SCHNAKENPLAGE
„Wird es dir nicht allmählich langweilig? Findest du nicht auch,
nirgends kommt etwas zu seiner eigentlichen Gestalt? Im
Grunde wird nichts wirklich, alles welkt schon in der Knospe.“
„Was welkt in der Knospe?“ fragte Ursula. – „Alles um einen
herum – man selbst – die Dinge überhaupt.“
Aus „Liebende Frauen“ von D. H. Lawrence
Draußen tobt ein unglaublicher Sturm. Wenn er mit dieser Furiosität während der ganzen Nacht weitermachte, würde morgen kein einziges Blatt mehr an irgendeinem Baum hängen. Diese lausigen Oktoberstürme räumen die Bäume mit einer Gründlichkeit kahl, die mich jedes Jahr aufs neue zutiefst betrübt.
Ich mag Winter nicht leiden, mochte ich nie, vielleicht weil ich mir bereits zweimal während des Schnees ein Bein gebrochen habe. Beim ersten Mal war ich fünf oder sechs Jahre alt und mit meinem jüngsten Bruder auf einem Spielplatz. Ich kletterte die Rutsche hinauf, während irgend ein Idiot gerade herunterrutschte. Wir fielen gemeinsam in den Schnee, er stand auf, ich konnte nicht. Als mein Bruder begriff, dass ich nicht laufen konnte, lief er nach Hause und holte unsere Mutter, die mich auf den Schlitten packte und heimtransportierte. Nachdem ich zwei Tage herum gejammert hatte, wurde ich mit einem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht, die Nachbarn standen auf der Straße und begafften mich. Ich kam mir vor wie eine Königin, obwohl ich vor lauter Angst am liebsten in die Hose gemacht hätte.
Es folgten schreckliche Stunden, Tage, Wochen. Nachdem man mich geröntgt hatte (wir müssen dein Bein fotografieren, was nicht stimmte, denn die hatten gar keinen Fotoapparat!), kam ich in einen Raum, wo Krankenschwestern mein Bein verbanden, vom Fuß bis zu der Stelle, wo mein Schlüpfer aufhörte, und die ganze Zeit weinte und schrie ich nach meiner Mutter. Das erbarmte aber niemanden. Schließlich wurde ich in ein Zimmer gefahren, in dem sechs oder sieben Kinder lagen, und meine Mutter nahm mich in die Arme und sagte, dass sie am nächsten Tag wiederkäme. Der Gedanke, dass ich hier ohne sie bleiben sollte, versetzte mich in eine unbeschreibliche Panik. Ich heulte und schrie, aber natürlich konnte ein kleines Mädchen überhaupt nichts ausrichten.
Sechs Wochen musste ich es im Krankenhaus aushalten, danach schnitten sie den Gips auf, und ich wollte losmarschieren. Es war entsetzlich! Mein Bein rutschte immerzu beiseite, als würde es nicht mir mehr gehören. Ich konnte nicht stehen und nicht laufen und hatte furchtbare Angst, dass ich nun für immer würde in diesem schrecklichen Haus bleiben müssen. Tagelang übte ich laufen, treppauf, treppab, bis ich vor Erschöpfung beinahe zusammen-brach. Erst als die Ärzte und Schwestern der Meinung waren, ich könne nun wieder richtig laufen, durfte ich endlich nach Hause.
Der Wind heult draußen, als würde er Lohn dafür bekommen, und ich fühle mich wie eine alte Frau, weil ich meinen Erinnerungen nachhänge. Der erste Beinbruch liegt über dreißig Jahre zurück, aber noch immer laufe ich im Schnee wie auf Eiern. Oder wie eine alte Frau...
Ich weiß gar nicht genau, wann dieses Gefühl angefangen hat, dieses aus-gesprochen lästige und mich unsicher machende Gefühl, älter zu werden. In Erinnerungen habe ich immer gern geschwelgt, das ist eine Marotte von mir, also, das kann mit dem Älterwerden zumindest bei mir nichts zu tun haben. Im Frühjahr vor zwei Jahren bekam ich zuerst leichte, dann im Laufe der Zeit sehr heftige Schmerzen in der linken Brust. Meine letzte Vorsorgeuntersuchung lag ein knappes Vierteljahr zurück, und ich wusste, dass ich eigentlich nichts Schlimmes haben konnte. Also ignorierte ich diese Schmerzen lange und so gut es ging. Ich bemerkte gar nicht, dass ich häufig, wenn es zu sehr schmerzte, an die Brust fasste, nicht direkt deutlich, dass es jedermann auffallen musste, sondern ganz diskret natürlich. Trotzdem blieben diese Handgreiflichkeiten meiner besten Freundin Thea nicht verborgen. Wir kannten uns bereits seit vielen Jahren und verstanden uns prima.
"Sag mal, warum fasst du andauernd da an?" fragte sie mich und deutete auf eine Stelle oberhalb meiner Brust.
"Ach, Mensch, ich habe seit Monaten solche Schmerzen, das glaubst du nicht. Ich wollte nicht darüber reden, weil ich dachte, es geht von allein wieder vorbei. Hier, fühl mal, ist ganz hart."
Ich lupfte mein T-shirt und zeigte ihr meine linke Brust, nahm ihren Zeigefinger und presste ihn gegen die harte Stelle. Ihr Finger zuckte zurück, sie schnauzte mich an: "Bist du wahnsinnig? Wie lange hast du das? Du musst damit zum Arzt. Tut es weh? Wenn es schmerzt, brauchst du dir keine Sorgen zu machen, dass es Krebs ist. Ich habe gehört, Krebs tut nie weh, zumindest nicht am Anfang." Welch ein Trost!
Die Schmerzen trieben mich schließlich von ganz allein zu meiner Frauenärztin. Sie tastete ratlos an mir herum, schickte mich zur Mammografie, ergebnislos, und schließlich in ein Krankenhaus zur Untersuchung. Eine nette junge Stationsärztin tastete meine Brust ab, rief einen Kollegen, der tastete meine Brust ab, rief noch eine Kollegin, die, natürlich, auch meine Brust abtastete, und ich fühlte mich wie in einer Peepshow. Schließlich schickten sie mich in die Röntgenabteilung, wo mich ein bärbeißiger Professor in die Mangel nahm. Mammografie ist von Natur aus schon unangenehm, vor allem, wenn man einen kleinen Busen hat, wie ich, aber wenn dieses Bisschen auch noch wie Hölle schmerzt, kommt keine Freude mehr auf. Die Assistentin des Professors nahm also diese kleine Brust und quetschte sie zwischen die Platten, dass mir die Tränen kamen. Natürlich entdeckte der Professor nichts, und auch eine Ultraschalluntersuchung brachte nichts. Zu guter Letzt standen vier ratlose Doktoren männlichen und weiblichen Geschlechts um mich herum und meinten, hier würde nur eine Operation Aufschluss bringen.
Ich sollte mir bloß keine Sorgen machen, was Böses könnte es eigentlich nicht sein - weil, das würde NICHT schmerzen. Die hatten gut reden! Die nahmen jeden Tag am Fließband erkrankten Frauen die Brüste wegen Krebs ab, und ich sollte mir keine Sorgen machen! Ich brach aus lauter Angst in Panik aus. Während ich im üblichen Stau mein kleines Auto wieder in Richtung Büro steuerte, zog wieder einmal mein Leben an mir vorbei. Oder zumindest Teile davon, und ich stellte mit Entsetzen fest, dass ich noch längst nicht alles erlebt hatte, was ich erleben wollte.
Mit fünfzehn wollte ich mindestens acht Söhne haben, aber mit zwanzig wusste ich ziemlich zuverlässig, dass mir Mädchen und Frauen besser gefielen, nicht als Töchter, wohlgemerkt, sondern als Sexualpartnerinnen. Seitdem hatte ich eine Menge Frauengeschichten gehabt, mich aber nie binden wollen. Das Verrückte war, dass mir Frauen, wenn ich länger mit ihnen zu tun hatte, unbändig auf die Nerven gingen. Sie waren unpraktisch! Thea warf mir immer vor, ich sei fast chauvinistisch wie ein Mann, mag sein, dass sie damit recht hatte.
Für mich gab es zwar nichts Wundervolleres, als mit einer Frau zu schlafen. Ich kann die Männer verstehen, die verrückt danach sind, eine Frau in die Arme zu nehmen! Frauen sind weich, anschmiegsam, richtig schön kuschelig, sie duften herrlich, die schmecken nach Lippenstift, und sie bringen alles in mir zum singen. Aber zusammenleben? Mit Lockenwicklern, Nagellack und Nagellackentferner, mit tausenderlei Tüdelkram wie geheimnisvollen Adressbüchern, Schwefelmasken, Orangenhautsalbe und sonstigem Kram und dem Hand, stundenlange verschlüsselte Telefonate zu führen. Sie konnten fast nie eine Verlängerungsschnur zusammenbauen oder eine Lampe aufhängen, selten Bücherregale bauen, Decken ordentlich streichen oder einen Keilriemen ersetzen. Sie schwätzten zu viel. Das einzige, was ich an Frauen schätzte, war Sex und Kochkunst. Ich weiß, es ist widerlich, das zu denken, vor allem, da ich schließlich auch eine Frau bin. Ich will auch nicht verhehlen, dass ich in den ersten Wochen einer neuen Beziehung nie so denke.
Die wundervollsten Gefühle überhaupt, glaube ich, sind die, die ich immer habe, wenn ich mich neu verliebe, eine neue Partnerin kennen lerne; diese Entdeckungsreise zu einem neuen Menschen, seinen Vorzüge, seinen Ma-rotten; wenn wir uns voller Romantik zärtliche Worte zuraunen, voller Entzücken Übereinstimmungen entdecken und es nichts schöneres gibt als eine untergehende Sonne, möglichst in knallrot, bitte sehr. Vielleicht verliebe ich mich deshalb öfter, ohne eine dauernde Beziehung einzugehen.
Am nächsten Tag fuhr ich ins Krankenhaus, ich war wie gerädert, weil ich eine schlaflose Nacht hinter mir hatte. Natürlich kreisten meine Gedanken unentwegt nur um eines: Krebs. Brustamputation. Leben aus und vorbei. Ich war neununddreißig Jahre alt und fühlte mich wütend, wehrlos und wie am Ende meines Lebens angekommen.
Zunächst die Formalien, die ich mit einem dicken Klumpen im Hals erledigte: Kruse, Franziska, 41 Jahre, kaufmännische Angestellte, Religion keine, ledig, keine Kinder, keine Schwangerschaften, 168 groß, 67 Kilo schwer; es folgte die Aufzählung meiner Krankenhausaufenthalte und Operationen, die Anschrift der Eltern, die Zahl der Geschwister, die Krankheiten der Familie.
Dann marschierte ich zur Frauenstation. Mein ganzes Auftreten sollte nur dem einen Zweck dienen: mir selbst die Angst zu vertreiben, die mein ganzes Denken beherrschte. Bei jedem Schritt machte es in mir: Krebs, Krebs, und jeder Herzschlag trommelte: Krebs, Krebs. Am liebsten hätte ich geheult, aber wo werde ich denn in Panik ausbrechen?
Ich schwöre, auf jeder Station in jedem Krankenhaus gibt es mindestens einen Drachen, auf dieser hier hieß er "Schwester Doris". Ich sah ihr sogleich an, dass sie lieber Filmstar geworden wäre, obwohl sie inzwischen jenseits der Fünfzig war. Es soll auch ältere Filmstars geben! Schwester Doris fragte mich in etwa die gleichen Dinge wie die Portiersfrau unten am Empfang, dazu kamen Dinge wie: welche Tabletten nehmen Sie, wann hatten Sie Ihre letzte Periode (ich war sicher, das fragte sie, um gleich vorweg festzustellen, ob ich etwa vorhatte, ihre Betten zu versauen!), ob und wie viel ich rauche und trinke. Mag sein, dass der Krankenhausgeruch mich inzwischen fertig gemacht oder eingeschüchtert hatte, sonst hätte ich sie gefragt, ob es hier eine Kneipe gäbe. So aber antwortete ich brav, knetete den Griff meiner Tasche und versuchte, mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Schließlich brachte mich eine Lernschwester, Modell Landpomeranze, mit roten Bäckchen, sehr gesund aussehend, mit dicken Wollstrümpfen und altmodischem Zopf, in ein Zweibettzimmer.
"Sie kommen zu unserer Frau Baumann," erklärte sie mir.
"Hallo," flötete sie der Frau zu, die sich in ihrem Bett aufrichtete und mich neugierig anschaute: "liebe Frau Baumann, hier haben wir Frau Kruse, die jetzt mit Ihnen das Zimmer teilt. Ich hoffe, dass Sie sich gut verstehen, denn wir wollen schließlich schnell wieder gesund werden." Ich war sicher, dass sie nicht krank war, diese Landpomeranze! Das blöde Geschwafel in den Krankenhäusern! Wir, wir, wir. Ich war sicher, dass "wir" den Kaffee bekamen, der wie Kaffee schmeckte, dass "wir" das bessere Essen bekamen, und dass "wir" eigentlich keine große Lust hatten, für wenig Lohn den Dreck anderer Leute wegzuräumen. Ich finde die Bezeichnung "Schwester" für diesen Job völlig unpassend. Erstens sind sie nicht meine Schwestern, zweitens benehmen sie sich nicht wie Schwestern, und drittens haben sie überhaupt keine Zeit, schwesterliche Gefühle zu entwickeln. Ich kann sie verstehen, denn sie wer-den wie der letzte Dreck behandelt, vor allem von den Patienten, die in ihnen häufig Dienstmädchen sehen, aber ich hatte keine Idee, wie man hier aufgebaute Fronten je wieder abbauen konnte. Bei mir hatte dieses Wissen während meiner diversen Krankenhausaufenthalte dazu geführt, so viel wie möglich allein zu machen, ohne eine Schwester zu behelligen. Ich ließ die Mädels nur das tun, was sie ohnehin tun mussten, und ich gab mir Mühe, sie nie um etwas bitten zu müssen.
Bei meinem zweiten Beinbruch, ich war inzwischen dreißig, lag ich wochenlang fest und konnte nicht zur Toilette laufen; ich musste immer nach der Pfanne klingeln. In solchen Situationen kosten sie ihre Macht besonders aus, lassen ihren Frust besonders an einem ab: nach dem Klingeln wartet man ungefähr eine Viertelstunde, und schließlich steckt eine Schwester ihren Kopf zur Tür herein und fragt:
"Was gibt's denn?"
"Ich muss mal," antwortest du brav und kneifst den Hintern zusammen, weil du weiß, dass es jetzt noch einmal "einen Moment" dauert. Und irgendwann kommt sie wieder und schiebt dir die meistens eiskalte Pfanne unter den Hintern. Danach liegst du noch mal eine Viertelstunde auf der Verrichtung und brütest, bis die Schwester wieder mal vorbeikommt und die Pfanne wieder ab-holt. Wenn sie Ihren Beruf ordentlich ausübt, wirft sie erst einmal einen Blick hinein und lobt oder rügt, was in einem Vierbettzimmer besonders amüsant ist.
"Jetzt müssen wir aber bald auch mal wieder ein Häufchen machen, sonst müssen wir etwas zum Abführen einnehmen!" Kategorie "Tadel". Abführmittel und Bettpfanne passen nicht zusammen und ergeben kein Vergnügen. Du liegst da und bemühst dich, eine Dame zu sein, derweil dich drei Gesichter interessiert angucken oder dich anfeuernd fragen:
"Klappt's denn?", während du dich anstrengst, eine geräuschlose Explosion zu erzeugen.
Unsere Frau Baumann begleitete meinen Einzug - auspacken der Tasche, ein-räumen in den Schrank, auskleiden, Nachthemd anziehen, mit einem Wort-schwall, der seinesgleichen sucht. Sie war Busfahrerin, was ich ihr nach ihrem zierlichen Äußeren gar nicht zugetraut hätte. Sie hatte einen Sohn in meinem Alter, und nach meinen ersten kargen Antworten auf Fragen zu meiner Person fand sie, dass er der geeignete Mann für mich sei. Sie hatte ein aus-gesprochen schlichtes Gemüt. Außerdem hatte sie ein Knötchen in der Brust gehabt, das sich aber als harmlose Drüsengeschwulst herausgestellt hatte. In zwei Tagen würde sie bereits entlassen. Gottseidank!
Ich legte mich aufs Bett und schlug mein Buch auf, das ich mir mitgebracht hatte. Da unsere Frau Baumann sich aber auch durch diesen deutlichen Wink mit dem Zaunpfahl nicht von ihrem pausenlosen Gerede abbringen ließ, las ich die erste Seite ungefähr fünfmal, bis ich das Buch entnervt zuklappte und meine Zigaretten suchte: "Ich gehe mal eine rauchen."
Nach einer Zigarette draußen vor der Tür ging ich in den Aufenthaltsraum, der war wie wohl alle Aufenthaltsräume in allen Krankenhäusern in diesem Land - die Wände waren nicht mehr ganz sauber, die Stühle mit metallenen Beinen und Plastik-bezogen ausgestattet, zwei oder drei kleine Tische und ein paar geschmacklose Drucke an den Wänden. Fünf Frauen in Bademänteln saßen beisammen vor Kaffeepötten. Ich schob einen Stuhl an den Tisch und setzte mich dazu, nachdem ich höflich gegrüßt und "darf ich?" gefragt hatte. Eine ältere Frau, die das große Wort schwang, gab mir gnädig die Erlaubnis. Ich musterte die Frauen. Zwei von ihnen waren hochschwanger, die Entbindungsstation war gleich nebenan. Das Gespräch drehte sich um Schwangerschaften und Geburten. Binnen einer halben Stunde lernte ich, dass Schwangerschaften niemals normal verliefen, dass Geburten Blutbäder waren, und ich wunderte mich, dass diese Frauen trotz dieser grässlichen Torturen mehrere Kinder zur Welt gebracht hatten. Mir schauderte. In den Erzählungen lief das Blut an den Wänden rauf und runter. Und wenn die eine mit ihrer schaurigen Geburtsgeschichte fertig war, begann die nächste eine noch üblere Story zu erzählen. Von den Geburten fanden sie mühelos den Übergang zu anderen blutrünstigen Geschichten, Operationen, Auto- und Betriebsunfällen. Den größten Hals hatte die ältere Frau, die es mir gestattet hatte, am Tisch Platz zu nehmen. Sie war Vorfrau, wie sie es nannte, in einem Putzgeschwader, und nachdem das Blut aufgebraucht war, berichtete sie uns von ihren Türkinnen, bei denen sie immer genauestens auf die Hände sehen musste, damit sie ordentlich putzen.
"Man weiß doch schließlich, dass die Türken manchmal nicht so ordentlich sind wie wir," verkündete sie, und ich musterte ihren nach einer Wäsche schreienden Bademantel. Was für ein ätzendes Weib!
Nach einer halben Stunde ging ich zu unserer Frau Baumann zurück. Meine Ängste waren verflogen, in mir hatte sich eine gewisse Überheblichkeit breit gemacht. Wenn solche Weiber dieses Krankenhaus überlebt hatten, die Geburten ihrer Kinder überlebt hatten, würde mir auch nichts Schlimmes passieren können. Derart ungerecht konnte das Leben nicht sein.
Kaum hatte ich mein Buch wieder zur Hand genommen, als die junge Ärztin das Zimmer betrat, die mich gestern ergebnislos untersucht hatte. Sie begrüßte mich freundlich und erzählte mir, dass man mich gleich am nächsten Tag operieren wolle. Zuvor müsse ich noch zum EKG und zum Röntgen, später würde man meine Achselhöhle rasieren, und am späten Nachmittag käme der Anästhesist zu mir, um die Operation mit mir zu besprechen. Sie warf einen Blick auf mein Buch und meinte: "Das ist aber ein schwieriges Buch." und ging. Ich war verblüfft.
Es kam, wie sie versprochen hatte, und ich war gut beschäftigt. Zwischen-durch ging ich immer wieder mal in den Aufenthaltsraum und hörte mir weitere Kranken- und Putzfrauengeschichten an, um den Busfahrergeschichten von Frau Baumann zu entgehen. Ich telefonierte mit Thea und berichtete ihr von diesem menschlichen Horrortrip.
"Du übertreibst," lachte sie, "man könnte meinen, dass du in einem Horrorkabinett und nicht im Krankenhaus liegst."
"So komme ich mir auch vor," klagte ich. "Wann besuchst du mich?"
Sie begann die übliche lange Litanei ihrer Verpflichtungen, die sie zumindest für den Tag davon abhielt, vorbeizukommen. Thea war eine außerordentlich vielbeschäftigte Frau. Sie war geschieden und berufstätig, sehr häuslich und sehr verfressen. Wir hatten uns vor fünfundzwanzig Jahren kennen gelernt, als wir in der Berufsschule einen Arbeitstisch miteinander teilten. Gott, habe ich dieses Mädchen damals bewundert! Schon mit achtzehn sah sie wie eine erwachsene Lady aus, toll, aber nicht auffallend gekleidet, vollendet geschminkt, in den schulischen Leistungen mindestens genau so bescheiden wie ich, aber viel humorvoller dabei. Während ich mich mit verkniffenem Ehrgeiz, meistens vergeblich, bemühte, Stenografie-Schnörkel zu begreifen, verdrückte sich Thea auf die Toilette, um in aller Ruhe eine zu rauchen. Als sie mir dies zum ersten Mal erzählte, brachte ich vor Hochachtung kein Wort heraus. Irgendwann verabredeten wir uns mal nach der Schule in einem Eiscafé, verstanden uns toll, lachten über die anderen Typen in dem Laden, und ich stellte fest, dass wir humormäßig auf der gleichen Wellenlänge lagen. Es dauerte einige Jahre, bis ich meine Vorliebe für Frauen innerlich gefestigt hatte, dass ich auch mit Thea darüber reden konnte.
"Aber du wirst doch nicht mich anmachen wollen?" fragte sie nur und zündete sich eine Zigarette an. Ich blickte sie erstaunt an.
"Nee, auf diese Idee bin ich eigentlich noch nie gekommen. Du bist für mich keine Frau, du bist mehr ein Mensch." Ich gebe zu, dass diese Erklärung etwas verwirrend gewesen sein mochte. Jedenfalls war Thea nicht gekränkt, sondern eher beruhigt über meine sie betreffende Asexualität. Heute noch bin ich sehr froh, dass wir nie versucht haben, an diesem Status etwas zu verändern, denn darüber wäre über kurz oder lang unsere Freundschaft vermutlich in die Brüche gegangen. Also blieb Thea für mich immer die, die ich in der Berufsschule kennen gelernt habe: drollig, gutaussehend, modisch immer auf dem Level, figürlich allerdings ausgebaut. Das Fressen hatte sie während ihrer nicht sehr gelungenen Ehe angefangen. Diese Ehe war für uns beide eine schlechte Zeit gewesen. Ich litt mit ihr, als sie sehr schnell nach der Hochzeit dahinter kam, welch einen Playboy sie da am Haken hatte. An vielen Abenden saßen wir beisammen, und ich hörte ihr geduldig zu, wenn sie schimpfte, litt, fluchte, tobte. Mir war, als hätte ich nicht das Recht, ihr hineinzureden, also hörte ich nur immer zu und war mir dankbar für meine Veranlagung. Frauen würden Frauen so etwas nie antun! Da war ich sicher.
Die Scheidung wurde von uns riesig gefeiert. Wir verreisten für eine Woche nach Travemünde und stellten die Gegend auf den Kopf. Das wichtigste Requisit unserer Freundschaft war das Telefon! Da wir uns nicht allzu häufig trafen, telefonierten wir halt mehrmals täglich miteinander. Meine Thea war eine phantastische Frau, auf die würde ich nie etwas kommen lassen!
Ihre Abende verbrachte sie mit ihren ständig wechselnden Lebensgefährten vor dem Fernseher, meistens essend, und sehr, sehr selten mal auf einer Party. Zweimal im Jahr juckte es uns, und wir beiden gingen zusammen in irgend-eine Frauenkneipe zum Schwof. Zu ihren wechselnden Lebensgefährten sollte ich vielleicht noch erklären, dass das meistens Taxifahrer waren. Es war beeindruckend, wie viele alleinstehende, jüngere und vor allem interessierte Taxifahrer es gab. Thea sammelte sie. Thea konnte niemals Taxi fahren, ohne nicht den jeweiligen Driver in ein Gespräch zu verwickeln. Das endete meistens in irgendeinem Café oder in einer Kneipe, mit dem Austausch von Telefonnummern und in der Folge auch Zärtlichkeiten. Ich bewunderte sie und ihren Kommunikationsdrang, der ihr übrigens angeboren zu sein schien. Sie hatte überhaupt keine Probleme damit, wildfremde Menschen in nette Gespräche oder Diskussionen zu verwickeln, sei es in der U-Bahn, im Bus, auf dem Markt oder in Kaufhäusern. Oder im Taxi.
"Eins weiß ich jedenfalls genau," lachte ich zum Schluss unseres Gespräches, "Kinder werde ich nie bekommen! Mir vorzustellen, dass ich fünfundzwanzig Liter Blut verliere, mein Kind mit achtfach um den Hals gewickelter Nabelschnur um den Hals zur Welt kommt und gleich schreit: Mama, haste mal 'n Bier?... nee, mit mir nicht."
Thea lachte schallend und versprach, mal vorbei zu kommen.
"Alles Gute für morgen, mein Fränzchen," sagte sie, "ich drücke dir die Daumen, dass es nichts Böses ist. Ruf mich an, sobald du kannst."
Unsere Frau Baumann bekam Besuch von Herrn Baumann, sie stellte ihn mir artig vor, erzählte ihm, was für eine nette junge Frau ich war, und tuschelte irgendwas von "Andreas", das war der Name des Sohnes. Ich klemmte mich hinter mein Buch und versuchte, nicht mehr hinzuhören. Ich glaube, sie suchten irgendwann unsere Aussteuer aus.
"Frau Kruse hat auch ein Knötchen in der Brust," berichtete sie mit ihrer sich ständig vor Übereifer überschlagenden Stimme, "aber es wird wohl nichts Böses sein. Schließlich war's bei mir auch gutartig." Das leuchtete ein!
"Stell dir vor," plapperte sie weiter, ich betete für Herrn Baumann, dass er über ein ausschaltbares Hörgerät verfügen möge, "Frau Kruse hat einen ganz altmodischen Vornamen: Franziska. Nett, nicht." Ich biss in mein Buch!
Für die Nacht bekam ich eine Schlaftablette, wofür ich sehr dankbar war. Ich lag sauber gebadet, frisch rasiert und mit klopfendem Herzen im dunklen Zimmer und lauschte Frau Baumanns rhythmischen Schnarchen. Schließlich schlief ich Gottseidank auch ein, obwohl ich mir noch tausenderlei Gedanken machen wollte. Ich hatte nicht einmal ein Testament!
Mitten in der Nacht ging das Licht an und eine Horde äußerst gutgelaunter Schwesternschülerinnen stürmte die Bude. Jesses, bestellte gute Laune en Masse! Das ging pausenlos im "So"- und "wir"-Ton. Erstes Lernziel in der Schwesternschule: Alle Patienten sind potentiell bekloppt, und deshalb muss man auch mit ihnen wie mit Bekloppten reden!
Danach ging alles ruckzuck. Ich bekam eine Spritze, ein Plastikhütchen, und zwei Schwesternschülerinnen schoben mich mit meinem Bett aus dem Zimmer.
"Alles Gute, liebe Frau Kruse," rief unsere Frau Baumann und winkte. Der Situation angemessen hätte ich eigentlich in Panik ausbrechen müssen. Die Ärztin hatte mir mein Einverständnis abverlangt, dass man gleich amputieren und eine sogenannte Aufbauplastik einsetzen dürfe, falls sich bei der Schnelldiagnose herausstellen sollte, dass ich Brustkrebs hatte. Es klang alles furcht-bar plausibel, dennoch waren mir bei diesem Gespräch die Tränen übers Gesicht gelaufen. Nicht, dass ich wegen meiner Schönheit Bedenken hatte, aber die Vorstellung, Bestrahlungen über mich ergehen zu lassen, mit einem bis ans Lebensende geschwollenen Arm rechnen zu müssen, wenn die verbleibenden Lymphdrüsen verrückt spielten, möglichst keine blutenden Verletzungen am linken Arm mehr zu bekommen, dazu ständig im Hinterkopf die Angst, dass der Krebs sich trotz Operation weiter in mich hineinarbeitete - an der Stelle wurde ich schwach. Mir war, als würden wir mein Lebensende beschließen.
Während ich in meinem Bett durch die Flure geschoben wurde, war in mir eine solche Ruhe, dass ich mich wunderte. Lediglich die Plastikhaube beschäftigte meine Gedanken, denn ich war sicher, dass sie mich völlig bescheuert aussehen ließ. Außerdem rutschte sie mir andauernd in die Augen. Die Spritze, die sie mir verabreicht hatten, verursachte in mir eine Lässigkeit, die nur mit der im Gang von John Wayne vergleichbar war. Und so fühlte ich mich auch. Eigentlich, da war ich mir sicher, konnte mir gar nichts passieren! Gaben die einem eigentlich Heroin oder einen vergleichbaren Glücksschuss?
Als ich irgendwann aufwachte, vernahm ich Murmeln und Flüstern. Ich fühlte mich zerschlagen, als hätte ich den ganzen Tag schwer gearbeitet. Für wenige Augenblicke wusste ich gar nicht, wo ich überhaupt war. Das geschmacklose Bild an der Wand deutete darauf hin, dass ich nicht in meiner Wohnung war. Ach, Krankenhaus. Ach, Operation! Meine Hand tastete sich vorsichtig zur linken Brust, aber da war ein dicker Verband, und ich konnte nicht fühlen, ob noch alles dran war. Ich ertastete einen Schlauch, der aus dem Verband herausführte in eine Flasche, die auf dem Bett lag.
Vorsichtiges Blinzeln, die Blutflasche, kannte ich noch vom Beinbruch. Ich hielt die Augen geschlossen, denn trotz meines benebelten Bewusstseins wollte ich Frau Baumann noch nicht wissen lassen, dass ich wieder wach war.
Irgendwann, ich war wieder eingeschlafen, stürmte die nächste Kavalkade Schwestern das Zimmer. Die haben einen chronischen Bettenmachzwang, dachte ich. Ich musste mich auf die Bettkante setzen, und eine Schwester fragte mich, ob wir denn pullern könnten. Sie geleitete mich zur Toilette, ließ mich aber Gottspeidank alleine machen. Mir war nicht nach meinem üblichen Scherzchen zumute, denn mein Körper war mir noch sehr fremd. Es war, als hinge ich an Drähten, die jemand aber nicht richtig ziehen konnte. Ich hockte auf der Toilette, hielt die Blutflasche in der Hand und fragte mich dumpf, was das eigentlich alles sollte.
Als ich wieder im Bett lag, lupfte eine Schwester mein Nachthemd und machte sich am Verband zu schaffen. Soll ich hinsehen oder nicht, war die Frage, die im Zeitraffer hundertmal durch meinen Kopf schoss. Mein Herz schlug wild vor Angst. Ich fragte: "Ist noch alles dran?"
"Aber natürlich!" lächelte sie, "Sehen Sie nur. Es war alles gutartig, Frau Doktor wird Ihnen morgen bei der Visite genau erzählen, was für ein Knötchen das war. Sehen Sie, Sie sind mit zwei Stichen genäht, es war nur ein ganz kleiner Schnitt. In einer Woche sind Sie wieder Zuhause."
Plumps! Unter meinem Bett lag ein großer Stein...
Ach Gott, ich kann gar nicht beschreiben, wie mir zumute war.
Kein Krebs, keine Amputation, Herr im Himmel sei Dank! Auch Frau Baumann freute sich sehr: "Sehen Sie, habe ich doch gleich gesagt. Bei mir war's auch nichts Böses."
"Wenn das Gute nur immer ansteckend wäre," meinte die Schwester, und auch über ihrem Kopf blitzte ganz kurz ein Heiligenschein.
"Da haben Sie recht," strahlte unsere Frau Baumann, "dann wäre es sehr schön auf unserer Erde."
Nach dem Abendessen rief ich Thea an, die sich riesig freute, dass alles gut verlaufen war. Und da keine richtige Katastrophe zu verzeichnen war, sagte sie: "Mein Schätzchen, sei mir nicht böse, Reiner und ich gucken gerade einen spannenden Film..."
"Ist gut," lachte ich, "Du hast dich in der Zwischenzeit nicht verändert. Wer ist Reiner?"
Sie sagte das ungehörige Wort für Gesäß, wie sie das häufig tat, nicht nur mit mir, sondern mit allen, mit denen sie sich besonders gut verstand, und legte auf.
"Jetzt möchte ich eigentlich eine rauchen," sagte ich unternehmungslustig zu Frau Baumann, "kommen Sie mit?" Sie kam. Eigentlich seltsam, dachte ich, dass diese biedere Spießbürgerin rauchte. Sie, ganz Menschenfreundin, steckte die Blutflasche mit einer Sicherheitsnadel an meinem Nachthemd fest, half mir in den Bademantel, hakte mich unter und wanderte langsam mit mir ins Raucherzimmer. Das übliche Geschwader saß beisammen. Die Vorfrau entband gerade wieder unter Zuhilfenahme eines Blutbades, die werdenden Mütter hörten ihr mit Entsetzensmienen zu, die gewordenen Mütter nickten bestätigend.
"Sagen Sie mal, Frau Baumann," raunte ich ihr leise zu, "haben Sie auch solch ein Blutbad hinter sich? Die hier haben alle keine normale Entbindung gehabt." Frau Baumann sah mich verständnislos an.
"Also Kinders," dröhnte die Vorfrau, "ick weeß nich, wieviel Liter Blut ich verloren hab, det haben de Ärzte nich verraten, aber ick muss halb tot jewesen sein."
"Leider nur halb," zischelte ich, wieder vergessend, dass Frau Baumann nicht Thea und somit nicht empfänglich für meine Boshaftigkeiten war.
Dass die Zigarette schmeckte, konnte ich nicht behaupten. Meine Zunge fühlte sich pelzig an, und mir wurde leicht schwindelig.
Ich empfand ein mittelprächtiges Glücksgefühl, als ich das Bett wieder unter mir fühlte.
Visite.
"Also," sagte die junge Frau Doktor, "wir haben eine kleine gutartige Geschwulst aus Ihrer Brust entfernt. Es handelt sich um eine Brustdrüsengeschwulst, die nicht bösartig war, sozusagen eine Brustdrüsenentzündung."
"Und woher kommt diese Krankheit?" fragte ich sie. Sie knipste den gereizten "Ich-hab's-eilig"-Blick an, schaute auf ihre Armbanduhr und erschoss mich :"Das hängt mit beginnenden Wechseljahren zusammen. Die Brustdrüsen stellen ihre Tätigkeit ein, das Gewebe lagert sich normalerweise im Fettgewebe ein, aber sie haben starke Kalkablagerungen in den Brüsten, dass sich dieses Gewebe nicht ablagern kann und sich entzündet, dadurch hat sich eine Geschwulst gebildet." Sie flüchtete, bevor ich eine weitere Frage stellen konnte; sie ahnte nicht, dass da von mir im Augenblick nichts zu erwarten war. Wechseljahre! Beginnende Wechseljahre hatte die gesagt! Der Griff zum Telefon: "Theachen, weißt du, was die Ärztin mir gerade erklärt hat? Du glaubst es nicht. - Nein, ich habe keinen Krebs, überhaupt nicht Schlimmes. Wenn man mal davon absieht, dass diese komische Krankheit mit den beginnenden Wechseljahren zusammenhängt." Ich machte eine dramatische Pause.
"Hey, bist du noch da?"
"Ja, ja," sagte sie, "und?"
"Sag mal, bist du blöde? Wechseljahre! W-e-c-h-s-e-l-j..."
"Ich weiß, wie man das schreibt. Ich hätte nicht gedacht, dass ihr das auch kriegt... Und wo liegt das Problem?"
"Na hör mal, ich bin dreiundvierzig, nicht siebenundvierzig. Wechseljahre. Das heißt, ich werde alt."
"Glaubst du denn, dass du im Gegensatz zu allen anderen Menschen immer jünger wirst?" fragte sie spitz, und ich fragte mich, ob sie möglicherweise in ihrem Büro auch einen Fernseher zu stehen hatte und ich sie bei einem spannenden Film störte.
Unsere Frau Baumann wurde am nächsten Tag entlassen. Ihr Sohn war nicht zu Besuch und es somit auch zu keiner Verlobung zwischen ihm und mir gekommen, was sie weitaus mehr bedauerte als ich. Beim Abschied fragte sie jedoch, ob sie mich denn mal mit ihm besuchen sollte, was ich höflich und wortreich ablehnte. Nur ganz kurz überlegte ich, ob ich ihr nicht sagen sollte: "Wissen Sie, wenn Sie eine Tochter hätten...", verwarf diesen Gedanken aber, weil für sie schwarz schwarz und weiß weiß war, und dazwischen gab's nichts.
Unsere Frau Hirse bezog das Zimmer, nomen est omen. Eine Frau in meinem Alter, mit Unterleibszysten. Seltsam in diesen Krankenhäusern. Man stellt sich vor und sagt: "Kruse, Geschwulst, - Hirse, Zysten - Meier, Totaloperation." Frau Hirse war nicht nur gekleidet wie eine Alternativ-Grüne, sondern redete auch pausenlos wie eine solche. Natürlich rauchte sie nicht, und natürlich hatte sie Berge von Obst mitgebracht, das sie mit einem ebenfalls mitgebrachten Desinfektionsmittel abwusch, bevor sie es aß. Es knaupschte den lieben langen Tag in unserem Stübchen, abwechselnd von Äpfeln und Mohrrüben. Leider sprach sie mit vollem Mund. Sie hatte einen kleinen Fernseher mit postkartengroßer Mattscheibe mitgebracht, weil sie den Parteitag der Grünen verfolgen musste. Sie hatte offenbar auch einen Hörfehler, oder aber sie setzte voraus, dass mich der Parteitag ebenfalls interessierte.
Ich rauchte viel an diesem ersten Hirse-Tag. Morgen würde sie operiert und hoffentlich achtundvierzig Stunden narkotisiert sein! Da wusste ich noch nicht, dass die Zystennarkose nur einige Sekunden währt...
Ich brachte tapfer Frau Hirse, ihren sie ständig vormittags besuchenden Freund und ihren Bedarf an Grünen-Parteitag hinter mich. Die Abschlussvisite wurde von der jungen Ärztin, assistiert von einigen Praktikantinnen und Praktikanten, durchgeführt. Sie erklärte den jungen Leuten die Diagnose, was man mit mir angestellt hatte und forderte sie auf, an meiner Brust zu fühlen, ob sie sich noch hart anfühlte. Es hatte ein wenig vom Charme des Gemüsemarktes, auf dem gründliche Hausfrauen zum Beispiel Birnen vierzehnmal anfassen, um zu prüfen, ob sie weich oder hart sind. Eine der Praktikantinnen befasste meine Brust besonders ausgiebig mit kalten Spinnenfingern und meinte :"Schön weich." Peng.
"Kommen sie mal in mein Alter," knurrte ich, "dann finden Sie das sicher nicht mehr SCHÖN weich..." Sie schaute mich verdutzt an, während alle anderen zu lachen begannen.
"Sie können morgen nach Hause," meinte Frau Doktor schließlich, "Ihnen geht's fast wieder zu gut."
Als die Kohorte das Zimmer verlassen hatten, fragte Frau Hirse spitz: "Haben Sie Probleme mit dem Alter? - Wissen Sie, es spielt doch keine Rolle, ob ein Busen fest oder schön weich ist, oder ob er gar hängt. Charakter (ich glaube, hier erhob sie den Zeigefinger) ist absolute Priorität." Dumme Schnake, dachte ich, und lächelte freundlich. Sollte sie sich doch ihren dämlichen Herrn Hirsekorn und ihren Grünen-Parteitag unter den Hängebusen schnallen und ihren Charakter in den Büstenhalter stopfen!
Nachdem ich am nächsten Tag meine Siebensachen zusammengepackt und den Obolus im Schwesternzimmer entrichtet hatte - ich hatte mich vorher im Raucherzimmer nach dem ortsüblichen Tarif erkundigt: Für eine Woche stand ein Paket Kaffee -, verließ ich das Krankenhaus mit dem ätzenden Gefühl, vor einer Woche als blühender junger Mensch hierhergekommen zu sein und jetzt als steinalte Frau zu gehen. Das hatte wahrlich keinen Funken Esprit.
Einige Wochen später wachte ich zum ersten Mal nachts mit Herzklopfen und schweißgebadet auf. Schweißgebadet ist der falsche Ausdruck für die Fluten, in denen ich mich wälzte. Mein Herz schlug mir in einem wahnwitzigen Tempo bis zum Hals, und weil ich mich am Tag zuvor im Büro schrecklich geärgert hatte, vermutete ich einen Herzinfarkt. Mindestens!
Etwas später stellte ich fest, dass ich noch lebte, mich noch bewegen konnte, und darum stand ich auf und ging ins Bad. Mein Nachthemd war zum Auswringen nass. Ich nahm eine kalte Dusche, schaute mich aufmerksam im Spiegel an, um Anzeichen einer ernsthaften Erkrankung zu entdecken und stellte befriedigt fest, dass da nichts Erkennbares war. Vielleicht hatte ich nur schlecht geträumt. Das Bett musste neu bezogen werden, Laken und Wäsche waren ebenfalls wie aus dem Wasser gezogen. Es gelang mir, wieder einzuschlafen, aber nach einigen Stunden passierte dieselbe Geschichte wieder. Wieder dieses rasende Herztrommeln, wieder schweißnass das Ganze, aber wieder keine äußerlichen Anzeichen einer Schwersterkrankung.
