Cover

Leseprobe

Das Buch

Kann eine simple Idee ein Königreich ins Wanken bringen?

Bei einem Vortrag stellt der Student Craig Privos eine Erfindung vor, die das Potenzial hat, den Handel zu revolutionieren. Ein gerissener Geschäftsmann sieht daraufhin seine Zeit des Aufstiegs gekommen und nimmt den Absolventen bei sich auf.

Derweil ringt Königin Marisela Caprenius mit den Folgen des vergangenen Krieges. Ihr Vorhaben, im Reich für Frieden und Wohlstand zu sorgen, gerät in Gefahr, als die Protektorate ihre eigenen wirtschaftlichen und politischen Ziele vorantreiben.

Ein Fantasy-Roman, der historische Vorkommnisse aufgreift und in einer Geschichte verwebt, die erschreckend nah an der Realität ist.

Der Auftakt des Zweiteilers!

Der Autor

Rodrik Andersen, Jahrgang 1983, ist hauptberuflich Diplom-Wirtschaftsinformatiker und arbeitet seit vielen Jahren als Berater und Entwickler im IT-Umfeld. Seine Begeisterung für das geschriebene Wort zieht sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Leben. Falls also gerade kein neuer Quellcode-Schnipsel entsteht, arbeitet er an Geschichten, die seinen Hang zum Fantasy- und Science-Fiction-Genre nicht verhehlen können.

Impressum

2. Auflage: Juni 2018

Erstveröffentlichung: Januar 2018

Copyright © 2018 by Rodrik Andersen

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Alle Rechte, einschließlich des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Die in dieser Geschichte beschriebenen Personen, Begebenheiten, Gedanken und Dialoge sind fiktiv.

Gestaltung & Satz: Steffen Gaiser

Unter Verwendung von Bildmaterial:

Pixabay.com

Pexels.com

Münzbeutel auf Cover: Created by Vectorpocket, Kjpargeter - Freepik.com

Burgen auf Landkarte: Designed by Freepik.com

E-Book-Erstellung: Steffen Gaiser

Dieser Titel ist auch als Printausgabe erhältlich.

Impressum

Steffen Gaiser, Zum Bruderhof 12, 72270 Baiersbronn

kontakt@rodrikandersen.de

www.rodrikandersen.de

Rodriks Newsletter abonnieren

Es gibt nichts, was so verheerend ist,

wie eine rationale Strategie in einer irrationalen Welt.

(Frei nach John Maynard Keynes)

Frühling

Kapitel 1

Schon von klein auf hatte Marisela die Gabe besessen, ein Vorhaben richtig einzuschätzen.

Ihr Ansatz war denkbar einfach. Der Schlüssel lag in der Wahrnehmung der Zeit. So hatte sie beobachtet, dass es Tage gab, die einen gefühlten Wimpernschlag andauerten, während sich anderntags alles wie ein zäher Brei in die Länge zog. Rasch war sie zu der Überzeugung gelangt, dass die Zeit schneller verstrich, je sinnvoller die Tätigkeit war, die es zu erledigen galt.

Gemäß dieser Regel musste es sich bei ihrer Reise um ein aussichtsloses Unterfangen handeln.

Vor acht Tagen war Marisela mit der Flotte aufgebrochen. Allerdings fühlte es sich an, als hätten sie acht Wochen auf See zugebracht. Neben Übelkeit und schlaflosen Nächten hatten ihr vor allem tiefe Zweifel zugesetzt. Auf einem Schiff gab es kaum Ablenkung, dafür umso mehr Zeit, um über begangene Fehler nachzudenken. Der Wunsch war beinahe übermächtig geworden, sich von der Richtigkeit ihres Handelns zu überzeugen.

An diesem Nachmittag waren sie in Lory’Saar an Land gegangen. Nun ritt sie in Begleitung einer Gesandtschaft durch einen Landstrich, der seltsam leblos anmutete. Außer verdorrten Grasbüscheln und Sträuchern, die ihre kahlen Äste emporreckten, wollte hier nichts gedeihen. Der graue Himmel verstärkte den trostlosen Eindruck noch.

Als hätte Adrian ihre Gedanken gelesen, sagte er in diesem Moment: »Die Menschen nennen diese Gegend Ödland.«

Marisela blickte zu ihrem Begleiter. »Eine Bezeichnung, die mir aus dem Herzen spricht.«

»Die Einöde bietet Schutz vor feindlichen Übergriffen«, erklärte er ihr. »Hier können wir uns gefahrlos bewegen.«

»Wie kommt es, dass Ihr mit den Landstrichen Lory’Saars vertraut seid?«

»Als Heerführer obliegt es mir, in jeder Hinsicht über unseren Gegner Bescheid zu wissen.«

Marisela sann über die Worte nach, die etwas in ihr berührt hatten. »Manchmal, wenn ich mit Euch rede, gewinne ich den Eindruck, als spreche mein Vater zu mir.«

Ihr entging keineswegs, dass Adrian zögerte. »Mir wurde die Ehre zuteil, von seinem Beispiel zu lernen. Nathaniel hat stets bedauert, dass er nicht bei Euch sein konnte.«

»Mein Vater hat von mir gesprochen?«, fragte Marisela erstaunt.

»Selbstverständlich. Auch aus diesem Grund war ihm der Krieg verhasst.«

»Dessen war ich mir nicht bewusst.«

»Nathaniel war ein herzensguter Mensch«, bezeugte Adrian. »Seine Gefühle teilte er jedoch nur ungern mit. Es passt nicht zur Rolle eines Königs, sein Inneres vor der Welt nach außen zu kehren.«

»Nehme ich da einen versteckten Tadel in Eurer Stimme wahr?«, zeigte sich Marisela amüsiert.

»Was für einen König gilt, muss noch lange nicht für eine Königin gelten. Ich denke, dass Ihr in Eurem Volk hohes Ansehen genießt, eben weil Ihr aussprecht, was Euch bewegt.«

»Tatsächlich? So wisset denn, dass mich seit unserem Aufbruch von Xandarion tiefe Zweifel befallen haben.«

»Wovon sprecht Ihr, meine Königin?«, wollte Adrian wissen.

»Vom Überfall auf die Stadt Neshe’Waar.«

»Mit Verlaub: Der Befehl zum Angriff wurde bereits vor Tagen gegeben. Die Kämpfe sind im Gange, während wir diese Unterhaltung führen.«

Marisela haderte mit sich. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihre Bedenken gegenüber dem Oberbefehlshaber zu äußern. Er sollte nicht den Eindruck gewinnen, dass seine Königin schwach und unentschlossen war. Aber mit wem konnte sie sonst über diese Angelegenheit sprechen?

»Mich treiben die Gründe für unsere Invasion um. Bislang haben wir uns gegen die Übergriffe von Lory’Saar lediglich zur Wehr gesetzt, unser Land und unser Volk verteidigt. Das ist nicht nur verständlich, sondern in vielerlei Hinsicht ehrenwert. Doch nun haben wir es mit der gegensätzlichen Ausgangslage zu tun. Wir sind es, die eine Grenze überschritten haben. Wir sind die Eindringlinge in einem fremden Land. Und wir sind diejenigen, die ihre Waffen gegen wehrlose Menschen erheben und gegen sie zu Felde ziehen.«

»Ihr sprecht von Gewissen und Verantwortung«, brachte es der Heerführer auf den Punkt.

»Was erhoffen wir uns von diesem Angriff?«, begehrte Marisela zu erfahren. »Ich sehe keinen Nutzen darin. Am Ende werden erneut Familien in Calveron den Verlust eines geliebten Menschen zu beklagen haben.«

»Es war der Wunsch eines sterbenden Mannes. Tröstet Euch mit der Gewissheit, dass unser heutiges Tun nicht Euren Willen widerspiegelt.«

Marisela wusste, dass Adrian die Wahrheit sprach. Ihr Vater hatte es so gewollt. Allerdings war ihr auch bewusst, dass sich Nathaniels Geisteszustand im Sterbebett zunehmend umwölkt und seine Gedanken einen wirren Charakter an den Tag gelegt hatten. Die Erinnerungen an diese kummervollen Wochen ließen ihr Tränen in die Augen steigen.

Als sich ihr Vater eines Abends erdreistete und den Angriff auf Lory’Saar forderte, hatte Marisela sein Verhalten als Aufbegehren gegen die Krankheit gedeutet, die ihm die Kontrolle über seinen Körper und Verstand raubte. Andere hingegen hatten ihn beim Wort genommen. Wäre ihr Vater im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten gewesen, so hätte er niemals solch einen Entschluss gefasst. Ihr Vater mochte zwar jeder Herausforderung die Stirn geboten haben, aber er hatte nie die Konfrontation gesucht, geschweige denn den Krieg in irgendeiner Form befürwortet.

Viele behaupteten, des Königs größtes Vermächtnis sei es, das feindliche Heer zurück nach Lory’Saar getrieben zu haben. Für Marisela waren es vielmehr die Maßnahmen, die ihr Vater vor und während des Krieges veranlasst hatte: die Einberufung der Ratsversammlungen in den beiden Protektoraten und am königlichen Hof; das Erlassen neuer Gesetze, welche Rechtssicherheit in Wirtschaft, Handel und Besitztum schufen; die Gründung der Universität von Xandarion. Diese Aspekte hatten dem vom Krieg gezeichneten Reich zu neuer Stärke verholfen und dazu beigetragen, dass das Land wieder florierte. Und an diesem Kurs gedachte Marisela festzuhalten.

Marisela fuhr zusammen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte.

»Ist Euch nicht wohl, meine Königin?«

Obgleich sich ein Großteil von Adrians Gesicht hinter dem Visier seines Helms verbarg, konnte sie die Besorgnis in seinen Augen ablesen. Offenbar hatte der Oberbefehlshaber sie nicht zum ersten Mal angesprochen.

