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30 Tage Sommer

Enya Steinbrecher

 

 

IMPRESSUM:

Enya Steinbrecher

Tennenbacherstr. 8

79276 Reute

 

© 2018 Enya Steinbrecher

2. Auflage

 

 

Coverfoto: Pixabay

 

 

Sämtliche Personen und Handlungen in diesem Buch sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind somit rein zufällig und nicht beabsichtigt. Dieses Buch, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung der Autorin nicht vervielfältigt oder weiterverbreitet werden.

Tag 1

Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich erstaunt fest, dass es bereits kurz nach neun war. Ich musste mich jetzt wirklich beeilen. Noch ein letztes Mal fuhr ich mir durch die Haare, nicht wirklich sicher, ob ich das Ergebnis dadurch verbesserte, oder verschlechterte. Dann griff ich meine Tasche und eilte in den Flur.

Lange hatte ich überlegt, was ich für den Abend anziehen sollte, und mich dann für ein nicht ganz so extravagantes Outfit entschieden. Die Jeans hatte ich am Morgen zuvor noch in der Schule angehabt, die Sneakers jedoch waren neu und die Bluse hing schon seit Wochen bei mir im Schrank, in der Hoffnung darauf, endlich genutzt zu werden. Entgegen meiner sonstigen Angewohnheit war ich geschminkt, zumindest waren die Wimpern getuscht und etwas Make-Up aufgetragen.

„Ich geh jetzt!“, rief ich in den Hausflur und bekam ein „Ist gut“ von meiner Mutter zur Antwort. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss und mit einem Blick auf die Uhr meines Handys beschleunigte ich meine Schritte. An der Bushaltestelle stand bereits mein Bus und ich begann, zu rennen. Der Fahrer sah mich kommen und wartete freundlicherweise auf mich. Vielleicht würde das heute ja ein ganz besonderer Abend werden. Er fing zumindest schon einmal gut an.

Der Bus war weder leer noch überfüllt. Ich ergatterte einen Fensterplatz und ließ meine kleine Tasche auf den leeren Sitzplatz daneben fallen. Die Tasche passte eigentlich nicht zu meinem Outfit, doch ich besaß keine andere. Es war das erste Mal, dass ich auf eine Party ging.

Meine drei besten Freunde und ich hatten beschlossen, unseren letzten Schultag gebührend zu feiern und uns deswegen in einer Disko verabredet. Es war nicht irgendein letzter Schultag, es war der letzte Schultag, der allerletzte von allen. Am kommenden Wochenende würde die Zeugnisvergabe stattfinden und dann hielten wir endlich das Dokument in Händen, das diesen Traum für immer bestätigen würde: Wir hatten unser Abitur. Jetzt standen uns alle Türen weit offen, jetzt konnten wir es uns richtig gut gehen lassen.

Meine Freundinnen Katie und Maisie planten eine Weltreise. Lou würde die nächsten sechs Monate in Indonesien einen Freiwilligendienst absolvieren, bevor sie ab dem Sommersemester hier Biologie studieren würde.

Für mich war es blöd gelaufen. Katie und Maisie hatten mich dabei haben wollen bei ihrer Weltreise, doch ich wollte kein ganzes Jahr von zu Hause weg. Lou ging mit ihrem Freund, weshalb ich mich nicht an sie halten wollte, auch wenn ich mich ebenfalls für den Freiwilligendienst interessiert hätte. Zu groß war jedoch die Angst, die beiden zu stören oder das fünfte Rad am Wagen zu sein.

Ich plante keinen Auslandsaufenthalt. Stattdessen wollte ich Mathe und Chemie auf Lehramt studieren – allerdings wie Lou erst ab April. Jetzt stand mir ein halbes Jahr bevor, in dem ich nicht wusste, was ich anfangen sollte. Allein wollte ich nicht weg, deswegen würde ich meinen Sommer wahrscheinlich hier zu Hause verbringen. Vielleicht würde ich irgendwann in ein paar Wochen anfangen, zu jobben. Dann würden meine Freunde Europa längst hinter sich gelassen haben. Katie und Maisie reisten nächsten Sonntag schon nach Kroatien, wo sie die ersten zwei Wochen verbringen würden. Lou und ihr Freund flogen am darauf folgenden Mittwoch. Dann wäre ich allein.

Ich verdrängte den Gedanken daran. Heute war unsere letzte Prüfung gewesen, und jetzt würden wir feiern. Wir hatten es verdient. Am Freitagabend dann würden wir unser Zeugnis in den Händen halten und immer noch nicht glauben können, dass das alles Wirklichkeit war.

Nie wieder Schule.

Nie wieder.

Der Bus hielt an der Endhaltestelle, und ich sprang raus. Als ich meine Freundinnen sah, fühlte ich mich etwas unwohl. Die drei waren perfekt gestylt, im Gegensatz zu mir. Katie trug sogar hohe Schuhe. Sie sagten nichts zu meinem Outfit, denn sie wussten, dass ich mich nicht gern herausputzte. Nach einer kurzen Begrüßung betraten wir das Etablissement. Die Musik war schon draußen laut gewesen, hier drinnen jedoch war nur der Gestank nach Schweiß und Zigaretten noch unerträglicher. Ich hatte das Gefühl, vor eine Wand zu laufen, als ich den ersten Atemzug machte und wäre am liebsten sofort wieder gegangen. Maisie jedoch las meinen Gesichtsausdruck und hielt mich fest.

„Vergiss es!“, rief sie mir über den dröhnenden Bass entgegen. „Du bleibst hier.“

Ich entgegnete nichts und ließ mich von ihnen zur Bar ziehen. Sie bestellte vier Malibu Maracuja, doch ich gab meinen an Katie weiter. Sie wussten doch in der Zwischenzeit alle, dass ich keinen Alkohol mochte. Stattdessen bestellte ich mir eine Cola.

„Probier doch mal“, forderte Katie mich auf und schob mir den Cocktail rüber, doch ich tat so, als würde ich sie über die laute Musik nicht verstehen. Verständnislos zuckte ich die Schultern und deutete auf meine Ohren, während ich meine Cola schlürfte.