"Jetzt langt's aber," befahl ich mir und brachte seufzend ein zweites Mal in dieser Nacht den Reinlichkeitsdienst hinter mich.
Am nächsten Tag fühlte ich mich wie gerädert und besprach mich mit meiner Kollegin Rosa, die ein wenig älter als ich war.
"Sag mal, Röschen, hast du das mal gehabt? Bist nachts wach geworden mit dem Gefühl, einen Herzinfarkt zu haben, und dabei bist du klatschnass geschwitzt? Was kann denn das bloß sein?"
"Klingt nach Wechseljahren," antwortete meine Rosa und hackte weiter auf ihrem Computer herum. Man könnte auch sagen, sie pustete den Rauch aus dem Lauf ihres Colts und steckte ihn wieder ins Halfter.
"Hör mal," beschwerte ich mich, "ich wollte mich ernsthaft mit dir über meine Krankheit unterhalten und nicht irgendeine Taktlosigkeit von dir hören."
Rosa hackte ungerührt weiter: "Was heißt hier Taktlosigkeit? Hast du Probleme mit dem Älterwerden? Wir sind nun mal in dem Alter, in dem uns die Wechseljahre heimsuchen. Die große Zäsur im Leben einer Frau (hier dozierte sie, wie eine Professorin es nicht besser hätte tun können), sie verliert ihre Fähigkeit zur Mutterschaft, der Eisprung bleibt aus - das Frühstücksei nicht -, und die Epidermis und auch sonstige Dinge beginnen zu altern, man könnte auch welken sagen, und der Sexualtrieb lässt nach."
"Der Sexualtrieb?" Diese Auskunft jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Alles andere hielt ich für eine glatte Übertreibung: Meine Haut welkte nicht, niemals und sonstige Dinge auch nicht, was immer das sein mochte.
"Vor allem der," nickte Rosa ernsthaft, weiter hackend, "und Hintern und Busen machen sich auf den Weg nach unten."
"Wie, nach unten?" Ich, ganz und gar begriffsstutzig.
"Na, nach unten, in die Tiefe, hängen. Hängebusen, Hängearsch."
"Nee, Rosa, jetzt erzählst du Märchen. Meine Mutter hatte das mal, das hat sie wohl erzählt. Aber bei älteren Frauen ist das wohl auch natürlich."
"Na, und was bist du wohl? Du bist über vierzig, wenn mich nicht alles täuscht. Wann hatte denn deine Mutter das mal? Ich schätze, sie hat es immer noch. Hast du," und hier ließ sie endlich vom Computer ab, "einmal den Hängebusentest gemacht?"
Ich lachte schallend. Nicht einmal bei meiner Friseuse las ich Frauenzeitschriften!
"Nee," sagte ich, nachdem ich mich beruhigt hatte, "den kenne ich gar nicht. Aber im Krankenhaus hat eine junge Praktikantin, nachdem sie mich abgegrabscht hatte, gemeint, mein Busen sei schön weich."
"Und, lebt die junge Frau noch?" fragte meine Rosa und zündete sich eine Zigarette an. Wir verstanden uns wirklich prächtig.
Rosa war ausgestattet mit einem sehr praktischen Sinn für alles, vor allem für das Leben, aber als der liebe Gott bei der Verteilung der Eigenschaften "Romantische Gefühle" aufrief, hatte sie offensichtlich gerade nicht hingehört. Zu meiner großen Freude war ihre Sachlichkeit aber mit einem herrlich trockenen Humor gepaart, dass ich ihr allein deswegen in jede Firma auf dieser Welt gefolgt wäre. Aber sie hatte genau wie ich nicht die die Absicht, unsere geliebte Firma zu verlassen.
Wir arbeiteten in einem Verlag - zumindest benutzten wir nach einer stillen Übereinkunft diese legitime Abkürzung. Wir verlegten allerdings keine Bücher. Es handelte sich um einen Bier- und Getränke-Verlag. Warum zwei derart gegensätzliche Geschäftszweige die gleiche Bezeichnung benutzten, war uns ein Rätsel, aber wir konnten damit leben. Es klang sehr nobel, wenn man auf die Frage: "Wo arbeiten Sie denn?" mit "In einem Verlag" antwortete. Es war vorgekommen, dass mir jemand ein Manuskript aufschwatzen wollte. Rosa machte in unserem Verlag die Buchhaltung, während ich für die kaufmännische Sachbearbeitung zuständig war. Das Geschäft expandierte, wir beschäftigten einen Chef, der den ganzen Tag in der Stadt herumreiste und in den Getränkeläden die Honneurs machte, mehrere LKW und die dazugehörenden Fahrer und uns selbst: im Winter gelegentlich mit Computerspielen, weil der Absatz natürlich nicht reißend wie in den heißen Sommern war. Wir hatten genügend Zeit, um unsere menschlichen und zwischenmenschlichen Probleme während der Arbeitszeit zu besprechen und gelegentlich auch zu lösen. Das ganze Hobby wurde bombig bezahlt und auch mit Naturalien bedacht. Als Alternative, hatten wir beschlossen, würden wir allerhöchstens in einem Kunstaugen-Institut arbeiten wollen.
Dass es das gibt, hatten wir kürzlich bei einem gemeinsamen Spaziergang während der Mittagspause fest-gestellt. "Kunstaugen-Institut", hatte Rosa versonnen (mit echten Augen) in die Ferne geschaut, "das hat Pfiff! Ob die kiloweise verkauft werden? Farblich sortiert?"
Sollte unser Chef eines Tages nicht mehr bereit sein, uns unsere täglichen Pflichten zu übertragen, würden wir uns bei einem solchen Institut bewerben.
"Du verkaufst blaue Augen, ich braune," bestimmte Rosa. Immer, wenn im Verlag der Ärger überhandnahm, malten wir uns die Beschäftigung im Kunstaugen-Institut aus, und das tröstete.
Am Abend daheim machte ich den Hängebusentest dergestalt, dass ich einen Bleistift unter meine nackte Brust klemmte. Wenn er zu Boden fiel, war ich noch in Ordnung, wenn er jedoch unter meiner Brust stecken blieb, hing sie. Er klemmte, obwohl mir das bei meinem kleinen Busen unmöglich erschien. Ich zog ihn aus dem Fleischspalt und rief entnervt Thea an: "Du, stell dir vor, jetzt habe ich auch noch einen Hängebusen. Ich habe die ganze Nacht geschwitzt wie ein Schwein, und Rosa hat mir den Hängebusentest erklärt. Er hängt! Hast du den mal gemacht? Bleistift unter den Busen geklemmt?"
Thea lachte: "Klar." (Sieh an, davon hatte sie mir gar nicht erzählt.)
"Und?" fragte ich.
"Hm," sagte sie lakonisch, "er hängt. Der Bleistift war beinahe plattgedrückt." Dazu muss man wissen, dass Thea mit der achtfachen Menge an Busen ausgerüstet war.
"Und das hat dir nichts ausgemacht?"
"Und wenn, was sollte ich ändern? Ich bin schließlich nicht Cher. Und auch nicht Frankensteins Tochter. Ich las doch wegen einem bisschen Hängebusen nicht an mir herum schnippeln!"
Ich wurde das dumme Gefühl nicht los, dass meine engste weibliche Umgebung sich auf meine Kosten amüsierte.
"Weißt du, was Reiner sagt, woran man eine Frau erkennt?" fragte Thea und brach in helles Kichern aus, "Er sagt, man muss einen Finger in den Oberschenkel drücken, und wenn eine Delle bleibt, ist es ein Frauenbein." Sie konnte sich vor Lachen schier nicht mehr einkriegen, und ich legte sanft den Hörer auf die Gabel. Die war total übergeschnappt. Und frauenfeindlich! Es ist dieses Leben weiß Gott kein amüsantes! Die nächsten Schweißausbrüche bekam ich äußerst unpassend während einer Besprechung mit unserem Chef. Ich saß ihm gegenüber, hatte den aufmerksamen Blick angeknipst, mit dem ich immer wettzumachen versuchte, dass ich keine langbeinige und -haarige Schönheit, sondern eine burschikose, leicht untersetzte Normalität war. Und mittendrin verwandelte sich unsere Franziska in die Fontana di Trevi (es schmiss nur keiner Geld rein). Bossi sah mich ratlos an: "Was 'n los? Fieber? Fühlen Sie sich nicht wohl? Wollen Sie lieber nach Hause gehen?" Ich nickte schwach und verließ sein Büro. Rosa blickte hoch, stellte tatsächlich die Arbeit ein und blickte aufmerksam in mein Gesicht: "Wie siehst DU denn aus? Hat der Alte dich fertiggemacht? Der Atlantik ist ein trockenes Loch gegen diese Fluten!"
Wunderbar, ihre Allegorien! Der Schweiß lief mir über das brennende Gesicht, ich fühlte meinen Haarschopf nass werden und meine Achselhöhlen.
"Rosa," hauchte ich entnervt und den Tränen nahe, "so was will ich nicht haben. Das ist ätzend! Ich fühle mich furchtbar. Ich schwitze, ich sterbe, mir brennt der ganze Körper. Wie kriege ich das bloß weg?"
Mit diesen und ähnlichen Überraschungen überlebte ich die nächsten Wochen und Monate. Ich fühlte, wie ich innerlich verfiel.
Meine Umgebung missachtete meinen Zustand, die einzigen Menschen auf dieser Welt, mit denen sich meine Seele bedingt austauschte, nämlich Thea und Rosa, amüsierten sich über mich. Das spürte ich ganz deutlich. Ich war verlassen und unverstanden.
"Vielleicht solltest du mal zum Frauenarzt gehen?" schlug Rosa vor, aber sie guckte eine Spur zu spöttisch, als dass ich diesen Rat hätte befolgen können. Thea brachte mir ein kluges Buch zum Thema Wechseljahre mit, das ich ihr am liebsten auf den Schädel gehauen hätte. Wenn Verlage solche Bücher machten, waren mir Bierverlage allemal sympathischer! Dennoch warf ich, als ich allein war, einen Blick in dieses Buch. Grauslich! Die Frau, die darin ihre Erfahrungen schilderte, bekam sogar einen Bart! Ich rannte sofort zum Spiegel und beäugte die Partie Unter meiner Nase und am Kinn. Kein Bart! Na, das hätte mir noch gefehlt, dass ich als kompletter kesser Vater auftreten könnte, mit Bart, ganz echt. Die Autorin des Buches empfahl keine Nass- oder Trockenrasur, dafür aber Ginseng gegen die Hitzewellen. Es sei ein altes indianisches Heilmittel, stand da geschrieben.
"Ginseng," murmelte ich, "wird gekauft." Schließlich hatte ich eine Heidenangst vor Hormontabletten. Irgendwo und -wann hatte ich mal gelesen, dass Frauen von Hormontabletten meistens auseinander gingen wie Hefeteig. Das wollte ich mir nicht antun.
Wochen später, ich hatte mit Ginseng wirklich gute Erfahrungen gemacht, erlebte ich meinen nächsten Schock. Ich wollte tanzen, gehen, allein, ohne Thea, denn mein Sexualtrieb hatte entgegen der Prognosen von Rosa nicht nachgelassen. Als ich mich zurecht machte, nahm ich mir vor, höchstens eine nette Nacht erleben zu wollen und nicht den Beginn einer wundervollen Freundschaft. Vorerst war ich viel zu sehr mit meinen Wechseljahren beschäftigt, was heißen will, ich lag auf der Lauer und beobachtete mich, denn trotz Ginseng und dem Verschwinden der Hitzeausbrüche hatte ich doch mehr oder weniger Zweifel am Stillstand meines frühzeitigen Alterns. Ich traute dem Braten nicht recht.
Ich warf mich in Schale und bewunderte mein Spiegelbild: Das kurze dunkle Haar war mit Hilfe von Gel künstlich verwirrt, ich trug eine ärmellose Weste über einer hellen Bluse (Männerhemden trage ich trotz allem nicht!), dazu hatte ich knallrote Jeans angezogen. Fein sah Papas Mädchen aus.
Wenn der wüsste! Ich hatte zwar an die hundert Mal Anlauf genommen, um meinen Eltern klarzumachen, dass es mit den von mir erwarteten Enkelchen aus bestimmten Gründen nichts würde, aber es hatte mich doch jedes Mal wieder mein Mut verlassen. Vielleicht ahnten sie auch was, denn sie hatten, ich glaube nach meinen dreißigsten Geburtstag, aufgehört zu fragen. Meine ganze Bewunderung gehörte den Frauen und Mädchen, die den Mut hatten, sich öffentlich zu ihrem Lesbischsein zu bekennen. Seit Martina Navratilova diesen Schritt getan hatte, schaute ich mir sogar Tennis im Fernsehen an und träumte davon, sie einmal zu treffen, wenn sie in Berlin spielte. Inzwischen hatte sie in Berlin gespielt, mich aber leider nicht angerufen... Eine tolle Frau, trotzdem!
"Na," hatte Thea gesagt, "wenn du mehrfache Millionärin wärest und keine Angst vor blöder Anmache am Arbeitsplatz haben müsstest oder bei Bolle an der Ecke, würdest du dich auch öffentlich bekennen." Allerdings hatte ich da meine Zweifel, aber es war auch müßig, darüber nachzudenken. Ich konnte nicht Tennis spielen, und Millionen würde ich auch nie haben.
Jedenfalls hatte ich Angst vor den Folgen eines solchen Bekenntnisses. Und schließlich bekannte der Rest der Menschheit auch nicht hundertprozentig, wie und mit wem er sich amüsierte! Warum denn ausgerechnet ich?
Meine Stammkneipe war das "WC", korrekterweise der "WC" - der "Women's Club". Wie der Name sagt, hatte hier nur die bessere Hälfte der Menschheit Zutritt. Es war ein gemütlich eingerichtetes Lokal, das immer gut besucht war und stets die neuesten Hits zum Tanzen bot. Es gab noch die eine oder andere Frauenkneipe, das "Cafe Martina" (hihi) und das "Darkside", das ich lieber "Brightside" getauft hätte. Aber das "WC" war halt am gemütlichsten, und ab einem gewissen Alter brauchte man das.
Der Abend war sehr fröhlich, ich traf einige Freundinnen, wir schwätzten, alberten herum, und in der späten Nacht warf ich mein Auge auf eine Blondine, deren Anblick meiner angeschlagenen Seele gut tat. Sie war vielleicht achtundzwanzig, dreißig und sah umwerfend aus. Und sie war recht kess. Nachdem wir uns einige Male vielversprechend in die Augen geschaut hatten, forderte ich sie zum Tanzen auf, und dort ging sie auch gleich zur Sache. Sie beherrschte die Kunst des Klammerblues und hauchte mir Ihren Atem ins Ohr. Unsere feuchten Wangen klebten aneinander, während wir engumschlungen auf der Tanzfläche standen und uns zu einer schummerigen Melodie in Zeitlupe aneinander rieben. Sie regte mich ganz schön auf, und ich dachte, dass ich gern die Nacht mit ihr verbringen würde. Vorausgesetzt, ich würde nicht allzu enttäuscht sein, sobald sie den Mund aufmachte. Da bin ich Ästhetin. Frauen, die im Billigdeutsch auf mich einhackten, waren mehr, als zu ertragen ich je in der Lage gewesen bin. Mal über einen guten Film oder ein gutes Buch zu reden, ins Theater oder Konzert zu gehen, war für mich wichtig, genauso wichtig, wie anschließend darüber zu reden, und zwar relativ hochdeutsch. Mit Boulevard-Zeitungen würde ich mir nicht mal den Allerwertesten abwischen, es gibt Dinge, die man seinem Körper einfach nicht zumutet.
"Wie heißt du eigentlich?" fragte ich sie, nachdem wir uns wieder an die Bar gesetzt hatten, "Ich heiße Franz - Franziska." Sie sah mich ungläubig an, und dann huschte ein amüsiertes winziges Lächeln um ihre Lippen. Gut, dachte ich, sehr dezent.
"Ich habe einen ganz profanen Namen - Susanne." Sie zuckte mit den Schultern und nuckelte an ihrem Drink. Natürlich spendierte ich ihr einen, und später spendierte ich ihr noch einen, und überhaupt spendierte ich ihr die Gunst meiner Gegenwart, meinen ganzen Charme und zu guter Letzt meine ganze Überredungskunst.
"Wenn du dich für José Carreras interessierst," haute ich auf den Putz, "ich habe Zuhause ein paar Platten von ihm, die könnten wir uns anhören. Hast du Lust, - und Zeit?"
Ich mag José Carreras gar nicht, aber die Mädchen mochten ihn. Nachdem ich das herausgefunden hatte, besorgte ich ein paar Platten von ihm. Und den Bolero mochten sie! Meine Güte, seitdem diese Schlittschuhläufer nach dem Bolero über das Eis gehuscht waren und Dudley Moore dieser gruseligen Kunstpuppe Bo Derek als Traumfrau mit Hilfe des Bolero einen ganzen ätzenden Film lang nachgestiegen war, gehörte dieses Stück anscheinend zum Hör-Repertoire jeder Braut Zwischen achtzehn und sechzig. Mindestens drei Frauen hatten mich nach einer halbdurchtanzten Nacht daheim gefragt: "Hast du den Bolero?", denn es gehörte offenbar zum guten Ton, dass dabei geliebt wurde.
Susanne lächelte nicht, sondern grinste vielsagend, packte ihre Zigaretten in die Handtasche, wartete lässig darauf, dass ich die Zeche beglich - sie mochte am liebsten verdammt teure Cocktails - und ein Taxi rufen ließ.
Es war eine hinreißende Nacht. Susanne verzichtete auf den Bolero, auch auf Carreras; sie fragte gleich beim ersten Drink, ob sie über Nacht bei mir bleiben könne, denn ihr letzter Bus sei jetzt längst weg, und Geld für ein Taxi habe sie nicht mehr, oder ob ich ihr was leihen könne. Die ganze Fragestellung ließ nur eine Antwort zu: Küsschen, die Hand aufs Knie und ein ins Ohr gehauchtes: "Bitte bleib."
Sie lag mehr auf der Couch, als dass sie saß, und ich kniete vor ihr nieder. Meine Kniegelenke knackten lästerlich, und Susanne lachte glucksend.
"Klingt wie eingebaute Kastagnetten." Irgendwie klang das taktlos, aber ich nahm's von der heiteren Seite.
"Ich glaube, ich habe Arthrose," brummelte ich, und Susanne richtete sich auf: "Da kenne ich ein gutes Mittel. Ein Naturheilmittel, gibt's nur im Reformhaus. Die schlagen nicht auf den Magen. Warte mal, ich schreibe dir den Namen auf."
"Später," schnurrte ich und presste meine Wange auf ihr Knie.
"Später," lächelte sie, "später kommen wir vielleicht nicht mehr zum Schreiben." Sie fummelte an ihrer Handtasche und zauberte Zettel und Stift hervor.
"Arthrogela," murmelte sie, während sie schrieb. "Ist Gelatine drin, was übrigens auch gut für die Haare und Fingernägel ist."
"Hm," ich kam ins Grübeln und strich mit der Hand über meinen Haarschopf. Bartwuchs mochte noch angehen, aber Glatze? Ich konnte jedoch Susanne unmöglich Fragen, ob man während der Wechseljahre auch Glatze bekam.
Schließlich und endlich landeten wir gemeinsam in der Badewanne und schließlich im Bett. - Ohne Bolero.
Am nächsten Vormittag, Gottseidank war es Sonnabend, stand ich in der Küche und kochte Kaffee. Susanne rumorte im Badezimmer und steckte schließlich den Kopf zur Tür herein, barfuß bis an den Hals. "Schatzi, darf ich mal telefonieren?"
Aha, dachte ich, abmelden. Wir hatten gar nicht darüber gesprochen, ob und in welcher Weise wir irgendwie an jemanden gebunden waren. Ich nickte und versuchte, nicht hinzuhören, während sie sprach. Es murmelte eigentlich auch nur, aber dennoch konnte ich verstehen, wie sie etwas sagte, das klang wie:
"Nee, 'ne Ältere, vielleicht vierzig, aber ganz nett. Nee, viel zu alt..." Mir stockte der Herzschlag. Die konnte doch nicht mich meinen! Auf der Stelle ließ ich das Brotmesser fallen und auch alle sonstigen Teile, die ich zur Herstellung unseres Frühstücks benötigte. Die hatte wohl ein Ding am Kopf! Was fiel denn dieser Schnake ein? Mich in meiner eigenen Wohnung zu beschimpfen! Raus hier, die musste sofort raus hier. Das war mehr, als ich ertragen konnte.
Meine Stimmung war unter dem Gefrierpunkt, als sie nach ihrem Mords-Telefonat in die Küche kam, immer noch barfuß bis an den Hals. Bei Tageslicht besehen hatte sie eine tolle Figur, eine makellose Haut, wunderbar straffe Brüste. Da war jeder Bleistift chancenlos! Ich kam mir plötzlich uralt und irgendwie gedemütigt vor. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich als alternde Mutter, hatte einen verblichenen Kittel an, ein Kopftuch um denselben gebunden und einen Staubwedel in der Hand. Uralt.
Es war blödsinnig, aber mir wollten Tränen in die Augen steigen, ich war nicht wütend, sondern todtraurig. Aber ich brachte es nicht fertig, diese Tusnelda stantepede hinauszuwerfen, denn dazu hätte ich ihr den Grund für meine Traurigkeit und Wut erklären müssen. Das hätte ich nicht fertiggebracht. Also verlief unser Frühstück ziemlich wortkarg. Zunächst plapperte Susanne noch fröhlich, aber irgendwann checkte sie meine einsilbigen Antworten, machte die Bemerkung:
"Morgenmuffel, wie?" und gab mir schließlich durch ihre Körpersprache zu verstehen, dass sie sich sehr unbehaglich fühlte.
Nach dem Frühstück katapultierte ich sie uncharmant aus meinen Leben.
"Ich habe ziemlich viel zu arbeiten," brummte ich, "leider muss ich dich jetzt rausschmeißen."
"Aber, ich könnte dir vielleicht helfen," stammelte sie, verunsichert durch mein Gehabe.
"Nee, ist nicht nötig. Geh nur, und mach die Tür richtig zu, das Schloss ist nicht in Ordnung."
"Na gut," sagte sie schnippisch, "dann eben nicht." Sie stand auf und sammelte ihre Klamotten ein. Wie konnte ich nur auf solch eine oberflächliche, junge, dumme Pute hereinfallen? Na denn, dachte ich, nachts sind eben alle Katzen grau. Dieses und ähnliche Sprichwörter hatte ich von Rosa gelernt, die, was das betraf, ein Fass ohne Boden war. Sie hätte vermutlich jetzt an meiner Stelle gesagt: Spinne am Morgen, dann hast du's hinter dir, oder ähnlich.
Ich ließ Wasser ins Spülbecken laufen und begann wie eine kleine emsige Hausfrau mit dem Abwasch. Weiß Gott nicht meine Lieblingsbeschäftigung, und es war gewiss das erste Mal in meinem Leben, dass ich sofort nach einer Mahlzeit abwusch. Normalerweise erledigte ich das erst dazu, wenn kein sauberes Geschirr mehr im Schrank stand. Aber ich wollte dieser Schnake nicht auch noch dabei zusehen, wie sie sich in ihre lächerlichen Disco-Fummel warf. Ich muss nachtblind sein, grummelte es in mir, wie könnte ich sonst auf diese Trulla reinfallen? Nachtblind oder total bekloppt oder bloß nymphomanisch! Plötzlich stand sie hinter mir, sie roch nach meinem Parfum!
"Na denn, tschüs," meinte sie und hauchte mir einen Kuss auf die Schulter, auf die unsichtbare Kittelschürze! "Es war sehr schön. Vielleicht sieht man sich. Vielleicht hören wir wirklich mal Carreras."
"Vielleicht," brummte ich und schaute sie nicht mal an. Da ich in den nächsten Stunden an Altersschwäche sterben würde, erübrigte sich eine weitere Verabredung mit diesem Kind im Vorschulalter!
Ich hörte, wie donnernd die Wohnungstür ins Schloss fiel und ließ aufatmend die Hände ins Spülwasser sinken. Eine Last fiel von meinen Schultern. Nicht eine Sekunde länger hätte ich ihre plapperhafte Gegenwart ertragen.
"Viel zu alt," brüllte ich plötzlich los und schlug mit beiden Fäusten ins Wasser. Da stand ich nun, Spüllauge im Gesicht, in den Augen. Oder warum sonst hätte ich plötzlich heulen sollen?
Ein unbeschreiblich dicker Klumpen saß in meinem Hals, stieg höher und floss in Form von Tränen in einem gewaltigen Strom an mir herunter. Dem Strom hinterher flossen sämtliche Perspektiven, man hatte mir meine Lebensgrundlage entzogen. Ich war zu alt geworden. Zu alt für eine Nacht. Hatten sich meine Hormone gar nur noch ein letztes Mal aufgebäumt?
Normalerweise half mir ein schönes dickes Schaumbad, wenn ich einen Heulanfall bekam. Aber auch das ging an diesem schrecklichen Morgen in die Hose. Ich stand vor dem Badezimmerspiegel, ein Spiegel in Körpergröße, und beäugte mich kritisch, soweit das mein tränenumflorter Blick zuließ. Voller Entsetzen stellte ich fest, dass ich im Begriff war, meinen knabenhaften Körper zu verlieren. Ganz offensichtlich hatte ich zugenommen, nicht viel, denn sonst hätte ich das wegen der kneifenden Hosen gemerkt. Aber wenn ich mich halb umdrehte, entstanden tiefe Falten um die Taille herum, und meine Pobacken hingen irgendwie traurig herunter, ein ganz klein wenig faltig. Panik ergriff mich. Das konnte doch unmöglich über Nacht geschehen sein! Hatte der Liebes-Kalorien-Verbrauch der letzten Nacht mich etwa vorzeitig altern lassen? Und überhaupt, wie sah denn mein Busen aus? Der hing! Und meine Oberarme! Wabbelig! Oh Gott.
Ich stieg in die Wanne und tauchte unter, solange ich konnte, hielt ich die Luft an und dachte daran, mich zu ertränken. Später hüllte ich mich fest in meinen kuscheligen Bademantel und schenkte mir einen Whisky ein. Eigentlich nicht meine Art, am Morgen bereits zu trinken, aber ich war fertig und fühlte mich elendig, ich heulte in einer Tour vor mich hin, dass ich meinte, nichts anderes könnte mich trösten. Die wohlige Wärme des Alkohols beruhigte mich allmählich ein wenig.
In meinem Bücherregal gab es ein medizinisches Wörterbuch, das ich schließlich wildentschlossen zur Hand nahm. Unter 'Wechseljahre stand dort nur der Hinweis 'siehe Klimakterium', und darum begab ich mich dorthin.
Oh mein Gott, was dort alles geschrieben stand! Schlaflosigkeit, Depressionen, Verdauungsstörungen, Gewichtszunahme, Bartwuchs (!), Sexualstörungen, Ausbleiben der Menstruation "wie praktisch," murmelte ich, um dazu geschockt das Buch beiseite zu werfen. "Rückbildungen der Sexualorgane" stand da.
Schweratmend starrte ich abwechselnd auf das am Boden liegende Buch und auf mein Glas. Ich schenkte mir noch einen Whisky ein und hob das Buch auf. Vielleicht hatte ich mich verlesen! Rückbildungen der Sexualorgane, das kam vielleicht bei Männern vor, da wurde der Schniedel kürzer. Jaha, davon hatte ich gehört. Ich musste im Buch in die falsche Abteilung gerutscht sein. Ach zum Teufel, das stand da wirklich geschrieben!
"Das glaube ich nicht, das glaube ich nicht, das glaube ich nicht," murmelte ich vor mich hin und holte einen Handspiegel aus dem Bad. Breitbeinig im Sessel sitzend, hielt ich ihn vor meine offenbar von der Ausrottung bedrohten Sexualorgane und schaute sie kritisch an. Alles noch da, ätsch. Wunderschön da, wie ich fand. Das Dumme war nur, dass ich mich ungefähr vor fünfundzwanzig Jahren zum letzten Mal derart im Spiegel angeschaut hatte. Es fiel mir daher schwer, eine Veränderung oder gar eine Rückbildung zu entdecken. Meiner Meinung war alles unverändert, aber was zählte denn die Meinung einer alternden Frau? Mir vorzustellen, dass ich mich wie selbstverständlich jugendlich kleidete, während diese Schnaken in den Discos womöglich hinter meinem Rücken über mich altes Reff tuschelten, trieb mir die Scham- und die Wutröte ins Gesicht. Der obligate Griff zum Telefon:
"Theachen, ich bin's, Franziska." Danach tiefes unheilvolles Schweigen meinerseits.
"Nanu, wenn du dich Franziska nennst, muss was Schreckliches passiert sein," meinte Thea, und ich hörte, dass sie mit vollem Mund sprach.
"Hör zu," sagte ich energisch, "mir ist scheißegal, ob ihr gerade einen Jahrhundertfilm in der Glotze seht, ich muss mit dir sprechen, und zwar jetzt."
"Also gut, leg los," muffelte sie, und ich hörte, wie sie die Hand auf die Muschel legte und verstand dennoch etwas wie: "Dreh doch mal den Ton ab." Wie rücksichtsvoll.
"Stell dir vor," legte ich los, "ich war gestern aus und..."
"...hast deine Hormone ausgeführt," vollendete sie den Satz, aber als ich sie laut anbrüllte, schwieg sie. Ich berichtete ihr von Susanne und deren schrecklicher Tat.
"Weißt du," kaute mein Theachen, "du musst der Realität ins Auge sehen. Für eine Unterdreißigjährige bist du eben alt. Du bist über vierzig, meine Süße. Das ist schrecklich, ich weiß (woher?), aber du kannst es nicht ändern. Je eher du dich damit abfindest, desto schneller kommst du darüber hinweg."
"Hast du einen an der Waffel?" fragte ich gereizt, "Ich bin im Begriff, meine knabenhafte Figur zu verlieren, meine Sexualorgane bilden sich zurück, meine Pelle, mein Busen und mein Hintern überbieten sich im Sich hängenlassen, und du erzählst mir was von mich damit abfinden?"
"Reg' dich ab. Pfeif doch auf dein Medizinlexikon. Hast du die Nacht durchgebumst oder nicht? Na also, das geht wohl nicht ohne Sexualorgane oder? Ich vermute, dass die damit die Innereien meinen, Eierstöcke oder Gebärmutter oder Vorsteherdrüse oder..."
"Quatsch, die haben doch nur Männer," fuhr ich dazwischen.
"Also, wie auch immer, dann eben keine Vorsteherdrüse. - Reiner, hast du eine Vorsteherdrüse? - (ich konnte seine Antwort nicht hören, dafür aber Theas Kichern). Und gegen dein Gehänge..."
"...auch das haben nur Männer," brüllte ich entnervt, "und frag nicht wieder Reiner, ob er ein Gehängte hat!"
"Ich meine doch die Hängehaut und die Hängebrust und den Hängehintern. Also, dagegen kannst du doch etwas tun! Geh doch ins Fitness-Studio, mach Pilates."
"Nee!" blökte ich dazwischen und dachte traurig daran, wie sehr meine ehemalige Lieblingsschauspielerin Jane Fonda in meiner Gunst gesunken war, seit sie halbnackt in diesen metallic-glänzenden Leibchen ihre undamenhaften Muskelstränge vorführte, anstatt in Filmen aufzutreten. Bei Tennisspielerinnen waren die Muskeln akzeptabel, aber bei Jane? Und bei mir?
"Kannst du dir vorstellen, wie ich in einem Fitness-Fummel aussehe?," brummte ich, und wir lachten beide.
"Also, ich würde es an deiner Stelle einfach mal versuchen. Es gibt doch Fitness-Studios nur für Frauen, ist sicher ganz amüsant - auch für deine Hormone."
"Schwein."
"Die meisten Studios haben Sauna oder Dampfbad, gemeinsame Duschen, wenn du da eine nette Frau kennen lernst..."
"Schnauze!"
"...und so weiter," fuhr sie fort, "ich überlasse das deiner Phantasie. Und jetzt hör auf zu weinen. Denk mal in Ruhe darüber nach, benimm dich wie ein erwachsener Mensch, und wenn du magst, kommst du heute Abend zu uns, wir können gemeinsam einen netten Film ansehen."
"Am besten irgendeinen mit Liz Taylor," brummte ich, "die kann auch nicht alt werden. - Hätten bloß meine Knie nicht laut geknackt, hätte diese Schnake mir ihren Arthrose-Mist nicht aufgeschrieben, und es wäre ihr auch nicht aufgefallen, dass ich - hier hob ich meine Stimme - VIEL ZU ALT bin."
"Welche Schnake? Liz Taylor? War die bei dir?"
"Thea, wenn du weitermachst, kündige ich dir meine Freundschaft! Oder ich nenne dich auch Schnake."
Wir stritten uns häufig darüber, dass ich Frauen als Schnaken bezeichnete. Sie fand das unfeministisch und der Frauensolidarität nicht zuträglich. Ich hingegen fand, dass Frauen in meinem Kopf herumschwirrten wie Schnaken im Sommer um meinen Körper, und die kleinen Stiche, die sie mir versetzten, glichen sich in ihrer nachhaltigen Wirkung. Was soll's? Schließlich nannte ich sie nicht Krokodile oder Klapperschlangen!
Das Wochenende verbrachte ich abgrundtief allein. Mir war nicht nach einem Film mit Thea und Reiner zumute, nicht nach fröhlicher Unterhaltung und erst recht nicht nach einem weiteren Tanzabend. Vielmehr ging ich mir selbst unheimlich auf die Nerven. Mein Innerstes war aufgewühlt und unruhig wie ein tobender See. Ein schreckliches Gefühl. Ständig standen Tränenfluten kurz vor dem Ausbruch. Ich fühlte mich einsam, überflüssig, alt, hässlich und ungeliebt. Stundenlang saß ich reglos und grübelte, und meine Gedanken schienen sich im Kreise zu drehen. Allmählich verdichtete sich die Vorstellung, bis ans Ende meines Lebens allein bleiben zu müssen, weil sich niemand, aber auch wirklich niemand noch in eine alternde Frau verlieben würde, die auf der Schwelle zum Jenseits von Gut und Böse stand. Nie wieder würde ich einen warmen weichen Frauenkörper an meiner Seite fühlen, Sex haben, gemeinsam morgens aufwachen, fröhliche Stunden in der Disco oder auf Reisen erleben. Und irgendwann würde ich Rentnerin, grau, einsam und schrullig. Meine Gedanken gingen gar soweit, mich mit der Frage zu beschäftigen, ob ich mich um einen Platz im Altersheim bemühen sollte. Die Vorstellung, im Alter ganz allein zu leben, machte mir Angst. Unvorstellbare Angst. Es musste etwas geschehen. Mein Leben konnte nicht wie bisher weitergehen. Diese lockeren One-night-stands ohne Verpflichtung, diese Angst vor Beziehungskisten - das konnte ich mir von nun an nicht mehr leisten. Ich würde mich ganz gezielt und präzise auf die Suche nach einer Partnerin fürs Leben machen müssen, nach einer Frau, bei der mir beim Gedanken ans gemeinsame Altwerden nicht schlecht vor Entsetzen wurde. Gleichzeitig murmelte ich immer wieder vor mich hin: "Ich kann das nicht, ich kann das nicht." Es kamen auch keine Ideen, wie ich es anstellen sollte.
Im Geiste ging ich die Reihe der Mädchen durch, die ich in meinem Leben kennen gelernt hatte, ließ ich die Gesichter der Frauen Revue passieren, die ich bei meinen nächtlichen Ausschweifungen betanzt und beflirtet hatte, ohne dass es zu nennenswerten Annäherungsversuchen gekommen wäre. Das waren doch alles Schnaken! Keine dabei, mit der ich meine Rente würde verjuxen wollen. Was ich wollte, war echte Qualität. Eine schöne und kultivierte Frau mit einem guten Beruf und einem noch Besseren Einkommen, am besten eine wie Catherine Deneuve! Oder ähnlich!
Einige Tage später war ich mit Thea soweit über-eingekommen, dass wir gemeinsam ein paar Probestunden in diesem und jenem Damen-Fitness-Studio absolvieren würden. Allein dorthin zu gehen - dazu fehlte mir der Mut, zumindest beim ersten Mal. Wir kauften mir ein paar Sportklamotten, wobei ich erhebliche Mühe hatte, Thea davon zu überzeugen, dass diese chicen glänzenden Leibchen nichts für mich waren. Vielmehr setzte ich meine eher bodenständigen Interessen durch und kaufte Sportzeug für Normalverbraucherinnen.
"In dem Ding," sie zeigte mit spitzen Fingern auf die schwarzen Leggings, "wirst du keine Frau anmachen können, das sieht nach nichts aus."
"Ich will auch keine Frau anmachen, sondern fit, schlank und schön werden," grollte ich, "du unterstellst mir permanent rein sexistische Absichten." Außerdem war ich ein wenig beleidigt, dass sie mir solch niedrige Motive für mein edles Unterfangen unterstellte. Sie hatte ständig krause Vorstellungen davon, dass ich Frauen anbaggerte nach Männerart, mit Hinterntätscheln und Hüftschwung a la Patrick Swayzee. Insgeheim hielt sie mich womöglich für diese Art schwülstigen Mambo-Tänzer, deren Filme die Kinos und Höschen der Damen eine Zeitlang überschwemmten.
Ein wenig aufgeregt betraten wir das "Fitfrau"-Studio, nachdem wir, in Theas Wagen sitzend, noch eine letzte Zigarette geraucht hatten.
"Und keine Sprüche," knurrte ich ihr noch leise ins Ohr. Sie grinste. "Endlich erlebe ich dich mal auf Brautschau..." Ich versetzte ihr einen üblen Ellenbogencheck. Das Foyer des Studios war geeignet, mich in die Flucht zu schlagen. Kühl-modern spärlich möbliert, viele Spiegel, an den Wänden großformatige Fotos von knackigen Muskelfrauen, allesamt braungebrannt und mit mindestens achtundvierzig Zähnen im Mund, von denen jeder einzelne ein strahlendes Meisterwerk war.
"Wenn die alle hier auftreten," murmelte ich entmutigt, " können wir gleich wieder einpacken."
Ein weich wirkendes Jüngelchen, höchstens Anfang zwanzig, mit einer deutlich zur Schau getragenen weiblichen Gesinnung tänzelte auf uns zu, als sei es der Leiter einer Ballettschule. "Hallo, Mädels."
Auf dem Weg zu den Umkleideräumen "ich gehe mal vor" bewunderte ich sein kleines muskulöses Körperchen. Er trug hautenge, ich vermute mal, Sportswear und wackelte mit den schmalen Hüften. Sein Hinterteil war knackig fest, ich nahm es mir als optisches Vorbild.
"Den will ich auch," flüsterte ich Thea ins Ohr und zeigte mit dem Finger auf den kleinen Knackarsch. Sie kicherte. Auch sein kaum bekleideter Oberkörper - er trug eine Art Unterhemd mit riesigen Armausschnitten - hatte niedliche kleine Muskeln, die mir nachahmenswert schienen. Der junge Mann hatte den knabenhaften Körper, den ich gern auch gehabt hätte. Dafür würde ich ab sofort schuften, bis mir die Schwarte krachte!
Alles andere war schrecklich! Für die Probestunde hatte man uns einen Termin gegeben, zu dem das Studio nicht sonderlich gut besucht war, drei oder vier ältere, dickere Damen bewegten umtriebig diverse Geräte, die zwar stark chromblitzend waren, dennoch an Folterinstrumente erinnerten. Es waren Folterinstrumente, wie sich herausstellte. Die englischen Fachausdrücke vergaß ich sofort wieder, aber die Folgen eines "Butterfly" genannten Teils spürte ich Tage später noch besonders schmerzend. Butterfly stärkte die Oberarm- und Brustmuskulatur, glaube ich, führte zunächst aber nur dazu, dass selbst das Bedienen meiner leichten Computertastatur zur Qual wurde.
Kurzum, wir absolvierten diese Probestunde, krochen anschließend völlig down und out unter die Dusche, in die Klamotten und schließlich in Theas Auto.
"Mir tut alles weh," jammerte ich, "selbst Teile, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie habe." Ihr erging es genau ähnlich.
"Dieses Beingerät," stöhnte sie, "weißt du, an dem man die Beine zusammendrücken muss mit den fünfundzwanzig Kilo Gewicht hinten dran... Mir tun die Oberschenkel dermaßen weh, dass ich gar nicht weiß, wie ich das Reiner beibringen soll."
Es kostete mich einige Mühe, Überredungskunst und eine Essenseinladung, sie zu einer weiteren Probestunde in einem anderen Fitness-Studio zu überreden. Mir hatten die Torturen im Grunde Spaß gemacht, und die Vorstellung, einen Körper zu bekommen, der aus einer Mischung von diesen Fotogirls und dem kleinen schwulen Knackarsch bestand, gefiel mir. Hoffentlich würde es nicht zu lange dauern, bis mir dieser Erfolg beschieden war. Sonnenliege musste ich auch machen. Dieser irgendwann vorhandene tolle Körper musste nahtlos braungebrannt werden, damit die Frau, mit der ich meine Rente verjuxen wollte, bis ans Ende ihres Lebens davon entzückt sein würde. Über diesen äußerst belebenden Gedanken vergaß ich meine klappernden Knie und die anderen Unzulänglichkeiten meines alternden Körpers. Ich würde wie aus einem Jungbrunnen klettern und die Welt in atemloses Staunen versetzen!