»Nichts weiter. Ich war nur in Gedanken versunken.«

Adrian ließ es dabei bewenden und deutete mit der Hand einen Berg hinauf, auf den sie zuhielten. »Wir sind gleich am Ziel. Ich fürchte, dass wir die letzte Etappe zu Fuß bewältigen müssen. Das Gelände ist für Pferde tückisch.«

Der Heerführer assistierte ihr beim Absitzen. Prüfend nahm Marisela den Anstieg in Augenschein und begutachtete ihr Schuhwerk. Glücklicherweise hatte sie sich für bequeme Kleidung entschieden. Anstatt eines Kleids trug sie Beinlinge, welche typischerweise dem Männergeschlecht vorbehalten waren. Gerade auf Ausflügen, denen kein offizieller Anlass zugrunde lag, griff sie gerne hierauf zurück. Froh stimmte Marisela, dass sie ihren Mantel mitgenommen hatte, der sie vor den kalten Winden schützte. Allerdings besaß der Mantel solche Ausmaße, dass er beim Reiten selbst den hinteren Pferderücken bedeckt hatte. Deshalb ging sie in die Knie und nahm die Schleppe des Mantels auf.

»Wenn Ihr mir bitte folgen würdet, meine Königin. Lasst mich nach einem sicheren Weg Ausschau halten.«

Bedächtig schritt Marisela hinter Adrian her ‒ gefolgt von drei Wächtern ‒, während ein Mann bei den Pferden zurückblieb. Bald verstand sie, was der Heerführer gemeint hatte. Das Gelände war nicht nur steil, sondern auch steinig. Unbedachte Zeitgenossen kamen hier rasch zu Fall. Nachdem sie die Hälfte des Aufstiegs geschafft hatten, ordnete der Oberbefehlshaber eine Pause an. Tatsächlich war Marisela außer Atem. Wiederholt verwünschte sie die Etikette am königlichen Hof, die es einem gekrönten Haupt verwehrte, längere Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen. Als sich ihr Herzschlag beruhigt hatte, zeigte sie an, dass es weitergehen konnte. Schließlich hielt Marisela auf die Kuppe des Berges zu.

Nichts hätte sie auf diesen Anblick vorbereiten können.

Marisela war bislang nie unmittelbar mit dem Krieg konfrontiert worden, da es ihr Vater verstanden hatte, sie von der Front fernzuhalten. Und sie war klug genug gewesen, seine Beweggründe nicht zu hinterfragen. Trotzdem hatte sie die schrecklichen Auswirkungen der Schlachten gesehen, die mit Tod und Zerstörung einhergingen. Die provisorischen Grabhügel erzählten heute noch von den Gräueltaten, die sich damals zugetragen hatten.

Doch nun bekam sie das Antlitz des Krieges zu Gesicht. Ihre Schritte kamen ins Stocken, je näher sie der Kuppe kam, ihre Augen gebannt vom Anblick dessen, was sich in diesem Moment im darunter befindlichen Tal zutrug. Geschockt ließ sie die Schleppe zu Boden fallen, die vom Wind in ihrem Rücken erfasst und, einem Segel gleich, aufgebläht wurde. Mitsamt dem Mantel wurde Marisela nach vorne gepeitscht, bis sie auf dem Berggipfel einen sicheren Stand fand und sich gegen die Naturgewalt behaupten konnte.

Während die Schleppe vor ihr auf und ab flatterte, starrte Marisela auf das Inferno im Tal hinab. Wo sich vormals die blühende Stadt Neshe’Waar befunden hatte, tobte nun eine Feuersbrunst. Aufsteigender Qualm vereinigte sich mit der Wolkendecke. Obgleich die Stadt unter ihr zu weit entfernt lag, glaubte sie doch, den Kampflärm zu vernehmen: das Klirren aufeinandertreffender Schwerter, das Sirren von Bogensehnen, das Schreien, Stöhnen und Wehklagen der miteinander Ringenden und Verwundeten.

Tränen verschleierten Mariselas Blick. Sie wusste nicht zu sagen, ob es Tränen der Trauer oder der Wut waren. Trotzig wischte sie sich über die Augen und zwang sich, die Feuer zu betrachten, die die Stadt verschlangen.

Erst jetzt bemerkte Marisela, dass Adrian neben sie getreten war und ebenfalls auf Neshe’Waar hinabblickte. Er hatte seinen Helm abgenommen und unter den Arm geklemmt. In seinem Gesicht war keine Gefühlsregung zu erkennen. Was musste ein Mensch erlebt, welche Opfer musste er gebracht haben, um eine solche Untat teilnahmslos hinnehmen zu können? Zum ersten Mal zweifelte sie daran, ob sie Adrian Harkov wirklich kannte. Stets hatte sie ihn als ihren Beschützer wahrgenommen. Jetzt sah sie den Krieger vor sich. In diesem Moment trug er nicht nur die eiserne Rüstung am Körper, sondern auch einen unsichtbaren Panzer, den er über sein Herz gelegt hatte.

Sie wandte sich wieder der Stadt zu und versuchte, ihre Empfindungen zu ergründen. Marisela spürte eine erdrückende Beklommenheit in sich aufsteigen, verbunden mit der Gewissheit, einen Fehler begangen zu haben. In ihrer Macht hätte es gestanden, dieses Übel zu verhindern. Deshalb trug sie allein die Verantwortung dafür.

Unvermittelt kamen Marisela die Worte ihres Vaters in den Sinn. Er hatte zu sagen gepflegt, dass Fehlentscheidungen nur dann unverzeihlich waren, wenn man keine Lehren aus ihnen zog. Also fasste sie einen Entschluss: Sie würde es ab sofort weder dulden noch zulassen, dass sich solch ein Ereignis unter ihrer Herrschaft wiederholte. Dies würde Calverons letzte kriegerische Grenzüberschreitung sein! Für die brennende Stadt konnte sie nichts mehr tun. Doch dieser Ort, Neshe’Waar, würde ihr fortan als Mahnmal dienen, um ihr die Konsequenzen des Krieges vor Augen zu führen. Sie starrte auf das Inferno, bis es sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Danach fing sie die Schleppe des Mantels ein und wandte sich an Adrian.

»Zieht die Truppen zurück, sobald die Stadt zerstört ist.«

Der Heerführer stutzte. »Meine Königin, Neshe’Waar ist unser Tor ins Reich Lory’Saar.«

»Dieses Tor wird für uns verschlossen bleiben.«

Adrian war einen Augenblick sprachlos. »Uns bietet sich die einmalige Gelegenheit, ins Reich von Lory’Saar vorzudringen. Diese Chance dürfen wir nicht …«

»Es reicht, Adrian! Mein Entschluss steht fest. Es ist genug Blut vergossen worden. Der Niedergang dieser einen Stadt muss unseren Zwecken genügen.«

»Ich darf Euch daran erinnern, dass unser Feind in der Vergangenheit kein Erbarmen gezeigt hat.«

»Selbst ich habe die Jahre des Krieges miterlebt, wenn auch nicht an der Front. Dies ist keine Schlacht, sondern ein Gemetzel! Wir dürfen unser Verhalten nicht rechtfertigen, indem wir auf Dinge verweisen, die uns angetan worden sind.« Marisela deutete auf die Stadt hinab. »Wir sind besser als das! Ich werde keinen Krieg nach Lory’Saar tragen.«

»Ein Rückzug zeugt von Schwäche«, gab Adrian zu bedenken.

»So lasst die Gefangenen frei. Die Nachricht von der Zerstörung Neshe’Waars sollte den Herrschenden in Lory’Saar Warnung genug sein, dass Calveron nicht nur in der Lage ist, jedes Heer zurückzuschlagen, sondern jederzeit Vergeltung üben kann.«

Adrian musterte sie mit eisigem Blick, wovon sich Marisela jedoch nicht einschüchtern ließ. Schließlich neigte der Heerführer demütig den Kopf, wobei ihm sein Widerwille anzumerken war. »So sei es, meine Königin.« Mit einem Wink entfernten sich zwei ihrer Wächter, um die Befehle an die Hauptmänner im Heer weiterzugeben.

»Ich kann mir vorstellen, wie Euch zumute sein muss. Aber glaubt Ihr, dass Nathaniel in seinen letzten Tagen einen neuen Krieg mit Lory’Saar herbeiführen wollte? Sein Bestreben war es, Calveron zu neuer Blüte zu verhelfen. Ihr kanntet meinen Vater lange genug, um dies zu wissen.«

»Das mag sein. Doch mahnt mich mein Bauchgefühl, dass wir es bereuen werden, diese Chance auf Vergeltung vertan zu haben.«

»Der Tod Unschuldiger kann das uns Widerfahrene nicht ungeschehen machen«, widersprach Marisela bestimmt. »Wir müssen diesen Wahn beenden, bevor er uns alle in den Abgrund reißt. Das schulden wir nicht nur meinem Vater, sondern vor allem unserem Volk.«

Schweigend bekundete Adrian seine Zustimmung und starrte ins Tal hinab, wo ihre Truppen soeben in Kämpfe verwickelt waren. Was jetzt wohl in seinem Kopf vorgeht?, fragte sich Marisela, während sie vergeblich versuchte, seine Miene zu deuten. Schließlich gab sie das Zeichen zum Aufbruch.

»Ich habe genug gesehen. Kehren wir zum Schiff zurück.«

Ruckartig riss sich der Oberbefehlshaber vom Anblick Neshe’Waars los und setzte seinen Helm auf. »Dann lasst mich vorausgehen. Ich werde Euch den Weg weisen, meine Königin.«

Kapitel 2

Eine Woge aus Raunen und Gemurmel umfing Orin, als er den Saal betrat.

Zunächst verharrte er an der Tür, die hinter ihm zugefallen war, und sah sich um. Es war das erste Mal, dass er sich im größten Vorlesungssaal der Universität aufhielt. Durch hohe Fenster strömte reichlich Tageslicht, was dem Raum einen hellen, freundlichen Anstrich verlieh. Trotzdem fühlte er sich spontan an eine Arena erinnert. In einem Halbrund waren hölzerne Sitzreihen angebracht, die sich absenkten, je weiter sie sich vom Eingang entfernten. Am tiefsten Punkt des Saals befand sich eine Art Bühne, von wo aus die Veranstaltung abgehalten wurde.