„Lasst uns tanzen“, schlug ich daher vor, als die drei ihre leeren Cocktailgläser zurück auf die Theke stellten. Ich wollte ihnen nicht die Chance geben, noch mehr zu bestellen.

Trotz meiner miserablen Tanzkünste schnappte Lou sich meine Hand und zog mich auf die Tanzfläche. Sie hatte ihren Freund mitbringen wollen, doch Katie hatte ihr verständlich gemacht, dass das hier unser Abend war. Während ich versuchte, Lou nicht auf die Füße zu treten, schwangen Maisie und Katie zum Takt der Musik ihre Hüften und zogen dadurch einige Blicke auf sich. Meine Freundinnen störten sich daran nicht, doch ich wusste genau, wie die Blicke zu deuten waren und fühlte mich unwohl. Jetzt wusste ich, warum ich nie in eine Disko gegangen war. Abgesehen von der Luft, die unerträglich stickig war, mochte ich auch die Gestalten nicht, die sich in diesem Schuppen herumtrieben.

Ein Typ von der Statur eines Bären, der sicher doppelt so breit wie ich und von oben bis unten tätowiert war, blieb neben mir stehen. Die Basecap trug er falsch herum und darunter konnte ich kurz geschorene, dunkle Haare erkennen.

„Willst du tanzen?“, fragte er mich und griff bereits nach meinem Arm, ohne eine Antwort abzuwarten. Erstaunlich geschmeidig drehte ich mich zur Seite und er verfehlte mich. Als er mich überrascht anblickte, schüttelte ich nur schüchtern den Kopf und drängte mich wie ein verängstigtes Schaf an Lou. Meine Freundin sagte nichts und auch mein Gegenüber machte keinen zweiten Versuch. Er drehte sich um und ging in Richtung der Bar, wo er sein Glück bei einer Anderen versuchte. Ob er mehr Erfolg hatte, erfuhr ich nicht mehr, denn Lour zog mich wieder zu sich. SIe kicherte, was ich über die Musik nicht hören, sondern nur erahnen konnte.

„Was?“, fragte ich sie.

„Der war doch süß“, antwortete sie. Ich runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen hoch.

„Das solltest du besser nicht Phillip hören lassen“, entgegnete ich, und Lou verzog das Gesicht, als ich ihren Freund erwähnte. Ich wurde aufmerksam.

„Zoff?“, wollte ich wissen, doch sie schüttelte den Kopf und ging nicht weiter darauf ein. Vielleicht würde sie mir später etwas erzählen, wenn wir den Schuppen endlich verließen und wieder miteinander reden konnten.

Im Laufe des Abends wurden Katie, Maisie und Lou immer fröhlicher, was sicherlich nicht nur an der Musik, sondern vor allem an den Cocktails lag. Sogar mir drängten sie einen auf, und ich kippte ihn herunter. Eigentlich war er mir zu süß, und die bittere Note im Abgang gefiel mir auch nicht, doch ich wollte kein Spielverderber sein.

Die Mädchen gaben sich wirklich jede Menge Mühe, etwas zu finden, was mir schmeckte, so ließen sie mich fast sämtliche Cocktails und Longdrinks auf der Getränkekarte durchprobieren, ohne dass ich jedoch etwas fand, was mir zusagte. Gegen ein Uhr nachts waren wir dadurch jedoch merklich betrunken. Ich fand das Gefühl seltsam, war ich doch noch nie betrunken gewesen. Albern kannte ich mich gar nicht, doch jetzt war ich es.

Erst mit der Zeit drang tatsächlich die Müdigkeit zu mir durch und ließ mich etwas zur Ruhe kommen. Ich setzte mich in einer Ecke auf ein Sofa, während Katie, Maisie und Lou noch eine Runde Getränke besorgen gingen.

Die Sofas waren unbesetzt. Ich war wohl die einzige, die bereits jetzt außer Puste war. Hier war es etwas ruhiger, denn die Sitzgelegenheiten waren abseits der Tanzfläche, und sogar die Luft war hier besser. Die meisten Leute tummelten sich auf der Tanzfläche oder an der Bar.

Ein Mädchen mit einem kurzen Pixieschnitt und einer Bierflasche in der Hand setzte sich auf ein Sofa neben mir. Ich warf ihr ein Lächeln zu, als sich unsere Blicke trafen, doch sie zog nur die Augenbrauen zusammen und musterte mich argwöhnisch. Sie schien betrunken und merkte offensichtlich nicht, dass ihr durchdringendes Starren mir unangenehm war. Ich mied ihren Blick, doch wagte es ebenfalls, sie zu betrachten. Sie trug eine helle Jeans, welche an den Oberschenkeln zerschlissen war. Zwei große Risse zierten die Knie der Jeans, durch die ihre gebräunte Haut zu sehen war. Dazu trug das Mädchen ein rot kariertes Hemd offen über einem schwarzen Top.

Der Mann, der sich jetzt neben ihr niederließ, war mir bekannt. Es war der, der vorher versucht hatte, mich zum Tanzen zu überreden. Die beiden schienen ins Gespräch zu kommen, und ich warf einen Blick zur Bar, wo meine Freundinnen auf den Barkeeper einschwatzten. Ich schien die einzige zu sein, die keine Lust auf Party in diesem Schuppen hatte.

Mich fragend, wann sie zurückkommen würden und was sie dann dabei haben würden, zogen die beiden auf dem Sofa neben mir meine Aufmerksamkeit auf sich. Der Mann platzierte seine linke Hand auf dem Oberschenkel des Mädchens und zog sie mit der anderen zu sich heran, was ihr nicht zu passen schien. Sie schob seine Hände weg, doch der aufdringliche Verehrer ließ sich nicht so leicht abwimmeln.

„Pfoten weg!“, fauchte das Mädchen jetzt so laut, dass ich es hören musste.

