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Als ich an diesem trüben New Yorker Frühlingsvormittag ins Büro kam, fand ich meine blonde Vorzimmer-Queen Lucy in Tränen aufgelöst vor. Freunde, ich bin bestimmt keine Memme. Aber wenn mich etwas aus der Bahn werfen kann, ist es der Anblick einer weinenden Frau. Vor allem, wenn es sich um meine hübsche und kluge Sekretärin handelt.

Ich verwandelte mich schlagartig in einen tollwütigen Bisonbullen. Während ich mich vor ihrem Schreibtisch aufbaute, ballte ich die Fäuste.

»Lucy. wie heißt der Bastard? Er kann sich schon mal von seinen Zähnen verabschieden und seine Knochen nummerieren.«

Meine Sekretärin blickte auf. In ihrem heulenden Elend hatte sie meine Ankunft gar nicht bemerkt.

»Welcher Bastard, Chef?«

»Der Hurensohn, der dein Herz gebrochen hat«, knurrte ich.

Lucy blickte zu mir auf. Ihr schöner Mund verzog sich zu einem traurigen Lächeln. »Ach, Chef – es geht hier gar nicht um Liebe. Der Kerl, wegen dem ich auch nur eine Träne vergießen würde, ist mir noch nicht begegnet. Ich habe geweint, weil meine Freundin Mary gekillt wurde.«

Diese Neuigkeit musste ich erstmal verdauen. Sicher, ich habe eine Detektei. Da sind Härtefälle an der Tagesordnung. Aber normalerweise kommen Klienten bei uns hereingeschneit, um unsere Hilfe in Anspruch zu nehmen. Manchmal bleiben auch längere Zeit die Aufträge aus. Dann üben wir uns in der Kunst, den Gürtel enger zu schnallen. Doch dass der Sensenmann in unserem Freundeskreis zuschlägt, kommt eher selten vor. Ich hakte nach.

»Was genau ist denn geschehen? Und wann?«

Lucy atmete tief durch, wobei sich ihr imposanter Busen hob und senkte. Doch ich schaute gar nicht hin. Naja, fast gar nicht. Ich bin eben auch nur ein Mann. Sie zerknüllte ihr spitzenumhäkeltes Taschentuch zwischen ihren Fingern, während sie nach den richtigen Worten suchte.

»Gestern Abend wollten Mary und ich tanzen gehen. Ich hatte gesagt, dass ich sie um neun Uhr abholen könnte. Aber die U-Bahn fuhr mir vor der Nase weg. Also kam ich erst um zehn nach neun bei ihr an.«

Ich hielt meiner Sekretärin meine Packung Lucky Strike hin. Lucy nickte mir dankbar zu und nahm einen Sargnagel. Ich bediente mich ebenfalls. Nachdem ich uns Feuer gegeben hatte, löcherte ich sie weiter.

»Wo hat deine Freundin gewohnt?«

»Hudson Street 234.«

Ich überlegte kurz.

»Dann bist du mit der U-Bahn wahrscheinlich bis zur Station Christopher Street gefahren?«

Lucy nickte.

»Richtig, Chef. – Ich betrat also die Wohnung. Mrs. Ferris öffnete mir. Sie war Marys Vermieterin, denn meine Freundin wohnte zur Untermiete. Die alte Hexe machte noch eine schnippische Bemerkung über junge Mädchen, die nur ihr Vergnügen im Kopf hätten. Aber ich beachtete die verknöcherte Betschwester gar nicht, sondern klopfte an Marys Tür. Innen war es totenstill. Da beschlich mich ein mulmiges Gefühl. Ich öffnete ...«

»Es war also nicht von innen abgeschlossen?«

»Nein, Chef.« Lucy rang nach Atem, bevor sie fortfuhr. »Mary lag auf dem Boden. Sie war halb angezogen, trug nur einen Strumpf. Mit dem anderen hatte der Killer sie erwürgt.«

Ich konnte mir vorstellen, dass meine Sekretärin innerlich die Situation gerade noch einmal durchlebte.

Und das musste verflixt hart für sie sein.

Ich wusste nicht allzu viel über ihr Leben außerhalb der grauen Mauern dieses Bürogebäudes. Doch dass Mary ihre beste Freundin gewesen war, hatte ich mitgekriegt.

»So, wie ich dich kenne, hast du gleich die Cops gerufen, Lucy.«

»Darauf können Sie wetten, Chef! Die alte Schabracke wollte mich erst nicht an ihr Telefon lassen, weil ich keine Mieterin bin. Der habe ich kräftig den Marsch geblasen! Als sie dann kapiert hat, dass Mary tot ist, hat sie Zeter und Mordio geschrien.«

»Konnte die Polizei einen Verdächtigen festnehmen?«

Meine Sekretärin schüttelte den Kopf.