An Besuchern herrschte kein Mangel. Auf Anhieb erblickte Orin zahlreiche Gesichter, die ihm wohlbekannt waren, da es sich um Personen von Rang und Namen handelte. Heute ignorierte er diese Leute geflissentlich. Niemand wusste, dass er nach Xandarion gereist war. Indes sorgte die Verkleidung dafür, dass seine wahre Identität geheim blieb. Verblüfft stellte er fest, dass sich auch unzählige Studenten eingefunden hatten. Daher dauerte es eine Weile, bis er seine Tochter inmitten ihrer Freundinnen entdeckte. Er hielt auf die Gruppe zu.

Reichlich ungeschickt unternahm Orin den Versuch, sich an den Studentinnen vorbeizudrängeln. Dabei rempelte er seine Tochter an. Fae warf ihm einen empörten Blick zu, kurz darauf wanderten ihre Mundwinkel merklich nach oben. Mit einer Geste deutete er an, dass er gedachte, sich in eine der hinteren Reihen zu begeben.

Er hatte es sich gerade bequem gemacht, als er von der Seite angesprochen wurde.

»Darf ich mich zu Euch setzen, werter Herr?«

Frech blitzten ihm grüne Augen in einem mit Sommersprossen gesprenkelten Gesicht entgegen, das von langen, braunen Haaren eingerahmt wurde. Stolz machte sich beim Anblick seiner Tochter breit, die seinem Empfinden nach viel zu schnell erwachsen geworden war.

»Es wäre mir eine Freude, meine Dame.«

»Ich bin froh, dass du es geschafft hast.«

»Dein Brief hat mich neugierig gemacht. Selbst deine Mutter wunderte sich über die Begeisterung, die aus deinen Worten herauszulesen war.«

»Wieso das denn? Ich kann mich für vieles begeistern.«

Orin lachte. »Das mag wohl sein. Aber für Wirtschaft? Wie oft musste ich deine gelangweilte Miene ertragen, als ich versucht habe, dein Interesse für derlei Themen zu wecken.«

»Aber es geht nicht nur mir so«, beanstandete Fae.

In diesem Punkt musste Orin seiner Tochter recht geben. Es gab sicherlich einen guten Grund, warum sich berühmte Persönlichkeiten aus ganz Calveron im Saal eingefunden hatten. »Um was soll es in dem Vortrag eigentlich gehen?«, erkundigte er sich.

»Außer den Professoren weiß das niemand so genau. Siehst du den Mann dort in der gelben Tunika?« Fae deutete auf einen Kerl, der ihnen den Rücken zuwandte. »Sein Name ist Craig Privos. Er gehört zu den ersten Studenten überhaupt und ist an der Universität wegen seiner Ideen und Ansichten eine Berühmtheit.«

»Ist dem so?«

»Was ich damit sagen will: Jeder erwartet heute den besten Abschlussvortrag aller Absolventen zu hören.«

»Dieser Craig ‒ bist du besser mit ihm bekannt?«

»Nein.«

Nahm Orin einen Hauch von Bedauern in der Stimme seiner Tochter wahr? Er war sich nicht sicher. In ihm keimte der Verdacht, dass Faes Begeisterung weniger dem Vortrag als vielmehr dem Redner selbst galt. Doch schob er den Gedanken zunächst beiseite.

»Zumindest kann ich mir einen Eindruck verschaffen, wie es sein wird, wenn du nächstes Jahr dort unten stehst, um deinen eigenen Vortrag zu halten.«

Fae fasste ihn am Arm. »Nimm Craig bloß nicht zum Vorbild!«

»Ich bin mir sicher, dass du eine hervorragende Rednerin sein wirst.«

»Du verstehst es wirklich, mir Mut einzuflößen …«, beschwerte sich seine Tochter, als ein lautes, durchdringendes Geräusch den Saal erfüllte und die Anwesenden zum Verstummen brachte. Alle Augen richteten sich auf einen älteren Herrn von imposanter Größe, der das Klangholz geschlagen hatte.

»Meine Damen und Herren ‒ der Vortrag des Absolventen Craig Privos wird in wenigen Augenblicken beginnen. Bitte begeben Sie sich zu Ihren Plätzen.«

»Das ist Professor Kemble«, gab Fae Auskunft. »Er unterrichtet im Fach Wirtschaft.«

Orin nickte und erhob sich, um einige Nachzügler vorbeizulassen. Wenig später waren sämtliche Reihen belegt, weshalb sich die meisten Studenten mit Stehplätzen am Eingang begnügen mussten. Allmählich senkte sich Stille über die versammelte Menge. Inzwischen befand sich ein Tisch mit zwei Stühlen im Zentrum der Bühne, wodurch der Vortragende dort nicht gänzlich verloren wirkte.

Der Laut des Klangholzes ertönte ein weiteres Mal.

Neugierig nahm Orin den Absolventen näher in Augenschein. Bei Craig handelte es sich um einen schlanken, hochgewachsenen Burschen. Er besaß dunkles Haar, aber keinen Bart. Sein Kopf wanderte von Sitzreihe zu Sitzreihe, so dass seine aufgeweckten, blauen Augen flüchtig auf jedem einzelnen Besucher ruhten, was die Anspannung im Saal weiter steigerte. Der junge Mann wusste, was er tat.

Kurz schoss es Orin durch den Kopf, dass sich der weite Weg nach Xandarion tatsächlich gelohnt haben könnte …

***

Endlich war sein großer Moment gekommen, jener Augenblick, auf den er so lange gewartet, so lange hingearbeitet hatte.

Umso verwunderlicher war das Gefühl, das sich zunehmend in seiner Magengrube ausbreitete: Muffensausen. Seine Beine fühlten sich mit einem Mal wacklig an, sein Mund war staubtrocken. Es war wie ein Schock. Freudig hatte er diesen Tag herbeigesehnt. Jetzt wünschte er sich, alles wäre bereits überstanden.

Anstatt dieses Gefühl übermächtig werden zu lassen, rief sich Craig zur Ordnung. Er hatte seinen Vortrag akribisch vorbereitet, kannte ihn in- und auswendig ‒ es konnte also nichts schiefgehen. Alles, was er zu tun brauchte, um die im Saal eingekehrte Stille zu durchbrechen, war, die einstudierten Begrüßungsworte aufzusagen. Dass der Saal bis auf den letzten Platz belegt war, spielte keine Rolle. Aus der obersten Reihe gewahrte Craig ein aufmunterndes Zeichen, das von seinem besten Freund Lurowin stammte. Die simple Geste flößte ihm Mut ein. Entschlossen überwand er seine Starre, indem er einen Schritt nach vorne trat und sich der zurechtgelegten Worte entsann.

»Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie alle recht herzlich zu meinem Vortrag und freue mich über Ihr zahlreiches Erscheinen.«

Die Spannung im Raum entlud sich im Gelächter, als alle die übliche Eröffnungsfloskel wiedererkannten, die bei den Professoren zu Beginn einer Vorlesung zum Einsatz kam.

»Mein Name ist Craig Privos und ich studiere Wirtschaft im letzten Studienjahr. Heute werde ich Ihnen ein neues Finanzinstrument vorstellen, welches ich in den vergangenen Monaten entwickelt habe.«

Kurz hielt Craig inne, erleichtert über den Umstand, den ersten Schritt erfolgreich hinter sich gebracht zu haben. »In diesem Zusammenhang werde ich Aspekte zur Sprache bringen, die Ihnen ungewohnt, vielleicht sogar bizarr vorkommen mögen. Deshalb möchte ich Sie darum bitten, Ihre Fragen in der Diskussionsrunde zu stellen, welche im Anschluss an diesen Vortrag folgen wird. Ich bin mir sicher, dass sich einige Unklarheiten im Verlauf des Vortrags von selbst beantworten werden.

Ich beginne mit einer Frage, die Sie höchstwahrscheinlich verwundern wird. Doch die Antwort ist weniger offensichtlich, als es zunächst den Anschein erweckt. Wer kann mir sagen, welchem Wirtschaftszweig im Allgemeinen die wichtigste Rolle zukommt?«

Erwartungsvoll blickte Craig in die Runde. Mehrere Hände schossen empor. Er deutete mit dem Finger auf einen Herrn in der vordersten Reihe. »Ich höre …«

»Den Herstellern von Werkzeugen und Waffen, den Schmieden.«

»Nein, da muss ich Sie leider enttäuschen. Möchte sonst noch jemand seine Meinung äußern? Ja, bitte?« Craig forderte eine Studentin auf, sich zu Wort zu melden.

»Dem Handwerk.«

Craig lächelte. »Wir kommen der Sache näher. Deiner Einschätzung werden sich gewiss noch andere im Saal anschließen. Die Handwerker tragen in hohem Maße zum Ausbau und der Entstehung neuer Städte bei, vollbringen in der Tat Großes. Trotzdem befindet sich eine andere Bevölkerungsgruppe an der Spitze. Es sind die Bauern.«

Mit einem Mal verwandelte sich der Saal in einen summenden Bienenstock, als die Zuhörer miteinander zu tuscheln begannen. Craig geduldete sich, bis wieder Ruhe eingekehrt war.