Ich sah mich um, fragte mich, ob ich eingreifen sollte, oder ob ihr jemand anderes zu Hilfe eilen würde, doch wir waren allein in der Sofaecke. Es würde noch dauern, bis meine Freundinnen zurückkommen würden, und als der junge Mann versuchte, seine Hand unter das Hemd des Mädchens zu schieben, stand ich auf.

„Hast du sie nicht gehört?“, fragte ich und stellte mein Glas neben die beiden auf den Tisch. „Sie hat gesagt, du sollst sie in Ruhe lassen.“

Der Blick des Mannes traf mich, und er stand auf. Einen Moment bekam ich es mit der Angst zu tun und fragte mich, ob er mich angreifen würde, dann jedoch schnappte er sich seine Bierflasche und verschwand.

Ich sah zu dem Mädchen, das jetzt mit einem Zug ihre Flasche leertrank.

„Idiot“, knurrte sie dann und stand wankend auf. Ich griff instinktiv nach ihrem Arm, als sie taumelte und erst jetzt schien sie mich wahrzunehmen. Es dauerte einen Moment, bis sie eins und eins zusammenzählte und ihr bewusst wurde, dass ich es war, der ihr geholfen hatte. Dann streckte sie mir die Hand entgegen.

„Ich bin Hailey“, stellte sie sich vor.

„Mia“, antwortete ich und wollte nach ihrer Hand greifen, doch da ließ sie sie schon wieder sinken.

„Dieses Schwein“, knurrte Hailey wieder. Sie war blass um die Nase und schien schon ziemlich viel Alkohol intus zu haben.

„Geht es dir gut?“, wollte ich wissen. Sie zuckte die Schultern.

„Etwas viel getrunken vielleicht.“

In dem Moment kamen meine Freundinnen wieder. Sie waren überrascht, mich Arm in Arm mit einem fremden Mädchen zu sehen, denn ich war für gewöhnlich niemand, der allzu schnell neue Freundschaften schloss. Maisie musterte Hailey von Kopf bis Fuß.

„Alles klar, Mia?“, fragte Maisie. Sie schien ebenfalls zu merken, dass es Hailey nicht gut ging.

„Ich weiß nicht“, sagte ich und blickte zu Hailey, was diese falsch verstand.

„Ich lass euch in Ruhe.“

Hailey entzog mir ihren Arm und taumelte davon, doch schon nach ein paar Schritten stolperte sie und stürzte aufs Sofa. Ich drängte mich an meinen Freundinnen vorbei und half Hailey wieder hoch. Sie hielt sich an mir fest.

„Vielleicht sollten wir kurz an die frische Luft?“, bot ich ihr an und sie nickte ergeben. Ich entschuldigte mich und zog Hailey mit mir nach draußen.

Die Luft draußen war warm, aber nicht mehr heiß. Gerade richtig. Ich spürte erleichtert, wie sie meine Lungen füllte und auch ich mich besser fühlte. Der Bass dröhnte noch immer in meinen Ohren, und es fühlte sich merklich gut an, nicht mehr dem Dunst von Zigarettenqualm und Schweiß ausgesetzt zu sein. Auch Hailey atmete einen Moment durch, bevor sie noch blasser wurde und sich dann in einen Busch zu unserer Linken übergab.

Instinktiv hielt ich sie am Arm fest, um ihr etwas Halt zu geben, doch sie schien diese Situation nicht das erste Mal durchzumachen und blieb standhaft.

Als sie fertig war, reichte ich ihr ein Taschentuch. Dankbar nahm sie es an.

„Soll ich irgendjemanden für dich suchen?“, fragte ich sie. „Eine Freundin vielleicht?“

Hailey schüttelte stumm den Kopf.

„Bist du allein hier?“, fragte ich erstaunt. Hailey verzog das Gesicht.

„Mit meinem Ex-Freund“, antwortete sie und hustete. Ich hob die Augenbrauen.

„Wieso das denn?“

„Als wir hierher gegangen sind, war er noch mein Freund“, brummte sie wütend. Ich nickte still.

„Deswegen habe ich auch versucht, ihn eifersüchtig zu machen“, erklärte Hailey ihr Verhalten.

„Aha“, machte ich leise, obwohl ich nichts davon wirklich verstand. Sie übergab sich noch einmal, und wieder hielt ich sie am Arm fest.

„Wie viel hast du getrunken?“, wollte ich wissen, als sie fertig war. Sie zuckte mit den Schultern und hielt sich mit starrem Blick an mir fest.

„Vielleicht zwei, drei Bier“, erklärte sie, doch ihrem Blick sah ich an, dass es auch vier oder fünf hätten sein können. „Und dann noch ein paar Cuba Libre und ein, zwei Wodka-Shots oder so …“

Ich hatte genug gehört.

„Ich ruf einen Krankenwagen.“ Ich zückte mein Handy, als Hailey wieder zu wanken begann und ich sie zu einem kleinen Mäuerchen neben uns führte.

„Setz dich so lange hier hin.“ Hailey protestierte nicht einmal, als ich den Notruf wählte. Als ich mein Handy wieder wegsteckte, sah ich, dass Katie, Maisie und Lou sich auf die Suche nach mir gemacht hatten. Sie standen am Eingang der Disko und sahen sich suchend um. Ich winkte ihnen, und sie kamen zu uns herüber.

Als sie nähertraten, runzelte Katie die Stirn.

„Was riecht hier denn so?“, fragte sie und rümpfte die Nase.

„Hailey hat sich übergeben“, erklärte ich meinen Freundinnen. „Ich habe gerade einen Krankenwagen für sie gerufen.“

„Das wäre überhaupt nicht nötig gewesen“, behauptete Hailey und stand schwankend auf. „Ich geh nach Hause.“

„Ob das nötig war oder nicht, kann der Notarzt entscheiden“, sprang mir Maisie zur Seite. Ich hielt Hailey fest und zwang sie, sich wieder auf die kleine Mauer zu setzen, bis der Krankenwagen kam.

Als die Sanitäter eintrafen, untersuchten sie Hailey kurz. Uns teilten sie dann mit, dass sie auf jeden Fall zur Beobachtung ins Krankenhaus müsse. Ich warf Hailey einen Blick zu, der ihr etwas wie „Siehst du“ sagen sollte, doch sie sah mich gar nicht an.