Beim Eintritt ins "Ladys-Fitness-Paradies" - die hatten alle doofe Namen - flüsterte ich Thea sofort ins Ohr:
"Hier bleibe ich!", und sie sah mich fragend an. An einem Gerät, das ich bereits im "Fitfrau-Studio" Laufställchen getauft hatte, stand eine Lady, die mir den Atem raubte. Sie eine Schnake zu nennen, hätte mir von mir selbst eine Tracht Prügel eingebracht. Auf Theas fragenden Blick nickte ich verstohlen mit dem Kinn in ihre Richtung.
"Die?" flüsterte Thea und zeigte mit dem Finger, "Die da auf dem Laufband? Die ist doch viel zu alt!" Mit meinem bis zur Perfektion trainierten Ellenbogencheck brach ich ihr in Gedanken laut krachend zwei Rippen.
Meine Lady war gewiss ein paar Jahre älter als ich, aber süß!
Sie war zierlich, schlank, dunkelhaarig, hatte ein liebes kleines Gesicht und viele Lachfältchen um die Augen herum. Ihre dunklen Augen blitzten unternehmungslustig, und sie begrüßte uns mit einem strahlenden Lächeln. Während uns in diesem Studio ein hünenhafter Siegfried-Jüngling in die Geheimnisse der Fitness-Geräte einweihte, konnte ich mich gar nicht auf ihn konzentrieren, er hatte auch nicht die Figur, die ich gern gehabt hätte, bitteschön, ich hätte lieber gern diese Dame da auf dem Laufband. Aber voller Begeisterung unterschrieb ich einen Einjahresvertrag mit zu leistenden Monatsbeiträgen, die Thea von einem ebensolchen Vertrag abhielten.
"So viel Geld," zischelte sie, "bist du wahnsinnig? Was glaubst du, wie oft du dafür essen gehen kannst?" Sie dachte eher pragmatisch, während ich hingegen eine hingebungsvolle, romantische Natur war, die für die Geliebte auch das letzte Hemd hergegeben hätte!
Später, wir hatten längst geduscht und waren mit dem Anziehen fast fertig, betrat SIE den Umkleideraum. Thea sagte gerade: "Ich möchte mal wissen, warum in diesen Läden immer nur Männer arbeiten. Wenn ich im Fernsehen Pilates oder so'n Mist sehe, sind es immer diese tollen braungebrannten Hungerharken, die den Mädchen was vorturnen."
"...und kreischen," vollendete ich.
Meine Lady Madonna lächelte leise: "Da haben Sie völlig recht, wenn ich mich mal einmischen darf. Aber solange die Jungs nicht unsere Umkleideräume oder das Dampfbad betreten... Übrigens arbeiten auch Mädchen hier; sie sollten den Aerobic-Kurs mal hören." Dabei lachte sie geradezu entwaffnend. Ich lachte zurück, und vor allem mein kleines Herzchen lachte und lachte und lachte. Welch eine Frau, und wie sie sprach, und wie sie lachte, und Humor hatte sie auch.
"Willst du vielleicht noch mal duschen?" tuschelte Thea, während Lady Madonna ein Handtuch aus ihrer Sport-lasche kramte. Jetzt wurde ich ernsthaft böse und ließ sie das durch meine Blicke deutlich spüren. Draußen tobte ich sie an:
"Sag mal, du hast wirklich ein Rad ab! Glaubst du, ich gehe hier in eine Peepshow? Wann kannst du dir endlich mal merken, dass ich kein fleischgeiler Kerl bin?" Jedes Mal brachte sie mich auf die Palme, wenn sie mir solche Gedanken unterstellte - manchmal hielt sie mich einfach für einen Kerl, unverschämt!
Völlig beschwingt stieg ich am Abend ins Bett. Ich spürte nicht einmal meinen Muskelkater, sondern war guter Dinge. Der Gedanke, dass es wirklich Traumfrauen gab, beflügelte mich. Diese kleine Fitness-Lady hatte mir wirklich gut gefallen, die wollte ich gern näher kennen lernen.
Sofort am nächsten Tag nahm ich meine Übungsstunden im "Ladys-Fitness-Paradies" auf, natürlich zur gleichen Zeit wie am Tag zuvor. Ich stemmte, zog und drückte irgendwelche Teile, an deinen Gewichte befestigt Waren, die mehr wogen als meine Einkaufstaschen am Wochenende, ich biss tapfer die Zähne zusammen, wenn's in den Muskeln schmerzte und um Gnade winselte, ich wischte den Schweiß von der Stirn und verwandelte mich in Herkules Schwester. Eine beinahe ebenso emsige Turnlady erregte meine Aufmerksamkeit. Sie war schätzungsweise um die Fünfzig, mit einer tadellosen Figur, und sie turnte mit einer Selbstverliebtheit, die etwas Lächerliches hatte. Ihr kurzes blondes Haar klebte schweißnass an den Schläfen, und ihr Hemdchen tat dasselbe an einem sehnigen Oberkörper. Mir wurde klar, warum diese Geschäfte voller Spiegel hingen. Diese Adonisse konnte ihre Augen kaum von sich wenden. Sie hob die Ärmchen und die Beinchen und beugte den Rumpf und legte sich auf den Rücken und hob wieder die Ärmchen und die Beinchen und wurde nicht müde, sich dabei anzuschauen. Meine Bewunderung schlug um in Spott. Die war noch selbstverliebter als ich, welch ein Trost.
Später kamen noch zwei junge Frauen hinzu, die sich allerdings vielleicht besser in einem Café getroffen hätten. Sie setzten sich auf irgendwelche Gerätebänke und plauderten und lachten. Frechheit! Ich musste tatsächlich die eine verscheuchen, weil ich ans Gerät wollte. Ich machte hier nämlich ernst! Diese beiden jungen Schnaken hatten hier wirklich nichts zu suchen, die sollten lieber was essen gehen! Etwas sehnsüchtig dachte ich: Mein Gott, so jung und stramm war ich auch mal!
Lady Madonna erschien nicht, und ob ich wollte oder nicht - nach einigen Stunden war ich fertig, dass ich sie vermutlich nicht einmal mehr erkannt hätte. Vor meinen Augen tanzten feurige Kreise und Sterne, und wenn sie gekonnt hätten, hätten selbst meine Haarspitzen geschmerzt. Auf der Sonnenliege schlief ich ein, ein lautes Bummern gegen die Tür riss mich aus meinem an Bewusstlosigkeit grenzenden Kurzschlummer. Ich war fertig, dass ich nicht einmal duschte und auch hinterm Steuer meines Wagens gegen den Schlaf kämpfen musste. Mein ganzer Körper schien ein einziger Muskelkrampf zu sein, und ich war ziemlich sicher, dass ich mich nie wieder würde bewegen können. Die Nacht war grauenvoll, weil glühende Lava durch meine Adern rollte und ich bei jeder Bewegung aufwachte.
Als ich Rosa im Büro von meiner Turnstunde berichtete, wobei ich den liebeskranken Hintergrund meines Handelns wohlweislich verschwieg, lieferte sie nur lakonisch ein weiteres Beispiel aus ihrer Zitatensammlung: Wo rohe Kräfte sinnlos walten, und im Laufe des Tages warf sie mir noch ein Zitat von Doris Lessing an den Kopf: Alt zu werden ist ein wirklich interessanter Vorgang.
"Ich weiß wirklich nicht, warum du plötzlich in diese Panik verfällst," meinte sie und sah mich kritisch und kopfschüttelnd an. "In deinem Bestreben, nicht alt zu werden, und weiß Gott, mit Mitte vierzig ist man noch nicht alt..."
"Dreiundvierzig," warf ich giftig ein,
"ist man noch nicht alt, wirst du allmählich kindisch. Nicht nur, dass du kaum krauchen kannst, knallst du dich auch noch auf eine Sonnenliege! Hast du mal gehört, dass man davon Hautkrebs beikommen kann? Du bist kindisch! Aber wie sagte bereits Picasso? Man braucht sehr lange, um jung zu werden. Du hast dreiundvierzig Jahre Gebraucht, um dich wie ein Embryo ohne Verstand aufzuführen." Sprach's und ließ mich stehen. Ich nahm mir vor, mit dieser Frau nie wieder ein Wort zu wechseln, und ich würde auch nie mit ihr im Kunstaugen-Institut arbeiten!
"Die Axt im Haus..."brüllte ich ihr nach, während sie die Toilettentür hinter sich ins Schloss warf.
Der Spott und das Unverständnis meiner Umwelt hielt mich nicht davon ab, täglich eifrig ins Fitness-Studio zu gehen. Nur ganz flüchtig kam mir einmal der Gedanke, dass Lady Madonna vielleicht auch nur eine Probestunde absolviert haben könnte. Ich beschwor alle Mächte des Guten, dass dies nicht geschehen dürfe, und es geschah auch nicht. Offenbar waren meine Verbindungen zu jenen Mächten sehr gute. Ich stand bereits kurz davor, Rambo-Muskeln zu entwickeln - in Wirklichkeit konnte ich weder auf der Waage noch beim Blick in den Spiegel nennenswerte Veränderungen an mir entdecken -, da betrat sie den Laden. Während ich versuchte, den Beischlafverhinderer zu bedienen, stellte sie sich mit ernster Miene auf die Waage, hängte sich anschließend das Handtuch um den Hals und nahm ihre Geräteliste zur Hand.
Schnell noch ein Wort zum Beischlafverhinderer: das ist ein Gerät, ähnlich einem gynäkologischen Untersuchungsstuhl. Man legt die Beine auf diese Halter und versucht, diese zusammenzudrücken. Die Halter sind mit Eisenplatten beschwert, deren Gewicht man sich aussuchen kann. Die Bedienung dieses Gerätes verursacht reißende Schmerzen in den Oberschenkeln, Muskelkater in den Pobacken und Schwierigkeiten beim Laufen. Aber wenn man sich daran gewöhnt hat, bekommt man davon einen strammen Hintern und wohlgeformte Oberschenkel - wahrscheinlich.
Dann entdeckte meine Lady mich, ich war gerade dabei, mir den Schweiß abzuwischen und mein Haar ein wenig zu richten.
"Oh, hallo, wie geht's?" fragte sie, eine wirklich leutselige und zutrauliche Person. Sie setzte sich auf eine Bank in meiner Nähe und schaute mir aufmerksam bei meinen Po-Straffungsversuchen zu.
"Scheußlich, das Ding, nicht wahr? In den ersten Wochen verhindern die Folgen nahezu jegliche Art von Sexualleben." Dabei grinste sie verschmitzt, und ich fand sie reichlich kess. Aber das passte zu ihr, wie sie da saß: zierlich, mit einem -aufreizend frechen Lächeln und blitzenden Augen.
"Wie heißt du?" fragte sie , "Entschuldige, aber in diesen Laden duzt man sich, das ist in. Ich war in verschiedenen anderen Studios, es ist überall das gleiche. Irgendwie wirkt es schließlich komisch, wenn man gemeinsam in Schweißströmen zerfließt und gleichzeitig sagt: Ach, Frau Müller, ist Ihnen warm?" Sie lachte wieder, "Ich heiße Ulrike, manche nennen mich Ulli, manche Ricki, kannst dir einen Namen aussuchen."
"Ulrike ist ein viel zu schöner Name, der sollte nicht verhunzt werden," charmeurte ich zurück. Lächerlich, dachte ich gleichzeitig, ich zog hier meine Disco-Flirt-Show ab, während ich vermutlich zehn Meilen gegen den Wind nach Schweiß stank und keineswegs adrett aussah, wie ich es mir gewünscht hätte.
Ach du wunderschönste aller Ulriken! stoßseufzte ich innerlich.
"Ich heiße Franziska, es gibt Leute, die Fränzchen zu mir sagen, aber ich steh nicht unbedingt drauf."
Unverhofft zog sie den Verbal-Dolch aus der Scheide: "Schön, diese alten Namen, findest du nicht." Mein "mhm, mhm" quetschte sich durch meine zu einem süß-sauren Lächeln geformten Lippen.
Anyhow, wir plauderten und plauderten und plauderten. Die Geräte blieben unbenutzt, dafür wetzten wir die Mäuler. Natürlich ließ ich den alten Joke mit dem Verlag ab, den ich aber gleich aufklärte, und auch sie fragte: "Warum heißt das eigentlich Verlag?". Ich erfuhr, dass sie in einer kleinen exklusiven Boutique arbeitete, "aber nur zum Spaß, der Laden gehört einer Freundin. Mein Mann hat ein relativ gutes Einkommen, aber mir ist's daheim zu langweilig, also arbeite ich ein bisschen."
Mein Mann, hatte sie gesagt. Dumme Pute, schalt ich mich, was hast du eigentlich geglaubt? Eine solche Frau hat natürlich einen Ehemann. Was sonst?
Dennoch, sie war nett und guter Dinge, sehr lässig und nicht dumm. Sie schaute irgendwann auf die Uhr und sprang auf: "Oh Gott, jetzt habe ich mich aber total verplaudert! Nun aber dalli. Entschuldige, ich habe eine Verabredung und muss sofort los. Gott, Duschen schaffe ich gar nicht mehr." Und weg war sie.
"He, wann bist du wieder hier?" rief ich ihr nach, und sie antwortete, ohne sich umzudrehen: "Wenn du willst, morgen." Das machte mich nachdenklich. Wenn du willst...
Unter der Dusche war mir zum Singen zumute. Was mochte sie damit gemeint haben - wenn du willst. Klang nach Aufforderung, fand ich. Als ich meine Füße einseifte und mir die Beine schmerzten, hielt ich allerdings ihren Einfall für nicht ganz gut.
"Theachen," natürlich hängte ich mich daheim gleich ans Telefon, "stell dir vor, die nette Frau, du erinnerst dich, die wir in der Probestunde gesehen haben, also, die war wieder da heute, und wir haben die ganze Zeit nur geplaudert und nicht geturnt. Die ist vielleicht nett. Quatsch, die ist süß. Ich hab mich verliebt, und sie will mich morgen wiedersehen. Leider ist sie verheiratet. Seufz."
Wahrscheinlich schüttelte sie jetzt mütterlich den Kopf: "Also, mal langsam. Meinst du diese kleine Alte, eh, diese ältere, also, die eine da? In die hast du dich verliebt? Mach keinen Quatsch! Seit wann stehst du auf verheiratete Frauen?"
"Das hab ich der doch nicht angesehen, Blödkopp," raunzte ich.
"Und weiter?" fragte sie ungeduldig, "Was ist dann passiert? Warum will sie dich wiedersehen? Was hast du gemacht? Wart ihr unter der Dusche?" Dieses Weib war unverbesserlich.
"Also," überhörte ich ihre Fragen, "als sie gehen musste, fragte ich sie, wann sie wiederkommt, und sie sagte, wenn du willst, morgen. Ist das nicht toll?"
"Was ist denn daran toll?" brummte sie, "Das sagt mein Chef jeden Abend zu mir... Also, was willst du denn mit einer verheirateten Frau anfangen? Ist das nicht relativ sinnlos? Ich meine, sie wird sich doch deinetwegen nicht scheiden lassen."
"Du bist immer aufmunternd. Wer spricht denn von Scheidung? Ich will sie einfach näher kennen lernen, damit ich mir nicht immer nur deine oder Rosas dumme Bemerkungen anhören muss. Spaß beiseite, ich weiß nicht, was ich mit ihr anfangen will, oder ob ich überhaupt was anfangen will. Aber sie reizt mich."
Ich konnte nicht einschlafen an diesem Abend, weil meine Phantasie mir tausendundeinen Streich spielte. Viele Fragen drehten sich in meinem Kopf wie ein Karussell. Natürlich: Was sollte ich mit einer verheirateten Frau anfangen? Nicht, dass ich nicht Nächte mit verheirateten Frauen verbracht hätte, aber nun war ich auf der Suche nach der Frau fürs Leben, das veränderte doch die Ausgangslage entscheidend. Und mit diesen Gedanken und der Aussichtslosigkeit dieser Geschichte hatten mich auch meine Depressionen wieder beim Wickel. Ich würde bis ans Ende meines Lebens allein bleiben, dessen war ich mir sicher wie nie, und eine entsetzliche Öde ergriff mich. Ich heulte mich in den Schlaf, mutterseelenallein.
"Hör mal," sagte Rosa am nächsten Tag, "kannst du heute ausnahmsweise mal eine Eintreibung machen? Der Kettneu vom Finanzamt kommt nachher, und ich muss noch ein paar Dinge erledigen. Der Chef will endlich Geld von dieser Schauspielerin sehen, dieser Elke Daniel. Hast du die eigentlich mal spielen gesehen? Ich gehe zu selten ins Theater."
"Keine Ahnung, kenne ich nicht, ich gehe auch zu selten ins Theater, Ich hab genug Theater," brummelte ich. Ich hasste diese Geldeintreiberdienste. Es gibt kaum peinlicheres, als bei fremden Leuten an der Tür zu klingeln und zu sagen: Bitteschön, der Chef schickt mich, Geld eintreiben. Seltsam, dass die Leute Alkohol kauften, wenn sie ihn eigentlich gar nicht bezahlen konnten. Wie hatte Rosa gesagt: "Kein Schnaps im Haus, aber fürs letzte Geld wird Brot gekauft." Ausnahmsweise sehr treffend!
In diesem Moment betrat Bossi das Büro und fragte Rosa, was denn nun mit der Rechnung von Frau Daniel sei, und diese vorlaute Schnake plärrte sofort los: "Frau Kruse hat sich dankenswerterweise bereit erklärt, zu Frau Daniel zu fahren. Sie wissen doch, ich erwarte Herrn Kettneu."
"Prima," lächelte Bossi, und für einen Sekundenbruchteil fürchtete ich, dass er meine Wange tätscheln würde.
Also machte ich mich seufzend auf den Weg nach Zehlendorf, wo diese Frau Daniel wohnte. Schauspielerin! Nie von gehört. Wenn Thekla Carola Wied ihre Rechnung nicht bezahlt hätte, wäre Bossi eigenfüßig dorthin geeilt, aber eine Elke Daniel konnte von Franziska Kruse verarztet werden. Ich kam mir vor wie ein Gerichtsvollzieher. Unterwegs übte ich mein Sprüchlein, ich wollte gleich prägnant und unüberwindbar auftreten, denn ein Feilschen um das letzte der Brot der drei verhungernden Kinder wollte ich auf jeden Fall vermeiden.
Und da Berlin eine große Stadt ist mit vielen, vielen Autos und vielen, vielen unvernünftigen Menschen, die nicht im Traum daran dachten, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen, geriet ich natürlich in einen Stau und saß fest. Im Autoradio hörte ich einen Schlager, der abgrundtief traurig klang, dass er sofort durch mich hindurch mitten in mein Herz drang. Mir kam in den Sinn, dass weder Thea noch Rosa noch andere Freundinnen solche Sorgen wie ich hatten. Offenbar war ich frühreif und die einzige Frau in diesem Alter, die sich bereits mit Wechseljahrsbeschwerden, oder nennen wir es Klimakterium, das klingt seriöser, herumschlagen mussten. Rosa hatte ihren Mann, Thea hatte ihre Männer, meine Freundinnen hatten ihre Freunde oder Freundinnen oder Männer und Frauen, und ich hatte nichts. Ein kleines Kuschelkissen, das ich nachts in die Arme nahm.
Nervös trommelte ich mit den Fingern auf das Steuer. Ich wollte nicht, dass mich jetzt diese Gedanken ansprangen. Aber wer kümmerte sich um das, was ich wollte! Ich saß hier in diesem Stau und war der einsamste Mensch auf der Welt. Trotz Ginseng brach mir der Schweiß aus. Mir kam in den Sinn, dass es völlig sinnlos war, Treffen mit Ulrike zu veranstalten. Ich sollte die kurze Zeit, die mir noch blieb, ehe ich vollends verfiel, nicht mit derart überflüssigen Tändeleien vertrödeln. Es zählte jeder Tag, Quatsch, jede Stunde. Was sollte ich nur machen? Wieder setzte sich dieses vermaledeite Karussell in meinem Kopf in Bewegung. Blöde an solch einem Karussell ist, dass es keine neuen Inspirationen bringt; die Passagiere blieben immer die gleichen. Fragen. Warum, warum, warum. Wie ein Kreisverkehr, aus dem man nicht herauskommt - übrigens ein "Hobby" von mir, obwohl ich relativ sicher fuhr. Nur nicht in Kreisverkehren... Hinter mir hupte eine mittlere Schiffssirene, und ich erschrak sehr, dass sich meine düsteren Gedanken sofort wieder verflüchtigten. Die Konzentration auf den Verkehr verscheuchte meine miese Stimmung, der kleine Rennfahrer erwachte in mir und fuhr die berühmte City-Rallye.
"Ziegenstall siebenundvierzig" murmelte ich vor mich hin, während ich langsam durch die nette kleine Straße in Zehlendorf fuhr, in der Elke Daniel ihr Domizil hatte. Keine Hochhaussiedlung, sondern lauter nette kleine Scheibchenvillen. "Aha, man verdient also doch gut Knete als Schauspielerin. - Na, Mädel, wirst du doch wohl auch deinen Sprit bezahlen können."
Vor dem Haus siebenundvierzig stoppte ich. Nachdem ich ausgestiegen war, zog ich mir den breiten Kleiderbügel in den Blazer, will heißen, ich nahm die Schultern zurück und wurde ein Stück größer und bedrohlicher.
Sie öffnete auf mein Klingeln, und ihr Auftreten zog mir gleich den Kleiderbügel wieder aus dem Leibchen! Nicht, dass sie wie Jane Fonda ausgesehen hätte, aber sie war ein toller Typ. Mittelgroß, halblange brünette Haare, gelockt, blaue Augen, eine schmale gerade Nase, volle Lippen, jenseits von Fünfzig, eine sportliche Dame. Sie hob fragend eine Augenbraue, typisch Schauspielerin, als warte sie darauf, dass ich sagte: "Darf ich bitte ein Autogramm von Ihnen haben?"
Ich starrte sie an, weil ich auf solch einen Anblick nicht vorbereitet war. Seltsam, schoss es mir durch den Kopf, die sieht ganz anders aus, als ich sie mir vorgestellt habe. In meinem Kopf hatte sich ein bestimmtes Bild von einer deutschen Schauspielerin festgesetzt, das viel Ähnlichkeit mit Inge Meysel, Witta Pohl oder dieser Thekla hatte. Diese hier sah aus wie Elke Daniel!
"Ich, ähm, guten Tag Frau Daniel, ich, ähm (meine Güte, dahin war meine Schwatzhaftigkeit), ich komme vom Bier- und Getränke-Verlag Schneidemüller, ähm, entschuldigen Sie, ich hab hier eine Rechnung, ich..."
"Kommen Sie doch herein," unterbrach sie mein Gestammel. Welch eine Stimme! Ich musste lange zurückdenken, ehe mir eine vergleichbare Situation einfallen wollte, vermutlich habe ich in der Schule zum letzten Mal derart dummes Zeugs vor mich hin gestottert.
Damals war ich in meine Lehrerin verliebt und schickte ihr tief aus meinem Herzen kommende Gedichte. Natürlich anonym. Wenn sie mich auch liebte, dachte ich, würde sie darauf kommen, dass diese Gedichte von mir waren. Aber sie blieb immer gleich nett zu mir, behandelte mich nicht anders als meine Mitschülerinnen, und sie erzählte auch nie, dass ihr jemand Liebesgedichte geschickt hatte. Einmal hatte ich mein Herz in beide Hände genommen und an die Tür des Lehrerzimmers geklopft, wo ich sie allein wusste. Jetzt oder nie, hatte ich gedacht, aber als sie mit strenger Stimme "Herein" rief und ich eintrat, war alles dahin. Sie hatte eine Tasse Kaffee vor sich stehen, sie rauchte, und sie hatte die Schuhe ausgezogen, weil ihr vermutlich die Füße schmerzten. Sie hatte nichts mehr von diesem ätherischen Wesen an sich, dass während der Schulstunden unentwegt vor meinem Tisch auf- und ablief und mich lobte. Sie sah wie eine Hausfrau aus, und ich stand stotternd in der Tür und versuchte, eine plausiblen Grund für die von mir verursachte Störung zu finden. Mit hochrotem Kopf und starkem Herzklopfen stammelte ich damals irgendwas daher, das ich heute vergessen habe.
Nun folgte ich Elke Daniel ins Haus, sie bat mich in ihr Wohnzimmer.
"Also, was sagten Sie, woher Sie kommen?" fragte sie mit sanfter Stimme und bot mir einen Sessel an.
Ich erklärte es ihr, und, ach Herrje, sie hatte die Rechnung total vergessen. Geschickt verwickelte sie mich in eine nette Unterhaltung. Sie war offenherzig. Binnen kürzester Zeit wusste ich wesentliche Begebenheiten aus ihrem Leben, die Wichtigste: sie war geschieden. Sie hatte zwei erwachsene Töchter und einen zwölfjährigen Sohn "Paul muss jeden Moment aus der Schule kommen", obwohl mir meine Frauenkenntnis sagte, dass sie um die fünfzig Jahre alt sein musste. Sie spielte am Theater und gab Sprechunterricht für Rundfunkjournalisten. Auf meine vorwitzige Frage, wie denn so etwas gemacht wird, bekam ich eine Gratisstunde.
"Kommen Sie mit," forderte sie mich lächelnd auf, "wir gehen ins "Klassenzimmer"." und führte mich zwei Treppen hoch in eine gemütlich eingerichtete Mansarde.
"Ihren Blazer müssen Sie allerdings ablegen," meinte sie, "man beginnt nämlich immer mit Entspannungsübungen." Ich musste mich auf eine Gymnastikmatte legen und nach ihren Anweisungen atmen.
Es fiel mir nicht leicht, ernst zu bleiben, weil ich mir mit meinen geistigen Augen zusah. Die Gerichtsvollzieherin lag auf dem Fußboden des Opfers und lernte Luftholen! Wenn Bossi das sehen würde...
Sie redete leise mit sanfter Stimme auf mich ein, kniete neben mir und gab Anweisungen: "Der Atem muss hier heraus kommen," sagte sie und presste ihre Hand auf meinen Magen, um das Maß voll zu machen, legte sie beide Hände auf meine Rippenbogen, ganz leicht, aber ich erschauerte, meine Nackenhaare sträubten sich. Gott, dachte ich, das ist mehr als ich ertragen kann. Ihre Finger legten sich um meinen Nacken:
"Sehen Sie, hier ist alles verspannt. Die Voraussetzung für gutes Sprechen ist eine richtige Entspannung. Sie sind zu verkrampft." Ich kicherte unhörbar. Diese Frau brachte, vermutlich ohne es zu wissen, meine Libido auf Hochtouren und befand, ich sei zu verkrampft. Zu komisch! Mit einem Ruck richtete sie sich auf.
"Wollen wir es jetzt mal mit ein paar Sprechübungen versuchen?" Sie drückte mir ein Büchlein in die Hand und forderte mich auf, zu lesen. Welch ein Schwachsinn.
"Abraham a Santa Clara saß am Abhang..." ich stotterte.
"Was ist denn das für ein Quatsch?" maulte ich, und sie erklärte mir den Sinn dieses berühmten Sprechtrainingbüchleins, "Der kleine Hey" genannt. Ich übte und vergaß den Sinn meines Daseins, in jeder Bedeutung dieser Formulierung. Ich vergaß, dass ich mir anfangs blöde vorgekommen war, ich vergaß, dass ich klimakterische Beschwerden hatte und auf der Suche nach der Partnerin fürs Leben war. Ich lernte sprechen.
"Gut," meinte sie schließlich, "das soll für heute genügen. Sie sind nicht unbegabt, aber sie sprechen recht schlampig, wenn ich das mal sagen darf. Sie berlinern gar nicht einmal sehr stark, aber sie verschlucken sämtliche Endsilben. Dabei haben Sie solch eine schöne Stimme." Ich schmolz dahin und hing an ihren Lippen.
"Hätten Sie Interesse an einem gezielten Unterricht? Ich würde Ihnen einen Sonderpreis machen, obwohl ich mir das eigentlich nicht leisten kann. Sie dürften das niemandem erzählen." Und ob ich wollte! Täglich!
"Täglich? Nein," wehrte sie ab, "das ist zu viel. Das bringt nichts. Sie müssen täglich Zuhause bestimmte Übungen machen, die ich Ihnen erkläre, aber wenn Sie ein-, oder wenn Sie wollen, zweimal pro Woche herkommen, ok."
Ich fragte nicht einmal nach der Höhe des Sonderpreises, sondern wir verabredeten uns für übermorgen.
Beschwingt stieg ich in mein kleines Auto und brauste zurück zum Verlag. Nicht einmal der obligate Stau konnte mich aus der Ruhe bringen. Ich war reich beschenkt.
"Na," begrüßte Rosa mich unwirsch, "Stau? Du warst 'ne Ewigkeit fort."
"Wieso?" fragte ich erstaunt.
"Na, du warst fast fünf Stunden weg." Ach, wie recht sie hatte. Ich war hin und weg!
"Und, hat sie bezahlt? Alles oder nur eine Anzahlung? Was ist denn das überhaupt für eine? Ist sie nun bekannt oder nicht? Im Fernsehen ist sie jedenfalls noch nicht aufgetreten."
"Doch," kicherte ich, "in einem Reklamefilm für Zahnprothesenreiniger."
"Ach, ist die SO alt?"
"Nein, sie spielte die Freundin der Prothesenträgerin." Wie sollte ich Rosa mein Erlebnis beschreiben? Ich besprach viel, manchmal, dachte ich, allzu viel mit ihr, aber meine Liebesgeschichten blieben für sie tabu. Wie würde sie gesagt haben? Man kann zwar alles essen, aber nicht alles wissen.
"Geld her!" sagte Rosa, als von mir nichts weiter zu hören war.
Ach du dicker Vater, durchzuckte es mich. Das Geld! Ich hatte total vergessen, das Geld zu kassieren.
"Ähm, ähm, sie hatte nicht genug Geld Zuhause. Sie sagt, sie überweist den Betrag," stammelte ich. Diese profane Rosa! Riss mich mit ihrer Geldgier aus meinen verliebten Träumen. Bevor ich ins Fitness-Studio ging, telefonierte ich mit Thea und erzählte ihr von Elke Daniel.
"Ich glaube, du bildest dir da nur was ein. Nur weil die an deinem Zwerchfell rumgemacht hat, muss sie noch nicht in dich verliebt sein! Ich muss gestehen, dass mich dein Verhalten ratlos macht. Hast du eine Torschlusspanik oder so was ähnliches? Ich habe eine Kollegin in deinem Alter, die jeden Kerl anmacht und heiraten will aus lauter Angst, dass sie für den Rest ihres Lebens allein bleibt. Das hat was Komisches." Das saß! Ich würgte einen dicken Klumpen herunter. Dass meine aller-, allerbeste Freundin derart gemein und taktlos ein konnte, verschlug mir die Sprache. Sie hatte mich tief getroffen, und ich beendete unter einem Vorwand das Gespräch.
"Du blöde Schnake!" brüllte ich lauthals los und schmiss ein Kissen auf den Boden, "Du dämliche Schlampe, was bildest du dir eigentlich ein?" In dieser Tour machte ich eine Weile, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Torschlusspanik! Ich! Was wollte ich denn mehr als eine liebende Partnerin, die mit mir gemeinsam alt wurde! Was war denn daran komisch? Hatten nicht alle Menschen dieses Bestreben? War das nicht eher edel? Aber klar, jemand wie Thea, der die Männer nachliefen, die noch nie in die Verlegenheit gekommen war, sich einsam zu fühlen, konnte da gar nicht mitreden. In ihren Augen musste unsere Tragik der alleinstehenden Vierzigjährigen komisch wirken. Etwa fünf Minuten lang hasste ich sie wegen ihrer Oberflächlichkeit, danach packte ich meine Sporttasche und machte mich auf den Weg zu Ulrike. Im Grunde hielt mich in diesem Studio nur das Wissen, dass sie sich dort auch aufhielt. Normalerweise hätte ich mich nämlich jedes Mal bereits an der Tür zum Umkleideraum auf die Flucht begeben.
An diesem Tag hielten sich vielleicht zehn Damen im Raum auf, altersmäßig zwischen achtzehn und fünfunddreißig, schätzte ich. Aber sie waren austauschbar! Alle braungebrannt, wie ich auch, künstlich, versteht sich; diese Sonnenliegenbräune ist irgendwie offensichtlich. Sie macht mehr gelblich braun, nicht schön schokoladenbraun wie Mallorca-Sonne. Aber mehr hatten die Damen und ich nicht gemeinsam: Sie waren bereits durchtrainiert, hatten sehnige, vermutlich stahlharte Körper, die sie in diese glitzernden Kleidungsstücke gesteckt hatten, hauteng natürlich, die sie fast nackt aussehen ließen. Sie schienen geklont: alle hatten halblanges blondes Haar, das mit einem Schleifchen zum Pferdeschwanz gebunden war, alle trugen ein Schweißband um die Stirn - als ich noch jung war (!), nannte man die Dinger Stirnband -, alle hatten achtundvierzig blitzende und strahlendweiße Zähne und nette Grübchen. Ich kleines Braun-und-Kurzhaar-Pummelchen kramte meine schlicht-schwarzen Leggings aus der Tasche, das alte weite T-shirt und die ganz normalen Turnschuhe. Dabei gab es eigens Fitness-Schuhe, das muss man sich mal vorstellen. Ich betete inbrünstig, dass diese schnatternde Hupfdohlen-Schar den Raum endlich verließe, aber sie hatten noch viele Dinge zu besprechen. Geht endlich, flehte mein Inneres, es gab schließlich Frauen, vor denen ich mich NIE ausziehen würde!
Ulrike kam später, und wir verbrachten die Stunden wieder mehr mit Reden als mit Turnen. Nur einen ganz winzigen Augenblick lang dachte ich daran, dass mich diese Plauderstündchen sehr teuer kamen, und dass ich auf diese Weise auch niemals zu diesem sportgestählten sexy Körper kommen würde. Egal, meine kleine Ulrike war einfach zu niedlich, als dass ich auf ihre Gesellschaft und ihre offensichtliche Gunst hätte verzichten mögen.
"Uff," sie stand irgendwann auf, "für heute reicht's. Ich muss los."
Seltsamerweise wollte ich nicht mit ihr unter die Dusche gehen. Eine ungekannte Scheu hielt mich davon ab. Ich wollte sie nicht nackt sehen, ich wollte sie lieber als Geheimnis. Außerdem wollte ich nicht, dass sie meine Hängepartien sah. Erst wenn ich diesen perfekten Körper vorzuweisen hatte, sollte sie ihre geneigten Blicke darauf werfen und ihm sodann nicht widerstehen können. Das Szenario war bereits von mir entworfen.
"Wollen wir uns nicht mal außerhalb dieser Folterkammer treffen?" fragte Ulrike, und bevor ich lange überlegen konnte, hatte ich voller Freude zugesagt.
"Bei dir oder bei mir?" fragte sie mit kokettem Augenaufschlag und lachte herzhaft.
"Bei mir," ordnete ich spontan an, denn ihren Mann wollte ich nicht kennen lernen.
Gegen alle Zeitpläne, die ich für Wohnungspflege und dergleichen aufgestellt hatte, brachte ich alles auf Vordermann. Als ich schweratmend fertig war, blitzte alles wie neu, ich hatte einen Blumenstrauß besorgt, natürlich Knabberkram und Naturalien aus dem Verlag mitgebracht. Ich verbrachte viel Zeit mit der Überlegung, was ich anziehen sollte: das gemütlich-lässige oder das weltmännische Outfit, die Art des Schmucks, die ich je nachdem tragen würde, das Parfum und so weiter. Eine gutbetuchte Frau, die aus Langeweile in einer exquisiten Boutique arbeitete - das verlangte nach Stil. Ich entschied mich für die teuer-lässig Klamotte, allerdings ohne Krawatte. Ich legte den sportlichen Finnland-Schmuck an, der durch aparte Schlichtheit bestach und wählte einen leichten Frühlingsduft aus.
Wie ein nervöser Stier rannte ich in meiner Wohnung auf und ab, immer wieder auf die Uhr sehend. Hatte ich was falsch verstanden? Sie müsste doch längst da sein. Jahre später, wie es mir schien, kam sie endlich, völlig außer Atem, und da konnte ich noch nicht wissen, dass dieses Außer-Atem-Zuspätkommen eines ihrer Markenzeichen war.
"Magst du Carreras?" fragte ich und wollte eine Platte auflegen. "Uh," stöhnte sie, "Designer-Droge! Wie Balsamico-Essig! (Was zum Teufel war das? aber ich nickte verständnisvoll). Hast du nichts Normales da?" Was war normal? Ich entschied, einfach das Radio anzustellen.
Es war einfach toll. Unsere Unterhaltung floss sofort wie ein unaufhaltsamer Strom los. Ulrike war ein Gesellschaftsmensch, das merkte ich. Sie machte Konversation ohne Punkt und Komma, und zwar von einer intelligenten Sorte. Politik, Wirtschaft, Gesellschaftskritik, Mode, Musik und Oper, einfach alles. Wir sprachen über Reisen "ich fliege immer nach Ibiza, Freunde von mir haben in Santa Gertrudis ein Haus", und ich erfuhr, dass Santa Gertrudis ein exklusiver Ort war, aber Weihnachten verbrachten sie gewöhnlich in St. Moritz.
Das war eine ganz andere Welt, die sich mir da erschloss, und ich hing begierig an ihren Lippen. Eine phantastische Frau, wie ich mir immer eine zusammengeträumt hatte.
In all ihren Erzählungen traten Freundinnen auf. Es brauchte eine Weile, ehe mir das auffiel. Die eine Freundin hatte dies, mit der anderen Freundin hatte sie jenes gemacht, wieder eine andere Freundin war so und so, und eine Freundin hatte solches. Die Frau hatte unglaublich viele Freundinnen!
"Du hast doch sicher auch viele Freundinnen?" fragte sie und schaute mir aufmerksam und tief in die Augen. Ich fühlte, wie ich rot wurde und schluckte, wie ich verlegen wurde. Konnte ich, sollte ich? Ich nickte. Sie stand auf und ging zur Balkontür.
"Eine schöne Aussicht hast du," meinte sie, hob die Arme und legte die Hände hoch oben links und rechts auf den Türrahmen. Ich trat hinter sie und erklärte ihr die Aussicht.
"Dort siehst du die Gedächtniskirche, und da hinten, das ist das Hochhaus am Ernst-Reuter-Platz, und da, geradeaus, da ganz hinten, da ist der Funkturm und das Hochhaus vom SFB." Sie nickte und trat einen ganz kleinen Schritt zurück, ohne ihre Haltung zu verändern. Sie berührte mit ihrem kleinen Hintern meinen Bauch und rieb sich ganz sachte an ihm. Eine winzig- kleine Bewegung nur, aber mir war, als stecke jemand eine Fackel in meine sich zurückbildenden Sexualorgane. Ich legte meine Hände auf ihre Hände. Wir standen reglos, und ich hörte, wie sie tief einatmete. Schließlich schüttelte sie den Kopf, löste ihre Hände, wandte sich mir zu und strich kurz mit dem Zeigefinger über meine Wange. Unter meinem erhobenen Arm hindurch ging sie zur Couch zurück.
"Sag mal," ich war ganz heiser auf Aufregung, "diese Freundinnen alle, von denen du erzählst hast, waren das ganz normale Freundschaften, oder war da," ich stockte kurz, "alles?"
Sie sah mich ernst an, überlegte einen Augenblick und antwortete :"Alles."
"Oh!" Ich war derart verblüfft, dass ich zunächst gar nicht reagieren konnte. Schließlich setzte ich mich neben sie, legte meinen Oberkörper auf ihren Schoß und kroch schließlich mit meinem Kopf unter ihren Pullover. Weiß der Deibel, was mich dazu brachte, ich tat es einfach, ohne darüber nachzudenken, was ich eigentlich tat. Auch viel später wurde mir nicht klar, was ich da eigentlich vorgehabt hatte. Vielleicht wollte ich mich nur verstecken, weil ich vor lauter Ratlosigkeit und Verlegenheit nicht wusste, was ich tun sollte. Ich wollte sie, ich wollte sie mit jeder Faser meines Herzens, aber ich wollte keine mondäne reiche Frau mit vielen Freundinnen, mit St. Moritz und Ibiza.
Ich wollte eine für meine alten Tage. Aber ich wollte auch Ulrike. Sie trug unter dem Pullover nichts als die blanke Haut, die wunderbar duftete und sich herrlich an meiner Wange anfühlte. Ihr Herz schlug aufgeregt, und ich wäre gern bis ans Ende meines Lebens unter diesem Pullover geblieben.
"Na, nun komm mal wieder da 'raus," lachte sie nach einer Weile, und ich verließ seufzend mein Versteck.
"Was war denn das?" fragte sie.
"Ach verdammt, ich habe mich in dich verliebt. Aber du hast tausend Freundinnen und deinen Mann und ein Leben, und ich muss erst mal gucken, wie ich damit fertig werde," maulte ich und trank einen Schluck Wein.
"Mh," sagte sie nachdenklich, "das dachte ich mir. Du stehst nur auf Frauen, nicht wahr?", und ich nickte. Sprechen konnte ich nicht, die Enttäuschung über was auch immer saß mir dick im Hals. Ich schimpfte mich eine Idiotin. Was hatte ich denn geglaubt, was geschehen würde? Wir hatten mindestens dreiundvierzig Jahre lang verschiedene Leben gelebt und einander nicht gekannt. Keine hatte der anderen etwas vorenthalten. Ich hatte nicht das Recht, ihr ihr Leben vorzuwerfen, nur, weil es mir nicht in den Kram passte.