»Die richtige Antwort lautet folglich: Die Landwirtschaft! Kommt diese Feststellung so überraschend? Lassen Sie uns zusammen darüber nachdenken. Zuvor wurden die Schmiedemeister und Handwerker genannt. Doch sind diese Menschen auf Nahrungsmittel angewiesen – genau wie jeder in diesem Saal. Blicken wir einige Jahrhunderte zurück. Wie sah es zur damaligen Zeit in Calveron aus?«

Craig breitete seine Arme aus und drehte sich einmal im Kreis. »Hier gab es nichts außer Wildnis. Wälder und Wiesen, soweit das Auge reichte. Damals arbeitete nahezu jede menschliche Seele in der Landwirtschaft. Es galt sich mit Nahrungsmitteln zu versorgen, die die eigene Familie über den Winter brachte. Trotz mühsamer Arbeit sah man sich oftmals mit Hungersnöten konfrontiert. Das Anlegen von Vorräten war illusorisch. Die Menschen mussten mit dem Wenigen auskommen, was der Boden willens war, ihnen zu geben. An die Gründung einer Stadt verschwendete niemand einen Gedanken. Aber wie kam es dann überhaupt dazu?«

Craig, der während seines Monologs auf der Bühne auf und ab geschritten war, hielt abrupt inne. »Die Landwirtschaft hat innerhalb von wenigen Jahrzehnten einen fulminanten Wandel durchlaufen. Diese Entwicklung kann auf folgende Umstände zurückgeführt werden.«

Er reckte den Daumen in die Höhe. »Erstens: Der Ochse als allseitiges Nutztier wurde nach und nach durch das Pferd abgelöst als die Bauern folgerichtig erkannten, dass das Pferd über die größere Leistungsfähigkeit und Ausdauer verfügt.«

»Zweitens«, sein Zeigefinger wanderte nach oben, »kamen neue Anschirrmethoden zum Einsatz. Das Stirnjoch für den Ochsen und das Kummet für das Pferd, welche den Druck auf Brustkorb und Schultern der Tiere verteilten, sorgten dafür, dass die Zuglast der Tiere um ein Vielfaches gesteigert wurde.

Dieser Umstand ebnete den Weg«, er erhob den nächsten Finger, »für eine dritte Verbesserung: den Räderpflug. Dieser erforderte zwar wesentlich mehr Zugkraft als der Hakenpflug – was durch den Einsatz von Pferden in Verbindung mit der neuen Anschirrmethode gewährleistet war –, brachte aber große Vorteile mit sich. Durch die gleichzeitige Ausführung mehrerer Aufgaben, nämlich dem Aufreißen des Erdreichs«, er führte die Bewegung zur Demonstration mit der Hand aus, »dem waagrechten Abschneiden der Erde sowie dem Umlegen und der Zerkleinerung der Erde – waren nun schwierige Böden nutzbar. Zudem schlug sich sein Einsatz in einer großen Arbeitsersparnis nieder. Doch der Räderpflug hätte seinen Siegeszug bestimmt nicht angetreten, wenn dessen Einzelteile aus zerbrechlichem Holz bestanden hätten.«

Craig hob den nächsten Finger. »Dies führt uns zu Punkt vier: der Gewinnung und Nutzung von Metall. Zu jener Zeit verbreitete sich gerade die Kunde von der Metallurgie. Später wurden Erzvorkommen in den Bergen von Galanthor entdeckt, was maßgeblich zur Gründung der gleichnamigen Stadt beigetragen hat. Die Herstellung von Werkzeugen aus Metall kam in hohem Maße der Landwirtschaft zugute. Neben dem bereits erwähnten Räderpflug wurde die Sichel durch die Sense verdrängt. Außerdem kamen neue Werkzeuge zum Einsatz. Als Beispiel sei die Egge genannt, die den Erdboden lockerte und zerkrümelte und damit Rechen und Hacke ablöste. Darüber hinaus konnten Pferde mit Hufeisen beschlagen werden, was die Arbeit auf dem Feld weiter beschleunigte.

Hinzu kamen gänzlich neue Entwicklungen und Ansätze, die sich ausbreiteten.« Bedächtig hob Craig den kleinen Finger und zeigte damit seine geöffnete Handfläche. »Die Anwendung der Dreifelderwirtschaft führte zu höheren Erträgen. Die Nutzung von Wind- und Wasserkraft brachte den Müllern eine große Arbeitsersparnis, indem das Dreschen des Korns weitestgehend entfiel.«

Craig hielt inne, damit seine Zuhörer seine Ausführungen verdauen konnten. Noch konnte er unter den Zuschauern keine fragenden Gesichter entdecken. Allerdings spürte er auch keine richtige Spannung. Letzteres galt es zu ändern.

»Demnach führten die genannten fünf Punkte – das Pferd als Nutztier, neue Anschirrmethoden, der Einsatz des Räderpflugs, die Verbreitung der Metallurgie sowie die Anwendung neuer Anbaumethoden in Verbindung mit der Nutzung von Wind- und Wasserkraft – zu einer beachtlichen Ertragssteigerung und Arbeitsersparnis. Mit einem Mal sahen sich die Bauern in der Lage, ihren Überschuss an Produkten zum Verkauf anzubieten. Die gleiche Anzahl Menschen war plötzlich in der Lage, größere Felder zu bestellen. Die vorhandenen Anbauflächen konnten folglich ausgedehnt werden. Die Voraussetzungen waren geschaffen, um Städte zu gründen und deren Wachstum voranzutreiben.

Lassen Sie mich an dieser Stelle zwei Fragen stellen, die Sie bitte per Handzeichen beantworten: Wer von Ihnen ist in der Landwirtschaft tätig, arbeitet also auf einem Bauernhof?«

Arme wurden emporgereckt. Craig schätzte, dass sich jeder Zehnte meldete.

»In Ordnung. Und wessen Eltern sind in der Landwirtschaft tätig?«

Der Unterschied war deutlich erkennbar; weit über die Hälfte aller Anwesenden gab Handzeichen.

»Verblüffend, nicht wahr? Meine erste Frage hätte auch lauten können, wer nachher freiwillig den Saal putzen möchte, die zweite hingegen, wer gerne etwas geschenkt bekommt.«

Heiteres Gelächter brandete im Saal auf.

»Kann mir jemand sagen, warum es sich so verhält?«

Jetzt meldete sich sein Förderer, Professor Kemble, zu Wort. »Indem unsere Eltern täglich ihre Ländereien bestellen und für einen Überschuss an Nahrungsmitteln sorgen, ermöglichen sie es uns, in der Stadt zu leben und die Universität zu besuchen.«

Craig deutete auf den Professor, während er in die Runde blickte. »Genau so ist es! Unsere Eltern konnten es sich erlauben, uns in die Stadt ziehen zu lassen. Wir hatten dadurch die Möglichkeit, uns anderen Interessenschwerpunkten zuzuwenden. Diese Entwicklung führte zu einer größeren Arbeitsteilung und Spezialisierung.

Und mir ist während meiner Recherchen eine Sache klar geworden, der sich wohl nur wenige Menschen in Calveron bewusst sind«, deutete Craig an, entfernte sich einige Schritte von den Sitzreihen, um dann effektvoll herumzuwirbeln. »Die Geschichte selbst, unsere Vergangenheit, bezeugt, dass die Entwicklung von Städten einhergeht mit den Entwicklungen in der Landwirtschaft! Von der Landwirtschaft hängt maßgeblich ab, ob Städte gedeihen oder untergehen, sie ist schlicht das Fundament unserer Gesellschaft – und ein besonders breites noch dazu. Denn trotz der Fortschritte, die in der Landwirtschaft gemacht worden sind, arbeitet ein Großteil der Menschen nach wie vor auf Bauernhöfen. In welch glücklicher Situation befinden wir uns demnach, dass wir heute alle hier sein können!«

Beredtes Schweigen machte sich im Saal breit, als Craig eine Pause einlegte. Ein Blick in die Gesichter ließ erkennen, dass seine Rede Wirkung zeigte. Ihm war es damals nicht anders ergangen, als sich bei seinen Nachforschungen der Nebel der Unwissenheit zusehends gelichtet hatte, um die Wahrheit zutage zu fördern.

»Diese Erkenntnis hat mich dazu bewogen, die Landwirtschaft in den Mittelpunkt meines Vortrags zu rücken. Denn mir fiel auf: Obwohl in diesem Bereich große Fortschritte erzielt worden sind, gibt es immer noch zwei Probleme, mit denen sich jeder Bauer auseinandersetzen muss. Welche Probleme könnten das sein?«

»Die Ernte könnte kaputtgehen«, warf jemand seine Vermutung in den Raum.

»Das ist korrekt. Eine ständige Sorge, die Bauern umtreibt, ist der Ernteausfall. Gegen Wetter und Witterung ist der Mensch machtlos. Wir müssen Regen, Hitze und Frost hinnehmen, wie sie kommen. Außerdem haben Bauern mit Plagen zu kämpfen, welche Pflanzen befallen und die Ernte schädigen oder im schlimmsten Fall sogar vernichten. Bei solchen Katastrophen sind den Bauern die Hände gebunden. Sie können nur hoffen, dass ein Teil der Ernte durchkommt.«

Erwartungsvoll musterte Craig sein Publikum. »Und was könnte das zweite Problem sein? Die Antwort auf diese Frage mag weniger offensichtlich erscheinen …«

Tatsächlich meldete sich dieses Mal niemand zu Wort. Um die Stille im Saal nicht übermächtig werden zu lassen, fuhr Craig mit seinen Ausführungen fort: »Ich spreche vom Preisrisiko der Bauern.«

Jetzt waren einige nachdenkliche Mienen auf den Rängen zu erkennen.