Als der Krankenwagen wegfuhr, sah ich ihm eine Weile lang hinterher, bis Lou mich am Arm nahm.

„Wollen wir wieder rein gehen?“, fragte sie mich. Ich schüttelte den Kopf.

„Mir geht es irgendwie nicht so gut“, erklärte ich ihnen. „Können wir nach Hause gehen, bitte?“

Meine Freundinnen berieten sich kurz und willigten dann ein.

Tag 2

Ich schlief wie ein Stein. Die Prüfungsphase war unfassbar stressig gewesen und ich musste viel Schlaf nachholen. Der Alkohol tat den Rest. So war es kurz nach halb eins, als ich aufwachte. Mein Kopf dröhnte, obwohl ich nicht glauben konnte, so angetrunken gewesen zu sein. Das war der Grund gewesen, weshalb ich nie getrunken hatte. Schließlich hatte ich bei meinen Freundinnen schon den einen oder anderen Kater erlebt, und er kam mir nicht so toll vor, als dass ich unbedingt einen hätte durchleben wollen.

Ich raffte mich auf und genehmigte mir eine Kopfschmerztablette. Dann fragte ich mich, wie es Hailey wohl ging. Ich wusste nicht einmal ihren Nachnamen oder ihre Handynummer, sodass ich mich gar nicht bei ihr erkundigen konnte, wie es um sie stand. Auch wusste ich nicht, in welchem Krankenhaus sie jetzt lag.

Trotzdem nahm ich mir das Telefonbuch und klapperte alle Krankenhäuser in der näheren Umgebung ab. In jedem Krankenhaus war gestern das ein oder andere Mädchen eingeliefert worden, auf das das Krankheitsbild passen würde, doch durch die Nennung ihres Vornamens schloss ich einige auch wieder aus. Am Ende blieb nur ein Mädchen übrig und ich war froh, dass Hailey kein allzu häufiger Name war. Da mir die junge Frau am anderen Ende der Leitung keine Informationen über Haileys Gesundheitszustand geben durfte, beschloss ich, sie selbst danach zu fragen.

Als ich angezogen und mit gepackter Tasche im Flur stand, begegnete ich meiner Mutter, die sich mit einem Staubsauger bewaffnet hatte.

„Ich geh eine Freundin besuchen“, erklärte ich ihr.

„Möchtest du nichts frühstücken?“, wollte sie wissen. Ich schüttelte den Kopf. Beim Gedanken an Essen drehte sich mir der Magen um.

„Kein Hunger“, entgegnete ich ausweichend. Ich wollte meiner Mutter nicht erklären, dass ich mich gestern betrunken hatte und jetzt mit den Nachwirkungen kämpfte.

„Wann kommst du wieder?“, fragte sie, als ich gerade die Haustür hinter mir ins Schloss ziehen wollte. „Irgendwann heute Nachmittag“, antwortete ich und zog schnell die Tür zu, bevor sie weitere Fragen stellen konnte.

Ich brauchte nur knapp zehn Minuten mit dem Bus zum Krankenhaus. Er hielt praktischerweise direkt davor, und an der Information erkundigte ich mich nach Hailey. Die junge Frau nannte mir eine Zimmernummer, und ich ging sie suchen. Als ich anklopfte und von drinnen ein „Herein“ ertönte, wusste ich sofort, dass ich richtig war. Ich hatte nicht viel mit Hailey geredet gehabt, doch ihre Stimme erkannte ich trotzdem. Ich trat ein und erkannte sie sofort. Sie lag in einem großen Bett, der Fernseher lief und jetzt setzte sie sich überrascht auf.

„Mia?“, fragte sie. „Wie hast du mich denn gefunden?“

„Habe ein bisschen herumtelefoniert“, antwortete ich und stellte meine kleine Tasche auf einen leeren Stuhl neben ihrem Bett.

„Wie geht’s dir?“, wollte ich wissen. Sie zuckte mit den Schultern und schaltete den Fernseher ab.

„Oh, ganz prima“, erklärte sie mir und verdrehte die Augen. Ich lachte leise.

„Ich kann nachvollziehen, wie du dich fühlst“, meinte ich und griff mir an die Schläfe. Hailey runzelte die Stirn.

„Hast du einen Kater?“, fragte sie mich mit gespielt böser Stimme. Ich zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht ein bisschen“, gab ich zu.

Eine Weile schwiegen wir.

„Ich hätte mich gern angekündigt, aber du hast mir keine Nummer gegeben, sonst hätte ich dir geschrieben oder dich angerufen“, versuchte ich mein unangekündigtes Auftreten zu erklären. Hailey winkte ab.

„Macht nichts, ich hab hier eh nicht viel zu tun“, lachte sie. Dann lehnte sie sich zu dem kleinen Nachttisch, der neben ihr stand, riss einen Fetzen Papier aus der darauf liegenden Zeitung und kritzelte mir eine Handynummer darauf.

„Für das nächste Mal“, meinte sie und reichte mir den Zettel. Dann warf sie die Zeitung desinteressiert auf den Boden.

„Dann war sie wenigstens für irgendetwas gut“, brummte sie und wandte sich wieder an mich. „Mein Bettnachbar hat sie mir gegeben, dabei lese ich gar keine Zeitung. Er hat mir aber seit heute Morgen um sieben schon von seinen drei Enkelinnen und seinem Hund erzählt. Scheint so ein kleiner Terrier zu sein … Schrecklich, die kleinen Viecher, immer nur am kläffen. Jetzt gerade hat sein Sohn ihn in Pflege …“ Sie zog die Augenbrauen hoch und nickte eifrig. „Bin ich froh, dass du da bist. Jetzt ist er zwar beim Röntgen, aber wenn er zurückkommt …“

„Ich hatte eigentlich nicht vor, lange zu bleiben“, gestand ich. „Meine Mutter wird auf mich warten.“ Hailey versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen.

„Kann ich verstehen“, behauptete sie leise.