Sie legte ihren Arm um meine Schultern und tröstete mich: "Mach dir nichts daraus. Ich finde dich unheimlich nett, und wir sollten uns auf jeden Fall weiterhin treffen. Falls du das kannst, vielleicht fällt es dir schwer, weil du in mich verliebt bist. Ich jedenfalls würde gern mit dir befreundet sein."
Immerhin ein Trost. Wenn ich nicht die Schokolade haben konnte, dann doch wenigstens das bunte Papier, dachte ich mit einem Anflug von Bitterkeit. Was hätte Rosa an dieser Stelle gesagt? Vielleicht: Der Spatz in der Hand...?
Es gelang mir, wenn auch sehr oberflächlich, mit meiner Enttäuschung fertig zu werden. Schließlich wollte ich sie nicht unter meiner Missstimmung leiden lassen. Die Aussicht, befreundet zu bleiben, hatte Tröstliches. Ich fand sie toll und wollte auf ihre Gesellschaft nicht verzichten. Also plauderten wir, sie relativ unbefangen, ich ungeheuer tapfer, weiter über dies und das, obwohl ich viel lieber heulend mein kleines Kissen in die Arme genommen und über den Weltuntergang und die Sinnlosigkeit des Lebens sinniert hätte.
Als sie ging, hatte ich mich beruhigt, dass ich die Aussicht auf ein platonisches Wiedersehen bereits wieder genießen konnte. Ulrike gab mir zum Abschied einen Kuss auf den Mund, einen schwesterlichen Kuss, aber ich würde mir nicht die Zähne putzen heute Abend, beschloss ich.
Es ging auf den Herbst zu. Allerdings wurde meine Laune in jenem Herbst nicht zusehends schlechter, wie ich das von den vielen Herbsten zuvor kannte. Ich nahm regelmäßig meine Turnstunden, ich übte regelmäßig "Abraham a Santa Clara" bei Elke, mit der ich mich inzwischen angefreundet hatte. Wir duzten uns seit einiger Zeit. Auch mit Paul hatte ich mich angefreundet, einem reizenden kleinen Kerlchen, mit dem ich gern spielte. Elke hing mit abgöttischer Liebe an diesem Kind, was mich bisweilen neidisch machte. Ich lernte zwei nette Katzen, einen Hund und mehrere Fische kennen; sie erzählte vom Theater, aus ihrem reichhaltigen Leben, von ihren Abenteuern. Viele Jahre hatte sie in Spanien gelebt, daher sprach sie auch fließend spanisch. Ich hatte ihr einmal zugehört, als sie spanisch telefonierte, es hatte direkt etwas Erotisches. Sie sprach leise und gurrend, es klang gar nicht hart wie bei den Urlaubsliedern und Flamencosongs, die ich kannte.
Irgendwann hatte ich ihr erzählt, dass ich lesbisch war, und sie nahm das ohne besondere Regung auf.
"Eigentlich sieht man's," meinte sie nur lakonisch. "Ich habe mich oft mit diesem Thema beschäftigt, ich finde es sehr reizvoll. Irgendwann in meinem Leben werde ich sicher auch einmal mit einer Frau schlafen, da habe ich gar keine Zweifel, aber bisher ist die, mit der ich es tun würde, noch nicht begegnet."
"Schade," lachte ich, und das meinte ich auch. Ich hatte mich ein wenig in sie verliebt, aber sie schien auf eine Weise unerreichbar für mich, dass ich darüber getrost mit ihr sprechen konnte. "Aber wenn du es mal ausprobieren willst, denkst du hoffentlich zuerst an mich." Sie sah mich nachdenklich an: "Schade eigentlich, dass du das sagst. Wenn du mich mit solchen Augen betrachtest, habe ich Probleme, unbefangen zu bleiben. Was denkst du, wenn ich in Unterwäsche vor dir herumhüpfe?"
"Aber," protestierte ich, "das tust du doch nie!"
"Und wenn ich es täte? Was würdest du denken?"
"Ich weiß nicht."
Sie machte Spielerchen mit mir, das merkte ich schnell, denn schließlich war ich auch eine Frau und hatte weibliche Intuition oder dergleichen. Bei den Entspannungsübungen werkelte sie an meinem Zwerchfell herum, streichelte meine Nackenmuskeln, rieb meine Oberschenkel, damit sie sich (wozu?) entspannten, und diese Art der Entspannung bewirkte meistens das Gegenteil bei mir. Äußerst tapfer und mit zusammengebissenen Zähnen ertrug ich diese aufreizenden Übungen. Ich hatte meine Zweifel, ob sie solcherart auch mit ihren Rundfunkleuten hantierte.
Häufiger als früher saß ich abends allein zu Hause, hatte keine Lust, mit Thea zu sprechen oder gar etwas mit ihr zu unternehmen, weil ich niedergeschlagen war. In meiner Sache war ich nicht einen Schritt weitergekommen. Zwar hatte ich zwei tolle Frauen kennen gelernt, aber die kamen für ein gemeinsames Leben nicht infrage. Irgendwann war ich mal ins "WC" gegangen, um zu sehen, ob sich die Qualität der dort verkehrenden Mädchen möglicherweise inzwischen verändert hatte, aber nichts da: es war das gleiche Schnakennest geblieben. An diesem Abend, als ich mit trüber Miene an der Bar hing und lustlos in mein Glas sah, wurde mir klar, dass ich mich nicht verlieben konnte, weil ich besetzt war. Meine Gedanken kreisten nahezu unentwegt um Elke und um Ulrike und um Ulrike und um Elke. Nicht, dass man diesen Zustand gleich als Obsession hätte bezeichnen können, aber es war mindestens die Vorstufe. Der Gedanke, dass mein Herz wegen dieser beiden Frauen besetzt und für andere deshalb nicht zugänglich war, ließ den Pegel meiner Laune in unermessliche Tiefen schnellen. Was war ich doch ein blödes Stück! Anstatt mich darauf zu konzentrieren, meine Einsamkeit zu beenden und die Frau fürs Leben zu suchen, hängte ich all mein Interesse an zwei unerreichbare Mädchen.
"Die außerdem auch noch viel zu alt für mich sind," grummelte ich, und das Mädchen neben mir sah mich fragend an.
" Na, ist doch wahr!" rechtfertigte ich mich, zahlte und ging. Es war mir gleichgültig, ob die im "WC" nun dachten, dass ich meschugge geworden war. Konnte man schließlich auch werden bei der Kompliziertheit des Lebens und der Frauen.
"Sag mal, was hast du eigentlich in letzter Zeit?" fragte Ulrike mich. Sie saß auf meinem Sofa und musterte mich aufmerksam. "Du wechselst geradezu dramatisch Zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Hast du irgendwas? Bist du krank? Depressiv?"
"Fällt das sehr auf?"
"Nun, wenn man dich eine Weile kennt, schon. Sag an, was ist los?
"Weiß nicht," knurrte ich, "vermutlich die Wechseljahre." Ich blöde Kuh, schalt ich mich, weil ich völlig vergessen hatte, wie mich Thea und Rosa damit stets aufgezogen hatten.
"Mehr nicht? Gottchen, dann ist's noch harmlos," lächelte sie. "Hör mal, da gibt's ein gutes Mittel..."
"Ginseng, nehme ich längst."
"Nein, Ginseng hilft nur gegen die Hitzewellen. Aber wenn du deine Periode weiterhin regelmäßig bekommen willst und was gegen Depressionen brauchst und den ganzen Kokolores, der damit zusammenhängt, versuch' es mal mit Klimaforte-Tropfen. Die sind rein biologisch, da ist kein Tröpfchen Chemie drin. Also, diese Hormontabletten, die einem die Ärzte verschreiben, ich sage dir, damit muss man doch höllisch aufpassen. Wenn du Pech hast, gehst du völlig aus dem Leim. Ich kenne da Frauen, die sich von einer Elfe in eine Zwölfe verwandelt haben." Ich musste lachen.
"Schreib doch mal auf, wie das Zeugs heißt," forderte ich sie auf, "Ich steh auf Naturheilmittel." In meinem Badezimmerschränkchen standen bereits das Ginseng und das Arthrogela, nun würden sich Klimafortetropfen hinzugesellen.
"Außerdem solltest du nicht so viel rauchen." schoss Ulrike ihren letzten Pfeil ab.
Ich fragte sie neugierig: "Sag mal, hast du eine Ahnung, was das mit den sich zurückbildenden Sexualorganen auf sich hat? Ich habe darüber in meinem Medizinlexikon gelesen, und auch, dass der Sexualtrieb nachlässt."
"Und, hat er nachgelassen?" sie grinste spitzbübisch.
"Nein."
"Was zu beweisen wäre," sagte sie leise. Ich schwieg verdutzt.
Sie starrte in ihr Glas, ich auf die Wand, und ein beb-klemmendes Schweigen machte sich breit. Wie hatte sie das gemeint? Wie sollte ich reagieren? Was tun? War das eine Aufforderung? Wenn nicht, würde ich alles kaputtmachen. Wenn doch, und ich reagierte nicht, würde ich auch alles kaputtmachen. Es war brütend warm im Zimmer, und irgendwie lag ein besonderer Geruch in der Luft. Schwülstig, dachte ich.
Schließlich stand Ulrike auf, und ich befürchtete, dass sie gehen würde. Trottel, schalt ich mich, blöder, dämlicher, vernagelter Trottel. Aber sie ging nur wieder einmal zur Balkontür, hob wieder die Arme, legte die Hände an den Rahmen und stand wie gekreuzigt. Himmel, was sollte ich bloß machen? Doch schließlich ging ein Ruck durch mich hindurch. Es war egal, ich musste jetzt handeln, und wenn sie nicht wollte, sollte sie gehen, und unsere Wege würden sich trennen. Ich wollte sie. Mit jeder Faser meines Bewusstseins wollte ich diese Frau. Es ging nicht länger an, dass sie mit ihrem Mann und mit ihren Freundinnen schlief, während ich seit Wochen liebeskrank vor mich hin litt.
Ähnlich wie bei ihrem ersten Besuch bei mir stellte ich mich hinter sie, legte aber meine Arme um ihre Taille. Und wie damals rieb sie mit einer ganz zarten Berührung ihren Hintern an meinem Bauch. Ganz hauchzart und doch wie ein Erdbeben. Ich küsste sie auf den Nacken, und sie seufzte. Meine Hände glitten unter ihren Pullover über ihren Rücken. Ich massierte mit den Fingerspitzen ihre Schultern, fuhr mit den Händen wieder zur Taille zurück und rieb mit den Daumen ihre Wirbelsäule. Sie begann zu reagieren und wand sich leicht unter dem Druck meiner Finger.
Mit geschlossenen Augen wandte sie sich um und mir zu.
"Na endlich," flüsterte sie, "ich dachte, du könntest mich nicht leiden." Sie legte ihre Arme um meinen Hals und küsste mich in einer Weise, wie ich es im Leben höchstens ein-, zweimal erlebt hatte. In meinem Gehirn explodierten kleine bunte Feuerkreise oder Sterne, und irgendwas explodierte auch in mir, denn ich bekam richtig weiche Knie. Ulrike zerrte an meiner Bluse, uns weiter küssend und umarmend taumelten wir im Blindflug in Richtung Couch, die wir allerdings verfehlten, so dass wir auf dem Teppich landeten. Des modernen Menschen Rüstung beisteht aus tausenderlei Knöpfen, Klettverschlüssen, Reißverschlüssen, Strippen und Schnüren. Kaum auszudenken, dass während der Kreuzzüge, die von den Herren Rittern bekanntlich in Eisenrüstungen begangen wurden, Vergewaltigungen vorgekommen sein sollen...
Es war ein gutes Stück Arbeit, ehe wir schweratmend einander der Klamotten entledigt hatten.
"Oh, fühlst du dich gut an," seufzte Ulrike und streichelte hektisch über meinen Körper. Reibung erzeugt Elektrizität, und ich stand schnell wie unter Strom, in hellen Flammen. Mein Körper zuckte unkontrolliert, als sie mit ihrer Zunge ihren Händen folgte. Diese Zunge fuhr in kleinen kreisenden Bewegungen über mich hinweg wie ein Wirbelsturm, von den Zehen bis zu den Ohrläppchen.
"Ich will dich," stöhnte sie und sprach damit für uns beide.
Sie war gut austrainiert! Und kreativ! Und unersättlich! Irgendwann hielten wir erschöpft inne, und ich zündete mir eine Zigarette an. Sie lachte glucksend:
"Irgendwann möchte ich mal eine Freundin haben, die danach nicht raucht."
Und weil sie sehr austrainiert war, schließlich hatte sie im Fitness-Studio einen zeitlichen Vorsprung vor mir, hatte ich an diesem Abend noch mehrfach die Gelegenheit, eine zu rauchen.
Oh, diese Ulrike! Aufregende Zeiten begannen für mich! Diese Frau war absolut sextoll. Sie hatte unerhörte Phantasien und konnte nicht genug bekommen! Es geschah zum Beispiel, dass sie mich im Fitness-Studio, wenn wir allein waren, dermaßen anmachte, dass ich mich nicht mehr auf meine Übungen konzentrieren konnte. Sie fummelte an mir herum, biss mir ins Ohrläppchen, streichelte meine Brust, und ich schwankte zwischen Wonne- und Angstschauern.
"Bist du närrisch? Wenn jemand kommt!" Dann floh sie mit einem gurrenden Lachen aus meiner Reichweite und lockte aus sicherer Entfernung.
"Komm, wir gehen ins Dampfbad," raunte sie mir ins Ohr, und ich war so verrückt nach ihr, dass mich mein Verstand im Stich ließ. Wir liebten uns im Dampfbad, wobei ich trotz aller Aufgeregtheit stets mit einem Ohr an der Tür lauschte. Und dennoch: ich konnte mich ihrer nicht erwehren, und es gab Momente, in denen es mir auch gleichgültig war, ob jemand hereinkam oder nicht.
Oder sie rief mich an und gurrte:
"Kommst du in deiner Mittagspause in die Boutique?", und es fiel mir schwer, Rosa klarzumachen, dass ich mit der nahezu hundertjährigen Tradition der gemeinsamen Mittagspause brechen musste. Ich erfand den Jahrhundertmann, mit dem ich mich treffen musste, was mir Rosas zweifelndste aller möglichen Blickvariationen einbrachte. Tja, eine Buchhalterin belügt man nicht einfach...
In Ulrikes Boutique schlossen wir die Tür ab und verkrochen uns in die Umkleidekabine. Trotz der verschlossenen Tür hatte ich genau wie im Fitness-Studio immer ein klein wenig das ungute Gefühl, dass jeden Augenblick jemand hereinkommen könnte. Und auch hier vergaß ich in bestimmten Momenten meine Ängste. Ulrike war ungeheuer einfallsreich, was "das Liebemachen", wie sie es nannte, betraf. Und es war im wahrsten Sinne des Wortes ein Machen. Wir krochen in- und aufeinander herum, oder ich kniete vor ihr nieder oder sie vor mir. Wir drehten die Musikanlage in der Boutique auf volle Lautstärke, damit niemand unser Stöhnen und unsere Schreie hören konnte.
"Ich möchte dich in der Badewanne lieben," ordnete Ulrike an, und ich ließ artig ein Bad ein. Wir zündeten Kerzen im Badezimmer an, stellten das Radio auf lauschige Musik und zogen uns eng miteinander tanzend aus. Galant ließ ich ihr den Vortritt, und sie stieg in die Wanne. Sie lächelte verheißungsvoll und strich mit der Hand über meine Schamhaare. Aufgeregt plumpste ich in die Wanne und schlug mit der Nase gegen den Wasserhahn.
Augenblicklich sah ich nur noch Sterne und blutete wie ein Schwein.
Ulrike lachte sich halbtot. Da war nichts Erotisches mehr an dieser Situation. Ulrike legte mir einen Eisbeutel in den Nacken, aber als die Blutung endlich zum Stillstand kam, war meine Erregung verflogen.
"Welch blödsinniger Einfall," grummelte ich und brachte Ulrike ein weiteres Mal dazu, in einen Lachanfall auszubrechen.
"Hallo du," ich hatte Elke am Telefon, "wie geht es dir? Du kommst überhaupt nicht mehr zum Sprechen. Was ist los? Hast du keine Zeit oder dich über etwas geärgert?"
"Liebe," seufzte ich, "ich bin schrecklich am Lieben. Morgens, mittags und abends. Und völlig erledigt. Verstehst, was ich zur Zeit erlebe, muss ein Hundertmeterläufer empfinden, wenn er Marathon laufen muss." Elke lachte.
"Das hört sich aber gar nicht gut an. Ich meine, es hört sich nicht recht nach Gefühlen, sondern mehr nach harter Arbeit an. Erzähl doch mal, wer und wie ist sie denn, deine große Liebe."
Ich fuhr zu ihr hinaus, denn ich konnte am Telefon nicht darüber reden. Elke hatte Paul zum Spielen nach draußen geschickt, alle Tiere hatten sich in ihre Körbe und Aquarien verzogen, es gab Tee und Kekse, und ich begann zu erzählen. Elke schaute mich aufmerksam an und stellte überhaupt keine Fragen, und während ich von erzählte und versuchte, den Menschen Ulrike zu beschreiben, merkte ich, wie anstrengend das war, dass meine Beschreibung irgendwie flach geriet. Und mir fiel Elkes zunehmend mitfühlend werdender Blick auf. Verdammt noch mal, war ich denn nicht in der Lage, meine Liebe zu beschreiben? Mir fehlten doch sonst nicht die Worte.
"Tja," endete ich schließlich, "so ist das. Und anstrengend. Aber schön." Das klang hohl, ich hörte mir irritiert zu. Dabei hatte ich Elke doch imponieren wollen.
"Hm," machte sie nur, und sonst nichts. Wir schwiegen eine Zeitlang, und ich fühlte mich seltsam leer. Elke stellte die eine oder andere Frage nach Ulrikes Mann, nach Ihrem Leben, ihren Interessen und dergleichen mehr, und ich wusste kaum Antworten. Ich kannte sie viel zu wenig. Ich hätte präzise ihren Körper beschreiben können, ihr Lachen, ihre Gesten und ihre Mimik, all das, was mich in Entzücken versetzte. Und sonst? Wer war Ulrike?
"Ach, verflixt," ich stand nach einer Weile genervt auf und ging im Zimmer auf und ab. "Jetzt, wo ich das alles erzähle, fällt mir auf, was für'n Mist das eigentlich ist mit uns. Die Frau ist verheiratet. Die Frau will nichts weiter als Sex, und ich muss sagen, dass sie ihr Hobby mehr als perfekt beherrscht. Mir geht es seit einigen Tagen seltsam bei dieser Geschichte. Diese aufregenden Orte und Gelegenheiten: Wahrscheinlich treiben wir's bei nächster Gelegenheit im Auto mitten auf einer belebten Kreuzung. Das schafft mich. Aber ich komm' nicht davon los."
"Das legt sich," meinte Elke, "warte nur ab. Irgendwann werdet ihr euch auch auf anderer Basis finden oder aber trennen."
Wir ratschten noch eine Weile über dies und das, und später fuhr ich mit ambivalenten Gefühlen nach Hause: Einerseits war mir klar, dass an unserer Beziehung überhaupt nichts stimmte, und andererseits gab es kaum etwas Schöneres als Sex mit Ulrike. Aber war das eine Basis? Nein, weder für kurze noch für längere Zeit. Ich musste hier etwas ändern.
"Hör mal, Ulrike, wollen wir nicht einfach mal ins Kino gehen, anstatt immer daheim zu hocken?"
"Hocken?" kicherte sie, "Im Hocken haben wir's noch nie gemacht."
"Unsinn, ich meine es ernst. Ich möchte gern mal mit dir ins Kino." Sie willigte ein, aber irgendwie unwirsch. Immerhin hatte ich meinen kleinen Triumph, und davon beflügelt, versuchte ich auf der Fahrt ins Kino ein Gespräch über die tagesaktuellen Ereignisse. Darauf reagierte sie noch unwirscher. "Keine Ahnung," war die stereotype Antwort, "Ich habe heute keine Zeitung gelesen und auch keine Nachrichten gehört." Dabei wollte ich mich ihr auch auf intellektueller Basis nähern. Doch mit zunehmender Gereiztheit stellte ich fest, dass wir keine intellektuelle Basis hatten.
Statt dessen fummelte sie mit ihrer Hand an meinem Hosenschlitz herum, öffnete den Reißverschluss und krabbelte in meinen Slip. Durch ihre intensive Tätigkeit abgelenkt, vergaß ich Intellekt, Politik, Tennis und sonst was, worüber ich mit ihr hatte reden wollen, und ich vergaß beinahe auch Gaspedal, Bremse und die Daseinsberechtigung roter Ampeln. Schweratmend stoppte ich den Wagen vorm Kino.
"Hast du immer noch Lust auf einen langweiligen Film?" schnurrte Ulrike in mein Ohr, ich biss die Zähne zusammen, jawoll, ich hatte! Teufel noch mal. Ich wollte nicht immer nur Sex.
Flötepiepen. Vom Film bekam ich nicht allzu viel mit. Wie Alltags üblich, war das Kino mit ungefähr zehn Leuten besetzt.
Zielsicher suchte Ulrike eine Reihe aus, in der noch niemand saß, und die sich später auch niemand mehr setzte. Noch während der Reklame begann sie wieder, an meinem Reißverschluss zu zerren, ihre Hände glitten unter meinen Pullover. Kurzum, wir hätten besser einen lauten Western oder Kriegsfilm sehen sollen! Wie der Film ausging, weiß ich nicht, denn wir verließen das Kino vor dem Ende.
Mit zunehmender Dauer unserer Beziehung wurde ich immer launischer. Die Euphorie der ersten Tage war verflogen, und ich begann, eine zunächst lauwarme, jedoch immer kühler werdende Leere in mir zu spüren.
"Rosa, hast du das auch manchmal, dass dir ein Partner plötzlich nicht mehr gefällt wie am Anfang? Ich meine, dass dir irgendwann irgendwas fehlt, wenn die erste große Verliebtheit vorbei ist? Dass du Hobbys blöde findest oder Ansichten? Oder feststellst, dass ihr nur wenig gemeinsam habt? Mir geht es zur Zeit so, oder hat das was mit meinen Wechseljahren zu tun?""
Ich Idiot! Wie konnte ich sie das nur fragen? Allein dieser Blick von ihr, kritisch, zweifelnd, ein typischer "Hast du sie nicht alle?"-Blick.
"Ach, weißt du," ließ sie sich zu einer Antwort herab, "das geht einem doch früher oder später in fast jeder Beziehung so. Selbst in Ehen, die die goldene Hochzeit hinter sich haben (ich wusste nicht, dass sie so weit war...), und außerdem" hier machte sie eine bedeutsame Pause, "hat ein beknackter Partner nie was mit den Wechseljahren zu tun." Ich wandte mich wieder dem Computer zu. Wenn ich mit ihr jetzt weiterreden würde, käme zum Schluss was heraus wie "Besser ein Ende mit Schrecken..." oder ähnliches.
Ich diskutierte mit Thea über den Fall und auch mit Elke, und beide hatten keine Spur von Mitleid mit mir, sondern sprachen kalten Herzens davon, dass ich diese Beziehung, "die offenbar ausschließlich auf Sex basiert" beenden sollte. Wie sollte ich ihnen begreiflich machen, dass ich es nicht konnte? Es gab gewisse Gesten von Ulrike, die sofort, aber auch wirklich sofort jeglichen Zweifel an meiner Hingabe verschwinden ließen. Sie war in der Lage, meinen Verstand auszuknipsen, sobald wir zusammen waren. Wie hohl die Geschichte war, wurde mir immer nur klar, wenn ich mit Thea, Elke oder gar mit mir darüber sprach.
"Mein Mann fährt für ein paar Tage nach Düsseldorf," erzählte Ulrike, "da können wir es uns zur Abwechslung mal bei mir hübsch machen." Obwohl ich ihre Wohnung noch nicht kannte und ganz allgemein von schrecklicher Neugier gebeutelt war, war ich nicht sonderlich erpicht darauf, mich, auf welche Art auch immer, im Bette ihre Mannes zu amüsieren. Das sagte ich ihr auch, und sie lachte mich aus:
"Oh, du schreckliche Spießerin! Das habe ich von all meinen bisherigen Freundinnen noch nicht gehört. Sie fanden es im Gegenteil eher aufregend!"
Na gut! Spießig wollte ich nicht sein.
"Es wäre schön," schnurrte sie wieder, "wenn du morgen früh vor dem Dienst vorbeikommen würdest. Auf nüchternen Magen Liebe machen - ich sage dir, das ist wahnsinnig aufregend. Hinterher bist du dem Tode nahe, und was glaubst, wie dir danach ein gutes Frühstück schmeckt?" Ich schwankte ein wenig zwischen dem Wunsch nach dieser Extravaganz und dem spießigen Bedürfnis, pünktlich zur Arbeit zu kommen. Aber das Lüsterne in mir war schließlich stärker, und darum brauste ich am nächsten Morgen, noch halb in der Nacht, zu ihr.
Sie öffnete mir in einem wundervollen Negligé, schwarz, durchsichtig, mit Spitzen besetzt, darunter trug sie nichts. Als sie mich in die Arme nahm und ich ihren betörenden Duft einatmete, schmolz ich, wie immer, dahin. Ich fetzte mir die Klamotten vom Leib und folgte ihr ins Schlafzimmer, ohne einen Blick an ihre Wohnung zu verschwenden. Meine Neugier hatte eine Auszeit genommen. Das Schlafzimmer war nur spärlich beleuchtet, aber soweit erkennbar, etwas, was ich mir immer in meiner spießbürgerlichen Vorstellung als Puff vorgestellt hatte. Das war unzweifelhaft IHR Arbeitszimmer. Rüschen, Plüsch und Pludder, schwülstige Beleuchtung, viel Rot und Schwarz, dazu ein Wasserbett, das unentwegt leise unter uns gluckerte. Mitten in der ersten stürmischen Begrüßungsumarmung auf dem Bette uns wälzend, hielt sie plötzlich inne und hob den Kopf. Sie erstarrte und hauchte: "Die Tür! - Mein Mann!"
Mein Herz blieb stehen. Einfach stehen. Wobei diese Art von Herz mehr im Kopf zu sitzen schien, denn was da aussetzte, war nichts weiter als mein Verstand. Ich konnte sie nur blöde anstarren und fragen:
"Was?"
"Versteck dich. Mein Mann ist zurückgekommen." Ich setzte mich mit einem Ruck auf.
"Wie? Was? Wo?" Ich blickte ratlos ins Leere. "Wo soll ich mich verstecken?" Hatte sie vergessen, dass ich mich hier nicht auskannte? Mir brach der kalte Angstschweiß aus. So also würde ich enden! Dahin gemeuchelt von einem eifersüchtigen Mittelstandsehemann in einem puffigen Schlafzimmer. Würde er zuerst sie oder zuerst mich oder gar nur mich erschießen? Ich sprang auf, hielt mir ein Kissen vor den Körper, bis mir bewusst wurde, wie lächerlich und vor allem zwecklos das war.
"Ins Ankleidezimmer," zischte sie, und es beruhigte mich ein wenig, dass auch ihr Gesichtsausdruck die volle Panik zeigte. Mit dieser Genugtuung also würde ich sterben.
"Wo ist denn das?" zischte ich zurück und wischte meine angstschweißfeuchten Hände an den nackten Oberschenkeln ab, was nicht den gewünschten Erfolg brachte. Gott, meine Leiche würde nach Schweiß riechen!
"Da," jetzt zischte sie wieder und zeigte mit dem Finger auf eine Tapetentür. Dahinter verschwand ich. Atemlos hockte ich in einer Art größenwahnsinnigem Kleiderschrank, hörte mein Herz laut klopfen und nahm den gemischten Parfumgeruch aus vielerlei Kleidern auf. Mein Ende in einer Wolke, vielleicht würde meine Leiche nicht stark nach Schweiß riechen. Ich war den Tränen nahe. Selbst wenn dieser Mann mich nicht ermordete: allein in dieser unwürdigen Situation von ihm erwischt zu werden war mehr, als ich zu ertragen bereit war. Ich schalt mich Trottel, Idiot, Trampel, Nymphomanin, Irre und sonst was, während die Zeit im meinem Gefängnis stillstand. Obwohl ich auf dem Boden saß, schlotterten meine Knie. Nee, sagte ich mir, nee, es gibt Dinge, die ich nicht nötig habe, und dazu gehört dies hier. Das setzte allem, was ich bisher mit Ulrike erlebt hatte, die Krone auf. Das war mehr, als ich angehende Jung-Seniorin ertragen konnte. Schluss, aus, Feierabend. Ich will nicht mehr!
Jahrhunderte später, inzwischen war mein ganzes Leben einschließlich aller Beinbrüche und der damit verbundenen Verdauungsstörungen an mir vorübergezogen, öffnete sich die Tür meines Gefängnisses, und eine strahlende Ulrike schaute hinein.
"Oh, Schatz," hauchte sie, "er hatte irgendeine Akte vergessen. Meine Güte, war das nicht aufregend? Oh komm schnell, ich bin ganz scharf auf dich."
"Irgendwie ist bei dir wohl die Klingel kaputt!" brüllte ich ganz undamenhaft und stürmte an ihr vorbei zu meinem Klamottenhaufen. Sie starrte mich verblüfft an.
"Du hast wohl einen Sprung in der Schüssel," blökte ich, "Was glaubst du eigentlich, was du mir alles zumuten kannst? Ich bin doch kein Mensch für dich, sondern nur ein zweibeiniges Geschlechtsorgan, dummerweise mit 'nem Kopf dran. Nix ist mit -ich äffte sie nach: "Ich bin scharf auf dich." Mir langts, und zwar endgültig." Dieses und ähnliches warf ich ihr in meiner grenzenlosen Aufgeregtheit an den Kopf. Sie starrte und starrte, verblüfft, überrascht, überrumpelt oder was auch immer, auf jeden Fall wortlos. Ich vermute, da stand sie immer noch, als ich längst die Haustür mit einem wahrhaften Überknall hinter mir ins Schloss geworfen hatte.
Es hatte alles seine Grenzen, und ich hatte meine hier. Ich wollte weder mein Leben noch meine Würde in einer Kleiderkammer verlieren und auch meinen Kopf nicht und überhaupt nichts, also hatte ich bei solch einer Frau nichts mehr verloren. Relativ aufgelöst stürmte ich ins Büro und sagte streng zu Rosa: "Sag nichts! Es ist besser, wen du ganz ruhig bleibst. Sprich mich nicht an, sonst musst du dir Kunstaugen bestellen."
"Ach," meinte sie trocken, "heute ist sowieso ein Tag, an dem ich nicht mit dir reden wollte. Das trifft sich ganz gut."
Ich war sprachlos. Zumindest hatte ich mit einem Schwall von aufgeregten und neugierigen Fragen gerechnet. Ich musste doch furchtbar aussehen nach diesem Schock. Und diese Frau interessierte sich einen Fliegendreck für das, was mir möglicherweise geschehen sein konnte.
Brummig machte ich mich an meine Arbeit, die mir allerdings nicht von der Hand gehen wollte. Nicht einmal der Computer nahm meinen zerfahrenen Zustand zur Kenntnis, sondern quälte mich mit lästigen Fehlermeldungen. Schließlich hängte ich mich ans Telefon und rief Thea an.
"Fränzchen hier. Hast du Zeit? Ich muss dir was erzählen, das glaubst du nicht."
"Schieß los," nuschelte sie, offenbar spielte es in ihrer Firma keine Rolle, dass sie mit vollem Mund ans Telefon ging. Ich schielte zu Rosa hin, die aber ungerührt keine Notiz von mir nahm.
"Also," sagte ich leise, "du weißt doch, dass ich zur Zeit liiert bin..."
"Ach, du willst über deine Buhlschaft sprechen?"
"Meine was? Wohl im Theater gewesen, he? Gut, ich war also heute früh bei meiner Buhlschaft..." Rosas Kopf zuckte hoch, und es fehlte nicht viel, dass sie ihren Bleistift zerbissen hätte, auf dem sie kaute. Ich grinste.
"Ich muss leiser sprechen," sagte ich, "Rosa, die sich einen Dreck um meine seelischen Probleme kümmert, hat gerade ihre Kunstohren eingeschaltet. (Rosa lief rosa an.) Also, ich war heute früh bei meiner Buhlschaft, weil allein wg Dienstreise."
Gott, dieses Sortieren von Worten, damit Rosa keine Rückschlüsse ziehen konnte, kam mir selbst meschugge vor. Irgendwann würde ich mit ihr reden müssen.
"Und gerade, wie wir loslegen wollen..."
"Womit?" fragte Thea
"Na, sicher nicht mit dem Frühstück," blökte ich, "Ruhe jetzt. Also, wie wir gerade loslegen wollen, klappert die Tür, und die Dienstreise stand in derselben."
"Ach du grüne Neune! Und - blaues Auge?"
"Quatsch, ich habe mich doch schnell im Schrank versteckt." Ich glaubte zu beobachten, dass Rosa die Reste des durchgebissenen Bleistiftes schnell in den Mülleimer warf. Nun denn, wenigstens hatte sie sie nicht verschluckt!
"Na sag mal," rief Thea aus, "Das gibt's doch wohl nicht! In was für Storys gerätst du denn da immer? Oder spinnst du mich an?"
"Nee, im Ernst! Ich kann dir sagen: das Herz schlug mir zum Halse raus. Ich hatte eine Höllenangst, dass mich die Dienstreise erwischt. Solch eine peinliche Situation hatten wir doch im Leben noch nicht. Hocke ich wie ein Strichmännchen aus der Witzezeichnung im Kleiderschrank, wenigstens nicht im Kühlschrank, oder im dreiundzwanzigsten Stockwerk auf dem Fenstersims. Nun habe ich Schluss gemacht."
"Richtig," wurde ich gelobt, "das wäre ein Hammer, wenn der dich totgeschlagen hätte. Ich habe mich an dich gewöhnt."
"Hör mal, ich wollte den Trost und den Rat einer erfahrenen Frau in dieser Situation. Veräppeln kann ich mich alleine!"
"Fränzchen, nicht böse sein! Ich kann im Büro über diese Dinge genau wenig reden wie du. Lass uns heute Abend in Ruhe... wir könnten schön essen gehen. Ich sag Thomas Bescheid."
"Thomas? Wer ist denn der?"
"Na, ein ganz netter."
"Welche Taxifirma?" fragte ich nur, und wir lachten beide.
"Die hat's gut," seufzte ich, "es gibt, schätze ich, an die zehntausend Taxifahrer in Berlin, und sie kennt erst höchstens zwanzig..."
"Tja," meinte Rosa mit spitzer Stimme, "man sollte nie vergessen, dass steter Tropfen den Stein höhlt."
"Gut, ich werde es Thea ausrichten."
Sie stützte den Kopf auf beide Hände und sah mich er-wartungsvoll an: "Und jetzt los. Was ist mit deiner Buhlschaft los?"
"Rosa! Neugier ist die Mutter der Porzellankiste oder wie. Haben wir gelauscht?"
"Vorsicht..."
Ich blickte mich um, sie lachte: "Vorsicht ist die Mutter..., nicht Neugier."
"Aber mit dem Porzellan," versuchte ich abzulenken, "hat doch auch der Elefant zu tun. Wie war das: Schmiede den Elefanten, solange das Porzellan noch in der Kiste ist?"
"Okay," brummte sie, "dann erzählst du eben nichts. Wenn ich nicht weiß, warum, kann ich dich auch nicht bemitleiden."
Ich telefonierte noch kurz mit Elke, um auch ihr das schmerzvolle Ende einer Beziehung, Pardon, Buhlschaft, kund zu tun. Nun wussten es alle, nur Ulrike nicht. Da stand mir noch etwas bevor. Je länger der Tag wurde, desto schlechter wurde meine Laune. Ich fühlte mich ausgenutzt, benutzt und auch gedemütigt. Wie eine Verbrecherin oder vielmehr Ehebrecherin hatte ich mich im Kleiderschrank versteckt. Die gnädige Frau versteckte ihr Spielzeug. Ob der werte Gatte überhaupt etwas von diesen Spielzeugen seiner Frau Gemahlin ahnte? Wie viele Frauen hatten vor mir dieser parfümierten Höhle, einem Herzschlag nahe, gehockt? Es war alles blitzschnell gegangen, wieeinstudiert, als hätte zumindest für Ulrike diese Situation keinen Überraschungseffekt gehabt. Diese unglaublich flinke Reaktion! Toll! Eine promovierte Ehebrecherin, vermutlich.
Mit Thea besprach ich am Abend, wie ich Ulrike meinen Abschied beibringen sollte. Nachdem wir tausenderlei abenteuerliche Ausreden durchexerziert hatten, entschlossen wir uns zur nackten Wahrheit. Ich hatte die Schnauze voll. Ich wollte nicht länger nur ein Sexualobjekt sein. Ich wollte Gefühle, Beziehung, Dauer. Das Gespräch tat mir nicht gut. Anstatt einzuschlafen, gingen mir alle Argumente durch den Kopf, die ich Ulrike an denselben werden wollte. Und dabei wurde mir schaurig klar, dass ich noch immer keine Freundin gefunden hatte, die mein Herz für die nächsten fünfzig Jahre erwärmte. Will heißen, ich fühlte mich einsam. Einfach einsam und allein. Ich schlang die Arme um mich und wünschte mir nichts sehnlicher, als dass dies die Arme eines liebenden Menschen seien. Je länger dieser Zustand dauerte, desto überflüssiger und furchtbar alt fühlte ich mich. Mir war, als stünde ich am Ende eines vertanen Lebens. Vermutlich war ich der einsamste Mensch auf dieser Welt. Rosa hatte einen Mann, Thea hatte ihre Taxi-Innung, Ulrike hatte einen Mann, Elke hatte mehrere Ehemänner gehabt, hatte ihre Kinder und Fische und Katzen und Hunde, und ich, ich nahm mein tränenfeuchtes Kissen in den Arm und konnte nicht einschlafen, weil ich mich unbeschreiblich mies fühlte.
Mit Ulrike zu sprechen, war eine sehr leichte Übung.
"Macht nichts," lächelte sie, "eigentlich hast du recht. Wir haben zwei oder drei schöne Monate gehabt, und schließlich kennt man auch jede Stelle am Körper des anderen, nicht wahr. Aber schön war's mir dir, jedes Mal."
Einesteils war ich erleichtert, andererseits fühlte ich mich noch mehr als zuvor benutzt. Ich war wirklich nur ein Spielzeug gewesen und hatte meine Zeit vertrödelt, jetzt, da ich mir diesen Luxus eigentlich nicht mehr leisten konnte. Aber richtig böse wollte ich mit Ulrike nicht sein, schließlich hatte ich sie begehrt und gewollt, und meinen Spaß hatte ich auch gehabt, anfangs jedenfalls.
"Hör mal," sagte sie, "wollen wir nicht mal rüber nach Ost-Berlin in 'ne Frauenkneipe? Hast du Lust, mitzukommen. Ich habe gehört, dass es dort auch Lesben gibt."
"Na, die gibt's doch wohl auf der ganzen Welt."
"Klar, aber im Sozialismus? - Also, wie auch immer, ich kann mich mal umhören. Oder weißt du vielleicht 'ne Kneipe?"
"Klar, Kolchose flinke Zunge," lachte ich, und sie versetzte mir einen Klaps. Gut, dachte ich erleichtert, wenn es denn auf dieser Ebene weitergehen soll, bitte, gerne. Und ich war sehr erleichtert.
Ulrike tat binnen Stunden die Namen von Frauenkneipen auf. Es gab zwar keine Kolchose Flinke Zunge, aber die Namen hatten noch diesen Osttouch. "Cafe Rosa" (Wenn das meine Rosa wüsste), "Clara's", was, wie Ulrike sagte, mit Rosa Luxemburg und Clara Zetkin zu tun haben musste (die würden sich vermutlich für diese Namensvetternschaft oder -basenschaft? bedankt haben). Letztendlich hatte ich aber doch keine Lust, Ulrike zu begleiten. Ich hatte diese unerklärliche Abneigung gegen den Osten und wollte damit nichts zu tun haben. Da wollte ich mich nicht anschließen.
"Nee," sagte ich zu Ulrike, "ich möchte keine sächselnde Ost-Schnake im Bett haben. Die sprechen alle so schräg, wie Zwölftonmusik." Damit gab ich den einen Bruchteil meines Bildungsbürgertums bekannt.
Außerdem, aber das verriet ich Ulrike nicht, wollte ich weiß Gott nicht dabei sein, wenn sie sich ungefähr eine Stunde nach unserer Trennung eine Ost-Schnake als meine Nachfolgern angelte. Das hatte was, was mich an den Brautkauf in Thailand erinnerte, den dicke alleinstehende verklemmte Männer in diesem Land per Katalog betrieben. Es kränkte mich. Es machte mich auch traurig, dass ich mit Ulrike überhaupt nicht über die Gefühle reden konnte, die mich bewegten. Offenbar hatte diese Frau noch nie Einsamkeitsgefühle gehabt, noch nie Wechseljahrs-Beschwerden, obwohl sie älter als ich war. Es gab eindeutig Menschen, die das Wort Schwermut nicht buchstabieren konnten. Ulrike war ein Wein-Weib-Gesang-Mensch, und ich beneidete sie herzlich darum. Ich wünschte ihr von Herzen eine durch und durch politisierte Klassenkämpferin.
Ich war bei Elke. Wir sprachen über dies und das, über ihr Theater, die Schule des Sohnes, die Marotten der Töchter, Hund und Katze legen in ihren Gehäusen und schliefen, und die ganze Situation war entsetzlich familiär. Der Neid zerriss mich fast. Alles in mir schrie danach, solch eine Idylle auch zu besitzen, aber wie, zum Teufel, stellte man das an?