»In den letzten Jahren konnte man beobachten, dass mehr Nahrungsmittel produziert worden sind als von den Menschen verzehrt wurden. Deshalb hatte jeder von uns genug zu essen und es konnten Vorräte für schlechtere Zeiten angelegt werden. Aber durch dieses vorherrschende Überangebot, gerade zur Erntezeit, sind zahlreiche Lebensmittelpreise gesunken. Obwohl die Bauern also mehr Nahrungsmittel denn je zur freien Verfügung haben, bekommen sie auf den Märkten im Vergleich zu den vorherigen Jahren weniger Geld dafür.«

Craig hielt an und verschränkte die Arme hinter seinem Rücken. »Nun wird sich manch einer im Saal die Frage stellen: Was geht mich das an?« Er zuckte mit den Schultern, um diese innerliche Mir-doch-egal-Einstellung zu betonen. »Dann haben die Bauern eben weniger Geld in der Tasche.«

Vielen Zuhörern war anzusehen, dass sie sich gern seinem Urteil anschlossen. Daher nahm Craig wieder Haltung an und widersprach sich selbst mit einer Entschlossenheit, die von tiefster Überzeugung kündete. »Es geht mich etwas an! Es geht jeden von uns an! Alles andere wäre ein gefährlicher Trugschluss! Aufgrund der Feststellungen, die wir soeben miteinander durchgesprochen haben, wissen wir, dass das Wachsen der Städte vom Gedeihen der Landwirtschaft abhängt. Wenn die Preise also weiter fallen, werden die Bauern weniger Geld verdienen. Wenn die Bauern weniger Geld verdienen, können sie sich weniger neues Werkzeug kaufen. Folglich werden die Bauern auf lange Sicht weniger Überschüsse an Nahrungsmitteln erzielen können. Und eine solche Entwicklung wird auch an Calverons Städten nicht folgenlos vorübergehen. Es liegt in unserem Interesse, die Preise für Lebensmittel auf einem Niveau zu halten, welches es den Bauern erlaubt, ihre Ausgangssituation weiter zu verbessern. Denn nur über zusätzliche Nahrungsmittel kann die Bevölkerung gesund wachsen – und mit der Bevölkerung die Städte.«

Seine anfängliche Aufregung war inzwischen verflogen und hatte Begeisterung Platz gemacht. Jetzt befand sich Craig in seinem Element. Er liebte es, Menschen zum Nachdenken zu bringen und ihr Weltbild auf den Kopf zu stellen. Nun, da er das Publikum mit den Rahmenbedingungen und Hintergründen seines Themas vertraut gemacht hatte, konnte er zum Kern seines Vortrags vorstoßen.

»Leider ‒ so fürchte ich ‒ gibt es keine Lösung, die Ernteausfälle komplett verhindert. Die Menschen können weder auf das Wetter noch auf das Ausbleiben oder den Ausbruch von Plagen Einfluss nehmen. Und was das Preisrisiko der Bauern anbelangt, werden sich die Menschen wohl kaum mit festgeschriebenen Lebensmittelpreisen zufriedengeben. Aus diesem Grund suchte ich stattdessen nach einer Möglichkeit, um das Preisrisiko auf ein erträgliches Maß zu beschränken. Heute möchte ich Ihnen diesen Lösungsansatz in Form eines neuen Finanzinstruments vorstellen. Hierzu benötige ich einen Freiwilligen.«

Erwartungsgemäß überwog im Publikum vorsichtige Zurückhaltung.

»Es handelt sich um ein kleines Theaterstück. Niemand?«

Gerade beabsichtigte Craig, sich einen Freiwilligen selbst auszusuchen, als eine einzelne Hand nach oben schoss, die zu einer hübschen Frau gehörte. »Wunderbar! Ich bitte um Applaus für unsere Freiwillige. Wenn du bitte zu mir kommen würdest …«

Aufmunterndes Klatschen setzte im Publikum ein. Zunächst blieb die Frau wie erstarrt sitzen. Dann wandte sie sich an einen älteren Herrn, der neben ihr saß. Sie schien mit ihm zu streiten.

Was geht denn dort vor sich?, wunderte sich Craig. Schließlich erhob sich die Freiwillige und suchte einen Weg auf die Bühne. Dabei musterte er sie unverfroren. In ihrem lindgrünen Kleid sah die junge Frau hinreißend aus. Er deutete eine Verbeugung an.

»Danke, dass du dich gemeldet hast. Wie ist dein Name?«

»Ich heiße Fae«, hauchte sie ihm schüchtern entgegen.

»Keine Sorge ‒ es ist nur halb so schlimm und wird nicht lange dauern.«

Er geleitete Fae zum Tisch, wo er ihr einen der beiden Stühle zurechtrückte, damit sie Platz nehmen konnte. Dann begab er sich zum anderen Ende des Tisches.

»Wir werden nun Zeuge eines Geschäfts. Ich übernehme die Rolle eines Müllers, bin also der Besitzer einer Mühle. Fae wird eine Bäuerin mimen, die ebenfalls über die finanziellen Geschicke ihres Bauernhofes bestimmt.«

Gelächter war aus den Reihen zu vernehmen.

»Zu Beginn legen wir fest, dass Fae über 36 Säcke Getreide verfügt, die in diesem Jahr geerntet worden sind. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Aufteilung der Ernte, wie es hier gleich gezeigt wird, die Verhältnisse auf den meisten Höfen in Calveron widerspiegelt.«

Craig nahm ebenfalls Platz. Er griff in eine Tasche seiner Tunika und holte einen Lederbeutel hervor, den er öffnete und ausschüttelte. Drei Dutzend Holzklötze in unterschiedlichen Farben purzelten lautstark auf den Tisch. Erneut war Lachen von den Rängen zu vernehmen, als das Spielzeug aus Kindertagen zum Vorschein kam, welches er in die Mitte des Tisches schob.

»Seid gegrüßt, geschätzte Bäuerin. Wie jedes Jahr komme ich zu Euch, um Eure Getreideernte abzukaufen. Meinen Mühlsteinen verlangt es nach Arbeit.« Craig deutete mit der Hand auf den Haufen Klötze in der Tischmitte. »Wie ich sehe, könnt Ihr drei Dutzend Säcke Getreide Euer Eigen nennen. Wie viel davon könnt Ihr entbehren?«

Faes Blick huschte ratlos zwischen ihm und den Holzklötzen hin und her. Woher sollte sie auch wissen, worauf er abzielte?

»Was bleibt Euch denn, wenn Ihr die Saat für das nächste Jahr zurücklegt …«, Craig türmte demonstrativ neun blaue Holzklötze aufeinander und schob den Stapel an den Rand des Tisches, so dass das Publikum das Ergebnis begutachten konnte, »… und Ihr Eure Steuern und Pachten in Naturalien abbezahlt habt?« Zwölf rote Klötze wurden aufeinandergestapelt und wanderten zur Seite. »Dann müsst Ihr Euer Vieh ernähren.« Ein Stapel von drei grünen Klötzen gesellte sich zu den beiden anderen Türmen. In der Tischmitte befanden sich jetzt noch ein Dutzend Klötze, die gelb gefärbt waren. »Und schließlich soll Eure Familie nicht am Hungertuch nagen, weshalb Ihr einen Teil der Ernte für die Euren zurückhalten müsst.« Craig nahm acht der gelben Klötze und stapelte sie neben den ersten drei Türmen aufeinander.

Aufmerksam war Fae seinen Ausführungen gefolgt und betrachtete die verbliebenen Klötze in der Tischmitte. Sie schaute ihn an und verkündete mit lauter Stimme: »Lieber Müllersmann, ich kann Euch vier Säcke Getreide zum Verkauf anbieten.«

»Vier Säcke Getreide sagt Ihr«, wiederholte Craig und fügte an das Publikum gerichtet hinzu: »Für den Verkauf verbleibt also ein wenig mehr als der zehnte Teil der gesamten Ernte. Nicht gerade viel, wenn wir uns die gesamte Getreideernte vor Augen halten.« Er stellte den zum Verkauf stehenden Stapel den anderen Türmen gegenüber. Die vier gelben Klötze hätten regelrecht verloren gewirkt, wäre da nicht der grüne Turm für das Viehfutter gewesen.

Nun holte er einen weiteren Lederbeutel hervor, aus dem er acht Münzen entnahm und in die freigewordene Tischmitte legte. »Ich biete Euch zwei Münzen je Sack an.« Mit einem Nicken gab er Fae zu verstehen, dass sie sein Angebot annehmen soll.

»Einverstanden.«

Fae sammelte die Münzen ein und legte sie auf ihrer Tischhälfte ab. Währenddessen nahm Craig die vier gelben Klötze auf seine Seite des Tisches. Er wandte sich an die Zuschauer. »Sie wurden soeben Zeuge eines Handels, wie er sich jeden Tag auf zahlreichen Märkten im Reich zuträgt. Anstatt mich zu verabschieden, werde ich der Bäuerin ein weiteres Angebot unterbreiten.«

Ermutigend zwinkerte er Fae zu. »Ich sehe, dass es sich bei Euch und Eurer Familie um hart arbeitende Menschen handelt. Auf Euer Wort ist Verlass. Aus diesem Grund möchte ich Euch im nächsten Jahr erneut vier Säcke Getreide zum selben Preis abkaufen.«

Fae, die ihre Scheu inzwischen abgelegt hatte, lächelte ihm zu. »In diesem Fall freue ich mich darauf, Euch im nächsten Jahr wieder bei uns begrüßen zu dürfen, Herr Müller.«

Gelächter erschallte. Das Publikum amüsierte sich prächtig, so viel stand fest.

»Entschuldigt, ich habe mich ungeschickt ausgedrückt. Ich möchte Euch einen Handel vorschlagen, von dem ich glaube, dass er uns beiden zum Vorteil gereicht.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Ich verpflichte mich hiermit dazu, Euch im nächsten Jahr dieselbe Anzahl an Getreidesäcken zum selben Preis, also zwei Münzen pro Sack, abzukaufen. Im Gegenzug verpflichtet Ihr Euch, mir die genannte Anzahl Säcke zu diesem Preis zu verkaufen. Damit hätte Eure nächste Ernte bereits einen festen Käufer.«

Fae ließ sich mit der Antwort Zeit. »Da spricht nichts dagegen. Aber woher weiß ich, dass Ihr im nächsten Jahr vorbeikommt, um die Ware abzuholen und zu bezahlen?«

Verschwörerisch beugte sich Craig zu Fae vor. »Umgekehrt kann ich Euch fragen: Wer garantiert mir, dass Ihr die vier Säcke für mich bereithaltet und nicht an einen anderen Händler weiterverkauft?«

Lachsalven brandeten zu ihnen hinab. Auch Craig konnte sich dieses Mal ein Lachen nicht verkneifen.

»Niemand, schätze ich«, gab ihm Fae recht.