„Brauchst du irgendetwas?“, fragte ich nach einigen Minuten des Schweigens, in denen ich mich auf den Stuhl neben ihrem Bett gesetzt hatte.

Hailey schüttelte den Kopf.

„Mein Bruder war heute schon hier“, erklärte sie, und in ihrer Stimme schwang ein Ton mit, den ich nicht verstand, daher nickte ich nur stumm. Ich fragte mich zwar, warum Haileys Bruder sie besuchte und ihre Eltern augenscheinlich nicht, aber ich wollte sie nicht danach fragen.

„Wann wirst du entlassen?“, wollte ich wissen.

„Heute im Laufe des Tages“, antwortete sie und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Ich fragte mich, ob diese Erfahrung neu für sie war, mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus aufzuwachen. Im Moment machte sie keinen schüchternen oder nervösen Eindruck und schien das ganze eher als lästigen Zwangsurlaub zu sehen.

„Hoffentlich vor dem Mittagessen, das Essen ist schrecklich“, meinte sie und verzog das Gesicht.

„Ansichtssache“, entgegnete ich. Sie sah auf und zog die Augenbrauen hoch. Sie erwartete eine Erläuterung.

„Ich war auch schon mal hier, vor vier Jahren“, erklärte ich. „Damals wurde ich am Blinddarm operiert. Ich hab das Essen gemocht …“ Jetzt war es an mir, die Stirn zu runzeln.

„Wie kannst du in deinem Zustand überhaupt etwas essen?“, fragte ich. „Ich habe heute Morgen keinen Bissen heruntergebracht, und ich habe nur einen Bruchteil von dem getrunken, was du zu dir genommen hast.“ Hailey lächelte selbstsicher.

„Übung“, meinte sie und grinste breit. Ich sog scharf die Luft ein.

„Was ist?“, wollte Hailey wissen. Meine Reaktion schien sie zu überraschen. Ich schüttelte den Kopf, wollte mich auf keinen Disput mit ihr einlassen. Sie fragte nicht weiter nach. Kein Wunder, dass man ihr den Alkoholkonsum gestern Abend kaum angemerkt hatte. Sie war vielleicht etwas schwankend gelaufen, aber sie hatte kaum gelallt und eifrig weiter getrunken. Hätte sie sich nicht übergeben, wäre ich nie auf die Idee gekommen, einen Krankenwagen für sie zu rufen. Ich fragte mich, ob sie sich regelmäßig betrank.

Sie konnte nicht viel älter sein als ich, und ich war gestern das erste Mal angetrunken gewesen. Natürlich kannte ich Mädchen, die sich schon seit ein, zwei Jahren immer wieder einmal die Kante gaben, ich und meine Freundinnen jedoch gehörten nicht dazu, und ich fand die Vorstellung seltsam, dass ich jetzt am Krankenbett eines solchen Mädchens saß.

„Gehst du denn öfter abends feiern?“, fragte ich vorsichtig nach.

„Du meinst, ob ich öfter morgens im Krankenhaus aufwache?“, stellte sie eine Gegenfrage. Ich sagte nichts darauf.

„Ab und zu“, meinte Hailey dann und blickte auf ihre Fußspitzen. Ich bekam das Gefühl, dass sie mehr sagen wollte, doch es kam nichts von ihr, also fragte ich auch nicht nach.

Ich wusste nicht, worüber ich noch mit ihr reden wollte, also sah ich auf die Uhr und stand dann auf. Mein nächster Bus fuhr in ein paar Minuten. Wenn ich jetzt nicht ging, dann saß ich hier eine Weile fest, und das letzte, was ich wollte, war Hailey die nächste halbe Stunde nur anzuschweigen oder ihr auf die Nerven zu gehen.

„Ich muss los“, verabschiedete ich mich. „Sonst verpasse ich meinen Bus.“ Hailey wirkte aufrichtig enttäuscht.

„Schade“, meinte sie, aber sie versuchte nicht, mich zum Bleiben zu überreden.

„Ich melde mich“, versprach ich ihr. Irgendwie tat sie mir leid, obwohl ich nicht glaubte, dass sie auf meine Gesellschaft angewiesen war. Sicher hatte sie eine Menge Freunde, ihre Eltern würden sie sicher auch besuchen kommen, und wie sie selbst schon gesagt hatte, hatte sie einen Bruder, der sich ebenfalls um sie kümmerte.

Anstatt einer Antwort reckte Hailey ihren Daumen in die Luft und grinste. Ich winkte ihr zu, nahm meine Tasche und verließ dann das Zimmer.

Tag 3

Es war schon ziemlich warm, als ich am nächsten Tag erwachte. Da ich keine Lust hatte, einen so schönen Tag allein in meinem Zimmer zu verbringen, schrieb ich Katie, Maisie und Lou. Es war schon Mittwoch, uns würde also nur noch eine halbe Woche bleiben, bis Maisie und Katie sich auf ihre Weltreise begeben würden, und zwei Tage später würde ich mich auch von Lou verabschieden müssen, also wollte ich die Tage auskosten. Meine Freundinnen schienen das nicht so zu sehen. Lou wollte mit ihrem Freund Phillip Zeit verbringen, Katie war mit einer anderen Freundin verabredet, und Maisie hatte Pläne mit ihren Eltern. Enttäuscht beschloss ich, erst einmal zu duschen. Ich schwitzte schon jetzt. Am liebsten wäre ich ins Schwimmbad gegangen, doch allein wollte ich nicht.

Die nassen Haare band ich mir im Nacken zu einem Knoten zusammen, damit sie mich nicht störten, als ich die Treppe hinunter ins Wohnzimmer ging. Meine Schwester war in der Schule, mein Vater arbeitete, doch meine Mutter hatte mir Rühreier mit Speck gemacht. Sie waren noch warm, doch wo meine Mutter jetzt war, wusste ich nicht. Ich schaufelte meinen Teller voll und setzte mich damit vor den Fernseher. Die nassen Haare öffnete ich jetzt und ließ sie in den Nacken fallen, damit mein Nacken gekühlt wurde. Es war unangenehm warm hier im Wohnzimmer, und ich fragte mich, wie viel Grad es heute geben würde.