»Leider nicht. Und das, obwohl Ihr Freund Lieutenant Leary die Ermittlungen übernommen hat.«

Ich drückte meine Kippe in Lucys Ascher aus.

»Wir haben ja momentan nicht allzu viel zu tun, Sweetheart ...«

Sie seufzte.

»Das kann man wohl sagen.«

»Ich weiß, dass du auf deinen Lohn wartest. Früher oder später kommen auch wieder bessere Zeiten. Ich würde unsere momentane Flaute gern nutzen, um den Mörder deiner Freundin zu jagen. Leary wird sich über Unterstützung gewiss freuen.«

Lucys Augen leuchteten auf.

»Das würden Sie für mich tun, Chef?«

»Sicher, warum nicht? Ich habe Mary nicht gekannt. Aber keine Lady verdient einen solchen Tod.«

Meine Sekretärin sprang auf, schlang ihre Arme um meinen Hals und drückte mir einen Kuss auf die nicht perfekt rasierte Wange.

»Das ist fantastisch, Chef! Der elektrische Stuhl kann schon mal vorgewärmt werden – denn Sie erwischen diesen Hurensohn garantiert!«

In diesem Moment wurde mir klar, dass ich diesen Fall unter keinen Umständen vergeigen durfte. Denn ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen, als mein Vorzimmer-Goldstück zu enttäuschen.

Ich verließ das Büro, schwang mich in meinen alten Plymouth und gurkte zum Police Headquarter. Dort war ich bekannt wie ein bunter Hund. Der Desk Sergeant nickte mir zu.

»Du hast Glück, Reilly. Dein Kumpel Lieutenant Leary hockt gerade an seinem Schreibtisch.«

Ich tippte grüßend an meine Hutkrempe und stieg die Treppe hinauf zu den Räumen der Mordabteilung. Dort brannte der Baum. Sämtliche Ermittler telefonierten, sprachen mit Zeugen, tippten Berichte oder schrien sich gegenseitig an. Das Geklapper zahlreicher Schreibmaschinen und der Rauch vieler Zigaretten und Zigarren quälten Ohren und Lungen.

Nur mein Freund Leary saß so ruhig wie eine Buddha-Statue aus dem Museum auf seinem Holzstuhl.

Ich ging zu ihm hinüber.

»Was ist dein Geheimnis, Alan? Hast du den Strumpfmord-Fall schon gelöst oder konntest du deinen Kaffee mit etwas Stärkerem strecken?«

Der Lieutenant grinste und zündete sich einen Glimmstängel an.

»Weder das eine noch das andere, Jack. Obwohl ich einen Drink wirklich gut vertragen könnte. Ich wundere mich nicht darüber, dass du hier aufkreuzt. Arme Lucy. Ich habe schon mit ihr gesprochen. Deine Sekretärin hat keinen Schimmer, wer ihre Freundin ermordet haben könnte. Aber das wird sie dir auch gesagt haben.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ja, ich bin auch gleich zu dir gefahren.«

Leary schlug sein Notizbuch auf.

»Als Lucy die Leiche entdeckte, waren außer der Vermieterin sämtliche anderen Bewohner in ihren Zimmern. Es handelt sich um vier Personen, nämlich Patricia Jenkins, Lucas McFadden, Jeremy Banks und Harry Thompson.«

Ich stieß langsam die Luft aus den Lungen.

»Lass mich raten, Alan: Keiner von den Untermietern hat ein Alibi, aber jeder hätte die Gelegenheit zum Mord gehabt. Und alle sind unendlich traurig über Marys Tod und fanden das Opfer höchst sympathisch.«

Der Lieutenant nickte.

»Ich hätte es nicht besser ausdrücken können. Es dürfte schwierig werden, den Mörder zu überführen.«

Ich starrte aus dem ungeputzten Fenster.

»Was geht dir durch den Kopf, Jack?«

»Nach Marys Tod wird doch bei der alten Schreckschraube wieder ein Zimmer frei, oder?«

»Ja, sicher. Und weiter?«

»Die Vermieterin kennt mich nicht. Ich werde dort Quartier beziehen und mich unauffällig umhören.«

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Noch am selben Tag warf ich ein paar Klamotten in meinen alten Pappkoffer und fuhr zu Marys Pension.

Die Vermieterin hatte keine Zeit verloren. Ein Stück Karton mit der Aufschrift ZIMMER FREI hing bereits im Fenster. Die Alte konnte es offenbar nicht abwarten, einen neuen Mieter zu finden. Das war mir jetzt nur recht. Ohne das Schild hätte ich mir eine plausible Erklärung aus der Nase ziehen müssen, woher ich von dem freien Zimmer wusste.