»Vertrauen allein genügt uns also nicht. Aus diesem Grund mache ich Euch einen weiteren Vorschlag, der uns zu gleichberechtigten Partnern in diesem Abkommen macht: Wir beide geben jeweils denselben Betrag – sagen wir vier Münzen – an einen neutralen Verwalter, der für uns dieses Geld aufbewahrt und die Einhaltung unserer Übereinkunft sicherstellt.« Um seinen Worten Taten folgen zu lassen, entnahm er aus seinem Beutel vier weitere Münzen und legte sie in der Mitte des Tisches ab.

Die Art und Weise, wie Fae die vier Münzen beäugte, ließen Skepsis erkennen. Eine Weile spielte sie mit den acht Münzen, die aus dem vorherigen Geschäft stammten.

»Das scheint mir kein guter Handel zu sein, da meine Münzen dann verloren sind.«

»Keineswegs«, widersprach Craig. »Dieser gemeinsame Topf dient als Sicherheit und soll beide Partner dazu anhalten, ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Sollte also jemand von uns beiden gegen unsere Vereinbarung verstoßen, bekommt der andere nicht nur seine eigene Einzahlung vom Verwalter wieder ausbezahlt, sondern auch diejenige seines unzuverlässigen Partners ‒ als Entschädigung sozusagen.«

»Ich verstehe. Und was geschieht mit den Säcken, falls Ihr unsere Vereinbarung brecht?«

»In diesem Fall könnt Ihr Eure Ware nach Belieben weiterverkaufen.«

»Das hört sich vielversprechend an. Ich bin dabei.« Fae fügte ihren Anteil Münzen hinzu.

»Dann darf ich um einen weiteren Applaus für Fae bitten, die ich hiermit entlassen möchte. Ich danke dir.«

Fae lächelte. »Immer wieder gern.«

Sie erhob sich, warf ihm einen Blick zu, den er nicht zu deuten wusste, und mischte sich unter die Zuschauer. Währenddessen nahm Craig erneut seinen Platz im Zentrum der Bühne ein.

»Soeben haben Sie ein neues Finanzinstrument1 kennengelernt, das ich als Termingeschäft bezeichne, weil das Geschäft erst zu einem späteren Zeitpunkt vollzogen wird. Traut es sich jemand aus dem Publikum zu, dessen wesentliche Aspekte aufzuzählen?«

Ein Professor meldete sich zu Wort. »Ein Kunde verpflichtet sich zum Kauf einer bestimmten Ware. Im Gegenzug verpflichtet sich der Verkäufer ebendiese Ware in der erforderlichen Menge für den Kunden innerhalb der vereinbarten Frist bereitzuhalten.«

»Ich hätte es nicht besser in Worte fassen können«, lobte Craig. »Aber das ist noch nicht alles …«

Jetzt nutzte sein Freund Lurowin die Gelegenheit, um sich einzubringen. »Mir scheint, dass ein wesentlicher Punkt darin besteht, den zukünftigen Preis bereits in der Gegenwart festzulegen.«

»Ganz genau! Der Preis der Ware wird einvernehmlich festgelegt – und zwar losgelöst von der Preisentwicklung auf den Märkten. Welche Vorteile ergeben sich daraus? Betrachten wir die Vereinbarung zunächst aus Sicht der Bäuerin.«

Er bewegte sich zur Seite, so dass er unterhalb von Fae stand und auf sie deuten konnte. »Aus welchen Gründen hast du meinen Vorschlag trotz anfänglicher Bedenken doch noch angenommen?«

Faes Wangen röteten sich. »Ich empfand es als angenehm, dass ich mich nicht mehr um den Verkauf meiner Ware für das nächste Jahr kümmern muss. Und sollte der Müller nicht auftauchen, um mir die Ware abzukaufen, so kann ich nicht nur die Säcke einfach weiterverkaufen, sondern bekomme außerdem die Entschädigung vom Verwalter ausgehändigt. Insofern muss ich lediglich sicherstellen, dass ich die zugesagte Anzahl Getreidesäcke für den Müller bereithalte.«

»Ausgezeichnet! Der Bauer kann sich also auf die Bewirtschaftung seiner Ländereien konzentrieren. Er weiß, welche Einkünfte ihm durch seinen zukünftigen Verkauf zur Verfügung stehen, weshalb er besser kalkulieren kann. Zudem sichert sich der Bauer gegen sinkende Marktpreise ab.

Gesetzt den Fall, der Müller hält seine Verpflichtungen nicht ein, kann der Bauer mit der Entschädigung rechnen, die ihm der Verwalter ausbezahlen wird. Diese Entschädigung kann Einbußen abdecken, falls der Verkaufspreis der Ware auf den Märkten inzwischen gesunken sein sollte. Und wie steht es um den Müller?«, wollte Craig vom Publikum wissen. »Wo liegen seine Vorteile?«

»Er kann besser planen!«, ließ jemand verlauten.

»Richtig«, bestätigte Craig. »Für einen Geschäftsmann ist es ungemein wichtig, dass er seine Produktion planen kann. So weiß der Müller, dass er vom Bauern im nächsten Jahr vier Säcke Getreide bekommen wird und kann somit die zu erwartende Menge Mehl zu einem profitablen Preis weiterverkaufen. Zudem sichert er sich gegen steigende Preise ab. Der Müller kann sich demnach gänzlich seinen Mühlsteinen zuwenden. Sollte der Bauer allerdings die vereinbarte Ware in der vereinbarten Menge zum Stichtag nicht vorweisen können, so erhält er die Entschädigung, welche er dazu verwenden kann, die nicht erhaltene Ware anderweitig zu beschaffen. Die Entschädigung mildert also Mehrkosten, sollte der Preis der Ware inzwischen angestiegen sein.

In beiden Fällen mindern die beteiligten Parteien das Risiko von Preisschwankungen ‒ der Bauer sichert sich wirkungsvoll gegen fallende, der Müller gegen steigende Preise ab.«

Craig breitete die Arme aus. »Dies sind die wesentlichen Aspekte meines Termingeschäfts, welches ich Ihnen heute vorstellen wollte. Die verbleibende Zeit möchte ich gerne nutzen, um Ihnen Rede und Antwort zu stehen. Gibt es denn Fragen?«

»Herr Privos, Sie sprachen wiederholt von einem Verwalter, der die Einhaltung der getroffenen Vereinbarung und die damit verbundenen, hinterlegten Sicherheiten überwacht«, merkte ein Herr an, der aufgrund seiner Kleidung den Anschein erweckte, aus betuchtem Haus zu stammen. »Wer soll Ihrer Meinung nach dieser besagte Verwalter sein?«

»Eine berechtigte Frage, auf die ich Ihnen leider noch keine Antwort geben kann. Für mich steht fest, dass es sich vor allem um einen neutralen Verwalter handeln muss, der keine Partei ergreift und somit sicherstellt, dass beide Seiten einander gleichgestellt sind. Nur unter dieser Voraussetzung werden Käufer wie Verkäufer dazu bereit sein, eine solche Vereinbarung einzugehen. Mein persönlicher Wunsch ist die Gründung einer dem Reich angehörenden und unterstellten Einrichtung, die sich ausschließlich um die Abwicklung solcher Geschäfte kümmert. Es wäre aber auch vorstellbar, einen Notar heranzuziehen, der mit Verträgen und Urkunden aller Art vertraut ist.«

»In beiden Fällen würden sowohl für den Käufer als auch den Verkäufer Gebühren anfallen«, gab der Mann zu bedenken. »Da stellt sich für die Beteiligten schnell die Frage, ob sich ein solches Geschäft am Ende überhaupt bezahlt macht.«

»Eine solche Abwägung muss bei jeder Art von Geschäft erfolgen«, entgegnete Craig, der nicht unbedingt zu Beginn der Diskussionsrunde mit derart kritischen Einwänden gerechnet hatte. »Leider leben wir in einer Welt, in der ein Handschlag nicht mehr genügt, um Gewissheit zu haben, dass sich jeder an seine Vereinbarung hält. Aus diesem Grund brauchen wir eine Partei zwischen den Stühlen, die vermittelt und auf Basis des Vertrags Recht walten lässt. Natürlich fällt für diese zusätzliche Partei eine Gebühr an, egal, ob es sich um einen Notar oder eine eigens hierfür geschaffene Einrichtung handelt. Dies mag der Preis für die Vorteile sein, die mein Finanzinstrument mit sich bringt.«

»Aber Sie müssen zugeben, dass durch ein solches Termingeschäft sehr viel Geld gebunden wird, welches dem Käufer und Verkäufer nicht mehr zur Verfügung steht«, nahm ein anderer Herr den Faden auf.

»Das mag sein«, gestand Craig. »Allerdings übersehen Sie, dass die Einlage von beiden Seiten einmalig erbracht werden muss. Letztendlich kommt es nur zur Ausbezahlung der Sicherheitseinlage, wenn jemand seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht nachkommt und dafür bestraft wird, oder dieser Jemand kein Interesse mehr daran hat, solcherlei Verträge abzuschließen. Diese Einlage zeigt den eigenen, guten Willen an und ist zugleich Voraussetzung, um solche Verträge überhaupt eingehen zu dürfen.2 Sie hält allen Beteiligten vor Augen, dass sich ein Vertragsbruch nicht bezahlt macht. Selbstredend ist, dass die Gebühren hingegen bei jedem einzelnen Vertrag anfallen werden und dem Zweck dienen, die Einrichtung zu betreiben und die darin arbeitenden Menschen zu entlohnen.«

Nun meldete sich eine ältere Dame zu Wort. »Ich fürchte, dass ich die Tragweite Ihrer Ausführungen nicht zur Gänze verstanden habe. Denn ich bin zu der Auffassung gelangt, dass das Preisrisiko trotz ihres Finanzinstruments weiterhin bestehen bleibt. Könnten Sie diesen Sachverhalt bitte nochmals erläutern?«

»Liebend gern. Offen gestanden bin ich erfreut darüber, dass Sie diesen wichtigen Punkt zur Sprache bringen. Für einige hier im Saal mag es verrückt klingen, doch genau genommen handelt es sich bei diesem Finanzinstrument um eine Spekulation, in der die Beteiligten von gegensätzlichen Annahmen ausgehen. Während der Käufer auf einen steigenden Preis spekuliert, erwartet der Verkäufer sinkende Preise. Warum verhält sich das so?