"Elke, ich bins leid, allein zu sein. Was soll ich nur tun? Je länger und intensiver ich mich mit diesen Gedanken befasse, desto verbohrter werde ich. Ich bin gar nicht mehr frei, wenn ich mit Menschen spreche. Irgendwie teste ich die immer gleich, habe eine Checkliste in meinem Kopf und hake ab: Ist das die Frau fürs Leben? Hat sie Arbeit? Ist sie klug? Ist sie gefühlvoll? Ist sie dies und ist sie das? Damit bin ich zugekleistert, dass ich gar nichts mehr mitbekomme. Ein Wahnsinnszustand."
Elke nahm mich mütterlich in die Arme, aber wirklich nur mütterlich, das spürte ich. Mehr war das leider nicht bei ihr, obwohl sie all das verkörperte, was ich mir in meinen schlaflosen Nächten ausmalte. Warum, warum, warum wollte sie nicht, - verflixt noch mal! Ich war doch kein Ungeheuer!
"Mach deinen Kopf frei," empfahl sie mir, "entkrampfe dich, sonst wird das nie etwas. Geh einfach weiter in deinen Fitness-Laden, ohne gleich auf Brautschau zu sein, geh weiter tanzen, lerne nette Leute kennen und verscheuche diese Gedanken an dein nahendes Lebensende. Das ist absoluter Quatsch! Du bist noch keine sechzig! Also, ich kann deine Gedanken und Sorgen und Ängste verstehen, aber sie dürfen dich nicht auf Dauer beherrschen. Finde deine Unbefangenheit und Unbekümmertheit wieder, die dich liebenswert machen." Danke Frau Doktor, dachte ich sarkastisch, dennoch taten mir ihre Worte gut.
"Hast du einmal daran gedacht, eine Annonce aufzugeben?"
Ich schaute sie verblüfft an.
"Nee." Das schien mir etwas für Leute jenseits der Fünfzig zu sein, denen wirklich alle Türen zugeknallt waren. Darüber hatte ich noch nie nachgedacht.
"Sieh doch mal, diese Stadtzeitungen sind voll von Anzeigen von Leuten, die Partnerinnen oder Partner suchen, auch gleichgeschlechtliche." Nett, wie sie das aussprach, es klang, als sei dieses Wort versalzen. Wir machten uns gemeinsam über die "Sie sucht Sie"-Anzeigen her.
"Ist zum Piepen," staunte ich, nicht nur über den Inhalt der Anzeigen, sondern auch über die stattliche Anzahl. Das gelegentliche Leiden unter der Anonymität einer großen Stadt wie Berlin war also nicht ausschließlich mir vorbehalten, sondern das Schicksal von Hunderten oder gar Tausenden!
"Ich bin erschreckend weltfremd," schüttelte ich den Kopf, "noch nie habe ich solche Anzeigen gelesen. Ich hab gar nicht gewusst, dass es das gibt. Irgendwie gab es doch immer nur diese Anzeigen "junge, einsame, blonde Krankenschwester, aus Versehen ledige Mutter, sucht zuverlässigen Handwerker. Du darfst ruhig Glatze haben..." Elke boxte mich in die Rippen, und wir kicherten beide.
"Los, wir setzen jetzt eine Anzeige für dich auf." Sie holte Papier und Bleistift, und wir machten uns an die Arbeit.
"Dreiundvierzigjährige," begann sie, und ich protestierte:
"Nö, kein Alter."
"Doch, steht bei gutem Wein auch auf dem Etikett. Du hat kein Alter, dessen du dich schämen müsstest. - Also, Dreiundvierzigjährige, in guter Stellung, oder nee, in gesicherten finanziellen Verhältnissen..."
"Quatsch, da melden sich doch nur Ost-Schnaken!"
"Las die Vorurteile! Sucht nette Sie um, wie alt darf sie denn sein? Nun schieß mal los: welche Vorzüge soll die Dame haben?"
Peng! Schließlich und letzten Endes sah sie zweifelnd auf das Blatt und stellte fest: "Du suchst also eine Mischung aus Maria Furtwängler, was das Aussehen betrifft; Angela Merkel, was die Intelligenz betrifft; Königin Elizabeth, was die Knete betrifft; und Erika Berger, was die sexuelle Erfahrung betrifft - wobei ich mich frage, ob die die Erfahrung vielleicht nur angelesen hat. So, und nun lass' uns das mal zusammenfassen und auf ein real existierendes Lebewesen reduzieren."
Die Anzeige, die wir schließlich ausgetüftelt hatten, war nicht schlecht, aber mir gefiel die ganze Idee nicht recht. Es kam mir vor, als würde ich damit zugeben, dass ich auf dem freien Markt keine Chancen mehr hatte. Und das konnte nicht sein! Trotz meines Alters war ich schließlich eine gutaussehende, halbwegs intelligente Person, mit der man sich nicht langweilen musste. Ich konnte treu sein und zuverlässig. Und wenn ich nicht gerade nach einer doofen Zwanzigjährigen Ausschau hielt, sondern nach einer Frau in meinem Alter, dann waren wir Hängebusen und Hängehintern im Duett, und ich hatte keine Nachteile.
"Ich könnte mir den Hund ausborgen," dachte ich laut nach, "ich habe gelesen, dass Hunde glatt ein ganzes Eheanbahnungsinstitut arbeitslos machen können..."
"Mein Hund ist kein Kuppelhund!"
"Auch nicht geborgt?"
"Auch nicht geborgt? Nein, Spaß beiseite, dieser Hund, komm her mein Süßerle, wird dir nicht gehorchen. Und ins Gespräch kommen immer nur die Leute, die ihre Hunde spazieren führen, also, eigentlich lernen sich die Hunde kennen, nicht die Menschen. Und da du mit Hunden keinerlei Erfahrung hast, ist mir das Risiko, dass eine Beißerei stattfindet, zwischen den Hunden, meine ich, viel zu groß. Die Fische würde ich dir selbstverständlich sofort ausborgen..."
Gelegentlich hatte ich auch bei Elke den Eindruck, dass ihr der nötige Ernst für meine elendige Situation fehlte.
Unseren Anzeigenentwurf nahm ich mit nach Hause, weil ich doch noch zwei, drei Tage darüber nachdenken wollte. Wenn alle Stricke rissen, könnte ich immer noch...
Die Zeiten waren wie verhext. In meinen Stammkneipen tauchten immer mehr Ost-Schnaken auf, dazu Müsli-Tanten und Leder-Kerlinnen, nichts mehr, um mich wohl fühlen zu können, so dass ich mich wie ausgestoßen fühlte. Auch im Fitness-Laden, in dem ich nach wie vor dagegen ankämpfte, dass sich die Vorzüge meines knabenhaften Körpers auf und davon machten, kam kein Frischfleisch an, nur diese spindeldürren Ballettratten und biedere Hausfrauen; Ulrike war die einzige von Format gewesen, und die ließ sich eine Zeitlang überhaupt nicht blicken. Vermutlich hatte sie in Marzahn oder Lichtenberg oder sonst wo im Osten zu tun, weiß der Deibel, wie diese Orte hießen!
Allmählich kam der Frühling ins Land, was mich noch verrückter machte. Den Winter mit äußerer und innerer Kälte zu verbringen, war mir verdammt schwergefallen, aber jetzt nahte das Maijucken, und allein im Schwimmbad die Sonnenbäder einnehmen, das war wahrlich nicht meine Welt.
Also kramte ich unseren Anzeigenentwurf heraus und änderte die Zeile: 'Dreiundvierzigjährige hat keine Lust auf einsamen kalten Winter' in "hat keine Lust auf einsamen Sommer' und warf das Ding in den Briefkasten. Es deprimierte mich. Keineswegs hatte ich das Gefühl, einen gewaltigen Schritt in eine glückliche Zukunft getan zu haben, sondern es kam mir eher wie eine endgültige Bankrotterklärung vor. Auf dem freien Markt chancenlos, würde ich jetzt per Annonce im Gebrauchtwarenmarkt angeboten. Für Leute, die auf Schnäppchenjagd waren?
Es dauerte zwei Wochen, ehe ich einen dicken Umschlag vom Zeitschriftenverlag bekam. Aufgeregt riss ich ihn auf, und heraus fielen vier Briefe. Die ersten drei waren ätzend!
Trotz meiner trostlosen Lage hatte ich genügend Dünkel, Frauen mit schlechtem Briefstil und Grammatikfehlern gleich in den Müll zu werfen. Der vierte Brief klang sehr selbstbewusst und war knapp gehalten:
"Ich finde, wir sollten uns verbal und nicht schriftlich anonym austauschen, und schauen, ob wir zueinander finden könnten. Deshalb lege ich jetzt hier kein schriftliches Sonderangebot vor."
Es gab lediglich eine Telefonnummer, keine Anschrift, und der Vorname der Dame lautete Bettina. Kein Alter angegeben, keine Augen- und Haarfarbe, keine Körpergröße, kein Gewicht. Wenn die nun eine Gnomin war? Nee, ich legte den Brief beiseite und beschloss, darauf nicht zu reagieren. Diese ganze Anzeigengeschichte war doch zu blöde. Immerhin las ich Elke den Brief vor, und die fand ihn recht vielversprechend.
"Ich würde einfach mal anrufen. Das verpflichtet dich doch zu nichts. Und wenn's keine Traumfrau ist, findest du vielleicht wenigstens eine nette Freundin, mit der du ausgehen kannst. Stell dich nicht an!"
Thea blies in das gleiche Horn: Irgendwie bist du manchmal schrecklich eingebildet. Glaubst du, dass deine Superfrau einfach an deiner Tür klingelt, weil sie ahnt, dass du sie suchst? Und durch das Fenster kommt dir auch keine angeflogen."
Ich fühlte mich, wie in letzter Zeit immerzu, unverstanden, und damit auch wieder verlassen und einsam. Es musste etwas geschehen. Es musste etwas geschehen. Es musste etwas geschehen!
Also griff ich eines Abends nach zwei Whisky zum Telefon und rief jene Bettina an. Ich schwor mir, gleich aufzulegen, wenn sie sagte: Meine Freunde nennen mich Betty. Und aufzulegen, wenn sie im Osten wohnte. Sie tat nichts dergleichen. Sie hatte eine angenehme und feste Stimme, nannte sich Bettina und wohnte in Wilmersdorf. Wie schön, gar nicht weit weg von meiner Wohnung. Sie war siebenunddreißig.
"Was soll ich groß über mich erzählen, am besten ist es doch, wir treffen uns mal." schlug sie vor, und da konnte ich mich voll anschließen. Das war mir allemal lieber, als wenn wir uns jetzt gegenseitig lange erzählt hätten, wie toll wir aussähen und wie klug wir wären oder wie einsam oder wie was weiß ich.
Sie schlug das Café Monroe in der Lietzenburger Straße vor, was okay war.
"Woran erkenne ich dich?" fragte sie knapp, und ich meinte: "Ich könnte eine Zeitung tragen." Und woran erkannte ich sie? Wir einigten uns darauf, dass sie eine EMMA und ich eine COSMOPOLITAN in der Hand tragen würde.
"Liest du die regelmäßig?" fragte sie mit einer etwas härter klingenden Stimme.
"Nö," sagte ich, "mir fiel nur keine andere ein. Die kenne ich von meiner Kollegin."
Später rief ich Thea an: "Du, ich habe mit ihr telefoniert, sie hat eine richtig nette Stimme. Wir haben uns für morgen im Monroe verabredet. Ich bin ganz aufgeregt. Meine Güte, stell dir vor, wie im Film: wir wollen uns an Zeitschriften erkennen. Was mach ich, wenn das 'ne blöde Schnake ist oder pottenhäßlich?"
"Guck ' sie dir doch erst mal ohne Vorurteile an," meckerte Thea, "wenn du vorher eine negative Einstellung hast, brauchst du solch ein Unternehmen gar nicht erst anzufangen.
Manchmal verstehe ich dich wirklich nicht. Ich finde, dass das doch ein aufregendes Ding ist. Auf jeden Fall machst du mal eine völlig neue Erfahrung. Du musst die Frau doch nicht gleich heiraten!."
"Mecker nicht!" blubberte ich zurück, "Du bist bestens versorgt. Wenn es so viele Taxifahrerinnen wie -fahrer gäbe...Du bist eben noch nie einsam gewesen wie ich und hast es nicht nötig gehabt, zu solchen Mitteln zu greifen. Anzeige! Ich komme mir wie ein Auslaufmodell auf dem Heiratsmarkt vor. Meinst du nicht, ich könnte es wenigstens die Zeitung zunächst einmal in der Tasche lassen und erst herausholen, wenn diese Bettina mir gefällt? - Ist unfair, nicht?" Thea kicherte:
"Und wenn sie die gleiche Idee hat, sitzt ihr beide stundenlang im Monroe und wartet und lernt euch nie kennen. Ich lach mich tot bei dieser Vorstellung. Vielleicht komme ich heimlich zugucken."
"Wehe!"
"Was sagst du, wann seid ihr verabredet?"
"Den Teufel werde ich tun, dir das zu verraten. Ich schlage dich tot, wenn du dich im Monroe blicken lässt," drohte ich, denn ich hatte gewisse Sorgen, mich lächerlich zu machen, und dabei musste meine allerbeste Freundin mir nicht zusehen.
Danach rief ich Elke an und erzählte ihr von der Verabredung.
"Nun willst du mich also doch betrügen," lachte sie leise.
"Ich will was?" schluckte ich, "Nie würde ich dich beitrügen! Diese ganze lächerliche Show wäre nicht nötig, wenn du mein Herz erhören würdest. Hast du noch mal mit dir gesprochen? Bist du immer noch nicht so weit, es mal mit einer ganz besonders netten Frau zu versuchen?" Wir flachsten seit Monaten um dieses Thema herum, obwohl es bei mir viel ernster gemeint war als bei Elke. Wenn sie mich erhört hätte, wäre ich dahin geschmolzen und hätte ich mir zu Füßen geworfen. Sie war warmherzig, großherzig, klug, fröhlich, ausgeglichen. Hunderttausend Jahre wäre ich mit ihr alt geworden, ohne darüber lange nachzudenken!
"Komm," sagte sie, "lassen wir das. Du bist ein wirklich liebenswertes Mädchen, und ich habe dich sehr gern. Aber mehr kann ich nicht. Jetzt jedenfalls noch nicht. Trotz all meiner Neugier."
"Versprich mir, dass ich die Erste bin, wenn du es dir überlegt hast," drängelte. Sie lachte leise:
"Ja ja, du hast das Recht der ersten Nacht, Gräfin."
Sie wünschte mir viel Glück für meine Unternehmung, was nicht viel nutzte, denn die Nacht und auch der Arbeitstag waren furchtbar. Tausend Gedanken kreisten um das Thema Bettina. Ich machte Pläne, verwarf sie wieder, träumte, verwarf meine Träume, hatte Ängste und verwarf auch diese. Ich steigerte mich da in etwas hinein, von dem ich selbst wusste, dass es überflüssig und unheilvoll war. Mir kam es bisweilen vor, als sei diese Bettina die letzte frei verfügbare Frau auf der Welt, und ich müsse allein bleiben auf immer und ewig, wenn sie nicht meinen Idealen entsprach.
Kurz bevor ich mich auf den Weg ins Monroe machen wollte, klingelte das Telefon - Ulrike:
"Na, meine Kleine, wie geht es dir? Ich habe lange nichts von dir gehört?"
"Oh hallo, ich bin furchtbar in Eile, auf dem Weg zu einer Verabredung. Du hast dich auch lange nicht mehr blicken lassen, bist du nicht mehr Mitglied im Fitness? Was machen die Ost-Frauen?" Ulrike lachte:
"Ach je, das ist eine lange Geschichte. Wenn du in Eile bist, lass uns bei einem Drink irgendwann darüber reden. Hast du eine neue Freundin? Wenn du eine hast, schade, denn verglichen mit dem, was ich in den letzten vier Monaten erlebt habe, warst du einsame Spitze. Und zwar in jeder Beziehung!"
Meine Öhrchen richteten sich auf, ich und einsame Spitze?! Na, das war doch wunderbar. Bettina, ich komme! Hier kommt die einsame Spitzenfrau!
"Wie kommst du darauf?" fragte ich neugierig.
"Na, du konntest immer, sogar in der Mittagspause. Und du hast nie gejammert, nur gestöhnt, und zwar an den richtigen Stellen," sie kicherte lüstern, "und du warst ganz und gar nicht klassenkämpferisch."
"Ach komm, nun tu nicht so, als seien die Ost-Frauen alles Klassenkämpferinnen!"
"Nein," sagte Ulrike, "das nicht, aber sie sind eben doch ganz anders als wir." Klar, dachte ich, die arbeiten nicht aus Langeweile in Schicki-Micki-Boutiquen, sondern gucken jammernd zu, wie ihnen der Westen alles unterm Hintern weggeklaut. Aber so konnte ich mit Ulrike nicht reden. Und wunderte mich über mich selbst, dass ich das dachte.
Mit aufgeregt klopfendem Herzen betrat ich das Monroe, meine COSMOPOLITAN tapfer unterm Arm tragend. Das Café war leer. Nur hinter der Bar ein menschliches Lebewesen. Nicht die Besitzerin, die ich kannte, sondern eine Angestellte, die mir fremd war. Na, Gottseidank. Das macht die Sache etwas einfacher für mich, dachte ich mit einem Stoßseufzer der Erleichterung. Ich setzte mich an einen Ecktisch und bestellte einen Kaffee. Das Monroe war eine prima Einrichtung. Ein Frauencafé, das nachmittags öffnete, und in dem man nach dem Einkaufsbummel ohne jeden Aufreiße-Stress einen Kaffee trinken konnte. Keine Anmache von Männern, kein Beziehungsstress unter Frauen. Ein Refugium für mein klimakterisch-belastetes Gefühlsleben.
Eine aufgeschlossen blickende Frau, etwas jünger als ich, betrat das Lokal, blickte sich suchend um und trat sofort an meinen Tisch.
"Franziska?"
Ihre Augen lächelten, während ihr Gesicht keine Miene verzog. Sie trug deutlich sichtbar eine EMMA unter dem Arm. Ich nickte und wollte etwas sagen, aber der Klumpen Aufregung in meinem Hals musste erst heruntergeschluckt werden.
Sie setzte sich, strich die Haare aus der Stirn und schaute mich selbstbewusst lächelnd an. Ich musterte sie kurz, sie war gutaussehend, hatte halblanges blondes Haar und ein offenes Gesicht mit blauen Augen, sie war ganz leicht geschminkt und rustikal gekleidet. Damit meine ich, dass sie Gottseidank keine Latzhosen, aber auch keine Designermodelle trug. Der Pullover schien selbstgestrickt, dazu Jeans und Stiefel. Ihren Lodenmantel warf sie achtlos über den freien Stuhl, und darauf packte sie ihren Rucksack. Das verdarb mir ein wenig die Stimmung.
Ich hasste Rucksäcke. Mir war völlig unverständlich, wie man diese Mistdinger ans Menschen verkaufen konnte, ohne dass die vorher einen Intelligenztest ablegen mussten. Als vor Wochen mein Wagen in der Werkstatt war und ich mit dem Bus fahren musste, wurde mir diese Rucksackplage wieder einmal mehr als deutlich bewusst. Während der etwa dreißigminütigen Fahrt bekam ich vier Modelle vor den Kopf geknallt, weil diese Trottel, die das Teil auf dem Rücken tragen, sich dessen offenbar nicht bewusst sind. Sie stehen im Bus-Gang, drehen sich mit diesem Stoff-Buckel um und knallen dir das Teil ins Gesicht. Oder ins Kreuz, wenn du keinen Sitzplatz bekommen hast. Neulich hatte ich beobachtet, wie solch eine dämliche Rucksack-Schnake in einem Kaufhaus einen Stapel Bücher mit ihrem Buckel vom Tisch riss und sich verwundert nach dem Verursacher des Chaos umsah. Ich wünschte mir, das wäre in der Porzellan-Abteilung passiert!
"Was ist? Gefalle ich dir nicht?" fragte Bettina direkt heraus, und ich schaute sie verblüfft an.
"Warum fragst du?"
"Du guckst so - böse."
"Ach, nein, das hat nichts mit dir zu tun. Ich dachte gerade über Rucksäcke nach." Und ich erzählte ihr von meinen miesen Erfahrungen. Sie lachte herzlich mit einem Lachen, das mir gefiel. Kein Designer-Lachen.
Sofort gerieten wir in ein angeregtes Gespräch. Bettina war Bibliothekarin und arbeitete in einem Frauenbuchladen (ach herrje, dachte ich). Wir sprachen über die Situation in der Stadt und im Land, über die Westler und die Ostler, über Frauenkneipen und -beziehungen und ein wenig über uns. Ein unbestimmtes Gefühl ließ mich meine Jungseniorinnen-Gefühle verschweigen. Bettina machte nicht den Eindruck, als litte sie unter ähnlichem oder sei auch nur ansatzweise bereit, einmal unter ähnlichem leiden zu wollen. Sie wirkte sehr gelassen und gefestigt, und sie schien vor allem sehr selbstbewusst und von sich überzeugt. Sie wirkte leider auch völlig unromantisch und nicht richtig humorvoll. Als wir über unsere gescheiterten Beziehungen sprachen, getraute mich nicht, den Ausdruck Schnaken zu benutzen. Sie fragte mich nach meinen Interessen und Hobbys, und als ich in meinem Kopf danach kramte, musste ich nach Worten ringen, weil sie ihre Augenbraue kritisch hochzog. Das hatte meine Mutter auch immer getan, wenn sie mit meinem Tun nicht einverstanden war. Ich hasste diese Art von Augenbrauen, die mit ihrem Auf und Ab mehr Ausdrücken konnten als eine ellenlange Litanei von Schimpfworten oder Beleidigungen. Ich wurde immer ganz klein beim Anblick dieser beweglichen haarigen Körperteile.
"Ich schaue mir gern Tennis an," prahlte ich, "abgesehen davon, dass ich regelmäßig in ein Fitness-Studio gehe, und ich bin gern unterwegs, gehe gern tanzen, plaudere mit Freunden. Meistens bin ich abends zu müde, weil ich zur Zeit sehr viel Arbeit habe. - Manchmal fahre ich raus nach Zehlendorf, dort wohnt eine Freundin von mir, eine Schauspielerin, und wir gehen zusammen spazieren."
Je länger ich redete, desto kleiner kam ich mir vor. Diese tanzende Augenbraue, dieses leicht amüsierte Lächeln. Plötzlich war ich siebzehn und unsicher.
"Damentennis natürlich?!" Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. "
Je länger wir sprachen, desto unbehaglicher fühlte ich mich, entsetzlich ungebildet und einfältig. Sie war klug, diese Bettina, und engagiert. Sie organisierte Lesungen für Frauen, gehörte irgendeiner Lesbenorganisation an, deren Namen ich sofort wieder vergaß, und sie war offen und direkt. Sie hätte auch über lateinamerikanische Kinderbibeln reden können.
"Suchst du eigentlich eine Partnerin fürs Herz oder mehr eine fürs Vögeln?" fragte sie mich, und ich verschluckte mich an meinem Drink. Während ich mit tränenden Augen und hochrotem Kopf nach Luft rang, spielte ein amüsiertes Lächeln um ihre Lippen. Sie legte ihre Hand auf meine:
"Mir scheint, dass du ein wenig verklemmt bist. Bestimmt gehörst du auch zu der Gattung der heimlichen Lesben, oder? Vogel-Strauß-Lesbe. Du siehst zwar aus wie eine, aber keiner soll's wissen und merken. Oder sprichst du offen darüber?"
"Nicht mit allen," verteidigte ich mich, "die Leute in meinem Betrieb oder meine Nachbarn müssen schließlich nicht wissen, was ich im Bett treibe. Ich mag nicht von ihnen gehänselt werden oder verachtet oder was weiß ich. Das geht doch keinen was an."
"Irrtum," widersprach sie und drückte meine Hand fester, "Nur in der Offensive machen wir uns unverletzbar. Die meisten Lesben denken, dass ihnen nichts geschieht, wenn sie sich nicht zu erkennen geben. Aber genau aus dieser Heimlichtuerei heraus werden sie angreifbar. Diese tausend Verrenkungen und Ausreden, das Erfinden von Partnern, die Heimlichtuerei, als sei es etwas Furchtbares, Schlimmes, Krankhaftes, lesbisch zu sein. Wir müssen uns offen bekennen, damit sich die Menschen daran gewöhnen, dass Homosexualität genau so normal ist wie Heterosexualität. -Sieh mal, die Resonanz, die wir jedes Jahr am Christopher-Street-Day erhalten, lässt darauf hoffen, dass sich früher oder später alles zum Positiven wendet. Und seit bekannt ist, dass Aids keine Schwulen-Krankheit ist, sondern es jeden treffen kann, ist auch diese Diskriminierung vom Tisch."
Mit offenem Mund staunte ich sie an, wobei mich dennoch ein Unbehagen beschlich. Ich mochte diese Lesben mit dem Aufkleber "Ich bin lesbisch" nicht, ich hatte Angst vor ihnen. Und was zum Teufel hatte ich mit dem Christopher-Street-Day zu schaffen? Ich stellte mir mich vor, eine Schwulen-Demo anführend, und sämtliche Leute aus dem Verlag zeigten lachend mit dem Finger auf mich. Das war nicht mein Ding. Davor hatte ich Angst.
"Es gehört aber doch immer noch eine ganze Menge Mut dazu, sich öffentlich zu bekennen," warf ich kleinlaut ein und wurde mit einem überheblichen Lächeln plattgebügelt:
"Wie kommst du darauf? Das ist doch ganz einfach! Du hast es nur noch nie ausprobiert, oder? Kein Mensch tut einem etwas." Okay, sie hatte nicht ganz unrecht mit dem, was sie da sagte: ich hatte es noch nie ausprobiert, mich öffentlich zu bekennen, aber ich hatte auch noch nie einen Grund dazu gehabt. Warum sollte ich Hinz und Kunz erzählen, dass ich lieber mit Frauen ins Bett ging?
Wir unterhielten uns weiter angeregt, will heißen, ich hörte andächtig zu, als Bettina über Politik, Wirtschaft, Literatur und und und plauderte. Sie plauderte wirklich, und es war ungemein spannend. Wenn sie nur doziert hätte, wäre ich längst getürmt. Ich beobachtete sie, ihre Wangen waren leicht gerötet, ihre Augen blitzten, sie sah einfach toll aus, und intellektuell. Ok, dachte ich, solch eine Frau würde mir gut zu Gesicht stehen. Sie ist nur ein wenig anstrengend. Von den Themen, über die sie sprach, kannte ich nur einen Bruchteil, obwohl ich doch weiß Gott nicht gerade blöde war. Sie lebte offensichtlich in einer ganz anderen Welt als ich, in einer Welt, in der man die Dinge nicht lächelnd hinnahm wie in meiner, sondern in der man kämpfte und alles und jedes diskutierte und nach Lösungen suchte. Nicht, dass ich deshalb mein Leben mit dem Weg des geringsten Widerstandes als falsch oder unangenehm angesehen hätte! Wenn die Welt aus Kämpfern und Genießern bestand, gehörte ich halt zur Kategorie der Genießer. Und das war in Ordnung für mich!
"Was machen wir jetzt?" fragte sie schließlich und blickte auf die Uhr. "Ich fand es nett, mir dir zu sprechen. Du gefällst mir. Wollen wir uns wiedersehen? Oder wollen wir uns gar nicht erst trennen? Ich meine, hast du Lust, mit mir zu schlafen?"
Dieses Mal verschluckte ich mich nicht, sondern überlegte in Blitzeseile, was für Unterwäsche ich trug. Immer wieder hatte ich mich während unseres Gespräches gefragt, wie Bettina wohl im Bett sein würde - heißblütig oder intellektuell. Würde sie sagen: Schatz, ich würde jetzt gern kommen, können wir das ausdiskutieren? Nein, Schatz würde sie sicher nicht sagen.
"Okay," antwortete ich ganz cool, "zu dir oder zu mir?" Das hatte ich mal irgendwo gelesen. "Hast du einen Wagen?"
Sie hatte nicht, Gottseidank auch kein Fahrrad dabei, und wir fuhren auf ihren Vorschlag hin zu ihr. Sie wohnte in einer wunderschönen riesigen Altbauwohnung in einer Kudamm-Nebenstraße, und diese Wohnung war vollgestopft mit Büchern. Ich wanderte staunend an den Regalen entlang, die wenigsten Bücher kannte ich, was mich allerdings nicht wunderte. Lesen war nicht gerade Hobby Nummer eins, vielleicht mal im Urlaub.
Bettina öffnete eine Flasche Sekt, stellte Gläser auf den Tisch und legte eine Platte auf.
"Vangelis“ sagte sie auf meinen fragenden Blick, "nicht mehr ganz in Mode, aber sehr entspannend." Worin ich ihr recht gab. Sie setzte sich neben mich auf das Sofa und schenkte den Sekt ein.
Wir stießen miteinander an, und sie legte ihre Hand auf mein Knie und sah mir tief in die Augen. Diese Methode hatte sie gewiss nicht aus einem wirtschaftspolitischen Buch, sie war eher von Courths-Mahler erfunden, die kannte ich, die Methode und die Courths-Mahler.
Ohne lange Vorrede machte sie sich an die Arbeit, und zwar sehr gekonnt. Ein Überraschungsangriff, der mich lahm legte. Ich, die ich es seit dem Erwachen meiner Sexualität gewohnt war, die Initiative zu ergreifen, wurde überrumpelt vom Temperament dieser Frau. Nicht, dass ich Wert auf jene ominöse "Männerrolle" gelegt hätte, die bei lesbischen Beziehungen gelegentlich en vogue war; ich bekam selber gern Blumen geschenkt und freute mich, wenn mir jemand in den Mantel half. Aber beim Verführen war noch immer ich diejenige gewesen, die den ersten Schritt getan hatte. Und nun überfiel mich Bettina, ehe ich piep sagen konnte. Wir küssten uns wild, und ich fühlte, dass mich das geschickte Streicheln ihrer Hände erregte.
"Komm, wir gehen ins Schlafzimmer" murmelte sie, ihre Lippen an den meinen, und eng umschlungen führte sie mich dorthin. Sie zündete eine Kerze an, und wir sanken auf ein fellbedecktes Bett. Das war ganz und gar unklassenkämpferisch und unemanzipiert.
"Webpelz" murmelte sie küssend, während sie sich an meiner Wäsche zu schaffen machte. Sie regte mich sehr auf, und mit ihr zu schlafen war ein himmlisches Erlebnis.
"Falls dir nach einer Zigarette zumute ist, bitte nicht hier im Schlafzimmer," bat sie hinterher und zeichnete mit einem Finger kleine Figuren auf die Haut über meinem zitternden Magen. Ich hatte aber keine Lust, nur der Zigarette wegen aufzustehen, sondern kuschelte mich lieber an sie und schmuste weiter. Sie fühlte sich herrlich an, hatte eine weiche frauliche Figur und war sextechnisch hochbegabt.
"Magst du es auch mit Dildo?" fragte sie nach einer Weile, und ich fragte entgeistert: "Bitte, womit?" Sie brach in helles Gelächter aus. "Gott, bist du niedlich? Was sagst du, wie alt du bist? Du bist herrlich unerfahren." Ich unerfahren? Solche Dreistigkeit hatte ich in meinem Leben noch nicht gehört.
"Ein Dildo ist ein künstlicher Schwanz," klärte sie mich mit einem spitzbübischen Grinsen auf. Ich setzte mich auf und starrte sie wütend an: "Das weiß ich selber! Ich hatte dich nur nicht richtig verstanden! - Ich bin schließlich nicht blöde! Ich hab' allerdings noch nie mit so 'nem Ding... "
„Was?“
„Ähm, na, gebumst.“
"Sag mal: Vögeln."
"Warum?"
"Ich glaube, du hast Probleme mit bestimmten Worten. Vögeln ist was ganz Natürliches."
"Klar. Aber ich sag lieber bumsen."
"Warum?"
"Weil, ähm, ach, weiß nicht."
"Ich kann's dir sagen. Weil brave Mädchen nicht Vögeln sagen."
"Quatsch! Ich bin kein braves Mädchen. Ich finde, Vögeln ist ein blödes Wort."
"Bumsen ist auch ein blödes Wort."
"Ich hatte mal eine Freundin, die hat immer 'Liebe machen' gesagt."
"Das ist auch blöde. Liebe kann man empfinden aber nicht machen."
"Okay, okay. hören wir auch zu streiten. Also, wie geht das mit diesem Ding?"
"Dildo. Wie üblich. Alle Männer haben schließlich so'n Ding, nur nicht aus Plastik."
"Aus Plastik?"
"Warte, ich zeige dir meinen." Sie stand auf, ging an eine Kommode und kam mit ihrem Kunstschwanz zurück. Ich nahm das Ding mit spitzen Fingern und besah es näher.
"Ätzend," meinte ich schließlich, "nee, damit will ich nicht. Du etwa?"
"Oh sicher," hauchte sie, und ich war äußerst verwirrt. Da saß ich nun mit dem Kunstschwanz in der Hand auf dem Fellbett, vor mir eine zu allem bereite höchst attraktive Frau, und ich wusste nicht recht, wie es weitergehen sollte.
"Du meinst, ich soll dieses Ding hier jetzt in dich 'reinstecken?" fragte ich entgeistert. Sie richtete sich auf:
"Also, wenn du es nicht ein wenig gefühlvoller gestalten kannst, lassen wir es lieber. Es handelt sich hier nicht um einen mechanischen Vorgang wie Stecker in die Steckdose stecken."
Wo ist denn da der Unterschied, fragte ich mich sarkastisch und fühlte mich überfordert und missverstanden. In mir keimte der Verdacht auf, dass ich mit dieser anstrengenden Person auf keinen Fall in die Rente gehen wollte.
Wenig später ergab es sich wie von selbst, dass ich wusste, wie ich mit dem Dildo umgehen musste. Es war immer mein Standpunkt gewesen, dass man Dinge nicht ausdiskutieren, sondern Lieber ausprobieren sollte. Aber diese Intellektuellen machten mit ihrem Gequatsche und ihrem Diskussionszwang immerzu alles kaputt. Ich war mehr ein Mensch des Handelns. Und damit kam ich auch stets zum Erfolg.
Wir verbrachten die ganze Nacht im Wachzustand, abwechselnd mit Lesen und Vögeln. Bettina war ein wandelndes Lexikon, und ich besuchte in dieser Nacht einen Volkshochschulkurs in Frauenliteratur. Ich lernte, dass Kate Millett weiblicher über Sex geschrieben hatte als irgendeine Elfriede Sowieknall, deren Namen ich wieder vergessen habe, dass Marilyn French ein differenzierteres Frauenbild in der Literatur geliefert hatte als Alice Schwarzer, und ich war verblüfft darüber, wie viele Frauen und Bücher über Lesben und Sex überhaupt je erschienen waren. Wahrscheinlich stellte ich einen Haufen dummer Fragen, denn Bettina wurde, schien es mir, immer ungeduldiger und irgendwie auch hochnäsiger.
Als ich schließlich kaum noch meine Augen offen halten konnte und mir der Schädel brummte, schleppte sie mich ins Wohnzimmer und legte eine Schallplatte auf.
"Hör mal dieses hier," befahl sie.
Eine angenehme Frauenstimme las: "Der Mond und die Siebensterne sind untergegangen. Mitternacht ist und die Zeit ist vorüber. Ich aber, ich liege einsam." Es rührte mich an, wenn ich es auch ein wenig kitschig fand. Ich schrieb es mir auf.
"Wie gefällt dir das? Das ist von Sappho, gelesen von Joana Maria Gorvin," fragte Bettina.
"Schön. Es spricht mich an. Seit einiger Zeit fühle ich ähnlich. Manchmal denke ich, ich werde zu schnell alt." Ich Blödkopf!
Hätte ich nur mein vorlautes Maul gehalten. Damit war der Rest der Nacht im Eimer. Ich erhielt noch eine Schnelllektion in Altern und dazu zu stehen, in Wechseljahren und der damit verbundenen Befreiung der Frau, und über meine Gegenwehr zum Weiblichsein.
Während dieses Vortrags, der wieder auf dem Webfellbett lief, fummelte und nuckelte sie an mir herum, in aller Strenge, und ich konnte mich nicht wehren, weil ich zu müde und zu erregt war. Das dies überhaupt zusammenging, war für mich eine völlig neue Erfahrung. Ich hatte von Frauen gehört, die angeblich während des Liebemachens lasen oder sich die Nägel lackierten, aber noch nie davon, dass sie Vorträge hielten oder anhörten. Jedenfalls hatte ich überhaupt keine Probleme damit, zu meiner Weiblichkeit zu stehen, als sich ihr ewig plappernder Mund mit meiner Schamgegend beschäftigt. Ich glaube, ich kam in dem Augenblick, in dem sie von der Befreiung vom Joch der Mutterschaft durch die Menopause sprach; sie sprach nämlich auch mit vollem Mund.
Wir frühstückten gemeinsam, relativ schweigend. Da ich Dussel von meinen Hitzewellen gesprochen hatte, empfahl sie mir neben Ginseng auch noch einen Deostein, der aus irgendeiner Gletscherspalte oder sonst woher gewonnen wurde und den Benutzer absolut geruchsfrei machen sollte. Ich stank ihr also.
"Weißt du," meinte sie und sah mich eindringlich an, "ich glaube, es hat nicht viel Sinn mit uns beiden. Wir passen weder intellektuell noch sexuell zusammen. Sei mir nicht böse, aber es ist besser, wenn wir uns nicht wiedersehen."
Ich weiß nicht genau, wie ich aus dem Haus gekommen bin an jenem Tag. Es war viele Jahre her, dass ich einen Eignungstest hatte ablegen müssen, und es war noch länger her, dass ich einen solchen nicht bestanden hatte. Bei Bettina war ich offensichtlich mit Bravour durchgerasselt. In meinem Leben war mir das noch nicht passiert: ich hatte eine Abfuhr bekommen. Was heißt hier Abfuhr? Rausgeschmissen hatte die mich. Alle Diskutierfreudigkeit war verflogen. Sie wollte gar nicht mehr mit mir darüber reden.
"Aber hör mal," hatte ich verdattert gestammelt, "wie kommst du denn auf diesen Einfall? Ich meine, wir haben doch eine prima Nacht miteinander verbracht. Du hast mir eine Menge vorgelesen, ich habe viel gelernt, und ich möchte noch viel mehr lernen. Ich meine, du kannst mich doch nicht nach einer Nacht endgültig beurteilen." Ich kam mir richtig dämlich vor, wie ich da um ihre Gunst bettelte. Dabei wollte ich tief auf dem Grunde meines Herzens selbst nicht mit ihr zusammenbleiben, die war mir viel zu stressig. Aber ehe ich eine Abfuhr kassierte, machte ich lieber Männchen. Den Zeitpunkt für ein Finito hatte bisher noch immer ich bestimmt.
Bettina schüttelte jedoch nur mit kühlem Blick den Kopf: "Es hat keinen Sinn. Du bist mir, mit Verlaub gesagt, ein bisschen zu, ähm, wie soll ich sagen, ich denke, wir passen intellektuell nicht zusammen."
"Du meinst, ich bin dir zu dumm. Das hat mir noch keine gesagt," schrie ich los, denn diese Kränkung war zuviel. Was glaubte diese Schnake denn, wen sie vor sich hatte? Immerhin hatte ich es fast bis zum Abitur geschafft. "Du magst vielleicht deinen Bücherhaufen kennen, aber ich wette, du weißt nicht, wer die Bundesligatabelle anführt." Ich sah sie triumphierend an. "Werder Bremen", antwortete sie trocken, "aber das ist es nicht, was ich meine. Ich will nicht deine Lehrerin sein. Es ist mir zu langweilig, jemandem alles Mögliche vorzubeten. Das ist doch kein Gespräch, kein Gedankenaustausch, verstehst du, das regt mein Gehirn nicht an," sie schüttelte überheblich lächelnd den Kopf. „
Das ist noch die Frage, was in einer Beziehung angeregt werden muss," gab ich patzig zur Antwort, dabei konnte ich sie doch verstehen. Ich wollte auch nicht mit einem Dummchen verheiratet sein. Und trotzdem: Mit mir machte man nicht einfach Schluss. Ich fühlte mich benutzt und weggeworfen.
"Komm," sagte sie müde, oder lässig, "lass es gut sein. Ich bitte dich, geh lieber. Sei mir nicht böse. Die Nacht war nett, aber das soll es auch gewesen sein. Mach bitte keine Szene. Du wirst mir jetzt hoffentlich nichts von großer Liebe oder dergleichen erzählen. Das könnte ich nicht ertragen, und es wäre auch nicht dein Stil."
Was mein Stil war, lernte sie gleich darauf kennen. Ich zog mich an und verduftete. Ohne ein weiteres Wort. Aber in Gedanken, da wünschte ich ihr die Beulenpest an den Hals oder eine Gürtelrose oder Ohren bis an die Knie, irgendwas Auffälliges, was sie nie wieder loswerden würde.
Gottseidank war Sonnabend, denn heute hätte ich Rosa nur unter Zuhilfenahme einer Baseballkeule ertragen. Vor der nächsten Telefonzelle stoppte ich und rief Elke an.
"Kann ich zu dir kommen?"
"Klar, was ist denn passiert? Oder erzähl's mir, wenn du da bist. Ich bin ganz neugierig."
Während der Fahrt nach Zehlendorf kämpfte ich mit den Tränen. Ich war tief verletzt. Was bildete sich diese Bücherschnake eigentlich ein? Man konnte doch weiß Gott einen Menschen nicht nach einer Nacht, die nur aus Sex und Büchern bestanden hatte, beurteilen und verurteilen.
