzt. Ein Krieg steht uns bevor. Ich denke nicht, dass Kiras Familie das auf sich beruhen lassen wird. Ihre Eltern werden nach ihr suchen und sie nach Hause holen wollen. Wir müssen uns mit Kartan verbünden und Kira nach Hause holen.«

»Sie liebt einen anderen«, flüsterte er. »Sie würde mich noch mehr hassen, wenn ich sie mit Gewalt von ihm weghole.«

Sie atmete tief ein und aus. »Was schlägst du vor?«

Er lehnte den Kopf an den Altar. »Ich weiß es nicht. Ich... mein Volk ist mir im Moment am Wichtigsten. Mehr kann ich zur Zeit nicht beeinflussen.«

Esme nickte. »Komm, wir müssen deine Krönung vorbereiten und dann bringen wir Ordnung in dieses Chaos.«

Imprint

Text: Peawyn Hunter
Publication Date: 09-15-2024

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