Die Erklärung ist denkbar einfach: Der Verkäufer will für seine Waren einen möglichst hohen Preis erzielen, weshalb ein Preisverfall sein Risiko darstellt, dem er entgegenwirken möchte. Beim Käufer verhält es sich genau umgekehrt: Er will seine Ware zu möglichst geringen Preisen erwerben, weshalb ein Preisanstieg sein Risiko ist.

Bislang konnten Käufer und Verkäufer nur darauf hoffen, dass sich die Preise zu ihren Gunsten entwickeln. Durch Termingeschäfte haben aber beide Seiten jetzt die Möglichkeit, das eigene Risiko zu mindern, indem sie sich einvernehmlich auf einen Preis einigen. Sollte der vereinbarte Preis zum Stichtag mit dem Marktpreis zusammenfallen, so gibt es keinen Benachteiligten. Im Regelfall wird sich der Marktpreis jedoch über oder unter dem vereinbarten Preis bewegen, weshalb entweder der Käufer oder Verkäufer einen gewissen Vorteil aus der Vereinbarung ziehen wird. Letztlich profitieren immer beide Parteien davon, da sie den Preisen auf den Märkten nicht mehr hilflos ausgeliefert sind und höhere Planungssicherheit genießen.

Insofern kann auch von einer vertieften Arbeitsteilung gesprochen werden. Während sich der Verkäufer auf die Beschaffung oder Herstellung der Ware konzentrieren kann, konzentriert sich der Käufer auf den Weiterverkauf oder die Veredelung der Ware. Und wenn es beiden Seiten gelingt, ihr jeweiliges Ziel zu erreichen und damit ihren vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen, können sich am Ende alle Beteiligten als Gewinner fühlen.«

Ehrfürchtiges Schweigen folgte auf seine Ausführungen. Erleichtert stellte Craig fest, dass es ihm gelungen war, die kritischen Stimmen im Publikum zu entkräften und zugleich die Unentschlossenen auf seine Seite zu ziehen. Einen besseren Augenblick, um seinen Vortrag zu beenden, würde sich wohl nicht mehr ergeben.

»Leider, so fürchte ich, ist meine Zeit um. Daher bleibt mir nur, Ihnen für das entgegengebrachte Interesse und das rege Mitwirken zu danken. Kommen Sie alle gut nach Hause.«

Craig schloss seine Ausführungen mit einer tiefen Verbeugung. Das Publikum bedachte ihn zunächst mit zögerlichem Applaus, der sich aber rasch zu einem frenetischen Jubel steigerte und lautstark anhielt. Der Saal schien mit einem Mal unter seinen Füßen zu beben. Es war ein unsagbar fantastisches Gefühl!

Dies war der redlich verdiente Lohn für die harte Arbeit, die er in den zurückliegenden Monaten geleistet hatte.

***

Unfassbar! Dieser Teufelskerl hatte es tatsächlich geschafft, ihn zu beeindrucken.

Angestrengt durchforstete Didrik sein Gedächtnis, doch ihm fiel beim besten Willen nicht ein, wann es jemandem zuletzt gelungen war, seine Erwartungen nicht nur zu erfüllen, sondern sogar zu übertreffen. Da schloss er sich den anderen Menschen im Saal zur Abwechslung gerne an, um dem Absolventen durch Beifall Tribut zu zollen.

Wer hätte auch ahnen können, dass sich hinter dem Leichtgewicht ein derartig erfrischender Geist verbirgt? In der Menschenmenge wäre ihm dieser Bursche überhaupt nicht aufgefallen, weil er eher unscheinbar wirkte. Auf der Bühne jedoch hatte er eine Findigkeit an den Tag gelegt, die außerordentlicher Natur war. Widerwillig sprach ihm Didrik sogar Charisma zu, eine Eigenschaft, die nur wenige Menschen besaßen und deshalb besonders wertvoll war. Das Leuchten in den Augen des Absolventen, als er mit Inbrunst über sein Thema referiert hatte ‒ damit hatte er die Herzen im Publikum für sich eingenommen.

Beiläufig schaute er zu seiner Nichte. Ihr schien es wohl ähnlich ergangen zu sein. Gebannt starrte sie auf den Absolventen, der auf der Bühne stand und sich mit Verbeugungen für die anhaltenden Begeisterungsstürme erkenntlich zeigte. Ja, auch Tanya war seiner Wortgewandtheit verfallen.

Zweifellos verfügte dieser Craig Privos über das gewisse Etwas. Jetzt galt es herauszufinden, aus welchem Holz er geschnitzt war. Einen Vortrag zu halten war eine Sache. Bei der Umsetzung handelte es sich um eine ganz andere Größenordnung. Er stupste seine Nichte mit dem Ellenbogen an.

»Was hältst du von ihm?«

Seine Frage drang nur langsam zu ihr durch.

»Wen meinst du?«

»Na, von wem spreche ich wohl?«

Sein Tonfall riss sie endlich aus ihren Gedanken.

»Meinst du Craig? Er ist irgendwie süß.«

Didrik verdrehte die Augen. Er mochte seine Nichte, auch wenn sie manchmal geistig umwölkt schien. Ob sie ihre Anwandlungen von ihrem Vater geerbt hat?, fragte er sich. Wahrscheinlich machte er es sich mit dieser Erklärung ein wenig zu einfach. Sein Bruder war zwar ein Luftikus gewesen, aber kein Träumer. Tanya hingegen schien oftmals in anderen Sphären zu schweben. In diesen Momenten war sie kaum ansprechbar, genau wie jetzt. Ihm kam der Gedanke, dass er ihre kindlich anmutende Begeisterung zu seinen Gunsten nutzen sollte.

Der Applaus verebbte allmählich. Zwischenzeitlich hatten sich einige Menschen zu Craig Privos auf die Bühne gesellt und schüttelten ihm die Hand. Unter den ersten Gratulanten erkannte er auch Professor Kemble. Ansonsten handelte es sich vor allem um Kommilitonen, die ihrem Kameraden auf die Schulter klopften. Craig genoss offensichtlich unter seinesgleichen ein hohes Ansehen. Ihm schien es ein Anliegen zu sein, Anerkennung für seine Leistung zu bekommen. Dieser Aspekt konnte unter Umständen eine Zusammenarbeit erschweren. Abgesehen davon handelte es sich um einen geeigneten Kandidaten.

»Wie ich sehe, hast du an Craig Gefallen gefunden. Hast du Lust, der Abschlussfeier einen Besuch abzustatten?«

»Klar«, zeigte sich Tanya von seinem Vorschlag angetan. »Aber nur eingeschriebene Studenten haben Zugang zur Feier.«

Mit einer Handbewegung fegte Didrik ihren Einwand beiseite. »Es gibt Mittel und Wege, das zu ändern. Im Gegenzug habe ich allerdings eine Aufgabe für dich. Ich will, dass du dich mit diesem Craig bekannt machst und ihn kennenlernst. Finde heraus, ob er für unsere Sache dienlich sein kann. Auf welche Weise du das anstellst, überlasse ich dir.«

Tanyas blaue Augen strahlten ihn an. »Soll ich dir ein Geheimnis verraten, Onkel?« Sie neigte sich ihm entgegen. »Das hatte ich mir ohnehin schon überlegt. Ich will ihn für uns gewinnen.«

»Zu Beginn genügt es, wenn du ihn für dich gewinnst. Der Rest wird sich zu gegebener Zeit finden.«

Seine Nichte wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Bühne zu, wo Craig sich feiern ließ. »Mit Vergnügen.«

»Dann verschlinge ihn nicht jetzt schon mit deinen Blicken, sonst ist zur Abschlussfeier nichts mehr von ihm übrig.«

In gespielter Entrüstung schlug sie ihn auf die Brust. »Wie denkst du von mir, Onkel!«

Didrik lachte. In diesem Moment sah er ihre Mutter vor sich. Tanya war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Vielleicht lag es an diesem Umstand, dass ihm seine Nichte so ans Herz gewachsen war.

»Komm, lass uns gehen. Die Vorstellung ist vorbei. Und die Geschäfte machen keine Pause.«

Mit diesen Worten erhoben sie sich, um sich dem Menschenstrom anzuschließen, der sich in Richtung Ausgang zwängte.

Kapitel 3

Ulric drehte sich um, als ihn jemand an der Schulter berührte. Es war sein Assistent.

»Professor Kemble, es wird Zeit.«

Dankbar für die Erinnerung nickte er ihm zu. Kurz darauf entschuldigte er sich bei seinen Kollegen, mit denen er geplaudert hatte, und hielt auf die gewundene Treppe zu, die zur Kanzel hinaufführte. Dabei schlängelte er sich durch die versammelte Studentenschaft und blickte in die strahlenden Gesichter der jungen Männer und Frauen. Mehr bedurfte es nicht, um ihm vor Augen zu führen, dass heute in vielerlei Hinsicht ein denkwürdiger Abend war.

Die Aula, deren Grundriss ein regelmäßiges Sechseck aufwies, zeigte sich von ihrer festlichen Seite. Unzählige Kerzen auf Kronleuchtern, die über ihren Köpfen schwebten, verströmten Helligkeit und luden zum geselligen Miteinander ein. Jene drei Wände, welche sich hinter der Kanzel befanden, waren mit Teppichen behangen worden, die Wappen zur Schau stellten. Reich gedeckte Tafeln dienten als Anlaufstelle für alle Hungrigen und Durstigen. Das Herzstück der Aula blieb den Studenten und Professoren vorbehalten. Mittlerweile kam es einer Tradition gleich, dass an diesem Ort die neuen Studenten in Empfang genommen wurden. Insofern war es nur konsequent, dass das Ende eines Studienjahres ebenfalls hier beschlossen wurde.