"Dämliche oberflächliche Schabulke" brüllte ich und schlug mit aller Kraft auf das Lenkrad. "Du Schnake, du blöde, du dusselige Kuh, du Schwein schwarzes, Horngesicht giftiges!" Wenn Fluchen der Stuhlgang der Seele war, hatte ich wahrhaftig einen sehr guten Stuhlgang, und mir war wohler, als ich vor Elkes Haus parkte.
Sie sah mir wohl an, dass es mir nicht gut ging und nahm mich mütterlich in die Arme. Das heißt, sie meinte mütterlich, ich meinte natürlich etwas ganz anderes. Wieder einmal schüttelte mich der innere Stoßseufzer, der unhörbare: schade, Elke, dass du mich nicht erhörst.
Dann erzählte ich ihr die ganze Geschichte, während sie frühstückte. Ich bekam vor Wut und Aufregung keinen Bissen herunter.
"Das ist wirklich ein starkes Stück," meinte sie schließlich und fragte: "Bist du denn nun nur wütend oder auch ein wenig traurig? - Ich meine, hat sie dir gefallen? Wärest du gern mit ihr zusammengeblieben?"
Eine schwierige Frage, die ich erst nach einigem Überlegen klar beantworten konnte:
"Also, rein äußerlich und allgemein von ihrer Art her hat sie mir gefallen. Aber dieses Lehrerinnenhafte, das hat genervt. Ich war die ganze Nacht irgendwie im Examen, aber leider in Fächern, die nie meine Stärke gewesen sind. Selbst beim Bu..., also, selbst beim Liebe-machen kam ich mir dämlich vor." Elkes fragender Blick brachte mich in Verlegenheit. Es war weiß Gott nicht meine Art, über Bettgeschichten zu tratschen, andererseits lag mir die Geschichte mit dem Kunstschwanz gewaltig im Magen. Warum zum Teufel schaffte sich diese Frau keinen Mann an, wenn sie scharf auf das Teil war? Und da ich ziemlich sicher war, dass meine kampferprobte Elke auch hierauf eine Antwort wusste, rückte ich mit der Geschichte doch heraus. Elke schüttelte den Kopf und sah mich amüsiert an:
"Meine Güte, bist du prüde. Du brichst dir einen ab, nur um solch eine harmlose Geschichte zu erzählen. Das hätte ich gar nicht von dir gedacht." Jetzt veräppelt die mich auch noch, dachte ich wütend und hatte wohl auch den entsprechenden Gesichtsausdruck, denn sie legte beschwichtigend ihre Hand auf meine und sagte: "Nicht aufregen. Ich meine doch nur, dass die Geschichte des Dildo ungefähr alt wie die Welt ist. Vielleicht hat Sappho ihn erfunden."
"Ach Gott, genau die, von der musste ich mir ein Gedicht anhören.
Kennst du die etwa auch?" Und Elke erzählte mir von der Dichterin Sappho, die auf Lesbos gelebt haben und mit hübschen jungen Mädchen gebumst haben sollte.
"Ach deshalb," rief ich aus, und auf ihren fragenden Blick:
"Es gab mal eine Weiberkneipe in der Uhlandstraße, die hieß Sappho, und ich habe mich immer gefragt, was das bedeuten sollte. Gott, bin ich blöde."
"Das kann man wohl sagen," meinte Elke trocken, "Du kennst eure Ur-Mutter nicht. Vielleicht hatte diese Bettina doch ein kleines bisschen recht?"
"Ach, Quatsch, ich habe wichtigere Dinge in diesem Leben zu lernen gehabt als solchen Quatsch," brummte ich und fühlte, wie mir wieder die Tränen aufstiegen. Ich war nicht nur alt und verbraucht, sondern auch noch hinreißend bescheuert. Warum hatte mir in der Schule niemand etwas über diese Sappho beigebracht? War doch nicht meine Schuld. Und Griechenland hatte mich nie interessiert.
"Weißt du was, ich las' jetzt diesen ganzen Mist bleiben und werde in Würde alt, in Würde und allein."
Elke lachte schallend, und ich sah sie beleidigt an.
"Entschuldige, aber das klang gerade zu komisch. Du bist noch gerade Anfang vierzig, und nun hörst du dich an, als habest du dein Leben abgeschlossen. Dazu bist du noch viel zu jung, du wirst sehen, es wird noch eine Menge passieren. Gerade einem Menschen wie dir. - Sieh mal, es ist doch schnurz, ob du eine Professur hast oder nicht. Hauptsache ist doch, dass du eine liebenswürdige Frau bist und bleibst, schlagfertig und humorvoll, wie ich dich kennen gelernt habe. Sei doch froh, dass alle Menschen einen verschiedenen Geschmack haben, sonst wäre das Gedränge auf der Beziehungswarteschleife doch unerträglich. Du bist toll, wie du bist. Bleibe so und vergiss diese Bettina. Es wird andere geben, verlass dich drauf."
Oh, das tat gut!
"Ach, mein Elkchen, warum erhörst du mein Flehen nicht? Du wärest du Frau für mich, du könntest mich glücklich machen, aber dein Herz ist von einer eisernen Rüstung umgeben, zumindest, was mein Flehen betrifft." Ich konnte längst wieder lachen, und sie versetzte mir einen Nasenstüber.
"Siehst du, das meine ich. Das ist meine Franziska."
Und flugs war sie wieder hinter ihrem Mäuerchen verschwunden, unerreichbar für mich. Wir verlebten einen gemütlichen Nachmittag. Sohnemann kam vom Spielplatz nach Hause, und wir spielten eine Runde "Mensch ärgere dich nicht", wobei ich mich immer maßlos geärgert habe, bereits als kleines Kind, aber ich riss mich zusammen. Später gingen wir mit Kind und Hund spazieren und Pizza essen, und ich hatte ein ungemein familiäres Gefühl in mir. Ich kam mir wie der Papa vor, der die Familie ausführte. Sogar der Hund war geneigt, mir zu gehorchen, und vor meinem geistigen Auge entstand das wunderschöne Bild von einer intakten Familie, wie aus dem Werbefernsehen. Die Idylle hatte nur diese winzig kleine Häkchen: Elke wollte mich nicht, und wenn ich noch so geifernd hinter ihr her war.
Am späten Nachmittag fuhr ich nach Hause. Auf dem Heimweg beschlich mich dieses Gefühl, das mir inzwischen vertraut geworden war. Die Tränendrüsen warfen den Motor an, stotternd zwar, dass ich noch trockenen Auges würde daheim ankommen, aber es fühlte sich nach einer geballten Ladung feuchten Kummers an, was sich da zusammenbraute. Alle meine Weiber hatten mir irgendein Heilmittelchen empfohlen, aber gegen dieses schreckliche Gefühl des Alleinseins, des Überflüssigseins, des - Altseins, da schien es nichts zu geben. Warum sprang mich dieses bekloppte Gefühl immer wieder an? Mein Leben lang, also, mein sexuelles Leben lang bin ich nicht aufs Maul gefallen, aber seit ich mich ernsthaft mit der Suche nach einer Partnerin fürs Leben befasste, geriet ich von einer Pleite in die andere.
War ich denn wirklich blöde, wie Bettina behauptet hatte? Noch nie hatte mich jemand wissen lassen, dass ihr mein Verstand nicht ausreichte. Selbst meine kluge Rosa hatte nie an meinem Geistespotential herumgemäkelt, obwohl sie sehr streng war. Okay, Elke hatte gesagt, ich sei liebenswert, aber irgendwie war das wohl nicht genug. Oder doch?
"Ach, diese Schnake hat einfach nicht zu mir gepasst," tröstete ich mich, während ich versuchte, einzuparken. "Intelligenzbestie." knurrte ich. Die war nichts weiter als eine von diesen Weibern, die einem im Fernsehen oder Radio klarzumachen versuchten, dass Lesbischsein ein Fall für die Öffentlichkeit war. Weil man ihnen in ihren tollen Jobs mit der aufgeschlossenen und toleranten Umwelt nicht ans Bein pinkelte. Auf dem Weg in meine Wohnung grummelte ich vor mich hin, und nachdem ich die Tür hinter mir ins Schloss geworfen hatte, legte ich wieder laut los: "Soll die doch mal Damenunterwäsche verkaufen mit 'nem Schild um den Hals: Ich bin lesbisch. Dusselige Trutsche! Oder Schuhe verkaufen, wo sie jeder Tante unter den Rock gucken kann! Dann wird sie sehen, wo sie bleibt, die olle Schabulke. Und ihre Mistbücher kann sie sich in die Haare schmieren und ihren Dildo auch! Ungeheuerlich, so was. Mir mit 'nem Plastikschwanz zu kommen. Jawoll, da hat die ihren Verstand sitzen und nirgends anders." Auf diese Weise reagierte ich mich ein Weilchen ab, ohne dass ich mich danach wohler fühlte. Ich brauchte Gesellschaft. Ich wollte in die Arme genommen werden.
Thea war nicht zu Hause, ich ließ das Telefon sehr lange Läuten, aber erfolglos. Die war sicher wieder mit dem Lasso unterwegs, um Taxifahrer einzufangen. Ach, die hatte es gut!
Unruhig rannte ich in meiner Bude auf und ab. Nein, ich verspürte keine Lust, in die Kneipe zu gehen. Heute irgend eine Schnake anzumachen - danach stand mir nicht der Sinn. Viel zu stressig, nach dieser Nacht. Nacht. Der Gedanke an die Nacht mit Bettina ließ mich lächeln. Toll war's gewesen, wenn man die Literaturstunden abzog. Mann, die Frau hatte was drauf gehabt. Nun, dieses Plastikteil war nicht unbedingt mein Fall gewesen, aber, wer's mag. Ich war da tolerant.
Ulrike! Ich könnte Ulrike anrufen. Vielleicht hatte sie Lust auf ein Schwätzchen mit einer einsamen Jungseniorin. Ich hängte mich ans Telefon und hatte Erfolg. Weiß der Teufel, was die ihrem Mann erzählte, schließlich war es Sonnabendabend, der heilige Tag der ehelichen Pflichten (hatte ich gelesen), aber wahrscheinlich fand solches bei Ulrike an jedem Tag oder nie statt. Vielleicht bumste ihr Alter mit Jünglingen? Ich feixte mir eines. Das musste doch rauszukriegen sein. Ich meine, was ist das für ein Gatte, der es seiner Frau unentwegt erlaubt, mit anderen Frauen rumzumachen?! Und Ulrike hatte nie auch nur eine Andeutung gemacht, dass er ein Typ von der Sorte Zuschauer war.
"Junge, Junge," sprach ich zu mir, während ich ein Bad einließ - der Bettina'sche Bücherstaub musste abgewaschen werden - "es spielt sich was ab in Deutschlands Schlafzimmern..." Meine Stimmung hob sich.
Ulrike kam mit glänzender Laune und einer Flasche Rotwein. Ich verzog ein wenig das Gesicht. Rotwein war nicht unbedingt mein Fall, ich wurde zu schnell blau davon. Aber in meiner Hausbar fanden sich die Wässerchen, die ich besser vertragen konnte. Ulrike zog ihre Schuhe aus und machte es sich auf der Couch bequem.
"Mach Kerzenlicht," bat sie, "und schöne Musik. Ach, ist das schön bei dir. Nach Wochen des Rest-DDR-Designs endlich wieder mal eine Augenweide. Komm, setz dich zu mir. Hm, riechst du gut. Was tust du in dein Badewasser? Warum hast du mit dem Bad nicht gewartet, bis ich da bin? Du schuldest mir noch ein unblutiges Bad." Sie kicherte und fuhr mit der Hand über mein Haar.
Es war, als hätten wir uns nie getrennt. Wir waren einander sehr vertraut, ich fühlte mich wohl, wie ich es mir immer erträumt hatte. Bei Ulrike musste ich nicht befürchten, einem Intelligenztest unterworfen zu werden, ich hatte Chancen, Queen zu sein. Obwohl in Wirklichkeit natürlich sie die kleine Queen war. Ich war mehr der King!
"Erzähl, wie ist es dir ergangen?" fragte ich und hockte mich auf den Fußboden vor der Couch. Ulrike legte ihre Hand auf meine Brust, als sei das die von Gott gegebene Ablage dafür, nahm einen Schluck von ihrem Rotwein und stöhnte theatralisch.
"Ach, hör mir auf! - Also, ich bin ein paar Mal in diesen Frauenclubs drüben gewesen, ich sage dir, gerammelt voll mit Westweibern, alle auf Goldsuche. Es gibt übrigens kein Lokal, das "Kolchose Flinke Zunge" heißt - sie kicherte-. Aber nette Mädchen haben sie da, mit ausgesprochen exotischen Namen. Die Erste, die ich kennen gelernt habe (ich konnte mir lebhaft vorstellen, was sie mit 'kennen gelernt meinte...), hieß Jennifer Mahlke. Klingt gut, was? Aber ein nettes Mädchen, achtundzwanzig. Und die zweite auch, Svetlana, obwohl sie keine Russin war. Aber ansonsten... Meine Güte, wie die das all die Jahre ausgehalten haben dort! Nie gab's was Gescheites zu kaufen, nie war irgendwo richtig was los. Keine Boutiquen, überall diese Schnüffler, die Nachbarn, in der Schule, diese schrecklichen Möbel und Klamotten, die die haben. Also, ich hätte da nicht leben können. Und heute verdienen sie viel weniger als wir hier im Westen. Ach, es war niederdrückend für mich, auch, was die alles aus ihrem Leben erzählt haben. Nee, da hätte ich Depis gekriegt. Und jetzt gibt's auch noch diese rechten Affen, die Jagd auf Ausländer und Schwule machen. Echt gefährlich. Nee, da lass' ich lieber die Finger davon."
"Meine Arme," ich streichelte sie mit Blicken, "da hast du echt was mitgemacht. - Aber ich auch." Und ich erzählte ihr von der Nacht mit Bettina. Gespannt richtete sie sich auf:
"Was? Mit Dildo?"
"Kennst du so was?" blöde eigentlich von mir, dass ich erstaunt war; natürlich kannte meine über alles erfahrene Ulrike Dildos.
"Hast du etwa auch einen?"
"Klar, 'nen goldenen," lachte sie, gab mir einen Nasenstüber und meinte: "Nein, im Ernst, natürlich habe ich keinen. Falls mir danach ist, habe ich noch einen aus Fleisch und Blut." Echt kaltblütig, die Frau! "Hast du einen?"
Ich wehrte entrüstet ab: "Was soll ich mit einem Kunstschwanz Ich bin doch nicht beknackt? Wenn mir nach Schwanz wäre, würde ich mit Männern bumsen."
"Hat sie es denn mit dir gemacht? Ich meine, hat sie dir das Ding 'reingesteckt?" fragte Ulrike, und ich wurde tatsächlich rot. Ich schüttelte den Kopf.
"Nee, mit mir läuft so was nicht."
"Na, sollen wir es mal ausprobieren?" lockte sie schmeichelnd.
"Aber ich hab' doch keinen."
"Wir könnten etwas anderes nehmen," schlug sie vor und sah sich suchend um.
"Hast du 'ne Macke?" fragte ich entrüstet. Rotwein, typisch! Sie vertrug ihn also auch nicht. Sie wiegelte ab: "Nun beruhige dich. Ich habe doch nur Spaß gemacht. Hör mal, diese Bettina hat sich da aber eine interessante Masche ausgedacht. Auf eine Anzeige zu antworten, sich zu treffen, gucken, ob die Braut nett aussieht - auf diese Weise kommt sie fünfmal in der Woche zum Bumsen, ohne dass es sie Mühe kostet. Wenn sie ein Mann wäre und in einen Puff müsste, wäre das ganz schön teuer!" Unter diesem merkantilen Aspekt hatte ich die Sache noch gar nicht betrachten können.
Wir wechselten das Thema und redeten über dies und das, während ihr ruhelosen Fingerchen mal hier und mal da an mir herummachten. Ich beugte mich über ihr Gesicht und raunte: Sag mal, gute Frau, was fingerst du da eigentlich andauernd an mir herum? Schon mal was von erogenen Zonen gehört?"
"Sind das verbotene Zonen?"
"I wo. Das sind Einladungen. Du machst mich an."
Zum zweiten Mal an diesem Tag landete ich in der Badewanne, gemeinsam mit Ulrike, und dieses Mal, ohne mir die Nase einzuschlagen. Viel, viel später machte sie sich auf den Heimweg, die Gattentoleranz ging nicht so weit, aushäusige Nächte zu akzeptieren, "jedenfalls nicht am Wochenende", und ich war wieder allein. Immerhin gelang mir ein Lächeln, als ich am Spiegel vorbei ins Schlafzimmer ging. Mein Selbstwertgefühl war renoviert und wieder ansehnlich. Ich war unsagbar müde und kaputt und würde wunderbar schlafen können.
Nieder mit den Bücherschnaken, dachte ich, ich bin halt für die Liebe geboren. Nur ein winziges Sekündchen lang dachte über darüber nach, dass ich bei meiner Suche nach der Partnerin fürs Leben keinen Schritt weitergekommen war. Ulrike gebührte dieser Titel jedenfalls nicht, da biss die Maus keinen Faden ab!.
Der Sommer kam und damit der Sommerurlaub. Im schlichten Glauben an all die aufregenden Dinge, die in den Zeitungen über Ibiza zu lesen waren, buchte ich Ibiza. In meinen kühnsten Träumen sah mein Urlaub dermaßen wohltuend aus: Ich lag braungebrannt am Strand, einzigartig aussehend mit diesem sehnigen, sportgestählten Körper, und um ich herum scharten sich staunend die schönsten und klügsten Frauen dieser Erde. Sie waren natürlich alle auch ein bisschen reich, so dass ich das Leben einer Prinzessin führte.
Dass das nicht ganz klappen würde, dachte ich zum ersten Mal, als ich im Flughafen in der Schlange am Abfertigungsschalter wartete. Berliner und Flughafen, das ist eine Horrorstory für sich. Sie haben nämlich immer diese Angst, dass der Flieger ohne sie abfliegen würde. Um dies zu verhindern, benutzen sie Ellenbogen, Kinderwagen, Koffer und notfalls auch Hundeboxen, mit denen sie drängeln und schubsen und die Menschen aus dem Wege räumen, die sich ihrem Abflug in den Weg stellen. Das geht nie ohne Gezänk und hört sie wie ein italienischer Jahrmarkt an.
Ein Blick in die Runde zeigte mir, dass keine meiner Traumdamen im Begriff war, Urlaub auf Ibiza zu machen. Statt dessen dicke ältere Damen mit dicken älteren Herren, teils schmuckbehängt und strohbehütet, ebensolche Ausgaben in jünger und schlanker, hunderte, wie es schien, von kleinen und kleinsten Kindern, die Kriegezeck und Plärren spielten. Sperrige Sonnenschirme und zusammenfaltbare Kinderwagen, die sich im Augenblick der Abfertigung nicht zusammenfalten ließen. Ätzend. Jaulende Hunde und Katzen in Käfigen, weiß der Deibel, warum die Leute ihre Köter mit in den Urlaub nehmen mussten, die armen Viecher saßen bedeppert dreinschauend in ihren Käfigen und verfluchten Frauchen und Herrchen, dessen war ich sicher. Alleinreisende Frauen meines Alters gab es überhaupt nicht.
Thea raunte mir zu: "Ätzend! Findest du nicht? Willst du dir das nicht noch mal überlegen?"
"Quatsch," fuhr och sie hochgenervt an, "die fliegen doch nur mit mir, die machen nicht mit mir Urlaub." Hoffte ich bangend.
Endlich konnte ich durch die Sperre in den Warteraum. Ich nahm mein Theachen in die Arme und verabschiedete mich schweren Herzens von ihr.
"Schade, dass du nicht mitkommen kannst."
"Schade," sagte sie mit bedauerndem Achselzucken, "wirklich schade. Wir hätten den Laden schön aufgemischt. Wird wohl nicht schlimm werden. Schieß die Affen auf den Mond."
Über den Flug decken wir besser den Mantel des Schweigens. Ich weiß nicht, ob Leute aus Köln, Düsseldorf oder München sich im Flugzeug aufspielen wie Leute aus Berlin. Ich will mal nur soviel sagen: Etwa die Hälfte der Passagiere stieg bei der Landung besoffen aus...
Ich wurde zusammen mit anderen Menschen, die nun wiederum gar nicht in meiner Maschine gesessen hatten, in mein Hotel an der Playa Talamanca gefahren. Da ich diese großen Animationsschuppen mit den fünf Sternen hasse wie die Pest, hatte ich mir ein kleines Familienhotel ausgesucht, das direkt am Strand gelegen war, und von dem aus täglich zehnmal ein Boot zum Hafen von Ibiza hinüberfuhr. Das war allerdings wichtig, denn der sogenannte Rolex-Strand, hatte ich gelesen, befand sich an der Playa d'en Bossa. Dorthin konnte ich vom Hafen aus mit dem Bus fahren.
Nachdem ich mein Zimmer bezogen und meinen Koffer ausgepackt hatte, machte ich mich auf einen ersten Erkundungsgang. Es war traumhaft! Das wunderbare Blau des Meeres versetzte mich in eine schwärmerische Stimmung. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hotelstrandes konnte ich den Hafen und die Altstadt von Ibiza sehen. Eine Fähre lief gerade ein und ließ ein lautes, zufriedenes Tuten hören. Am Hafen wimmelte es von Menschen und Autos, alles winzig klein wie Ameisen. Eine Autofähre verließ den Hafen, und ich vermutete, dass sie nach Formentera fahren würde. Darüber hatte ich gelesen, und dorthin wollte ich auch einmal einen Tagesausflug machen. Aber zuerst einmal war ich hundemüde und hatte Riesenhunger.
Ich betrat den Speisesaal und wartete artig an der Tür, bis der Oberkellner geneigt war, mich zu entdecken und mir einen Platz zuzuweisen.
"Ein oder zwei Personen?" fragte er, und irgendwie veränderte sich sein Gesichtsausdruck, als ich sagte: "Eine."
Er führte mich durch den ganzen Saal, und ich glaubte, die Blicke der Gäste auf meinem Rücken zu spüren. Welch ein Spießrutenlauf! Ich bekam einen Tisch in der hintersten Ecke des Saals zugewiesen, der gedeckt war, dass ich mit dem Rücken zum Publikum saß. Der ideale Platz für Misanthropen, dachte ich sarkastisch, aber nicht mit mir! Gelassen übersah ich den Stuhl, den der Meister mir unter den Hintern schieben wollte und setzte mich mit dem Rücken zur Wand, so dass ich den Panoramablick über den Saal hinweg genießen konnte. Mit mürrischer Miene legte er das Gedeck um und verschwand, ehe ich mir etwas zu trinken bestellen konnte. Ich hatte viel gelesen über das Schicksal alleinreisender Frauen.
Natürlich hielt Ibiza nicht, was die BUNTE versprochen hatte! An den sogenannten Rolex-Strand fuhr ich nur ein einziges Mal.
Natürlich hatte in der Zeitung nicht gestanden, dass Frau Meier aus Wanne-Eickel mit ihrer achtzehnköpfigen Familie und Herr Müller aus Leipzig mit drei Kindern und Schwiegereltern auch am Rolex-Strand Urlaub machten. Ich lernte sehr schnell, dass die Playa d'en Bossa die preiswerteste Gegend sein sollte, weil sie mitten in der Einflugschneise lag. Will heißen, ich verbrachte den einen Tag am Rolex-Strand in einem immerwährenden Flugzeug- und Kleinkinderlärm. Unentwegt fuhren Motorboote mit irgendwelchen Plastikwürsten hintendran, auf denen juchzende Menschen saßen, aufs Meer hinaus und schlingerten hin und her, damit eben jene Menschen ins Wasser fallen konnten. Dafür bezahlten die gutes Geld! Ständig donnerten aufgemotzte Motorboote übers Meer, gesteuert von irgendwelchen verhinderten Harley-Davidson-Möchtegerns, und wenn überhaupt eine Rolex an diesem Strand aufgetaucht war, war sie mit Sicherheit gefälscht.
Ibiza-Noche, die berühmte Nacht von Ibiza war ähnlich. Tante Minna flanierte in der Kittelschürze ebenso selbst-verständlich durch das mitternächtliche Treiben, wie die ausgeflippten Hippies, denen noch keiner verraten hatte, dass sie aus der Mode gekommen waren. Die Damen mit der beinahe nicht vorhandenen Kleidung, die in BUNTE zu sehen gewesen waren, mussten auf Betriebsausflug gewesen sein, als ich meine Ibiza-Noche machte. Ich hätte zu gern eine Frauendisco besucht, aber wen sollte fragen, ob es hier eine gab? Und wie sollte ich fragen? Mein fließendes Spanisch bestand aus "buenas dias"...
In meinem Hotel wohnten keine alleinreisenden Menschen. Die Gäste waren größtenteils sehr nette Leute, aber verheiratet, gepaart oder wie auch immer zusammengeschnürt. Ich machte ständig hier ein Schwätzchen und dort ein Pläuschchen, aber anfreunden konnte man das nicht nennen. Ein junges Ehepaar, Michael und Renate, forderte mich auf, mit ihnen gemeinsam den Ausflug nach Formentera zu machen, und den genoss ich auch. Nicht unbedingt mein Fall, diese kleine Insel, absolut nichts los, aber sehr schön. Das war was für Leute, die keinen trouble brauchten. Vielleicht, wenn ich mal ganz alt war...
Renate, Michael und ich mieteten gemeinsam einen Wagen und machten Ausflüge über die Insel Ibiza. Dabei entdeckte ich, dass sie wirklich wunderschön war, solange man die Touristenhochburgen mied, San Antonio, Santa Eulalia und dergleichen mehr. Alles Märkische Viertel, nur halt am Mittelmeer.
Aber im Innern der Insel, dort, wo die Touristen noch nicht zugeschlagen hatten, entdeckten wir wunderschöne Buchten und Plätze. Das versöhnte mich auch wieder mit der Pleite vom Rolex-Strand. Zu Dritt gestalteten wir unsere Tage abwechslungsreich, dass die Zeit wie im Fluge und mir auch die Lust verging, nach der Frau fürs Leben zu suchen. Selbst die irgendwann beiläufig von Renate gestellte Frage: "Sag mal, warum bist du eigentlich nicht verheiratet? Kein Bock?" brachte mich nicht aus der Ferienstimmung. Wenn ich eines gelernt hatte, nun dieses: Eine Frau in meinem Alter hat einfach verheiratet zu sein; ist sie es nicht, kommen die Menschen ins Grübeln. Aber ich hatte längst damit aufgehört, mich mit tausenderlei Ausreden für dieses gesellschaftliche Manko zu entschuldigen. Ich brummte nur zurück: "Richtig: kein Bock," und damit war das Thema für mich erledigt.
Während eines Urlaub vor Jahren hatte ich mal einen Mann kennen gelernt, der mir gestanden hatte, dass er trockener Alkoholiker war. Er erzählte mir, dass es ihm schwer falle, darüber zu reden, aber er habe die Erfahrung gemacht, dass die Leute ihn unentwegt dazu drängten, doch auch etwas zu trinken, und wenn er es nicht tat, ebenso unentwegt fragten, warum denn nicht. Die Menschen fühlen sich offensichtlich unbehaglich in der Gesellschaft von Menschen, die bestimmte Dinge, die sich gehörten: also Trinken oder Verheiratetsein, nicht taten. Verrückt, aber wahr.
Renate und Michael fuhren wieder nach Hause, und mir blieben noch fünf Tage bis zu meiner Heimreise. Als ich am Abend zu Tisch ging, lagen zwei Gedecke dort, ich würde also Gesellschaft bekommen. Ein wenig neugierig blickte ich zur Tür, um so schnell wie möglich zu erfahren, ob Männchen oder Weibchen meine letzten Tage hier versüßen würde. Schließlich und endlich tauchte eine Kastanien-Rothaarige auf, die allein am Eingang wartete. Sie wartete nicht auf ihre Begleitung, wie sich herausstellte, sondern darauf, dass der miesepetrige Oberkellner sie zu ihrem Tisch brachte. Und dieser Tisch war mein Tisch. Ohne ein Wort schob der Meister ihr den Stuhl unter den Hintern, das war offenbar die einzige Höflichkeit, die er in seiner Oberkellnerschule gelernt hatte. Alle Menschen im Speisesaal hatten sich nach der Rothaarigen umgedreht. Sie hatte das gewisse Etwas, ohne dass ich hätte sagen können, wie und wo. Sie beeindruckte einfach dadurch, dass sie durch den Saal ging. Es war nicht ihre Größe, sie war eher klein, es waren gewiss auch nicht die roten Haare, es war einfach ihre Art, aufzutreten. Dabei tat sie das ganz selbstverständlich. Nicht affektiert, nicht exaltiert, sondern eigentlich ganz normal. Und dennoch strahlte sie etwas aus, das alle Leute offenbar dazu zwang, ihr nachzuschauen. Eine Persönlichkeit. Ungeheuer selbstbewusst.
"Unfreundlicher Kerl," brummte die Frau mit tiefer Stimme, und ich lachte: "Offenbar hat man ihm nur beigebracht, dass deutsche Frauen zu dämlich sind, sich allein auf einen Stuhl zu setzen."
"Vielleicht haben die da nicht ganz Unrecht. Deutsche Frauen sind manchmal ganz schön bescheuert."
Oha, dachte ich amüsiert. Zwei chauvinistische Weiber an einem Tisch, das wird hektisch.
"Also, ich heiße Gisela. Wie lange sind Sie schon hier, wie lange bleiben Sie noch? Gibt es irgendwelche Sehenswürdigkeiten auf dieser Insel? Eigentlich will ich mich nur zwei Wochen erholen, ich bin ganz schön fertig."
Nach diesem Wortschwall setzte sie ein Glas Rotwein an den Hals und kippte es in einigen heftigen Schlucken in sich hinein. Uff!
"Ich heiße Franziska."
"Jessas!" brach es auch ihr hervor, "haben Sie dafür eine Abkürzung?" Ich schaute sie gekränkt an.
"'tschuldigung. Ich bin immer direkt. Meine Kinder meckern deswegen auch immer mit mir. Nehmen Sie's mir nicht übel."
Krankenschwester, dachte ich, sie ist Krankenschwester, oder Barfrau. Nur in dieser Kategorie durfte man meiner Meinung nach ungestraft resolut sein.
"Meine Freunde nennen mich manchmal Franz," ich verlängerte schnell: "Franzi oder Fränzchen. Aber Fränzchen mag ich nicht leiden."
"Kann ich verstehen. Wollen wir du sagen? Also, meine Abkürzung ist Gille, nicht Gilla heißen alle, sondern Gille."
Während sie aß, sah ich sie mir genauer an. Sie roten Haare waren eindeutig gefärbt, sie trug sie offen bis auf die Schultern. Ihr Gesicht hatte etwas Verlebtes, also Barfrau, sie war mit Sicherheit über fünfzig. Die Figur, das hatte ich bereits bei ihrem Eintreten gecheckt, war ganz ordentlich, bisschen kräftig, aber nicht mütterlich-deutsch-fett. Hässliche Zähne hatte sie, was ich nicht verstehen konnte.
"Erzähl'," forderte sie mich auf, während sie aß, ich war längst fertig mit meiner Mahlzeit. "Was ist hier los? Gibt`s Kerle?" Sie blickte mich an, zog die Stirn kraus und meinte :
"Ach, ich glaube, dass du dich dafür nicht interessierst." Mir stockte der Atem.
"Wie kommst du denn darauf?"
"Also, schaust halt eher wie 'ne Lesbe aus. Stört mich aber nicht. Ich habe eine Kneipe in Bochum, und meine Kellnerin ist auch eine Lesbe. Aber hallo, ist das ein kesser Vater! Dagegen siehst du noch wie eine Frau aus. Aber mich stört das nicht, wie gesagt. Soll doch jeder selbst entscheiden, was er mag. Nur wenn`s einer mit Tieren oder kleinen Kindern treibt, also, das finde ich zum Kotzen."
Sie futterte ungerührt weiter, während ich nach Atem rang. War die nun dumm oder frech oder unverfroren oder unverschämt oder was oder wie? Das war mir noch nie passiert.
Ihre Direktheit beeindruckte mich aber ungeheuer. Achtundneunzig Prozent der Leute, die ich kannte, einschließlich meiner Person, drehten unentwegt Verbal-Pirouetten anstatt direkt draufloszureden. Und diese hier knallte mit den Dingern zwischen Hühnerflügel und -keule raus, mit vollem Mund!
"Ich bin nicht lesbisch," gab ich patzig zur Antwort und erntete einen spöttisch-fragenden Blick.
"Ist mir auch egal," brummte sie, schob den Teller fort und zündete sich eine Zigarette an. "Hast du Lust, mir ein bisschen von der Umgebung zu zeigen? Du kennst dich doch sicher bereits aus."
Wir machten gemeinsam einen Spaziergang, in dessen Verlauf wir uns ein wenig über uns erzählten. Sie hatte gemeinsam mit ihrer Freundin Sibille vor einem Jahr eine Studentenkneipe aufgemacht, unentwegt geschuftet, um den Laden auf Vordermann zu bringen, und nun war sie urlaubsreif. Sie war zweimal verheiratet gewesen und hatte von jedem Mann ein Kind, Sohn Thomas, genannt Tom, und Töchterchen Nina. Diese Tochter, achtzehn Jahre alt, schien sie ganz besonders abgöttisch zu lieben, denn jedes Mal, wenn sie von ihr sprach, verklärte sich ihr Gesicht. Oh, diese Mutter-Affenliebe!
Nach unserem ersten kleinen Rundgang hockten wir uns an die Bar und schwafelten weiter. Ich muss zugeben, es machte Spaß, mit ihr zu ratschen. Sie hatte unglaublich was drauf, klar, wenn man ein Studentenkneipe betrieb, konnte man nicht blöde sein, das war nicht gut fürs Geschäft.
Todmüde fiel ich ins Bett. Mein Kopf brummte, meine Gedanken purzelten durcheinander, und ich war völlig fertig. Obendrein war ich zutiefst beeindruckt von Gille. Was diese Frau alles längst hinter sich hatte! Sie war von dieser engagierten, vorlauten Sorte, die überall da, wo soziales Engagement nötig war, ihre Nase 'reinsteckte, die sich mit Psychologie befasste, Bürgerinitiativen gegründet und unterstützt hatte, immer laut und vorlaut und kämpferisch. Und anstrengend. Ich vermutete, dass viele Menschen sich ihr letztendlich gebeugt hatten, weil sie ihnen auf den Keks gegangen ist. Zutiefst beeindruckt schlief ich ein. Seltsamerweise ohne einen Gedanken daran, ob diese Bekanntschaft eine sexuelle Komponente bekommen könnte.
Das Frühstück nahm ich allein ein, sie kam nicht. Ein ganz kleines Bisschen enttäuscht packte ich meine Badetasche und machte mich auf den Weg zum Pool. Ich hatte keinen Bock auf Strand oder Ausflug und klemmte mir ein Buch unter die Nase. Es gelang mir aber nicht, mich darauf zu konzentrieren, sondern ich dachte eigentlich unentwegt über Gille nach. Immer und immer wieder sah ich zur Tür, ob sie nicht zum Pool käme.
Nee, nee, sagte ich mir, verliebt bin ich nicht. Aber ich hätte gern weiter mit ihr gequatscht. Ich muss eingenickt sein, denn sie weckte mich mit einem Stups gegen die Schultern.
"Was dagegen, wenn ich mich zu dir lege?" Sie packte allerlei Kram aus ihrer Riesentasche aus, Bücher, Cremes, Kugelschreiber, Schminktäschchen. Meine Güte, dachte ich, jetzt noch den Fernseher! Was sie nicht tat. Sie schmierte sich sorgfältig mit den verschiedenen Cremes ein, eine besondere fürs Gesicht, eine andere für die Hände, eine für den Körper, wobei sie mich bat, ihr den Rücken einzureiben. Es war mir ein bisschen unangenehm, weil ich nicht wusste, was ich empfinden würde. Aber sie hatte einfach den weichen, fleischigen Rücken einer Frau über fünfzig. Mehr geschah in mir nicht. Sie beäugte mich:
"Was hast du denn da für eine Narbe?" und deutete auf meine linke Brust. Jessas, diese Narbe war so gut wie unsichtbar, schließlich war ich bei einem Brustspezialisten gewesen. Aber Klein-Adlerauge sah alles. Ich erzählte ihr die Geschichte von der Operation. Sie kramte in ihrer Tasche und holte ein Bächlein hervor mit dem Titel: Das Buch vom Es, Psychoanalytische Briefe an eine Freundin, von Georg Groddeck. Sodann hielt sie mir einen langen Vortrag über Herrn Groddeck und seine Erkenntnisse über den Zusammenhang von Seele und Krankheit. Und aus der Geschichte mit meiner Brustdrüsenentzündung stellte sie schnell den Zusammenhang zu meiner Aversion gegen das Frausein her. Ihrer festen Überzeugung nach konnte ich nur lesbisch sein, mich gegen meine Brüste wehren, und deshalb hatte sich die eine entzündet. Innerlich, denn ich bin ein höflicher Mensch, zeigte ich ihr einen Vogel, und fragte mich, warum mein Körper mit dieser Abwehrmaßnahme wohl dreißig Jahre gewartet hatte.
Nun, ich ging großzügig darüber hinweg, zumal wir auch über Dinge wie Theater, Filme, Politik und dergleichen sprachen. Sie fragte mich nach Berlin aus, nach der grenzenlosen Freude, die wir doch alle nach dem Fall der Mauer empfinden müssten und war nachgerade erschlagen von der Heftigkeit, mit der ich das verneinte. "Wir sind nun mal kein Volk. Stell dir vor, du musst mir vierzig einen heiraten, den du nicht kennst, und das soll eine Liebesehe sein."
"Typisch deutsche Spießer," brummte Gille und sah mich verächtlich an, "du bist doch eben nur eine spießige kleine Lesbe." Es ärgerte mich maßlos, dass sie mich immerzu eine Lesbe nannte. Irgendwie ist das ein ordinäres Wort. Sie bekleisterte sich erneut mit Sonnencreme und erzählte mir endlos lang und breit was von ihrer empfindlichen Haut und ihrer Akne und bla bla. Das hätte ich nun wieder nicht gedacht. Wahrscheinlich hatte ihr Groddeck dafür auch eine Erklärung. Aber es tat mir gut, dass sie in ihrer scheinbaren Unverletzlichkeit und Souveränität doch eine schwache Stelle hatte. Akne. Mit fünfzig! Dass ich nicht lache!
"Ich weiß auch, woher das kommt," brummelte sie, "Groddeck sagt, dass jemand, der sich von seiner Pubertätsakne nicht trennen kann, sich selbst entstellen möchte. Verstehst, die Sibille ist eine sehr schöne Frau, aber pottenlangweilig. Sie hat keine Ausstrahlung, also stürzen sich alle Gäste und Männer vor allem immer auf mich, und Sibille macht mir deshalb Vorwürfe, ich tät' ihr alle Männer ausspannen. Mein Gott, die Frau ist fünfunddreißig und hat null Selbstbewusstsein. Dreimal am Tag muss man ihr sagen, dass sie gut aussieht. Sie ist halt nur ein bisschen einfach. - Also entstelle ich mich, damit sich die Kerle auf Sibille stürzen." Das klang unglaublich eingebildet. SOOO schön bist du auch wieder nicht, meine Liebe, dachte ich und amüsierte mich ein wenig über ihre Selbstüberschätzung.
Klar hatte Gille Ausstrahlung, ungeheuer sogar, aber sie war auch anstrengend. Im Laufe dieses Tages, den wir miteinander verbrachten, begriff ich, dass sie alles und jedes analysierte und mit Groddeck in Verbindung brachte. Sie hatte mehrere Bücher von ihm gelesen und damit den Schlüssel zur Rettung der Welt in der Hand. Wenn ich recht verstand, knallte sie gnadenlos allen Menschen ihre Wahrheit vor den Latz, ob das nun verletzte oder nicht. Wahrheit vor allem, Wahrheit und Ehrlichkeit, und das, was sie dafür hielt. Das ging zum Beispiel so:
"Bäh, wenn ich mir vorstelle, ich müsste mit einer Frau schlaffen, ich könnt' mich schütteln." Sie brachte immerzu das Gespräch auf dieses Thema und protzte mit ihrer lesbischen Kellnerin und ihrer Toleranz ihr gegenüber.
"Normal ist, wenn Mann und Frau miteinander schlafen. Hast du überhaupt mal mit einem Mann gebumst? Ein richtiger Schwanz" ich zuckte zusammen, weil Gille generell in diesem Marschbefehlston blökte, und schaute mich vorsichtig um. Sie bemerkte das und gackerte.
"Gell, da bist du spießig. Solche Ausdrücke benutzt man nur flüsternd. Verklemmte Sexualität. Ich sage dir, mit dir und deiner Sexualität ist mehr nicht in Ordnung, als du zugeben willst."
Oder:
"Wie ist das eigentlich, wenn man eine Frau leckt? Wie schmeckt das denn?" Ich rollte hochroten Kopfes vor Entsetzen vom Liegestuhl und verschluckte mich am Rauch meiner Zigarette.