Ich klopfte an die Tür. Wenig später wurde mir von Mrs Ferris geöffnet. Sie rümpfte bei meinem Anblick die Nase. Naja, das passiert mir öfters. Vor allem bei hochmoralischen Ladys. Meine Visage ist nun mal nicht die eines idealen Schwiegersohns. Oder eines Chorknaben. Und das, obwohl ich mal Ministrant war.

Ist lang her.

Ich nahm meinen Hut ab. Vielleicht würde das etwas nützen. Wenn ich es mir mit der alten Schachtel nicht sofort verderben wollte, musste ich den Gentleman spielen.

»Ich bin an dem Zimmer interessiert«, sagte ich mit meinem unschuldigsten Lächeln auf den Lippen. Daraufhin taxierte Mrs. Ferris mich vom Scheitel bis zur Sohle.

»Ich vermiete generell lieber an Herren«, verkündete sie. »Die jungen Mädchen von heute machen oftmals nur Scherereien.««

Zum Beispiel, indem sie sich abmurksen lassen, dachte ich - und nickte stumm, als ob ich ihrer Meinung wäre.

»Ich bin Mrs Ferris«, verkündete die Wirtin. »Und Ihr Name lautet ...?«

»Jack Reilly.«

Es war nicht nötig, mit einem falschen Namen um die Ecke zu kommen. Mrs Ferris konnte ja nicht wissen, dass die Freundin der Toten meine süße blonde Sekretärin war.

Sie forderte mich auf, ihr zu folgen. Wenig später stand ich in dem Raum, wo Mary mit ihrem eigenen Strumpf stranguliert worden war.

Der Raum unterschied sich nicht von Hunderten anderer möblierter Buden, die ich während meiner Schnüfflertätigkeit beäugt hatte.

Bett mit Eisengestell, abgewrackte Kommode, windschiefer Kleiderschrank, Spiegel mit Sprung, hölzerner Sekretär mit Tintenflecken. Die Tapete war stark ausgeblichen. Es hing immer noch ein Hauch von billigem Frauenparfüm in der Luft.

»Ein sehr schönes Zimmer«, log ich.

Der Drachen nickte beifällig.

»Was machen Sie denn beruflich, Mr. Reilly?«

Mit dieser Frage hatte ich schon gerechnet. Schließlich wollte die Vermieterin wissen, ob ich ihr regelmäßig ein paar rechteckige Papierstücke mit toten Präsidenten drauf in die Hand drücken konnte.

Ich tat mein Bestes, um eine wichtige Miene aufzusetzen.

»Ich bin Schriftsteller.«

Schließlich musste ich mir eine Tarnung zulegen, mit der ich mich möglichst unauffällig in der Umgebung herumdrücken und Leute aushorchen könnte. Und das ist nun mal nicht möglich, wenn man zwölf Stunden täglich am Fließband steht oder sich in einem Büro den Buckel krumm schuftet.

»Oh ... «

Mrs. Ferris schaute mich so respektvoll an, als ob Herman Melville persönlich bei ihr einziehen wollte. Oder Mark Twain. Oder – weiß der Henker, wer sonst noch infrage gekommen wäre. Andere Autoren kenne ich nicht.

Nun hatte ich erst recht ihre Neugier geweckt.

«Was schreiben Sie denn so?«, wollte sie wissen. Auch auf diese Frage war ich vorbereitet. Lässig zog ich ein Groschenheft aus der Jackentasche. Es hieß Thrilling Detective Storys. Auf dem Cover war ein Schönling mit einer Fünfundvierziger in der Faust zu sehen, der eine leicht bekleidete Wasserstoffblondine vor einem unrasierten Dreckskerl mit Augenklappe rettete.

»Und von dieser Art ... Prosa kann man leben?«, hakte die Vermieterin misstrauisch nach. Ich stillte ihre Neugier, indem ich einen Jackson aus der Tasche fischte und ihr vor die Nase hielt. Mrs. Ferris schnappte nach der Zwanzig-Dollar-Note wie ein Hai nach einem Schiffbrüchigen. Sie schenkte mir ein schmallippiges Lächeln.

»Willkommen in der Hudson Street, Mr. Reilly. Bei mir gibt es nur zwei Regeln: Damenbesuch ist nicht erwünscht, und nach zehn Uhr abends möchte ich keine lauten Geräusche mehr hören.«

»Selbstverständlich nicht«, sagte ich so ernsthaft wie möglich. »Ungehobelter Lärm könnte meine Transpiration stören.«

»Sie meinen wohl Inspiration«, gab die Alte stirnrunzelnd zurück. Und ich nahm mir wieder einmal vor, nicht mit Fremdwörtern um mich zu werfen. Das kann nämlich nach hinten losgehen, so wie eine ungesicherte Schrotflinte.