Vielleicht sollte ich doch allein ins Schwimmbad, nur ein paar Stunden, um mich abzukühlen. Je nachdem, wann meine kleine Schwester Lacy zurückkam, konnte ich sie mitnehmen, dann würde ich mich wenigstens nicht langweilen. Manchmal brachte sie noch eine Freundin mit, um die ich mich dann auch kümmerte.

Als ich fertig mit dem Essen war, zeigte die große Standuhr im Wohnzimmer gerade erst kurz nach halb elf und Lacy würde nicht vor halb eins aus der Schule nach Hause kommen. Die Siebenjährige ging auf die Grundschule in unserem Dorf und brauchte keine fünf Minuten bis nach Hause.

Ich stellte den Teller weg und sah fern, bis meine Schwester an der Tür klingelte. Sie besaß noch keinen eigenen Schlüssel, doch da meine Mutter eh zu Hause war und nicht arbeitete, war immer jemand da, um ihr aufzumachen.

Lacy trampelte an mir vorbei und warf ihren Blümchen-Rucksack in die Ecke.

„Dir auch einen wunderschönen Tag“, grüßte ich und lief ihr hinterher. Sie ging in die Küche und kippte ein Glas Wasser herunter.

„Hast du Durst?“, fragte ich sie. Sie füllte das Glas noch einmal und nippte ein paar Mal daran. Dann erst sah sie mich an.

„Ich geh nachher ins Schwimmbad“, erklärte sie mir. Ich lächelte zufrieden. Vielleicht würde aus der Idee mit dem Schwimmbad doch noch etwas werden.

„Cool, ich wollte dich eh fragen, ob …“

Sie unterbrach mich.

„Aber nicht mit dir“, sagte sie und stellte das Glas weg. Ich hob die Augenbrauen.

„Mit wem denn dann?“, wollte ich wissen. Lacy rauschte an mir vorbei wieder in den Flur und packte ihre Vesperbox aus.

„Geht dich nichts an“, antwortete sie temperamentvoll.

„Na los, sag schon“, versuchte ich, sie zu überreden, doch ich biss bei ihr auf Granit. Stur schüttelte sie den Kopf.

„Komm schon“, versuchte ich es erneut. „Ich kenne doch eh alle deine Freundinnen.“ Dann hob ich die Augenbrauen.

„Oder ist es ein Junge?“ Lacy lächelte wissend und grinste mich breit an.

„Es ist ein Junge, und er lädt mich heute mit seiner Mama ins Schwimmbad ein. Und ich werde dir nicht sagen, wie er heißt.“

Ich nickte verständnisvoll.

„Natürlich, ich pflegte mit sieben Jahren auch schon viele geheimnisvolle Beziehungen“, erklärte ich und ließ sie stehen. Damit hatte Lacy nicht gerechnetl. Da ich nur eine Jogginghose und ein stinkendes T-Shirt trug, zog ich mich um. Ich packte meine Badetasche, bevor ich nach meiner Hose griff und hineinschlüpfte. Dabei segelte ein kleiner Fetzen Papier langsam auf den Boden. Ich hob ihn auf und wollte ihn wegwerfen – er musste aus meiner Hosentasche gefallen sein – da wurde mir klar, um welches Papier es sich handelte. Ich faltete es auf und tippte Haileys Nummer in mein Handy, dann speicherte ich den Kontakt ab und schrieb ihr eine SMS. Ich fragte sie, was sie heute vorhatte und wie es ihr ging. Vielleicht wollte Hailey ja gerne mit mir ins Schwimmbad gehen.

Sie schrieb mir kurz darauf zurück, und ihre Antwort war ernüchternd. Sie war beschäftigt. Ich warf mein Handy aufs Sofa, doch da piepte es erneut.

Heute Abend?, schrieb Hailey mir.

Klar, antwortete ich und setzte ein Smiley dahinter.

Lacy ging um halb drei, gerade dann, als meine Mutter wiederkam. Sie schien im Garten gewesen zu sein. Jjedenfalls sahen ihre Hände sehr danach aus, als hätte sie in den Blumenbeeten zu tun gehabt. Meine Mutter liebte ihre Blumen abgöttisch. Wenn sie nicht damit beschäftigt war, zu kochen oder zu putzen, hegte und pflegte sie die Pflanzen. Sie ging in die Küche und wusch sich die Hände.

„Hast du heute noch etwas vor?“, fragte sie mich dann.

„Ich treffe mich heute Abend mit einer Freundin.“

„Und bis dahin?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Willst du nicht mit Lacy ins Schwimmbad?“, fragte meine Mutter.

„Die ist doch schon weg“, entgegnete ich. „Außerdem hat sie ein Date und will mich nicht dabei haben.“ Meine Mutter hob die Augenbrauen und schüttelte den Kopf.

„Deine Schwester ist sieben, Mia“, meinte sie, doch ich zuckte die Schultern.

„Weiß sie das auch?“, fragte ich sie und sah zu ihr herüber. Meine Mutter antwortete nichts und verschwand wieder nach draußen in den Garten.

Es war kurz vor sechs, als ich das Haus verließ und zum Bus ging. Wir trafen uns vor dem großen Einkaufscenter in unserer Stadt. Fast hätte ich Hailey nicht erkannt, denn den Vormittag musste sie für einen Friseurtermin genutzt haben. Die Haarlänge war gleich geblieben, doch sie hatte die obere Partie blau gefärbt, während die ausrasierten Seiten jetzt türkis waren. Der Übergang war fließend und gefiel mir eigentlich, auch wenn ich mich niemals zu einer solchen farbenfrohen Frisur entschieden hätte. Mit reichlich Haarspray hatte sie sich die bunte Mähne dann so nach oben gestylt, dass die Haare in alle Richtungen abstanden.

Mit offenem Mund starrte ich sie an, als sie vor mir stehen blieb. Sie legte den Kopf schräg und hob die Augenbrauen.

„Was?“, fragte sie anstatt einer Begrüßung.

