Ich werde nie erwachsen, dessen bin ich mir mittlerweile ganz sicher. Ich sehe nur so aus, als wäre ich es; dabei steckt ganz tief in mir drin noch das Kind, das ich vor dreissig Jahren war. Oder nein, eher ist es das Kind von vor vierundzwanzig Jahren.
Da waren gerade meine zweiten Zähne gewachsen, so schief, wie man sich das nur denken kann. Ich schämte mich deswegen und sprach ab da nur noch, wenn man mich etwas fragte. Und auch das nur widerwillig. Vor dem Spiegel übte ich ein Lächeln ein, bei dem man meine Zähne nicht sehen sollte. Ich wollte nicht als unfreundlich gelten. Noch weniger, da es keinen Anlass gab, mich meiner Schönheit wegen zu mögen.
Doch ich fürchte, die richtige Art Lächeln ist mir bis heute nicht gelungen. Am Ende kommt dabei immer nur so ein schiefes Grinsen heraus, das anscheinend den Geschmack der Leute nicht trifft. (Mit den Jahren wächst bei mir der Verdacht, dass wir so weit von tierischen Ritualen nicht entfernt sind. Ich weiss, dass es zum Beispiel bei Wölfen lebensnotwendig sein kann, die Zähne zu zeigen. Dann nämlich, wenn der Schwächere seine Unterlegenheit erkannt hat. Er hebt den Kopf, entblößt seinen empfindlichen Hals und zeigt die Zähne. Hat er das getan, wird der Stärkere grossmütig von ihm ablassen.)
Ich weiss auch noch, wie ich später - mit dreizehn, vierzehn, fünfzehn - oft versuchte, die blendend weissen Kaugummis in meinem Mund so zurecht zu drücken - ich stülpte sie wie Kronen über mein Gebiss -, dass ich mir betrachten konnte, wie ich ausgesehen hätte mit solch geraden Zähnen, die ich gern gehabt hätte. Zu dieser Zeit schien mir schon alles verloren. Drei Jahre war ich nuschelnd mit der Zahnspange herum gelaufen, um mir hernach sagen zu lassen, dass man mir vier Zähne ziehen und die Prozedur von vorne anfangen müsse.
Ich gehe durch die Welt und kann so viele Dinge nicht begreifen. Mein Wissensdurst ist immens, scheint mir aber kein Stück weiter zu helfen. Mir kommt es vor, als verhielte ich mich stets verkehrt. Ich bewundere alle, die alles richtig zu machen scheinen. Und ich will gar nicht wissen, ob sie selbst das ebenfalls glauben. Ich jedenfalls möchte sehr daran glauben, dass es möglich ist, immer alles richtig zu machen.
Nie weiss ich auf der Strasse, wann der richtige Moment da ist, jemanden zu grüssen. Ich sehe die Leute, die ich grüssen sollte, von fern kommen und senke den Kopf, weil ich es für übertrieben halte, schon aus fünfzig Metern Entfernung zu grüssen. Ich tue, als sei ich im Gedanken, bis sie heran sind, was ich mit einem Blick aus den Augenwinkeln beobachte. Habe ich sie drei, vier, fünf Meter vor mir, hebe ich den Kopf und versuche, allerhand freudigen Ausdruck auf mein Gesicht zu bringen. Aber ich bin so verkrampft, dass ich fürchte, eher gequält auszusehen. Oft passiert es dann, dass ich den richtigen Augenblick verpasse. Dann gehen die Leute unmittelbar vorbei. Ich habe den Gruss schon auf den Lippen, kann ihn nicht mehr zurück halten, während sie sich bereits von mir abgewandt haben in der Vorstellung, ich wolle sie nicht sehen. Ich spüre, wie mein Gesicht rot anläuft, und versuche, meinen ohnehin meist sehr leisen Gruss hinter einer spontanen Geste zu verstecken. Damit es so aussieht, als wären mir - so im Gedanken, wie ich bin - ein paar Worte des inneren Selbstgespräches entfahren. Lieber das, als mit einem unerwiderten Gruss zurück bleiben.
Ich fühle mich der Welt der Erwachsenen ebenso wenig gewachsen wie damals als Kind. Nur kann ich es heute besser verbergen. Viele Unbeholfenheiten kaschiere ich, indem ich eine Individualität zur Schau stelle, die nicht wirklich die meine ist. Ich gebe vor, dieser Welt deshalb in so vielem nicht gerecht zu werden, weil ich das nicht will. Ich verstecke mich hinter einem Anderssein, das nichts anderes ist als mein anhaltendes Kind-Sein.