Auffällig war auch die Kleiderordnung des Abends. Während die Studenten gelbe Tuniken trugen, die bis zu den Fußknöcheln reichten, verfügten allein die Absolventen über rote Umhänge. Die Professoren unterlagen in ihrer Gewandung keinen Regeln, wofür Ulric dankbar war. Zwar fielen sie in der Menge auf ‒ gleich fehlgeleiteten Farbtupfern in einem Sonnenuntergangsgemälde ‒, jedoch litt der Tragekomfort nicht darunter.

Langsam erklomm Ulric die Stufen der Wendeltreppe, die zur Kanzel führten. Diese letzten Momente nutzte er, um seine Gedanken zu sammeln und sein Gemüt zu beruhigen. Zwar war ihm die Rede, welche er nun vorzutragen gedachte, vor wenigen Tagen leicht von den Fingern gegangen, als er sie niedergeschrieben hatte; insgeheim hatte er gewusst, was er den Absolventen und Studenten mit auf den Weg geben wollte. Allerdings hatte er sich vorgenommen, die Rede frei und ohne die Zuhilfenahme seiner Notizen zu halten. Er wollte den Versammelten in die Augen blicken ‒ in der Hoffnung, dass sich das Gesagte bei seinen Zuhörern unauflöslich bis ans Lebensende einprägte.

Mit stolzgeschwellter Brust betrat Ulric die Kanzel und sah auf seine Studenten hinab. Dass der erste Jahrgang das Studium erfolgreich abgeschlossen hatte, war auch sein Verdienst. Diese jungen Menschen stellten an diesem Abend den Nabel der Welt dar. Doch genug der Sentimentalitäten!, ermahnte er sich und nahm Haltung an. Dann räusperte er sich, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Geschätzte Kollegen, liebe Studenten und Absolventen. Ich freue mich, dass Sie so überaus zahlreich erschienen sind.«

Gelächter brandete in der Aula auf.

»Es wäre aber auch einem Frevel gleichgekommen, die heutigen Festlichkeiten zu versäumen. Den meisten Studenten dürften die späte Stunde dieser Veranstaltung sowie das Abendbrot entgegengekommen sein.«

Ulric erntete prompt von allen Seiten Zustimmung. Das Wohlwollen seines Publikums war ihm nun gewiss. Jetzt konnte er mit seiner eigentlichen Rede beginnen.

»Meine Freunde, heute ist ein besonderer Tag! Denn heute wurde uns ein Tag der Premieren geschenkt, den ich ungeduldig herbeigesehnt habe.

In wenigen Monaten begeht die Universität von Xandarion ihr fünftes Studienjahr. Und zum ersten Mal werden im Sommer einige Studenten der Universität fernbleiben ‒ und zwar nicht etwa, weil sie keine Zukunft mehr in den Studien sehen oder sich den Herausforderungen der Vorlesungen und Prüfungen nicht gewachsen fühlen. Nein, sie kommen nicht länger an die Universität, weil sie die ersten Abschlussprüfungen überhaupt abgelegt und dadurch ihr Studium erfolgreich abgeschlossen haben. Dieser Umstand dürfte besonders jene Studenten beruhigen, die bislang der Meinung sind, die Abschlussprüfungen seien nicht zu bewältigen.«

Lachen tönte zu ihm herauf.

Ulric breitete seine Arme aus, um darin die Gruppe aus Frauen und Männern einzuschließen, die sich im Zentrum der Aula zusammengefunden hatte und einen roten Kern in einem ansonsten gelben Meer aus Studenten bildete. »Es ist mir eine Ehre, Euch die ersten Absolventen der Universität von Xandarion präsentieren zu dürfen!«

Tosender Applaus breitete sich aus, dem sich Ulric und die anderen Professoren anschlossen. Geduldig wartete er ab, bis der Beifall nachgelassen hatte.

»Insofern wohnt diesem feierlichen Augenblick auch ein trauriger Anlass inne: der Moment des Abschieds. Die Universität entlässt Euch heute aus diesen Hallen.

Andererseits ‒ und das ist die wirklich wichtige Botschaft, die ich Euch mit auf den Weg geben will ‒ steht dieser Tag für Aufbruch. Ihr seid jung, gesund und stark. Euer Geist ist geschärft und drängt gleichermaßen darauf, Wunder zu erblicken wie auch welche zu wirken. Es gilt bestehende Grenzen auszuloten, zu überschreiten und neu zu ziehen. Genau diese Fülle an Möglichkeiten macht den Zauber des Lebens aus. Und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Euch an dieser Universität das nötige Rüstzeug mitgegeben wurde, um jede erdenkliche Herausforderung meistern zu können.

Doch manche mögen noch nicht wissen, wohin die Reise gehen wird und deshalb verzagen. Aus diesem Grund möchte ich Euch eine Geschichte erzählen. Diese Geschichte handelt von einem Mann, der zahlreiche Jahre im Krieg gegen Lory’Saar zubrachte und der sich mit seinem ganzen Herzblut für das Fortbestehen Calverons einsetzte. Trotz zahlreicher Kämpfe und Schlachten, trotz des allgegenwärtigen Todes, verlor er weder seinen Lebensmut noch seine Zuversicht auf eine bessere Zukunft. Sein Ziel war es, das Reich von Grund auf zu verändern. Und so gründete er schließlich die Universität von Xandarion.«

Ulric ließ die Worte auf seine Zuhörer wirken, bevor er weitersprach: »Der Mann, von dem ich spreche, trug den Namen Nathaniel Caprenius, König von Calveron. Er ist der Gründervater dieser Einrichtung. Vor einem halben Jahrzehnt, als die Universität von Xandarion eröffnet wurde, kam mir das Privileg zu, mit unserem verstorbenen König einige Worte zu wechseln. In meiner unbeholfenen Art begehrte ich vom König zu wissen, was er sich von der Universität erhoffe. Seine Antwort, die denkbar kurz ausfiel, folgte ohne jedes Zögern: Wandel!«

Die versammelte Menge zeigte sich amüsiert.

»Ihr mögt lachen. Der Schreck über seine Erwiderung ließ erst nach, als er mir zuzwinkerte. Diese Begegnung beschäftigte mich noch lange Zeit. Ich sann darüber nach, was mir der König hatte mitteilen wollen. Dann, Tage später, verstand ich, was damit gemeint war: Wandel ist gleichbedeutend mit Aufbruch und Veränderung! Des Königs Absicht war es, eine Entwicklung loszutreten. Alles, was er dazu benötigte, war ein Samen. Dieses Samenkorn hat König Caprenius damals an diesem Ort ausgesät. Jetzt, fünf Jahre später, ist dem Samen eine Pflanze entsprungen. Es mutet verschwindend klein, verletzlich und in mancher Hinsicht sogar hilflos an. Trotzdem ist es bestrebt und entschlossen, die Entfernung zur Sonne immer weiter zu schmälern. Eines fernen Tages wird ein ausgewachsener, beeindruckender Baum herangewachsen sein, dem wir alle angehören. Wir sind ein Teil von ihm. Doch mit diesem Vermächtnis ist große Verantwortung verbunden.«

Nun blickte Ulric gezielt jeden Absolventen an, um die Tragweite seiner nachfolgenden Worte zu untermauern. »Für den König war die Universität nicht nur eine schlichte Einrichtung. Er wusste, dass ein Hort des Wissens und des Meinungsaustauschs dem menschlichen Geist Flügel verleiht. Die Universität ist ein Symbol für Frieden und Wohlstand. Ein Leuchtfeuer ‒ nicht nur für die Stadt und das Protektorat Xandarion, sondern für das gesamte Reich, für ganz Calveron. Sie soll den Protektoraten Thalios und Galanthor als Vorbild dienen. Sie soll die Menschen ermutigen, neue Wege einzuschlagen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Vom heutigen Tag an seid Ihr unsere Botschafter in der Welt da draußen. Alle Augen werden auf Euch gerichtet sein. Euer Handeln fällt nicht nur auf Euch zurück, sondern auch auf die Universität. Es liegt an Euch, die Menschen davon zu überzeugen, dass Eure Studienjahre von großem Nutzen waren. Stellt Euer Wissen in den Dienst der Gemeinschaft, lasst die anderen an Euren Erkenntnissen teilhaben. Schreitet voran, packt die Herausforderungen beim Schopf, stellt Euch munter den Aufgaben, die Euch zur Prüfung vorgelegt werden! Noch nie war die Zeit reifer. Der Krieg mag vorbei sein. Jetzt werden wir uns an der Bewältigung seines traurigen Erbes messen lassen müssen. Jedes Hindernis, das wir beseitigen, bereitet den Boden zu neuen Pfaden, die darauf warten, von jungen Abenteurern entdeckt zu werden.

Daher bleibt mir abschließend nur noch an Euch zu appellieren: Seid mutig, setzt Vertrauen in Euch selbst und Eure Fähigkeiten, geht Euren Weg! In diesen Hallen seid Ihr immer herzlich willkommen! Und ich spreche für meine Kollegen, wenn ich sage, dass wir Euch für Eure Zukunft nur das Beste wünschen. Allen Studenten wünsche ich hingegen eine schöne, vorlesungsfreie Zeit.«

Jubelrufe waren zu vernehmen, als Ulrics Redefluss zum Erliegen kam. Er schenkte seinem Publikum, allen voran den Absolventen, ein aufmunterndes Lächeln, bevor er lautstark verkündete: »Genug der Worte! Lasst uns feiern!«

***

Craig verlor beinahe das Gleichgewicht, als ihm Lurowin kräftig auf die

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Rodrik Andersen
Images: Burgen auf Landkarte: Designed by Freepik.com
Cover: Münzbeutel: Created by Vectorpocket, Kjpargeter - Freepik.com
Layout: Steffen Gaiser
Publication Date: 07-06-2018
ISBN: 978-3-7438-7442-8

All Rights Reserved

Next Page
Page 1 /