„Deine Haare …“, sagte ich langsam. Sie fuhr sich mit der Hand durchs kurze Haar.

„Schick, nicht wahr?“ Ich nickte stumm.

„Ich hätte dich fast nicht erkannt“, murmelte ich leise und senkte den Blick auf ihre Stiefel. Obwohl Sommer war, trug sie halbhohe Stiefeletten und ihre Hose war an den Knien zerrissen. Ein breites Nietenarmband war um ihr rechtes Handgelenk geschlungen, links waren mehrere dünne Lederbändchen um ihren dünnen Unterarm geknotet und sie trug ein weit ausgeschnittenes, weißes Top.

„Woher der…“ Ich suchte nach dem Wort, denn „Stilwechsel“ konnte ich es nicht nennen. Eigentlich passten ihre Haare erst jetzt wirklich zu ihr. „… Farbwechsel?“

Hailey zuckte mit den Schultern.

„Das hatte ich schon lange vor, und jetzt habe ich die Gunst der Stunde genutzt.“ Ich fragte nicht weiter, denn Hailey sah nicht aus, als hätte sie vor, mir Details über ihr Privatleben vorzukauen.

„Gehen wir was essen?“, fragte sie mich und schlug sich auf den Bauch. „Ich sterbe vor Hunger.“ Ich zuckte mit den Schultern und nickte. Auch ich hatte noch nichts gegessen.

„Worauf hast du Lust?“

„Isst du gerne Sushi?“, wollte sie wissen. Ich verzog das Gesicht.

„Kenne ich nicht“, gestand ich. Meine Mutter war Vegetarierin, weshalb wir nie Sushi essen waren, doch meine Freundinnen hassten es allesamt. Hailey blickte mich überrascht an.

„Es ist roher Fisch“, meinte ich abwehrend.

„Und wir werden es ausprobieren“, beschloss Hailey. Dann packte sie mein Handgelenk und zog mich mit sich. Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie wir vor einem Sushi-Restaurant standen und sie mich hinein bugsierte. Hailey bestellte für mich, weil ich ziemlich verloren auf die Karte starrte. Dann unterhielten wir uns, bis unser Essen kam. Hailey berichtete, dass auch sie dieses Jahr ihren Schulabschluss gemacht hatte. Im Gegensatz zu mir war sie jedoch schon neunzehn und hatte den Realschulabschluss gemacht. Zwei Mal war sie sitzen geblieben, ein Jahr hatte sie ausgesetzt, auch wenn sie nicht erzählte, warum. Ich fragte nicht nach. Stattdessen erzählte sie von ihrer Liebe zur Musik und, dass sie Gitarre spielte.

Ich erzählte von mir, von meinem Abschluss dieses Jahr und dass in drei Tagen mein Abschlussball war. Ich beschrieb ihr mein Kleid, erzählte von meinen Abschlussprüfungen, von meiner Familie und meinen Freunden. Davon, dass Katie und Maisie in einer Woche auf eine Weltreise gehen würden und dass kurz darauf auch Lou weg wäre.

„Wir können ja was zusammen unternehmen“, schlug Hailey vor. „Ich hab noch vier Wochen, bis ich weg gehe.“

„Wohin gehst du denn?“, fragte ich sie interessiert.

„Ich gehe in die USA und spiele dort in einer Band Gitarre“, antwortete sie. Ich war überrascht. Die meisten, die ich kannte, begannen nach dem Abschluss zu studieren, machten einen Freiwilligendienst oder Praktika. Dass sich jemand einfach so einer Band anschloss kannte ich nicht – schon gar nicht im Ausland.

„Und dann?“, fragte ich sie interessiert. Sie sah mich fragend an.

„Wie und dann?“

„Was machst du, wenn du wieder zurückkommst?“, hakte ich nach. Sie zuckte mit den Schultern und verschränkte die Hände hinter ihrem Kopf.

„Weiß ich nicht“, gab sie zu und kippelte etwas mit dem Stuhl. „Vielleicht bleibe ich dort und komme gar nicht wieder.“

„Und wann fliegst du?“

„Am 25. Juli.“

„Das sind ja gar keine vier Wochen mehr“, warf ich ein. Sie rechnete kurz nach und zuckte dann mit den Schultern.

„Hast recht. Nur dreieinhalb.“ Ich schwieg.

„Was hast du denn jetzt vor?“, fragte sie und lehnte sich wieder zu mir vor.

„Im Sommersemester werde ich hier Chemie und Mathe studieren“, erzählte ich. „Auf Lehramt.“ Hailey lachte so laut auf, dass die Gäste an den anderen Tischen sich zu uns umdrehten. Ich senkte verlegen den Blick auf die Tischfläche und mied die Blicke der anderen.

„Mathe und Chemie“, murmelte Hailey, als sie sich wieder beruhigte. „Na, du bist mir ja eine …“ Ich zuckte mit den Schultern.

„Und du willst dich dann wirklich für immer mit den ungezogenen und nervenden Plagen von anderen Leuten herumschlagen?“, fragte Hailey. Ich nickte.

„Ich mag Kinder“, meinte ich schulterzuckend. Hailey schüttelte wieder den Kopf.

„Mathe und Chemie waren meine schlechtesten Fächer“, meinte sie.

„Meins war Musik“.

„Musik war mein bestes“, entgegnete Hailey. „Musik ist einfach.“

„Du spielst ja auch Gitarre“, sagte ich. „Ich spiele kein Instrument.“

Hailey schwieg.

„Dein Lieblingsfach?“, fragte sie dann.

„Chemie.“

„Musik“, entgegnete sie, was mich nicht wunderte. „Was ist mit Sport?“

Ich verzog stumm das Gesicht. Hailey lachte.

„Also kein Sport“, meinte sie und musterte mich. „So siehst du gar nicht aus.“

„Danke“, schmunzelte ich. „Das liegt in meiner Familie. Bei uns ist jeder so dünn.“

Hailey kicherte.

„Bei uns nicht“, meinte sie.

„Dann treibst du viel Sport?“, fragte ich. Hailey nickte.