In guten Stunden rede ich mir ein, den anderen ginge es nicht anders. Auch sie haben ihre Unsicherheiten, die ich eher erleichtert als missbilligend zur Kenntnis nehme. Auch sie versuchen, sich so wahnsinnig individualistisch zu geben. Auch sie schämen sich, wenn man sie auf eine ganz bestimmte Art, verbal oder auch nur mit Blicken, zurecht weist. Denken auch sie an die vielen Situationen ihrer Kindheit, in denen sie immerfort etwas falsch zu machen schienen? Sind auch sie heute noch die Kinder, die sie mal waren? Ich möchte gern glauben, dass es so ist. Ich könnte es beinahe glauben, kämen nicht immer wieder die Momente, in denen ich mich ungeschickter und unsicherer fühle als sie das zu sein scheinen.
Es ist nicht schwierig, mir irgendeine Nachlässigkeit, eine Dummheit, ein Versäumnis einzureden, denn ich bin permanent in Erwartung dessen, dass einer kommt und gerade das tut. Selbst wenn ich mich in Wahrheit korrekt verhalten habe, gelingt es mir nicht, den Irrtum lächelnd aufzuklären oder wenigstens in eine angemessene Abwehrhaltung zu gehen.
Ich beginne zu stottern, viel zu langatmig zu erklären (wenn mir überhaupt die richtigen Worte kommen) und hinterlasse, selbst wenn alles gerade gerückt ist, den Eindruck, meiner Sache offenbar so sicher dann doch nicht gewesen zu sein. Man hat den Verdacht, ich habe mich nur heraus geredet. Ich beneide die Leute, die das tatsächlich können. Sie scheinen es ständig zu tun und haben obendrein Erfolg damit. Während jemand wie ich so wirkt, als mache er ständig alles verkehrt.
Das Einzige, das ich verkehrt mache, ist mich verkehrt zu fühlen, denke ich zuweilen. Und dann frage ich mich, warum das so ist. Längst bin ich abgekommen von der Auffassung, dass es an meiner fehlenden Schönheit liegt. Ich habe sie gesehen, die anderen, die ebenfalls nicht schön sind, aber so tun, als wären sie es. Vielleicht kommt es gar nicht so sehr auf die Wahrheit an, sondern auf die Wahrheit, wie wir sie uns in unseren Köpfen zurecht gelegt haben?
So betrachtet wäre es nichts anderes als eine Denkaufgabe: Richtig werden durch Autosuggestion oder vielleicht die richtigen Eltern, die einen von Anfang an behandeln, als wäre man die einzigartige Prinzessin, die sie sich immer schon gewünscht haben.
Es ist nur eine Art Arbeitshypothese, aber immerhin den Versuch wert, weshalb ich meinen Kindern (deren Mangelhaftigkeit mir durchaus bewusst ist) jeden Tag auf´s Neue einrede, wie klug, schön und geschickt sie doch sind. Nicht allein, um ihnen einst die gleichen Qualen, wie ich sie täglich erleide, zu ersparen, sondern auch, weil sie ja doch sehr dankbare Geschöpfe sind, die einzigen, die mich wirklich lieben, so wie ich bin. Obwohl das kein Verdienst von mir ist, sondern der Mangel einer Alternative. Selbst wenn ich saufen, sie schlagen und vernachlässigen würde (statt sie in allem zu ermutigen), würden sie mich lieben.
Ein Trost ist das nicht, aber vielleicht eine Investition in die Zukunft. Und schliesslich ist da noch dieser Nebeneffekt, dass diese kleinen Menschen, die einstens aus mir kamen, die einzigen sind, die keinerlei Zweifel an mir und meinem Tun hegen. Es gab Zeiten, da glaubten sie, ich könnte um die Ecke sehen oder wüsste auch ohne zu sehen alles. Das, denke ich, ist mehr, als ich von allen anderen erwarten kann. Auf diese Weise auch könnte es geschehen, dass mich die Mutterschaft von meinem eigenen Kindsein erlöst.
Publication Date: 07-19-2008
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Für H., der mir die wichtigen Dinge nie glaubt, obwohl er das tun sollte