"Du kannst mir doch nicht weismachen wollen, dass du das noch nie gemacht hast. Geh, du siehst genau so aus wie meine Kellnerin. Verstell dich doch nicht." Es war eine Qual. Sie war unglaublich! Manchmal sprach sie wie eine Professorin, im nächsten Augenblick wieder wie eine ordinäre Hafennutte. Aber ich nach einem durchschwatzten Tag todmüde ins Bett fiel, war ich dennoch sehr angetan von ihr. Solch einen direkten und ehrlichen Menschen hatte ich noch nicht erlebt. Sie sprach genau das aus, was sie im Moment dachte, und sie sprach es auch aus, wie sie es dachte. Das hatte ich noch bei keiner Frau erlebt. Sie war ein katastrophales Erdbeben!
Am nächsten Morgen unter der Dusche überlegte ich, ob ich wohl mit ihr würde schlafen wollen und können? Und diese Frage konnte ich entschieden verneinen. Es war etwas an ihr, was mich abhielt - oder abstieß? Da war zum einen dieses fürchterliche Gebiss! Wie konnte solch eine Frau mit diesen verhunzten gelben Zahnstummeln herumlaufen? Ich würde sie nicht einmal küssen können, soviel stand nun mal fest. Ihre Figur war für ihr Alter tadellos, ein bisschen mollig, aber nur ein ganz kleines bisschen. Eigentlich sah sie fest und handlich aus, mit prallen, nicht zu großen Brüsten, einem ordentlichen Hintern, und Krampfadern hatte sie auch nicht.
"Höchstens im Gehirn," seufzte ich vor mich hin. Sie war anstrengend, ungemein, aber interessant. Im gleichen Maße, wie mich ihre Groddeck-Vorträge nervten, faszinierten mich die Berichte aus ihrem Leben und ihrer Kneipe. Darüber hinaus waren alle Menschen beschissen, Ausnahme: Nina und Tom.
Ein wenig nagte sie auch an meinem Selbstbewusstsein. Wenn ich ihr glauben sollte, war mein Leben nichts weiter als ein einziger Pfusch. Jemand, der spießig jeden Tag ins Büro ging, war in ihren Augen nicht normal. Meine Beteuerung, dass mir die Arbeit Spaß machte, wurde beiseite gewischt, war Zwang, von dem ich fälschlicherweise glaubte, er sei eine Freude. Mein gutes Einvernehmen mit Rosa war nichts weiter die erzwungene Solidarität unter Sklaven. Und die Tatsache, dass ich nicht zugeben wollte, lesbisch zu sein, zeigte meine kleinbürgerliche spießige Moral, deren Opfer ich war und Opfer der Erziehung meiner Eltern und Opfer der Gesellschaft und Opfer vermutlich von Bundeskanzler Kohl.
Ich begann, mich zur Wehr zu setzen. Das machte unsere Unterhaltungen sehr viel spannender. Ich begann, um mich zu schlagen, natürlich nur mit Worten, und nachdem ich ordentlich in den Schubladen meiner Halbbildung herumgekramt hatte, konnte ich ihr durchaus auch Paroli bieten. Und irgendwann knallte ich ihr auch an den Latz, dass ich lesbisch war, und dass sie das letzten Endes einen Dreck anging.
"Ha," brüllte sie triumphierend, "wusste ich's doch! Meine Güte, bist du verklemmt! Warum leugnest du denn das? Dazu muss man doch stehen."
"Klar," brüllte ich zurück, übrigens waren wir zu einer einsamen Bucht gewandert; dieses Geschrei vor Publikum, und ich wäre ins Meer gestiegen und nie wieder herausgekommen!
"Ich hänge mir ein Schild um den Hals, damit Weiber wie du kommen und sagen können: Äh, ein Schwanz ist doch was viel Besseres! Den Teufel werd ich. Du hast die Toleranz, was das betrifft, auch nicht gerade gepachtet."
"Bah, diese ganze Scheiße mit den Schwulen und Lesben, das ist doch nicht natürlich. Es gehören nun mal Männer und Frauen zusammen, was glaubst du wohl, warum die Männer einen Schwanz haben und die Frauen nicht? Das ist so eingerichtet, weil es natürlich ist. Homosexualität ist eine psychische Erkrankung, ihr gehört alle zur Therapie. - Uah, nie im Leben könnte ich mit einer Frau schlafen. Allein bei der Vorstellung schüttelt es mich."
Ihre Direktheit traf mich zutiefst. Sie behandelte mich, als täte ich etwas unglaublich Widerliches.
"Ich verstehe dich nicht," warf ich ein, "du bist also tolerant, du hast nichts gegen deine Kellnerin, du beschäftigst dich mit Psychologie, aber widersprichst Freud und deinem Groddeck und sonstigen Größen, die in der Homosexualität keine Krankheit sehen - wenn man mal vom Papst absieht -, und dann sitzt du andererseits da und sagst bäh und ihgitt. Wie passt das zusammen? Bist du mal bei einer Frau abgeblitzt? Du beschäftigst dich offensichtlich sehr und häufig mit diesem Thema, dass es verdächtig ist. Willst du und traust dich nicht, oder was oder wie?"
Daraufhin fuhr sie beinahe aus dem Frack vor Wut, und ich feixte mir eins. Wahrscheinlich hatte ich den Nagel auf den Kopf getroffen. Na warte, Mädchen, dachte ich, du bist auch nur ganz normal durchschaubar.
"Weißt du, was ich ganz traurig finde," meinte sie nach einer Redepause, während der wir uns schweratmend beruhigt hatten, indem wir beide beleidigt und brütend aufs Meer schauten, "meine Tochter hat mal gesagt, sie würde mit einer Frau ins Bett gehen, wenn sie sich verlieben würde. Und Sibille hat es getan. Aber es hat ihr keinen Spaß gemacht, sagt sie. Was kann denn daran auch schön sein? Erklär mir`s doch mal. Was ist daran besonderes?"
"Ich glaube, eure Kellnerin hat euren Hormonhaushalt ganz schön durcheinandergebracht," grinste ich, "kann es sein, dass bei euch daheim nur noch über dieses Thema geredet wird? Ich meine, rund zwei Drittel unserer Gespräche drehen sich doch nur um das Thema Sexualität und Lesbischsein. Habt ihr alle einen Notstand?"
"Quatsch," fuhr sie mir über's Maul, "natürlich setzen wir uns mit diesem Thema auseinander, aber doch nicht immerzu. Übrigens sagt Groddeck..."
"Oh nein, nicht schon wieder!" rief ich stöhnend aus und hielt mir die Ohren zu, "Nicht Herr Groddeck. - Ich kann dir vielleicht besser als dein Herr Groddeck beschreiben, wie es ist, mit einer Frau zu schlafen, quatsch, wie es als Frau ist, mit einer Frau zu schlafen, denn Herr Groddeck war natürlich nicht schwul und weiß daher, wie es ist, mit einer Frau zu schlafen."
"Du bist mir zu unseriös," nölte sie beleidigt. Wieder Schweigepause.
Dann ich: "Ich weiß gar nicht, wie ich dir das beschreiben soll. Es ist einfach schön. Es ist warm, weich, zärtlich, unheimlich erotisch."
"Ist es mit einem Mann auch," brummte sie unwirsch.
"Aber Frauen sind weicher."
"Dicke Männer sind auch weich." Aha, unser Gespräch bekam ernsthafte Konturen...
"Frauen haben weiche Brüste."
"Haben dicke Männer auch."
"Frauen haben keine Schwänze."
"Dicke Männer haben meistens auch keine, oder nur sehr kleine."
Jetzt lachten wir beide.
"Woher kommt das eigentlich?" fragte ich sie, "Es ist mir in der Sauna aufgefallen, dass die Dicken meistens nur ganz kleine Dinger haben. Wird da die Haut für den Bauch gebraucht?" Wir lachten uns scheckig bei dieser Vorstellung. Sie rollte sich auf den Bauch, stützte ihr Kinn in die Hände und schaute mich aufmerksam und nachdenklich an.
"Schade, dass du kein Kerl bist. Ich wünschte mir einen Kerl mit deinem Grips. Das Schlimme bei ihnen ist, dass sie meistens nur ans Bumsen denken."
"Ach, und du nicht?" höhnte ich, "Wir sprechen doch seit Tagen über nichts anderes."
"Blödkopp!"
"Danke, selber Blödkopp. Und außerdem bin ich froh, dass ich kein Kerl bin. Ich mag mich als Frau, und die Frauen mögen mich auch als Frau."
"Bist du eigentlich der Mann in einer Beziehung?"
"Quatsch, alles Vorurteil. Eine Frau, die in Hosen rumrennt, ist deshalb noch lange kein Mann und fühlt auch nicht wie einer. Ich fühle mich jedenfalls als Frau, auch wenn ich mich sportlich kleide. Das tun Millionen Heterofrauen auch, ohne dass man ihnen Männlichkeitswahn unterstellt. Falls du meinst, ich hole die Kohlen aus dem Keller und liege immer oben - no."
"Erzähl mal, wie du Frauen anmachst. Ich war mal mit unserer Kellnerin in einer Lesbenkneipe, grässlich sage ich dir, die spinnen alle, die Weiber, das sage ich dir, aber natürlich hat sie sich vor mir nicht getraut, mit einer Braut zu flirten. Wie machst du denn das?"
"Meine Güte, kannst du doof fragen! Wie machst du denn einen Kerl an? Plinkerst mit den Augen, wackelst mit dem Hintern, oder wie? Verstehst du, wir machen das alles genau wir ihr. Wir sind nämlich Frauen! Einfach so. Man sieht sich, man gefällt sich, man geht miteinander, man schläft miteinander. Genau wie ihr. Capito?" Nerv!
Dennoch war sie wunderbar! Die Tage vergingen wie im Fluge, wir schwatzten und schwatzten und schwatzten, wir wanderten gemeinsam über die Strände und durch Ibiza-Noche, wir lästerten über die Menschen und gingen in Discos. Wir amüsierten uns prächtig. "Schade, dass du kein Kerl bist," häufig geäußerter Stoßseufzer von Gille, und ich versicherte ihr: "Ich habe mich in dich verliebt, aber völlig platonisch. Du bist eine tolle Frau, und es ist das erste Mal, dass ich eine tolle Frau kennen gelernt habe, mit der ich nicht schlafen will."
"Ach geh, natürlich willst du mit mir schlafen. Das sagst du doch jetzt nur, weil du weißt, dass ich so was nie tun würde."
"Nein, du irrst dich!" beschwor ich sie und dachte an ihr Gebiss. Uah! Ich kann nicht erklären, was mich davon abhielt, in Verbindung mit Gille an Sex zu denken, aber mir kam dieser Gedanke wirklich nicht. Vielleicht lag es daran, dass sie wirklich keine Schnake war. Ich versuchte, ihr das zu erklären:
"Vielleicht liegt es daran, dass ich mich noch nie toll mit einer Frau verstanden und unterhalten habe. Bisher habe ich mich immer nur amüsiert und alles mehr oder weniger hingenommen."
"Mh, das wird's sein, ich hab mir längst gedacht, dass du sehr oberflächlich bist." Peng. Solcherart Ohrfeigen bekam ich immerzu von ihr, und das machte mich rasend. Häufig gelang es ihr, mich in einem Licht darzustellen, in dem ich mich partout nie habe sehen können: Leichtlebig, oberflächlich, konsumorientiert, unpolitisch, unkritisch und und und, und viele Bezeichnungen begannen mit 'un'.
"Hör mal, ich mache dir hier eine nette Liebeserklärung, und du ballerst mir dafür eine," beschwerte ich mich erbost.
"Entschuldige," knurrte sie, sie war wirklich äußerst charmant, nie habe ich eine Frau erlebt, die sich mehr gehen ließ! "ich bin wahrscheinlich ein bisschen stinkig, weil du morgen nach Hause fährst."
Ich hatte am Nachmittag meine Siebensachen zusammengepackt, während Gille, auf der Bettkante hockend, mir traurig zusah.
"Was machst du, wenn du nach Hause kommst?" fragte sie, "natürlich wirst du erst mal allen erzählen, was für eine grässliche Heterofrau du im Urlaub kennengelernst hast, alt und voller Akne..."
"....und vor allem, dass sie ein Rad ab hat, werde ich erzählen."
"Und schließlich gehst du wieder in deine Weiberdiscos und reißt Miezen auf. Ich kann mir richtig vorstellen, wie du das machst. Du siehst prima aus, und sie werden wahrscheinlich auf dich fliegen."
"Ach, Quatsch. Ich hab ganz andere Sorgen. Ich bin in den Wechseljahren und habe keinen Bock auf One-Night-Stands. Ich suche sozusagen die Frau fürs Leben." Sie brach in schallendes Gelächter aus.
"Du, Wechseljahre? Ich lach mich kaputt. Du jungsches Ding! Mit solchen Sachen spaßt man nicht. Sei froh, dass du damit noch keine Probleme hast. Ich sage dir, das ist kein Zustand, in dem man sich kaputtlachen möchte."
"Ich bin in den Wechseljahren!" beteuerte ich, "Diagnose aus dem Krankenhaus." Damit waren in ein Gespräch über die Nebenwirkungen wie Hitzewellen verwickelt, und ich konnte ihr den wunderbar wirksamen Tipp mit dem Ginseng vererben, den sie auch sehr dankbar annahm. Aha, gnädige Frau hatten also noch einen Schwachpunkt! Unser wirklich ernsthaftes Gespräch von Frau zu Frau gipfelte in Gilles mütterlicher Empfehlung, dass ich mich jetzt bloß nicht krampfhaft auf Partnerinnensuche machen sollte. Das würde mir nur den Blick verstellen, und Panik sei ein schlechter Berater in Herzensdingen. Sprach hier jemand aus Erfahrung? Geduldig hörte ich zu, wusste ich doch selbst viel besser, dass ich ihren Ratschlägen nicht würde folgen können, weil mir die Zeit davonlief.
Nach dem Abendessen gingen wir ein wenig spazieren und setzten uns in ein kleines Strandlokal. Wir waren beide in gedrückter Stimmung. Mir tat es ehrlich leid, Gille und auch diese schöne Insel zu verlassen. Ich hatte mich prächtig erholt und bon amüsiert, was ich natürlich zu einem großen Teil auch Gille zu verdanken hatte. Dieser Volkshochschulkurs war mit Abstand besser gewesen als der von dieser Bücherschnake mit ihrem Dildo! Übrigens war ich Gottseidank diskret genug gewesen, Gille davon nicht zu erzählen!
Gemütlich tranken wir ein Gläschen Wein nach dem anderen und taperten kurz nach Mitternacht zum Hotel zurück. Der Mond schien silbern auf das Meer, vom Hafen her war der Lärm von Ibiza-Noche zu hören.
Mir war richtig romantisch zumute, und traurig war ich auch. Auf dieser Insel hätte ich noch wochenlang bleiben können. Die Sonne war mein Metier, das Meer, die Wärme, die Natürlichkeit der Einheimischen, das karge Landleben. Die konnten was froh sein, dass sie keine Ost-Ibizenkos hatten! Ich lachte bei diesem Gedanken und erzählte ihn Gille auf ihren fragenden Blick hin.
"Mir ist nicht zum Lachen," brummte sie. Sie machte ein richtig böses Gesicht. Es gab Dinge, die von ihr nicht zu beeinflussen waren, und das machte sie rasend. Die große Sternenlenkerin konnte meine Abreise nicht verhindern, und deshalb war sie sauer.
Sie legte den Arm um und den Kopf an meine Schulter. Das ging ganz gut, weil sie etwas kleiner als ich war. Sie schwankte ein wenig, hatte wohl das eine oder andere Gläschen zuviel getrunken. Plötzlich blieb sie stehen.
"Hör mal, wir könnten es hier am Strand machen." Sie sprach etwas undeutlich.
"Was machen?" Ich kam ehrlich aus dem Mustopf, ich schwöre es.
"Bumsen. Ich will mit dir bumsen."
Sie hätte auch sagen können: Ich will mit dir schwimmen, das wäre ähnlich romantisch gewesen. Ich lachte unsicher. "Na los," brabbelte sie und umklammerte mich, "ich will endlich wissen, wie das ist. Na, mach doch."
"Gott, bist du romantisch," murmelte ich, weil ich nicht recht wusste, was das Ganze sollte. Wollte sie mich veräppeln? Sie fummelte an ihrer Bluse und begann, sie aufzuknöpfen. Ich sah ihr ratlos zu und spottete schließlich: "Fehlt nur noch, dass du stöhnend sagst: nimm mich."
Sie sah mich unsicher an und fragte mit etwas schwerer Zunge: "Sagt man das? - Wenn ich mit einem Kerl zusammen bin, sage ich einfach, los, fick mich." Ich zuckte zusammen. Vielleicht war es meine gute Erziehung, vielleicht war ich aber auch wirklich nur spießig - jedenfalls brachten mich diese Ausdrücke jedes Mal in Verlegenheit.
"Komm," sagte ich beschwichtigend, "las bleiben. Was soll denn jetzt der Quatsch? Du willst nicht, und ich will auch nicht. Meinst du, du musst mir ein Abschiedsgeschenk machen? Ist nicht nötig. Las die Klamotten an und komm ins Hotel. Ist doch albern."
Ich wollte weitergehen, doch sie klammerte sich an mich und machte sich schwer: "Bleib, ich will's doch versuchen. Hier am Strand, nicht in einem doofen Hotelbett."
Ich blieb flapsig: "Ach, Quatsch, da kriegt man nur das Maul voll Sand. Ist doch ätzend."
Sie nestelte weiterhin an ihrer Kleidung und hatte die Bluse bereits geöffnet. Mir schauderte. Was zum Teufel war mit dieser Frau los? Ich wollte nicht mit ihr schlafen. Weder am Strand noch in einem Bett noch sonst wo. Sie war toll auf ihre ganz besondere Art, und ich bewunderte sie, aber ich konnte mit ihr nicht schlafen. Etwas in mir wehrte sich dagegen, obwohl ich Liebe am Strand immer mal hatte ausprobieren wollen. Aber Gille wollte eben auch nur ausprobieren. Das war's!
Ich erinnerte mich sehr wohl daran, wie angewidert sie über lesbische Liebespraktiken gesprochen hatte. Nein, sie sollte sich nicht daheim damit brüsten, dass sie mit mir erste Versuche angestellt hatte. Ich wollte auch nicht meine gute Erinnerung daran versauen, dass ich eine Frau kennen- und lieben gelernt hatte, ohne mit ihr zu schlafen.
Und außerdem hatte sie diese Zähne!
"Komm, wir gehen heim," ich legte meinen Arm um sie und wollte sie mitziehen. Sie bockte und versuchte, die Bluse auszuziehen.
"Gille, lass den Quatsch! Ich will nicht mit dir schlafen. Komm, oder ich lass dich hier allein zurück." Mir war die ganze Sache peinlich, und ich hätte vor Wut heulen können, weil mein Denkmal im Begriff war, sich selbst zu demolieren.
"Nein," brüllte sie laut, dass man sie vermutlich in der Altstadt hören konnte, "du bleibst jetzt hier. Mich hat noch keiner zurückgestoßen. Wenn ich mit einem Kerl bumsen will, ist er dankbar dafür. Was bildest du dir eigentlich ein?"
"Ich bin aber kein Kerl, und ich will mit dir nicht bumsen. Ich lasse mich doch nicht zwingen. Glaubst du, bei Lesben ist das ein Zeitvertreib wie Kartenspielen? Wir haben auch Gefühle. Lass es bleiben, wie es war. Mach nicht alles kaputt." Sie ließ sich in den Sand fallen und begann, ihre Hose auszuziehen.
"Bleib hier!" brüllte sie, "Warte!"
Ich ging langsam in Richtung Hotel, unsagbar traurig und mit schwerem Herzen. Warum tat sie das? Warum machte sie alles kaputt? Ich konnte nicht mit ihr schlafen, es ging nicht. Sie war abstoßend in diesem Zustand, und ich hatte sie auf andere Weise geliebt, ganz platonisch. Einige hundert Meter von ihr entfernt setzte ich mich in den Sand und wartete, weil ich es nicht übers Herz brachte, sie allein und schutzlos zurückzulassen. Ich steckte mir eine Zigarette an und wartete, dummerweise heulte ich dabei, aber vielleicht war’s auch nur vom Zigarettenrauch, der mir in die Augen gestiegen war. Meine Enttäuschung war abgrundtief, noch tiefer als abgrundtief. War diese Frau sexbesessen? Hatte das etwas mit dem Alter zu tun? Benahm ich mich etwa auch geil und liebeshungrig?
"Niemals!" schwor ich mir, "Niemals werde ich mich so benehmen, und wenn ich vor Geilheit aus der Hose platze!" Diese blöde Schnake, warum hatte sie uns wehgetan?
Eine Stunde oder später kam sie näher, Bluse und Hose über die Schulter geworfen, die Schuhe in der Hand. Mit hocherhobenem Kopf und unsicheren Schritten ging sie an mir vorbei. Ich stand auf, klopfte mir den Sand aus der Hose und folgte ihr: "Ey, warum sprichst du nicht mit mir? Geht es dir wieder besser?"
Sie sah mich hochmütig an: "Eines merk dir: Mich lässt niemand abblitzen. Niemand, weder ein Kerl noch ein Weib. Das vergesse ich dir nie." Damit ging sie weiter. Ich blieb wie vor den Kopf gestoßen stehen. Hatte die einen Knall? Die war wohl völlig übergeschnappt. "Ich glaube, ich steh im Wald."
Ich kratzte mich am Kopf, wartete, bis sie im Hotel verschwunden war und ging ebenfalls hinein. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich noch einmal bei ihr klopfen, ein Gespräch versuchen sollte, aber als ich vor ihrer Zimmertür stand, hörte ich sie schnarchen, und zwar grässlichst.
"Na, denn nicht." Achselzuckend ging ich in mein Zimmer, duschte, legte mich rauchend aufs Bett und grübelte darüber nach, ob ich lachen oder weinen sollte.
"Schnaken," sagte ich, bevor ich das Licht löschte, "Schnaken."
Ich sah sie nicht mehr wieder. Gille kam nicht zum Frühstück herunter, sie öffnete auf mein Klopfen nicht, und sie ließ sich auch nicht blicken, als mich der Bus zum Flughafen brachte. Mit gemischten Gefühlen verließ ich Ibiza. Mir war, als hätte ich etwas gelernt, aber ich wusste noch nicht genau, was es war. Vom Flugzeug aus sah ich noch einmal auf die Insel herunter und dachte an Gille, die sich womöglich jetzt auf die Suche nach einem Kerl zum Bumsen machte.
In den ersten Tagen nach meiner Heimkehr weinte ich mich bei den drei mich umgebenden Frauen mit unterschiedlichem Erfolg aus. Für Rosa hatte ich mein Erlebnis mit Gille in ein entsprechendes mit einem Mann umgewandelt, und während ich voller Entrüstung davon erzählte, merkte ich, wie seltsam sich das anhörte. "Stell dir das doch nur mal vor!" wetterte ich in ihr ratloses Gesicht, "da blökt der Mensch am Strand herum, dass er mit mir schlafen will und..." ich wurde leiser und leiser und still.
"Wo liegt das Problem?" fragte Rosa kopfschüttelnd, "ich denke, du suchst den Partner fürs Leben? Und mit einem Mal führst du dich wie eine Jungfrau auf und machst hier einen auf Moral, von wegen Sex vor der Ehe ist nicht."
Ich musste zugeben, dass die Geschlechtsumwandlung meiner Geschichte überhaupt nicht bekommen war. Irgendwann, eines Tages, schwor ich mir, werde ich Rosa die nackte Wahrheit ins Gesicht werfen, und dann wird sie sich mit Sicherheit vor Erschütterung auf ihrem Computer verhacken!
Mein Theachen reagierte natürlich tröstend: "Hatte die denn wirklich schreckliche Zähne?" Ich verdrehte die Augen: als ob es an den Zähnen gelegen hatte!
"Nein, verdammt, ich habe sie als Mensch geschätzt, verstehst du? Ich gucke eine Frau an und mag sie, ohne an Sex zu denken, und was macht die? Meine Illusionen kaputt? Mann, die war richtig toll, klug, anders als alle die Schnaken, die ich bis jetzt kennen gelernt habe. Aber letztendlich wollte sie mich auch nur benutzen." Im Nachhinein war ich noch einmal tief erschüttert. Mich als Sexualobjekt anzusehen und benutzen zu wollen!
"Ich weiß nicht, was du willst," murmelte Thea und sah mich seltsam an. Sie hatte manchmal diesen Krankenschwesternblick, ich meine, Krankenschwester im Irrenhaus, und mit demselben bedachte sie mich.
"Ich meine, du willst nicht allein bleiben, du suchst die Frau fürs Leben, die soll gut aussehen, die soll klug sein, möglichst Knete haben, kurz und gut: Niveau. Du triffst eine im Urlaub, die will dich sogar, und was tust du? Machst einen auf moralisch und entrüstet und gekränkt und in der Seele verletzt..."
"...hör auf, du verstehst mich nicht. Begreife doch, ich wollte sie nur einfach als Mensch, nicht als Frau!"
"Na und? Dir dürfte nicht entgangen sein, dass Frauen auch in irgendeiner Weise, ich weiß natürlich nicht, in welcher, sexuelle Bedürfnisse haben. Warum, zum Teufel, gestattest du dieser Gille nicht auch die Rechte, die du dir nimmst? Nämlich mit einer Frauen bumsen zu wollen, wenn ihr danach ist?"
Es war zum Heulen. Das Blöde war, dass sie irgendwie recht hatte, und dass passte mir gar nicht. Wie sollte ich ihr nur erklären, was in mir vorgegangen war?
"Komm, meine Alte," sagte sie und legte mir ihren Arm um die Schulter, "nimms nicht tragisch. Die Zeit heilt alle Wunden, und..."
"Du redest wie Rosa," maulte ich, "Ich habe keine Zeit. Ich werde alt."
"Mann, Mann, Mann, ich sehe, dass du, wie dieser Typ in dem Western, hab vergessen, wie er hieß, einen Sarg mit dir herumschleppst, damit du, falls es dich plötzlich wegen Altersschwäche überkommt, gleich da hineinfallen kannst."
Mir war, als müsste ich ihr eine knallen. Mit Blick auf unsere langjährige und meistens harmonische Freundschaft unterließ ich dies jedoch. Seltsam, wie man sich in Menschen täuschen kann! Ich seufzte und fühlte mich nicht nur unverstanden, sondern auch schrecklich allein.
Meine gute mütterliche Freundin Elke hörte mir aufmerksam zu, ließ mir zwar auch nicht das erforderliche Mitgefühl zukommen, sprach aber nett und vernünftig zu mir. Will heißen, sie hielt mir einen langen Vortrag über die Vorzüge des Herrn Groddeck und bedauerte, dass ich ihn und sein segensreiches Schaffen unter diesen negativen Umständen kennen gelernt hatte. Während ich sie verliebt anhimmelte, gab sie mir den guten Rat, meine Suche nach der Partnerin fürs Leben entspannt und nicht weiterhin krampfhaft zu betreiben.
"Wenn du heiter in den Tag lebst und nicht suchst und wartest, macht es eines Tages von selbst "ping", und schwupp, steht sie vor dir, die Traumfrau." Copyright Barbara Cartland, dachte ich grimmig.
"Es macht unentwegt "ping, ping, ping", wenn ich vor dir stehe," seufzte ich mit gebrochenem Herzen, und sie versetzte mir einen Nasenstüber.
Gott, war ich verknallt. Warum hatte diese Frau nur eine Rüstung um ihr Herz gelegt? Woher nahm sie die Kraft, mir zu widerstehen?
"Woher nimmst du nur dir Kraft, mir zu widerstehen?"
"Ich gebe zu, dass es mir sehr, sehr schwer fällt," schmunzelte sie und fragte gleich danach: "hast du Lust, mit mir in die Sauna zu gehen?"
"Ich lass' mich wegen seelischer Grausamkeit von dir scheiden," brummte ich und lehnte ihr Angebot dankend ab. Natürlich war ich auf ihre Nacktheit neugierig, aber nicht beim Bad in der Menge, sondern in den Gefühlen.
"Schade," sagte sie, "würdest du mich eigentlich mit, äh, wie soll ich sagen, entschuldige, ich will dich nicht kränken, aber mit welchen Augen würdest du mich ansehen?"
"Mit meinen blauen," versicherte ich ihr treuherzig.
"Quatsch, du weißt, was ich meine! Also, würde ich als Sexobjekt auf dich wirken, ich meine, würde dich das anmachen? Also, wenn du ein Mann wärest, würdest du einen Ständer kriegen?"
Lieber Gott, hatte die Sorgen! Ich wurde ein wenig rot und antwortete: "Kann sein, weiß ich nicht." Wie konnte sie nur eine so doofe Frage stellen? Schließlich war ich doch eine Frau! Die Menschen hatten wirklich seltsame Vorstellungen vom Lesbischsein.
Mein Leben verrann. Die Vorstellung, dass meine Tage und Stunden in einer Eieruhr gesammelt waren und plötzlich im Zeitraffer durch die Enge in die untere Hälfte düsten, machte graue Haare auf meinem Gemüt. Ich verdankte es wohl meinem sonnigen Naturell, dass ich nicht richtiggehend schwermütig wurde, sondern immer nur , wenn es regnete oder die Sonne besonders warm schien oder Liebespaare in Rudeln auf meiner Nase herumtanzten. Gelegentlich tat ich etwas für meine Hormone, aber die Frau fürs Leben war noch nicht geboren oder längst ausgerottet. Und in Nullkommanichts kam der nächste Winter.
"Rosa, kann das sein, dass im Alter jeder Tag eigentlich zwei Tage sind?"
"Das sind Tage, von denen wir sagen: Sie gefallen uns nicht," psalmodierte sie, ohne ihre Buchhalterfingerchen von der Tastatur zu lösen, "Prediger, 12,1." Ja, ja, auch sie wurde älter, zitierte nun bereits aus der Bibel. Getröstet wandte ich mich wieder meiner Arbeit zu.
Meine drei Lebensberaterinnen fragten in unterschiedlichen Abständen, wann ich denn nun endlich zur Vorsorgeuntersuchung ginge, damit mir die erforderlichen Hormone verschrieben werden könnten, die meinen Verstand wieder in richtige Bahnen lenkten.
Doch ich weigerte mich strikt. Hormone kamen mir nicht in die Tüte. Schließlich hatten meine Fitness-Investitionen allmählich zu einer Verfestigung meiner knabenhaften Figur geführt, und diesen Erfolg wollte ich nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Ich war schlank und rank und sehnig, leicht gebräunt, nicht unechtkarottig wie die Hungerharken vom Aerobic, und sah trotz meines Alters einfach gut aus. Ganz zu schweigen von meiner Sprache, die - Elke sei Dank! - theaterreif war.
Am Silvestertag schaute ich trübetümpelig in den Spiegel und gestand mir: "In diesem Jahr bist du nun vierundvierzig geworden, und in einem Jahr bist du fünfundvierzig. Und dann?", und ich nahm mir für das kommende Jahr allerhand vor. Ich würde systematischer vorgehen müssen und vielleicht auch noch einmal meine Ansprüche überprüfen, da nicht damit zu rechnen war, dass ich entsprechende Angebote von Martina Navratilova oder Catherine Deneuve bekommen würde.
Ich hatte inzwischen drei kostbare Monate erfolglos vertan. Der nächste Sommerurlaub stand nur noch einige Meter weit entfernt vor der Tür, in diesem Jahr würde ich Mallorca versuchen, Cala d'Or. Ich hasste diese Touristenschwemmen, aber Elke hatte mir eindringlich klar-gemacht, dass mich exotische Urlaubsziele wie die Osterinseln nicht weiterbringen würden, und auch von Afrika riet sie mir ab, vermutlich wegen Aids, was sie aber nicht aussprach.
Müde schob ich mein Einkaufswägelchen durch den Supermarkt. Meine Vorräte waren zur Neige gegangen, und alles, was zur Neige ging, verursachte mir tiefste Schmerzen. Ich stellte mir vor, wie der liebe Gott oder sonst wer an den mir verbleibenden Tagen naschte, in unerträglich großen Stücken von meiner Lebenszeit abbiss, wie ich gewöhnlich von Schokolade. Der Tag war anstrengend gewesen, und ich stand vor der Tiefkühltruhe und überlegte, welche wunderbare Tiefkühlpizza ich mir zum Trost gönnen sollte.
Plötzlich erhielt ich einen derben Stoß von hinten, rutschte aus, und ehe ich mich halten konnte, lag ich bäuchlings im Kalten. Will heißen, ich fiel einfach in die Truhe. Ich verspürte einen stechenden Schmerz in Rippennähe und nasse Kälte an meiner Wange. Mein Gesicht war auf einen Stapel Pizza Quattro Stagione gebettet.
Wie sich später herausstellte, war das Zusammentreffen zweier unglücklicher Umstände für das Zustandekommen dieses lächerlichen Unfalls verantwortlich, denn lächerlich war er, das konnte ich an den Reaktionen meiner Mitmenschen hören. Sie lachten schallend, während ich bewegungslos, vor Schmerzen nicht atmen könnend, auf der Quattro Stagione verweilte.
Der eine Umstand war ein ungeschickter Mann, der mich mit seinem Hintern beim Zurücktreten vom Regal, es musste mehr ein Zurückspringen gewesen sein, in die Truhe beförderte, der andere Umstand war eine grüne Bohne, die sich auf dem Fußboden vor der Truhe zwar irrtümlich, aber dennoch häuslich eingerichtet hatte und auf der ich beim Versuch, mich zu fangen, ausgerutscht war.
"Herr Jesus! Sind Sie verletzt?" An dieser Stelle hätte ich jetzt ordnungsgemäß sagen müssen, dass mein Name nicht Herr Jesus, sondern Franziska Kruse war, aber mir war verständlicherweise nicht nach Ordnung. Ein männliches Gesicht näherte sich dem meinen. Gutaussehend, soweit ich das mit dem mir verbliebenen Auge feststellen konnte, denn das zweite klebte wie ein Lebensmittelprüfgerät an der Pizza. Er griff meinen Arm und versuchte vorsichtig, mir aus der Truhe zu helfen. Ächzend richtete ich mich auf. Die Truhe war umzingelt von grinsenden und lachenden Mitmenschen und ratlos bis empört dreinblickendem Verkaufspersonal. Komisch, wenn man die brauchte, waren sie nie zu sehen, dachte ich.
Der Mann, der aussah wie aus einer Herrenunterwäschereklame entsprungen, womit ich nicht meine, dass er etwa so gekleidet war, legte seine Arme um meine Schultern und unter meine Kniekehlen und hob mich aus der Truhe.
"Die Spionin, die aus der Kälte kam," schmunzelte er und stellte mich ab. "Ich bitte vielmals um Entschuldigung für meine Ungeschicklichkeit. Sind Sie verletzt?" Er hatte eine angenehme Stimme, sprach aber ein wenig feminin. Ein Schwuler, schoss es mir durch den kühlen Kopf.
"Es geht," versuchte ich zu grinsen, "ein bisschen kalt ist mir's. Und die Rippen tun mir weh."
"Soll ich Sie vorsichtshalber in ein Krankenhaus fahren?" fragte er fürsorglich und legte seine wunderbar manikürte Hand auf meinen Unterarm.
"Ach, i wo, es geht," wehrte ich ab, aber beim Luftholen piekte es in der linken Rippenpartie.
Der Filialleiter nahm eine Unfallanzeige auf, und der Mann, er stellte sich als Andreas Kern vor, half ihm dabei. Er sah wirklich toll aus, groß, schlank, dunkelhaarig mit dunklen Augen, und er hatte etwas unübersehbar Feminines, dass es gar keinen Zweifel daran gab, dass er schwul war. Die Art und Weise, wie er mir ab und zu zuzwinkerte, ließ keinen Zweifel daran, dass er mich für eine Lesbe hielt.
Nachdem wir die Formalitäten hinter uns gebracht hatten, nahm Herr Kern in die eine Hand meinen Arm und die andere meine Einkaufstasche und bestimmte: "Ich bringe Sie selbstverständlich nach Hause. - Vielleicht sollten Sie sich aber doch lieber röntgen lassen." Ersteres ließ ich zu, zweiteres lehnte ich ab.
"Empfindlich bin ich nicht, ich kann was vertragen," erklärte ich ihm, "vermutlich habe ich nur eine Prellung."
Seltsamerweise fuhr mein Unterwäschenmodel nur einen kleinen uralten VW-Käfer. Kruse, befahl ich mir, lass deine Vorurteile.
Ich dirigierte das stotternde Uralt-Geschoss in Richtung Heimat und konnte und wollte nicht verhindern, dass Herr Kern mich mitsamt meinen Einkäufen in die Wohnung expedierte. Gottseidank hatte ich aufgeräumt, alles war nett und ordentlich, und ich musste mich nicht schämen. Nachdem ich ihm gezeigt hatte, wo alles stand, kochte er uns einen Kaffee, deckte den Tisch und verwöhnte mich. Ich war ganz hingerissen. Mit dezenter Neugier schaute er sich bei mir um, durchstöberte nach einem "Darf ich mal?" den Schallplattenhaufen, ließ den Blick über meine drei bis acht Bücher schweifen und nickte hier und da.
Er war Verkäufer bei einem Herrenausstatter. Und gelegentlich Model, zwar nicht für Herrenunterwäsche, sondern für Anzüge, aber immerhin, mein Adlerauge hatte mich nicht getrogen. Er plauderte angenehm über seine Arbeit, erzählte, dass er gern in die Oper und ins Ballett ging, Kino liebte und Fußball gar nicht.
"Was tun Sie denn?" fragte er schließlich, "Ich rede unentwegt nur von mir, Sie müssen mich wirklich für einen ausgesprochen dämlichen Typen halten."
"Ganz und gar nicht," versicherte ich ihm und erzählte von meinem Verlag und anderen Dingen mehr. Nebenbei gab ich ein wenig mit meiner Freundin, der Schauspielerin an, und siehe da, Herr Kern hatte sie sogar im Theater gesehen.
Wir verplauderten uns geradezu. Irgendwann hatte er gemeint: "Sagen Sie, ich will nicht aufdringlich sein, aber wollen wir nicht du sagen?" Damit war ich einverstanden, und eine Weile später sagte er:
"Sag mal, wie du aussiehst... Du bist doch eine Lesbe, oder? Entschuldige, ich will dir nicht zu nahe treten. Wenn du nicht antworten willst..."
"Klar," antwortete ich gönnerhaft, "und du bist schwul, gelle?"
Wir nickten gleichzeitig und lachten . Andi, er bestand auf der deutschen Sprechweise, nicht Ändy, war zwei Jahre älter als ich und zur Zeit allein. Schnell stellten wir Gemeinsamkeiten fest: Auch er glaubte sich in einem Alter, in dem es an der Zeit war, nach dem Mann fürs Leben zu suchen, und er hatte dabei die gleichen Schwierigkeiten wie ich. Allerdings suchte er nicht nach einem tennisspielenden Schauspieler, sondern einfach nach einem netten treuen Mann. Wenigstens sagte er nicht 'Boy'.
Je länger wir miteinander redeten, desto sanfter und weiblicher wurden seine Stimme und Ausdrucksweise. Als wir uns nach Stunden voneinander verabschiedeten, war ich restlos begeistert. Der tollste Mann, der mir je begegnet war, allerdings war das keine echte Leistung, denn allzu viele Männer hatte es natürlich in meinem Leben noch nicht gegeben.
Wir verabredeten uns fürs Kino, er hatte einen tollen Film entdeckt.
Hochbeglückt hängte ich mich ans Telefon und rief Thea an: "Du glaubst es nicht, ich habe einen ganz tollen Mann kennen gelernt. - Wo? Sozusagen in der Tiefkühltruhe. Wir sind für übermorgen verabredet. - Natürlich ist er schwul, um so besser."
Leider störte ich bei einem Film und bei Michael, einem neuen Taxifahrer.
Elke hingegen, mit dem stets mütterlich offenen Ohr, lobte mich: "Toll, dass du ihn nicht gleich im Supermarkt vor den Kopf gestoßen hast." Was glaubte denn die von mir?
"Hör mal, ich bin schließlich keine Männerhasserin."
"Ach, ich dachte."
Der Film, den wir uns einige Tage später ansahen, rührte mich zu Tode. "Gefangene" handelte von einem Frauengefängnis, alle Gefangenen saßen in Einzelzellen, und Annie Girardot spielte eine Gefangene, die auf Kosten der anderen mit der Direktorin kungelte. Eine junge Gefängnisinsassin verliebte sich in eine ältere, die diese Liebe zunächst ablehnt, aber die Naivität und Spontaneität der Jüngeren siegte schließlich über das Vorurteil der Älteren. Die Beiden trafen sich nach einer Chorprobe hinter der Bühne. Die Ältere erwartete die Jüngere mit einem seligen Gesichtsausdruck, nahm sie, als sie kam, in die Arme, starrte sie atemlos vor Glück an, plötzlich umarmten sie sich und herzten sich, und die Szene blendete aus.
Mir brach es beinahe das Herz, und ich seufzte tief. Andi nahm meine Hand und flüsterte: "Auf diese Weise geliebt zu werden, das muss irre sein." Er sprach mir aus der Seele. Einmal in meinem Leben sollte mich eine Frau voller Liebe, Glück und Sehnsucht anschauen, einmal nur, danach könnte ich für immer glücklich sein. Später, wir gingen noch in eine Kneipe, sagte ich zu Andi: "Diese kleine dumme Szene hat mir deutlich gemacht, dass ich das, was ich eigentlich möchte, bisher noch nicht erlebt habe. Ich habe immer nur olympiareif gebumst. Klar, ich war immer ein bisschen verknallt, aber nie so - so tief. Nie so, dass ich vor Glück hätte platzen können. Nie leise und tief drinnen, sondern immer irgendwie laut und oberflächlich. - Vielleicht kann ich gar nicht richtig lieben? Oder keine Frauen richtig lieben?"