„Welchen?“, wollte ich wissen. Hailey zuckte mit den Schultern.

„Laufen, Schwimmen, im Winter Snowboarden. Früher habe ich Basketball gespielt, jetzt nicht mehr.“ Die Kellnerin brachte unsere Getränke. Mir stellte sie eine große Cola hin, Hailey eine Apfelschorle.

„Und ich achte auf meine Ernährung“, meinte Hailey, hob das Glas und prostete mir verschmitzt lächelnd zu. Ich erwiderte ihr Lächeln und wir tranken beide einen Schluck.

„Was ist dein Hassfach?“, fragte Hailey mich.

„Ich kam eigentlich ganz gut in der Schule klar“, entgegnete ich ausweichend.

„Irgendetwas, das du auf den Tod nicht ausstehen konntest. Ein Fach, das du manchmal am liebsten geschwänzt hättest“, versuchte Hailey mich zu locken.

„Ich habe nie geschwänzt“, entgegnete ich und zögerte. „Aber einmal habe ich behauptet, ich wäre die Treppe heruntergefallen, um nicht beim Sport mitmachen zu müssen.“ Hailey lachte erneut laut auf, und wieder drehten sich die Gäste zu uns um.

„Nicht so laut“, versuchte ich sie zu zügeln. „Die Leute gucken schon.“

Hailey sah sich um und kicherte.

„Wahrscheinlich sehen wir aus, als hätten wir ein Date“, lachte sie leise. Ich kicherte ebenfalls, doch ich fühlte mich unwohl. Hailey ergriff meine Hand.

„Liebste Mia, dürfte ich das Fräulein auf ein Stück rohen Fisch einladen?“, fragte sie übermütig und lachte wieder. Dabei warf sie sich nach hinten, sodass beinahe ihr Stuhl umkippte. Jetzt wurde auch unser Essen gebracht, sodass unser Gespräch unterbrochen wurde. Hailey aß mit Stäbchen, was ihr sehr gut gelang, ich jedoch ließ mir eine Gabel bringen.

„Schmeckt es?“, fragte sie mich mit vollem Mund, doch ich zuckte mit den Schultern und sah den Lachs an, der auf einem Haufen Reis angerichtet war.

„Hab noch nicht probiert“, meinte ich.

„Dann wird es Zeit“, sagte Hailey und beobachtete mich, wie ich misstrauisch einen Bissen nahm. Es schmeckte seltsam, aber nicht schlecht.

„Und?“ Hailey ließ nicht locker. Ich nickte.

„Gut“, antwortete ich leise und probierte etwas anderes. Hailey reichte mir eine Soße, und ich probierte auch diese. Jetzt schmeckte es besser.

Am Ende hatten wir alles aufgegessen, und Hailey hatte sogar die Soße leer gemacht. Nach der schien sie richtig verrückt zu sein.

Als die Kellnerin unser Geschirr abräumte, lehnte Hailey sich zu mir herüber. „Weißt du, ich glaube mit dir kann man jede Menge Abenteuer erleben“, meinte sie. Ich zuckte mit den Schultern.

„Ich bin nicht so der Typ für Abenteuer“, gestand ich.

„Aber du bist mutig“, bekräftigte Hailey. Ich hob überrascht die Augenbrauen. Niemand hatte mich je als mutig bezeichnet.

„Sonst hättest du mich in der Disko nicht vor diesem Typen gerettet“, fügte Hailey hinzu. „Niemand hätte mir geholfen.“

„Ich war angetrunken“, behauptete ich.

„Dann muss ich dich halt jedes Mal abfüllen.“

„Ich trinke eigentlich keinen Alkohol“, antwortete ich. Darauf erwiderte Hailey nichts. Sicher hielt sie mich jetzt für eine Langweilerin. Wir zahlten und verließen dann das Restaurant.

Draußen sah ich auf die Uhr.

„Ich muss gehen“, sagte ich. „Ich kann nicht so lange weg bleiben.“

„Wieso nicht?“ Hailey sah mich verdutzt an. „Du bist doch volljährig.“

„Ich will keinen Streit“, antwortete ich. „Außerdem hab ich es versprochen.“

„Also gut“, meinte Hailey und wir verabschiedeten uns.

„Melde dich wieder, ja?“, bat sie. „Dann unternehmen wir noch mal was.“ Ich nickte stumm und machte mich dann auf den Heimweg.

Tag 4

Der nächste Tag begann noch heißer als der Vorherige. Als ich aus dem Bett stieg und auf mein Handy sah, bemerkte ich bereits eine Nachricht von Hailey. Ich schrieb ihr zurück, und wir verabredeten uns für den Nachmittag im Schwimmbad. Lieber hätte ich schon vormittags etwas unternommen, denn ich hasste es, herumzusitzen und zu warten, dass die Zeit verstrich. Daher setzte ich mich auf unsere Terrasse in den Schatten, um etwas zu malen.

Ich malte gerne und manche sagten, ich sei gut. Manchmal zeichnete ich nur mit verschiedenen Bleistiften oder auch mit Kohlestiften, viel lieber mochte ich es aber, wenn ich mit meinen Aquarellfarben bunte Bilder auf das raue Papier zaubern konnte.

In den letzten Wochen war nicht viel Zeit dafür geblieben, doch jetzt nach dem Schulabschluss wollte ich wieder viel mehr malen. Ich genoss es, das hier im Schatten zu tun, und es gefiel mir, wie das Sonnenlicht, das durch die Blätter des Kirschbaumes in unserem Garten auf mein Papier fiel, verschiedene Muster auf das Papier zauberte. Es störte mich nicht beim Malen. Im Gegenteil.

Das einzige, was mich dabei störte, war Lacy.

„Was malst du?“, fragte sie mich, als sie aus dem Wohnzimmer auf die Terrasse trat und mir über die Schulter blickte. Ich war gerade erst mit meiner Vorzeichnung fertig, weshalb sie noch nicht besonders viel zu sehen bekam.

„Wo ist

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Publication Date: 08-19-2015
ISBN: 978-3-7438-7648-4

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Für Carla

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