»Ja, natürlich. Ich bin in Gedanken schon mit meinem nächsten Roman beschäftigt.«

»Solange Sie mir keinen Ärger machen, können Sie tun, was Ihnen beliebt.«

Das Interesse der Vermieterin an mir war so schnell erloschen, wie es aufgeflammt war. Das konnte mir nur recht sein. Literarische Diskussionen würden Marys Mörder gewiss nicht auf den elektrischen Stuhl bringen.

Mrs. Ferris nickte mir zu und schloss die Tür von außen. Ich war allein in meinem neuen Reich.

»Wer wollte dir ans Leben, Mary?«

Ich stellte diese Frage, während ich mir eine Lucky Strike anzündete und den Rauch langsam Richtung Zimmerdecke blies. Die Wände blieben gemeinerweise stumm, also musste ich mich selbst um eine Antwort bemühen. Und ich fing mit dem Teppich an.

Es handelte sich um billige Fabrikware in scheußlichen Farben. In dieser Bude hatte ich keine echten Perser erwartet, doch mich interessierten eher die Brandlöcher in dem Material. Ich ging auf die Knie und zog meine Lupe aus der Tasche.

Ist Ihnen schon mal eine brennende Zigarette aus der Hand gefallen, wenn Sie müde oder betrunken eingenickt sind? Zigaretten verursachen Brandlöcher von einer bestimmten Form und Größe. Wenn beispielsweise die Glut einer dicken Havanna auf dem Boden landet, sieht der Schaden ganz anders aus. Doch ich konnte mir Lucys Freundin nur schwer mit einer Zigarre im Mund vorstellen.

Das Brandloch in der Nähe des Bettes war zu klein für eine Zigarette, für eine Zigarre erst recht. Ob es von einem Zündholz stammte? Ja, das war möglich.

Oder aber von einer Opiumpfeife.

Ich meine, wem fällt ein Streichholz aus den Fingern, ohne dass er sich die Flossen verbrennt? Und dann wird man garantiert wieder wach. Der kleine Metallkopf einer Opiumpfeife hingegen passte genau zu dem Brandloch. Auf mein Augenmaß kann ich mich normalerweise verlassen.

Ob Mary rauschgiftsüchtig gewesen war?

In New York City bekam man Drogen genauso einfach wie Hotdogs. Wenn sie dem Morphiumlaster frönte, konnte ihr Tod unmittelbar damit zusammenhängen. Aber würde meine Vorzimmer-Queen sich wirklich mit so einer Narkotik-Lady befreunden? Ich glaubte, Lucy gut zu kennen. Vielleicht besser als jeden anderen Menschen auf dieser dreckigen Welt. Sicher, meine Sekretärin zischte gern mal einen Schwarzgebrannten. Genau wie ich selber. Doch das Rauschgift aus dem Fernen Osten war ein ganz anderes Kaliber.

Die Polizei konnte bei dem Mordopfer keine Drogen gefunden haben, denn darüber hätte Leary mich garantiert informiert. Außerdem – wo war die Opiumpfeife, die das Loch in den Teppich gebrannt hatte?

Das kleine Zimmer bot nicht viele Versteckmöglichkeiten. Während meiner Jahre als Privatschnüffler habe ich schon die obskursten Gegenstände gefunden, die an seltsamen Orten verborgen waren. Beispielsweise einen Diamanten in einem Holzbein. Doch während ich den Raum durchforstete, entdeckte ich nichts Verdächtiges. Das musste allerdings nichts zu bedeuten haben. Der Mörder konnte die Pfeife schließlich auch mitgenommen haben, damit die Cops nicht in Richtung Rauschgift ermittelten.

Oder der Brandfleck stammte von einem früheren Bewohner dieses Kabuffs. Mrs. Ferris‘ Untermietzimmer waren garantiert nicht erste Wahl. Wer es sich leisten konnte, zog eher früher als später wieder aus.

Während mir diese Gedanken durch den Schädel schwirrten und ich unter dem Bett nach Beweisstücken suchte, klopfte es an die Tür. Gleich darauf wurde sie geöffnet.

Eine Traumfrau betrat mein Zimmer.

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Diese dunkelhaarige Schönheit kam mir vor wie ein Revuegirl, das sich als Betschwester aus dem Mittleren Westen verkleidet hatte.

Sie trug ein züchtiges taubengraues Kostüm mit einer hochgeschlossenen weißen Bluse. Ihr Parfüm war so dezent, dass noch nicht einmal der Papst persönlich daran Anstoß genommen hätte. Ihr voller Kussmund

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Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: Germancreative, www.fiverr.com
Editing: Christiane Geldmacher, www.textsyndikat.de
Publication Date: 09-06-2019
ISBN: 978-3-7487-1468-2

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