Andi streichelte fürsorglich meine Hand und schaute mir tief in die Augen: "Weißt du, diese Frage ich mir oft in meinem Leben gestellt. Alle meine Kumpels haben diese Beziehungskistenprobleme. Ich kenne kein Paar, das länger als zehn Jahre zusammen war oder ist. Lieben wir nun oberflächlicher als die Heteros, oder woran liegt das?" Diese Frage konnte ich ihm auch nicht beantworten, ich hatte lediglich die gleiche Beobachtung bei den Frauenbeziehungen gemacht. Aber war Liebe nicht Liebe, ganz gleich, wer wen liebte?
"Weißt du," gestand ich ihm, "es ist schrecklich, dass ich neuerdings immer das Gefühl habe, dass mir das Leben zwischen den Fingern zerrinnt. Ich fühle mich manchmal furchtbar alt, dabei bin ich zweiundvierzig. Wahrscheinlich liegt es an den Wechseljahren, aber wenn die mit solchen Scheißgefühlen verbunden sind, möchte ich gern darauf verzichten."
Andi lächelte: "Dann bin ich aber auch in den Wechseljahren, denn ich fühle genau das Gleiche. Es ist saublöde, dass mit zunehmendem Alter die Zeit immer schneller verrinnt. Meine Mutter hat sich früher immer darüber beklagt, und ich fand sie albern. Aber mich kann ich heute gar nicht albern finden."
Man stelle sich vor, da saß dieses alternde Pärchen in einer kleinen Kneipe, hielt sich bei den Händen und schloss mit dem Leben ab. Ich lachte trocken. Auf seinen fragenden Blick hin veröffentlichte ich meine Gedanken, und er meinte: "Wahrscheinlich hast du gar nicht mal Unrecht."
Dieses alternde Pärchen traf sich von nun an regelmäßig. Ich genoss Andis Gesellschaft, er war allzu oft fröhlich und guter Dinge, hatte ein ähnlich sonniges Gemüt wie ich, wir unternahmen Fahrradtouren ins Brandenburgische, und ich konnte mich wenigstens mit der Ostlandschaft, wenn auch nicht mit den Ost-Schnaken anfreunden. Ein nettes Land hatten sie jedenfalls!
Andi führte mich in die Oper. Zu diesem Zwecke kaufte ich mir sogar einen Damensmoking, und ich vermute mal, dass wir ein tolles Paar waren. Er erklärte mir den Inhalt der Opern, die wir uns ansahen, denn vom Text verstand ich immer nur Bahnhof. Immerhin gingen mir manche der Melodien ans Herz, dass diese Kulturunternehmungen nicht ganz für die Katz waren. Wir besuchten Theaterstücke und Ballettabende, und Elke war entzückt über meinen kulturellen Wandel.
"Trotzdem werde ich keine Dame," maulte ich sie an, denn natürlich machte mich das alles in ihren Augen nicht liebenswert, im wahrsten Sinne des Wortes. Wir saßen in der Frühlingssonne in Bikinis in ihrem Garten und hörten dem Frühlingserwachen zu, was mich melancholisch stimmte.
"Sogar die Vögel vögeln," brummte ich, und es gelang mir, auf ihren tadelnden Blick hin einen roten Kopf zu kriegen.
"Hast du eigentlich nichts anderes im Sinn? " fragte sie. "Erzähl mal von deinem Andi. Könntest du dir vorstellen, mit ihm ins Bett zu gehen?"
"Bist du wahnsinnig? Der Mann ist stockschwul! Der ist ein richtiger Freund, einer, der mir nicht an die Wäsche will. Ich finde das sehr beruhigend." Ich schmollte und schwieg.
Elke räkelte sich auf ihrem Liegestuhl, und ich bewunderte ihre tadellose Figur. Hoffentlich sah ich in zehn Jahren auch noch toll aus! Ihr Anblick regte mich auf. Warum, verdammt noch mal, konnte diese Frau meinem Werben widerstehen?
"Ach, meine Elke, wann wirst du mich erhören? Mir ist nicht nach Andi, mir ist nach der Frau meines Lebens. Und die hat nun mal hundertprozentig Ähnlichkeit mit dir."
"Mäuschen, lass das doch! Ich finde es nett, dass du mich bewunderst, aber es bringt doch nichts. Du machst mich nur unsicher, wenn du das sagst. Sieh mal, ich liege hier halbnackt vor dir herum und denke, dass ich doch unnötig aufreize. Ich will mich aber nicht deinetwegen angezogen in die Sonne setzen."
Ich sollte sie erwürgen, dann wäre ich ein Problem los, dachte ich und seufzte noch einmal sehr tief.
"Was ist?"
"Nichts, ich erwürge dich nur gerade in Gedanken."
"Na, dann ist's gut."
"Nicht wahr?"
Andi und ich beschlossen, dass er ebenfalls eine Reise nach Cala d'Or buchen sollte, wir wollten den Urlaub gemeinsam verbringen. Wir gingen zum Reisebüro, und es stellte sich heraus, dass in dem von mir gebuchten Hotel kein Einzelzimmer mehr frei war. Also buchten wir nach kurzer Beratung ein Doppelzimmer. Warum auch nicht, schließlich bestand für keinen von uns die Gefahr, dass wir uns etwas antun würden.
Rosa kommentierte meine Reisepläne nicht mit einem Sprichwort, sondern mit der schlichten Feststellung: "Na, hoffentlich ist es der Richtige." Schnake! Thea freute sich ganz einfach. Vielleicht bedauerte sie ein wenig, dass ich keinen Taxifahrer erwischt hatte. Elke, die Bösartige, kommentierte unsere Reisepläne wie folgt: "Mh, nun wirst du mich also mit einem Mann betrügen. Darüber muss ich mal ernsthaft nachdenken."
"Du spielst mit mir," klagte ich laut, "Ich würde sofort mit dir verreisen, wenn du nur einen Ton sagst."
"Im Doppelzimmer, im Doppelbett..." lachte sie vielsagend.
Cala d'Or war ein entzückender Ort, der nicht viel von den bekannten Schrecknissen Mallorcas aufzuweisen hatte. Keine Hochhaushotels, keine hunderttausende dicker deutscher Touristen, weil: es gab nicht besonders viel Strand. Und, oh Wunder, ich musste nicht am Katzentisch Platz nehmen, sondern Andi und ich wurden höflich an einen netten Tisch geleitet, an dem bereits nette Leute saßen, nette Kellner bedienten uns zuvorkommend, und last but not least hatten wir auch ein nettes Zimmer. Den ersten Abend verbrachten wir mit unseren Tischnachbarn an der Bar; ein Ehepaar aus Frankfurt, modern, aufgeschlossen, weltoffen: er bei der Bank beschäftigt, sie als Vorzimmerdame eines Chemiebosses. Wenn meine Leute mich gehört hätten an jenem Abend: wir plauderten über Politik, Kultur, Kunst, Opern und Quark mit Sauce, und ich war die kluge, gebildete, kleine Frau eines klugen, gebildeten, gutaussehenden Mannes. Klar, dass ich im Verlagswesen und mein Lebensgefährte in der Herrenoberbekleidungsbranche beschäftigt war. Im Urlaub muss man halt immer ein paar Gramm dazutun, nicht richtig lügen, aber auch nicht richtig die Wahrheit sagen.
Es war eine ungeheure Erfahrung für mich, den Unterschied zwischen einer alleinreisenden maskulinen Lesbe und einer sportlichen Lebensgefährtin festzustellen. Ich wurde überall wie eine Königin behandelt. Merkwürdig, wie sich die Leute anstellen, wenn man wenigstens den Schein wahrt... Und wie sie uns anhimmelten!
Andi hatte einen Traumkörper, und am Strand liefen die Augen der Damen auf Hochtouren. Dass mir die Männer nachgafften, war ich gewohnt. "Andi, wenn wir uns an einer Miss- oder Mister-Wahl beteiligen würden: wir würden glatt den ersten Preis machen," ich lachte ihn bewundernd an, selten hatte ich mich dermaßen wohl gefühlt wie in der Gegenwart dieses umschwärmten Mannes. Und ich feixte mir eines, wenn ich daran dachte, dass Andi für die Damenwelt ebenso hoffnungslos verloren war wie ich für die Herrenwelt.
Wir hatten den Abend in fröhlicher Gesellschaft in einer Disco verbracht und saßen noch auf einen Drink auf der Bettkante.
"Sag mal," fragte Andi, "hast du eigentlich mal mit einem Mann geschlafen?"
"Klar," sagte ich, "Ich bin keine Jungfrau mehr. Aber ich fand's nicht toll. - Und wie ist das mit dir?"
"Ich hab schon mit einem Mann geschlafen," kicherte er, "nein, im Ernst, mit einer Frau habe ich noch nie. Und ich überlege mir seit einigen Tagen, ob wir es nicht einmal versuchen sollten. Weißt du, ich mag dich sehr, dass ich mir vorstellen könnte, mir dir zu schlafen." Ich schluckte schwer und schwieg. Er sah mich fragend an und meinte nach einer Weile:
"Na, was ist?"
"Ach, Junge," sagte ich, "es ist nicht sehr romantisch, wenn du es vorher sozusagen schriftlich mit drei Durchschlägen ankündigst. Entweder ergibt es sich, oder es ergibt sich nicht."
"Ich wollte dich nicht kränken, ich wollte nur einfach mal vorfühlen, wie du überhaupt dazu stehst," gestand er kleinlaut; ging ins Bad und rumorte dort herum. Ich war wütend. Selbst wenn ich solchen Gedanken gegenüber nicht grundsätzlich abgeneigt war, denn ich mochte Andi wirklich sehr gern, würde ich ihm diesen Gefallen ganz gewiss nicht an diesem Abend tun. Schließlich hatte ich keine Bestellpraxis! Und war kein Experimentierkasten oder wie diese Dinge hießen, mit denen die Jungs immer herummachten, wie es krachte. Knalltüte!
Also warf ich beleidigt den Hintern rum und stellte ich schlafend. Andi kam ins Bett, hauchte mir einen Kuss auf die Schulter und flüsterte: "Entschuldige. Ich bin wirklich ein Kamel." Was ich schweigend quittierte. Aus! Heute Nacht nicht!
Gottseidank trübte diese Geschichte nicht unsere ausgelassene Laune der nächsten Tage. Wir machten uns einen Riesenspaß daraus, das verliebte Turteltaubenehepaar zu spielen, und zwar, wie wir es aus unzähligen Filmschnulzen kannten. Ganze Kleintierparks wurden hervor beschworen: meine Maus, mein Häschen, mein Flöhchen, mein Fröschlein, wir suchten kichernd nach immer neuen Bezeichnungen für uns, hielten uns an den Händen, gaben uns Küsschen aufs Öhrchen, und die Menschen betrachteten uns entzückt, denn sie können sich am offen-sichtlichen Flitterwochenglück gutaussehender Leute ungemein erfreuen. Es bereicherte offenbar ihr Leben. Vermutlich hätten sie es nicht sehr genießen können, wenn Andi mit Brad Pitt und ich mit Angelina Jolie oder ...
Drei, vier Abende später rutschte Andi im Bett ganz nahe an mich heran und fuhr mit der Fingerspitze über meinen Oberarm. Dieser Spur ließ er seine Lippen folgen, und ich löste Großalarm aus. Sämtliche Sirenen heulten, und in diesem Inferno überlegte ich, ob ich sie abstellen sollte.
"Bei mir schrillen sämtliche Alarmglocken," kicherte ich, "soll ich sie abstellen?" Er legte seine Arme um mich und knabberte an meinem Ohr: "Mach mal. Bist du didaktisch begabt? Du musst mir irgendwie ein bisschen helfen, ich bin ziemlich blöde."
Gott, war dieses Mannsbild romantisch! Und weil es das war, kam mir natürlich auch der Gedanke an seine vergangenen Sexualerlebnisse. Ich richtete mich auf: "Sag mal, würde es dich sehr kränken, wenn ich auf einem Kondom bestehe?" Damit waren wir in Sachen Romantik quitt.
Es war eine irre Nacht! Natürlich klappte gar nichts, weil ich mich bereits halb totlachen musste, als ich versuchte, darauf hatte ich bestanden, das Kondom über seinen Schwanz zu ziehen.
"Ihr habt da wirklich ein merkwürdiges Körperteil," kicherte ich, während das Ding hin- und herwackelte.
"So sieht das aus, wenn meine Freundin Thea versucht, in ihre zu engen Leggings zu kommen."
"Schöner Vergleich, aua, zieh nicht daran herum, das ist empfindlich!" Andi kicherte wie ein Schulmädchen und verdrehte die Augen.
"Sag mal, gibt es Kondome eigentlich in unterschiedlichen Größen? Größe sechsunddreißig oder vierundfünfzig? Eure Dinger sind doch auch unterschiedlich groß, oder? Und welche Größe hast du? - Hm, ich schätze, achtundfünfzig..."
"Hihihi, du spinnst. Hör auf, wenn ich lache, vergeht mir alles."
"Wie sieht das danach aus? Schrumpft der kleine Mann wieder zusammen? Hast du eigentlich einen Einfluss darauf? Ich meine, stell dir mal vor, du siehst in der U-Bahn einen ultrageilen Typen und wirst scharf. Wächst das Ding von allein, oder kannst du das steuern?"
Unaufgeklärte Frau, die ich war, hatte ich einige weltbewegende Fragen, die Andi alle nicht beantwortete, weil er vor Lachen nicht konnte. Wie auch immer: Es gelang gar nichts. Es regte mich nicht richtig auf, und ich kam nicht in Stimmung, obwohl Andi mich zärtlich mit seinen Händen bearbeitete.
"Es geht nicht," seufzte ich und drehte mich auf den Bauch. "Sei mir nicht böse, aber ich kann einfach nicht. Ich mag dich, ich finde dich toll, und es gefällt mir, mit dir zusammen zu sein, aber ich kann nicht mit dir schlafen. Sei mir nicht böse."
"Soll ich es dir anders machen?" fragte er fürsorglich, was ich wiederum rührend fand, aber dankend ablehnte. Solch übergroße Höflichkeit konnte ich nicht annehmen.
Was soll’s? Andi zog den Überzieher wieder aus und pustete ihn auf, bis er knallte. Wir kicherten wie zwei Bekloppte, machten das Licht aus und heftige Geräusche, jeder für sich unter der Bettdecke. Danach war Ruhe.
Braungebrannt und gut erholt trafen wir wieder in Berlin und im Alltag ein. Dieses Mal konnte ich Rosa Geschichten aus dem Urlaub erzählen, die in keiner Weise auch nur einen Funken Unwahrheit, oder besser, geschönter Wahrheit enthielten. Ich war auf eine seltsame Art glücklich, obwohl Andi der Frau meines Lebens überhaupt nicht glich. Wir verbrachten weiterhin einen Teil unserer Freizeit miteinander, sofern wir nicht getrennt voneinander, unsere Suche fortsetzten. Manchmal dachte ich darüber nach, was er wohl in seinen Schwulenkneipen trieb, ob und wie er Männer anmachte, oder ob er sich anmachen ließ, und wenn, von welcher Sorte Mann. Aber über diese Dinge sprachen wir überhaupt nicht. Ich hatte mich nie zu fragen getraut, wie er Sex mit Männern machte und es auch als angenehm empfunden, dass er mich diesbezüglich nie ausgefragt hatte. Er stellte mir seine Freunde nicht vor, ich ihm meine Freundinnen auch nicht.
Wenn wir zusammen waren, waren wir völlig allein auf der Welt.
Das höchste der Gefühle ließ er einmal heraus, als er schwärmend über den Tuntenball berichtete. Ich musste mir auf die Lippen beißen, um nicht loszuprusten, als er mir sein Abendkleid beschrieb, das er zu diesem Zweck hatte nähen lassen.
"Trägst du gerne Kleider?" hatte ich anteilnehmend gefragt, obwohl ich die kleidertragenden Jungs nie richtig für voll nehmen konnte.
"Natürlich! Ich könnte dich jetzt fragen, ob du gerne Hosen trägst..." er schaute ein wenig gekränkt drein. Ich verkniff mir die Entgegnung, dass dies etwas völlig anderes sei.
Es war längst wieder Herbst geworden, wir saßen daheim bei mir und hörten Musik und schwätzten bei einem Wein, als Andi meine beiden Hände in seine nahm, mir tief in die Augen schaute und sagte: "Weißt du, was ich mir überlegt habe? Lach mich jetzt bitte nicht aus. Aber ich finde, wir sollten heiraten."
Ich schluckte und schwieg verblüfft. Wahrscheinlich hatte ich mich verhört. Zweifelnd sah ich ihn an.
"Was sagst du da?"
"Ich finde, wir sollten heiraten. Sieh mal, wir verstehen uns doch blendend. Ich mag dich sehr, und ich glaube, du magst mich auch. Du lebst allein, ich auch. Warum sollen wir dem Staat die Steuern schenken? Wir hätten als Ehepaar doch nur Vorteile, auch in der Gesellschaft, das hast du doch im Urlaub erlebt. Keiner von uns wäre allein. Wir könnten uns eine richtig große Wohnung mieten und es uns gemütlich machen. Was die Liebe betrifft: Bei Partnerinnen oder Partnern hat jeder freie Hand und akzeptiert, was der andere tut. Wir könnten einen entsprechenden Ehevertrag aufsetzen, damit im Falle eines Falles niemand von uns einmal Nachteile haben könnte."
Ich schwieg. Das war zu viel auf einmal. Darüber musste ich erst nachdenken, und zwar in aller Ruhe und Gründlichkeit. Das sagte ich ihm, und er verstand mich.
"Die Idee ist wirklich nicht schlecht," sagte Thea mit vollem Mund und kicherte: "Wer hätte das gedacht, dass du noch einmal heiraten würdest!"
"Noch tue ich es nicht." maulte ich. "Weißt du, der Gedanke, an jemanden gebunden zu sein, ist mir ausgesprochen unbehaglich, trotz all der Freiheit, die Andi da einbauen will. 'Ne Ehe, das klingt endgültig."
"Drum prüfe, wer sich ewig bindet," sagte Rosa, und auf meine leise geäußerten Zweifel drehte sie das Sprichwort um: "Wenn du 'prüfe ewig, wer sich bindet' praktizierst, bleibst du vermutlich bis an dein Lebensende ledig. - In deinem Alter würde ich nicht lange zögern und zugreifen." Dabei sah sie mich mit einem Blick an, der bedeuten mochte: Dass dich überhaupt einer will...
Ich fuhr zu Elke raus und sprach mit ihr über die Geschichte. Sollte sie mein stummes Werben endlich erhören, würde ich lieber sie heiraten anstatt Andi. Der Gedanke belustigte mich, ich saß pfeifend in meinem Wägelchen und wünschte mir sehnlichst, dass Elke sich heute mit mir verloben würde.
"Du spinnst, Franz," stukte ich mich zurecht, "jetzt bist du wirklich völlig abgedreht."
Elke reagierte merkwürdig gleichgültig auf meine Geschichte. "Mach nur," munterte sie mich auf, " bist du wenigstens in guten Händen und kannst auf Schnakenjagd gehen, ohne dass deine Seele dabei Schaden nimmt." Peng, vermutlich hatte sie ihr Herz gerade ins Tiefkühlfach gelegt. Es gab diese Tage. Sie war ganz anders heute, und schließlich fragte ich sie, was denn los war.
"Ich gehe nach München," sagte sie. Einfach, knallhart, ohne Vorwarnung. Was hatte ich ihr angetan, dass sie mich derart schlecht behandelte?
"Bitte was?"
"Ich habe das Haus verkauft und ziehe nach München." Mein Herz schlug bis zum Hals, und ich hörte mir stumm eine Geschichte an, die ich nicht glauben mochte. Sie hatte heimlich, hinter meinem Rücken, vor Monaten ein Techtelmechtel mit einem Kerl angefangen, und mit dem wollte sie jetzt abhauen. Ich war sprachlos. Wo hatte ich nur meine Augen gehabt in letzter Zeit? Warum war mir das nicht aufgefallen? Was für eine dämliche oberflächliche Schnake war ich denn eigentlich? Es schnürte mir den Hals zu, und ich konnte nicht sprechen. Stattdessen verflüssigte sich meine Enttäuschung und brach in Form von Tränen aus mir hervor. Elke schaute mich verblüfft an.
"Warum weinst du denn? - Meine Güte, ich habe immer gedacht, du machst nur einen Joke. Du bist wirklich verknallt in mich? Mädchen, wie sinnlos. Komm in meine Arme, du Dummes." Sie breitete die Arme aus, aber ich wollte und konnte nicht. Sie sollte mich nicht berühren. Sollte sie doch ihren Kerl umarmen. Ich fühlte mich betrogen von ihr. Ein Strudel von wirren Gefühlen machte mich völlig kirre.
Sie tat das vermutlich einzig Richtige, sie lächelte feinsinnig und sagte: "Sieh mal, eigentlich könnten wir doch Doppelhochzeit feiern," und versetzte mir damit den endgültigen KO.
"Was, heiraten willst du den auch noch? Wie heißt er eigentlich, und wie alt ist er und wie sieht er aus?" Damit war auch bei mir das Eis gebrochen, und ich konnte wieder normal reagieren. Sollte sie doch zusehen, wie sie mit diesem Kerl zurechtkam! Wenn sie mich nicht wollte, entging ihr sowieso das ganz große Glück ihres Lebens. Rosa würde sagen: jeder ist seines Glückes Schmied, manchmal trafen diese altmodischen Sprichwörter unbedingt den Nagel auf den Kopf. Elke erzählte von ihrem Hans-Heinrich oder Klaus-Uwe oder wie der hieß, und ich erfuhr, dass sie bereits in vier Wochen die Stadt verlassen würde.
"Aber wir müssen uns noch schnell vorher verloben, der Andi und ich," sagte ich, "damit du noch dabei sein kannst." Mit einem Mal war mir klar, dass ich diese Schein-Ehe wollte. Vielleicht aber wollte ich auch nur Elke eines auswischen, weiß der Deibel, genau kannte ich mich auch wieder nicht.
Das war wirklich aufregend! Ich und meine Verlobung! In mir tummelten sich widersprüchlichste Gefühle: Freude und Zweifel in allen Variationen. Aber über allem thronte die Vernunft, die ich fälschlicherweise für die Mutter der Porzellankiste, hielt, und darum planten Andi und ich unsere Verlobung. Sie sollte in seiner Bude stattfinden, die etwas größer als meine war.
"Ich bin ganz neugierig auf deine Familie," sagte ich, und er schaute mich fragend an, "oder machen wir's ohne Familie?"
"Ohne! Sei nicht spießig. Willst du etwa deine Familie einladen, eine Art Kaffee- und Kuchenparty? Oh, bitte nicht. Ich dachte, wir laden deine Freundinnen und meine Freunde ein, und Basta." Na gut, dachte ich, Mutti würde sowieso immer nur Bahnhof verstehen. Mir war's auch lieber, ein weniger aufsehenerregendes Fest zu feiern. Die gesamten Vorbereitungen sollte ich Andi überlassen, der überaus glaubhaft versicherte, einer seiner Freunde arbeite bei einem Partyservice und würde alles arrangieren. Es sollte mir recht sein.
"Du kommst einfach mit deinen Leuten gegen acht Uhr abends, und dann geht die Party ab," meinte er und gab mir lächelnd ein liebevolles Küsschen.
Ich wünschte, ich hätte solch einen Bruder gehabt! Je näher der Tag und die Stunde rückten, desto glücklicher fühlte ich mich. Sicher hatten wir die richtige Entscheidung getroffen, Andi und ich; ich jedenfalls fühlte mich in seiner Gesellschaft wohl, geborgen und guter Dinge.
Wir hatten verabredet, dass wir, Elke, Ulrike, Rosa und ihr Mann sowie Thea und Werner, der Taxifahrer, uns bei mir daheim treffen wollten. Wir tranken ein Schlückele, damit sich die Herrschaften, die sich nicht kannten, miteinander vertraut machen konnten, und fuhren los. Vor dem Haus, in dem Andi wohnte, fanden wir keinen Parkplatz, was ungewöhnlich war. Offenbar hatte er eine große Anzahl von Gästen eingeladen. Natürlich war ich sehr neugierig, denn ich hatte bisher niemanden aus seinem Kreis kennen gelernt. Als wir schließlich Parkplätze gefunden hatten und uns zu Fuß dem Haus näherten, hörten wir bereits von weitem laute Musik. Die Party schien im vollen Gange zu sein. Aufgeregt lotste ich meine eigenen Gäste durchs Treppenhaus, wobei ich mir große Mühe gab, den tadelnden Blick von Rosa zu übersehen, die offenbar von derart temperamentvollen Feiern nicht viel hielt und mit einer gemütlichen Verlobung alten Stils gerechnet hatte.
Die Wohnungstür stand offen, und einen Treppenabsatz tiefer hörten wir Stimmengewirr, Gelächter, Gläserklingen und natürlich die Musik. Da war mächtig was los, und ich war stolz auf meinen Verlobten!
Zunächst entdeckte ich ihn gar nicht. Die Wohnung war zum Bersten angefüllt mit Menschen. Auf den ersten Blick glaubte ich, sogar Damen zu entdecken, aber als die erste uns entdeckte und mit dieser Mary-und-Gordy-Stimme "Hallo, ihr Süßen" ausrief, rann mir ein Schauer über den Rücken. Das war sofort klar: die Damen waren keine solchen, ganz entschieden nicht.
Irgendwie geschah alles ganz schnell, oder vielleicht auch ganz langsam, oder wie im Traum? Alptraum? Ich schaute mich entgeistert um, blickte dabei auch geradewegs ins Rosas noch mehr entgeistertes Gesicht, sah gleichzeitig Ulrike, die sich die Hand vor den Mund hielt, um nicht loszuprusten, und eine ratlos blickende Elke. Thea hingegen hielt offenbar Ausschau nach dem kalten Buffet, von dem ich ihr erzählt hatte.
"Wo ist Andi?" herrschte ich einen Typen an, der in engen Lederhosen aufreizend tanzte. Sein Oberkörper, ein wohlgeformter übrigens, war lediglich mit Hosenträgern bekleidet, und auf dem Kopf trug er keck ein Lederkäppi. Wie aus einem Film entsprungen, jawoll, so sah er aus. Dazu rief dieses Bürschchen mit piepsiger Stimme: "Andrea! Kinders! Wo ist denn unsere Süße? Aaaandiiii! Wo steckst du? Hach, ich weiß nicht, wo das Mädel wieder steckt. Wer bist denn du?"
Ich schubste ihn wutentbrannt beiseite. Das war wohl offensichtlich die falsche Veranstaltung!
"Weg da," herrschte ich eine Braut, oder war's ein Bräutigam?, an, "aus dem Weg. Das ist meine Party hier, verschwinde. Was soll denn das? - Wir sind doch hier nicht auf dem Tuntenball!"
Ich machte mich auf die Suche nach meinem Verlobten. Nach meiner Verlobten? Nach was?
"Hallo, mein Schatz, endlich kommst du," eine wirklich gutaussehende Frau kam mit weit ausgebreiteten Armen auf mich zu, und erst bei ganz genauem Hinsehen entdeckte ich, dass es Andis Zwillingsschwester sein musste. Zwillingsschwester? Davon hatte er mir nie erzählt. Ich landete in ihren Armen, schnupperte und roch - Andi. Steif wie ein Ladestock hing ich an seiner Brust und schaute in sein Gesicht. Das war Andi! Oder Andrea!
"Andi!"
Er trat einen Schritt zurück, hob die Arme, drehte sich hüftschwenkend um die eigene Achse und zwitscherte: "Wie gefalle ich dir? Sieht echt geil aus, nicht wahr?", und er sprach mit einer Stimme, als habe er die letzten Jahre seines Lebens in einem Mädchenpensionat verbracht. Andi trug einen rosafarbenen Fummel im Stile der Fünfziger, auf seinem Kopf war eine seltsame Peggy-Lee-oder-ähnlich-Frisur gewachsen, und er war wirklich professionell geschminkt. Er sah toll aus, aber ich starrte ihn entgeistert an.
"Wie gefallen dir meine Freunde?" zwitscherte das Ding, das ich heiraten wollte, weiter. Ich konnte es nur mit offenem Mund anstarren. Mir fehlten die Worte. Ich wusste nur eines: Das war nicht die Frau meines Lebens, mit der ich meine Rente verjuxen wollte!
Ohne ein Wort zu sagen, drehte ich mich auf dem Absatz um und floh. Alles, was sich mir in den Weg stellte, wurde beiseite geschubst, ich raste die Treppen hinunter auf die Straße, ohne auf die Rufe, die mir nachhallten, zu hören. Flüchtig hörte ich Rosa, die sagte: "Ach, das ist 'ne Party mit Verkleiden." Tränen stiegen mir in die Augen. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nicht gedemütigter gefühlt. Das war mehr als ich ertragen konnte.
Ich rannte in die dunkle Nacht hinaus. In irgendeinem Park hockte ich mich auf eine Bank und starrte mit brennenden Augen in den Himmel. Sogar der Mond feixte sich eins, er grinste wie Mona Lisa, und das machte mich noch wütender. Himmelnochmal, was hatte sich dieser Affe denn dabei gedacht? Wenn er sich eine Ehe unter diesem umgekehrten Vorzeichen gewünscht hatte, hätte er doch mir darüber sprechen müssen. Und trotzdem: Ich hätte keinen Typen geheiratet, der daheim in Kleidchen herumrennt. In Kleidchen habe ich lieber Frauen!
Spät in der Nacht kam ich nach Hause, ich war zu Fuß gegangen und hatte den Wagen bei Andi stehen gelassen. Auf dem Heimweg führte ich Selbstgespräche, in denen ich einmal meine Spießigkeit verfluchte, ein andermal Andis Spleen, von dem er mir nichts erzählt hatte. Nein, diesen Mann konnte und wollte ich nicht wiedersehen, und der Gedanke daran tat herzzerreißend weh. Weder in meinen klaren und unklaren Gedanken konnte ich mir vorstellen, mein Leben an seiner Seite zu verbringen, mit diesen ätzenden Freunden, die womöglich jede Woche einmal ein Teenager-Spätlese-Kaffeekränzchen oder aber eine Lederparty in meinem Wohnzimmer abzogen. Nee, da blieb ich lieber altmodisch!
Meine schnöde zurückgelassenen Freundinnen und, soweit vorhanden, deren Männer, warteten vor meiner Wohnungstür auf mich.
Sie saßen im Treppenhaus auf den Stufen und machten ebenso lange wie müde Gesichter. Selbst meine Rosa war noch vorhanden, Scheibenkleister!
"Na endlich. Wir dachten, du kommst gar nicht mehr, du wärest womöglich ins Wasser gegangen," rief Ulrike aus und sprang auf. "Junge, Junge, was war denn das für ein Auftritt? Warum bist du abgehauen?"
Ich schloss die Wohnung auf und ließ alle herein. Nachdem wir mit Getränken versorgt waren, starrten sie mich erwartungsvoll an. Vor allem Rosas Miene verstörte mich. Ihr Gesicht war voller laut schreiender Fragen, wobei es gleichzeitig beleidigt aussah. Sie war schließlich die erste, die etwas sagte: "Äh, was ist denn nun eigentlich los hier? Könnte mir das bitte mal jemand erklären? - Das war wohl keine Faschingsparty?"
"Weiß Gott nicht," kicherte Ulrike, und ich erwürgte sie in Gedanken. "Komm, Fränzchen, pack aus. Deine arme Rosa hier ist die einzige, die überhaupt nicht weiß, was los ist."
"Da wäre ich mir nicht sicher," sagte jene mit spitzer Stimme, "Es ist war doch offensichtlich, dass Franziska im Begriff war, sich mit einem Schwulen zu verloben. Und nun ist sie sauer, weil der Kleidchen trug. Wenn sie immerzu Hosen trägt, ist das natürlich ganz etwas anderes." Spott und Hohn trieften rechts und links aus ihren Mundwinkeln, und wäre ich ein Cowboy, ich hätte sie sofort niedergeknallt. Statt dessen wurde ich rot und stotterte: "Wie meinst du das?"
"Genau, wie ich es gesagt habe. Glaubst du, ich wäre völlig bescheuert? Dass du auf Frauen stehst, habe ich bereits bei deinem Vorstellungsgespräch im Verlag gemerkt, aber es ist mir wurscht, und wenn du darüber nicht reden willst, ist das schließlich deine Sache. Was ich nicht verstehe, ist, dass du deinem Andi nicht die gleichen Rechte zubilligst wie dir. Zugegeben, eine Frau in Hosen wirkt nicht so, so- ähm, merkwürdig, wie ein Mann in Frauenkleidern, doch du musst zugeben, er sah einfach umwerfend aus. Eine Traumfrau!"
Au, tat das weh! Elke und Ulrike schlugen ungefähr in die gleiche Kerbe, oder sagen wir lieber, sie piekten in der gleichen Wunde herum, und zwar genüsslich sadistisch.
"Mann, ich weiß, dass ich spießig bin, aber ich kann eben nicht anders. Tut mir leid für Andi, tut mir leid für euch, tut mir leid für mich, aber ich kann nicht über meinen Schatten springen. Er hätte wenigstens vorher mal einen Ton sagen können, auf diese Überraschung hätte ich liebend gern verzichtet." Wir quatschten noch eine Weile über dieses Thema, und schließlich wurde es auf meinen strengen Befehl hin abgehakt. Ich würde mein Gespräch mit Andi haben, das schwor ich mir, und ansonsten war die Sache für heute erledigt.
Wir legten ein paar heftige CDs auf und tanzten und feierten eine Verlobungsfeier, die ihresgleichen wohl auf der Welt suchen mochte. Selbst Rosa und ihr Mann tobten ausgelassen durch meine Bude, ich tanzte mit Elke, was sich wundervoll anfühlte, ich tanzte mit Ulrike, was ich kannte, und tanzte mit Thea, für die meine Arme zu kurz waren... Ich tanzte mit den beiden anwesenden Herren, die ihre Scheu, mich zu berühren ganz schnell abgelegt hatten, sogar enge Blues, und ich amüsierte mich bon. Auch ohne meine Verlobte.
"Hör mal, deine Elke ist süß," tuschelte Ulrike mir ins Ohr, "die gefällt mir. Habt ihr ...?" Ich sah sie böse an und sagte: "Nein, wir haben nicht, und du lässt die Finger von ihr. Sie hat überhaupt noch nie mit Frauen, und mir gebührt das Recht der ersten Nacht." Mit einem Kichern entschwand sie, Elke in die Küche hinterher. Oh, die böse Eifersucht nagte an mir. Wenn ich alle Pleiten der letzten Jahre zusammenzählte, war ich sicher, dass Ulrike ihnen eine weitere würde hinzufügen können. Wenn die meine Elke verführte, würde ich nie wieder ein Wort mit ihr reden, weder mit Ulrike noch mit Elke. Ich würde ins Kloster gehen!
Als ich am Morgen aufwachte, tat mir der Kopf weh, und ich wusste überhaupt nicht, wie ich ins Bett gekommen war. Ein Blick an mir herunter zeigte mir, dass sich niemand die Mühe gemacht hatte, mich auszuziehen. Herzlose Bande. Neben mir grunzte jemand, und als ich mich umdrehte, war es Elke. Meine Elke lag neben mir, ebenfalls in voller Montur.
Oh Gott, sie lag da wie ein Engel! Wunderschön! Endlich lag sie in meinem Bett. Und was hatte ich Kamel getan? Meinen Rausch ausgeschlafen, anstatt sie zu aufs kunstvollste zu verführen.
Leise stand ich auf und wankte durch ein Riesenchaos in die Küche. Die ordentliche Rosa hatte ein Briefchen hinterlegt, auf dem geschrieben stand: "Es war doch noch eine tolle Fete. Du siehst, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben," und ich musste schmunzeln. Ich kochte Kaffee und deckte den Frühstückstisch. Plötzlich stand Elke hinter mir, legte den Kopf auf meine Schulter und schnurrte: "Guten Morgen. Hm, bin ich noch müde. - Schade, dass das nicht von einer Liebesnacht ist... Du bist mir eine schöne Verführerin! Wenn du wirklich in mich verliebt wärest... Statt dessen werde ich wach, liege vollständig angekleidet in deinem Bett, und du schnarchst neben mir wie ein Holzfäller."
Zutiefst verwundet sah ich sie an: "Sag nicht das nicht. Verulken kann ich mich allein. Glaubst du, ich falle über dich her, während du wehrlos und hoffnungslos besoffen im Bett liegst? - Ach, mein Elkchen, warum sind wir nur kein Paar geworden?"
"Das weißt du doch, mein Fränzchen. Ich kann nicht." Sie setzte sich seufzend, und ich verfluchte ihre Feigheit. Vielleicht hatte sie Angst, dass sie zu alt für mich war. Aber ich wagte nicht, sie danach zu fragen. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte ich eine Schnake meiner Wohnung geworfen, weil sie der Meinung gewesen war, ich sei zu alt...
Mein Gespräch mit Andi verlief in abgekühlter Freundschaft. Ich warf ihm vor, dass er mir vorher hätte Bescheid sagen müssen, in welchem Outfit er unsere Verlobung hatte feiern wollen, und er warf mir vor, ich hätte mich die ganze Zeit verstellt und meine unerträgliche Spießigkeit vor ihm verborgen. Das Schlimme an seinen Vorwürfen war, dass er recht hatte. Aber ich war nicht in der Lage, ihm zu erklären, weshalb ich nicht über meinen Schatten springen konnte. Vielleicht war es eine Folge meiner Erziehung, ich wusste es nicht. Jedenfalls hatte ich mich immer noch nicht von dem Schock erholt, und das Gefühl, hoffnungslos der Lächerlichkeit preisgegeben worden zu sein, nagte an mir wie wild. Zu guter Letzt warf er mir vor, Schwule zu verachten und traf mich damit mitten ins Herz.
"Wenn du mir das wirklich unterstellst, sind wir wohl nicht füreinander geschaffen," brüllte ich und verließ türenknallend seine Wohnung. Damit war das Thema Andi und Hochzeit für immer und ewig den Bach hinunter. Er hatte eine unerträgliche Menge ausgesprochen garstiger Ausdrucke im Zusammenhang mit meinem Charakter benutzt, und die fand ich allesamt unverzeihlich.
Allerdings lief ich wochenlang mit einem schlechten Gefühl herum. War ich wirklich intolerant, wie er es mir vor-geworfen hatte? Selbstgerecht? Oberflächlich? Ignorant? Er hatte mir mangelnde Menschenkenntnis vorgeworfen, geboren aus einem grundsätzlichen Desinteresse an den Menschen, die mich umgaben.
Ob ich wollte oder nicht: Ich hatte schwer daran zu knabbern. Fühlte mich sogar eine Zeitlang wie ein aus-gesprochen dämliches Ekelpaket. Wahrscheinlich wurde ich dadurch zwar nicht richtig schwermütig, aber irgendwie ruhiger.
Elke hatte die Stadt und mich verlassen, war mitsamt aller sie umgebenden Lebewesen nach München verschwunden und hinterließ eine nicht zu füllende Lücke.
In der vagen Hoffnung, eine schwere Krankheit zu haben, die mich von meinem trübseligen irdischen Dasein erlösen würde, ging ich zu einer von Thea wärmstens empfohlenen Frauenärztin und war überrascht, wie asexuell diese Frau an mir herum hantierte. Der vielgefürchtete Stuhl erinnerte mich an den Beischlafverhinderer im Fitness-Studio und flößte mir gar keine Furcht ein. Im Gegenteil, ich musste mich sehr beherrschen, um ein automatisches Zusammendrücken der Beine zu verhindern! Es war zwar kein Dildo, der da in mich hineingeschoben wurde, aber ich musste an Bettina denken und konnte die Untersuchung unverkrampft hinter mich bringen.
"Weit und breit keine Spur von Wechseljahren," murmelte die Ärztin, denn ich hatte ihr zuvor davon erzählt.
"Wie bitte?" Ich war versucht, mich aufzurichten, aber das Spekulum steckte noch in mir. "Aber im Krankenhaus haben sie gesagt..." ich verstummte.
"Alles völlig normal und in Ordnung," sagte die Ärztin, "und wenn sie ihre Periode normal bekommen, gibt es keine Veranlassung, Hormone einzunehmen."
"Wirklich keine Wechseljahre?" fragte ich mit einem Anflug von Verzweiflung.
"Weit und breit nicht, selbst wenn ich ein Fernglas nehmen würde," lächelte Frau Doktor nun weise, "Seien Sie froh darüber." Wenn die wüsste, welche Qualen ich wegen der krankenhäuslichen Fehldiagnose erlitten hatte! Mein Leben war dahin, solange ich nicht wieder in der Lage war, mich zu mögen.
Draußen tobt ein unglaublicher Sturm. Wenn er mit dieser Furiosität während der ganzen Nacht weiter machte, würde morgen kein einziges Blatt mehr an irgendeinem Baum hängen. Diese lausigen Oktoberstürme räumen die Bäume mit einer Gründlichkeit kahl, die mich jedes Jahr aufs neue zutiefst betrübt.
Ich mag Winter nicht leiden, mochte ich nie, vielleicht, weil ich mir bereits zweimal das Bein gebrochen habe während des Schnees. Doch heute scheint mir das im Vergleich zu den Brüchen, die ich in den letzten zwei Jahren erlebt habe, wie Kleckerkram. Falls es schneit und ich mir das Bein breche: Es könnte schließlich auch möglich sein, dass ich im Krankenhaus eine nette Krankenschwester oder Ärztin kennen lerne, die der Frau meines Lebens gleicht. Jedenfalls gebe ich nicht auf!
ENDE
Text: Tom Josef Miehr
Images: Tom Josef Miehr
Publication Date: 09-07-2014
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