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Schrecken der Tiefsee

Die geheimnisvolle Unterwasserwelt erkunden und vielleicht einen Schatz finden - Emily träumt schon seit Jahren davon, im Meer zu tauchen. Als ihre Mutter sie jetzt aufmuntern möchte und ihr einen Tauchkurs schenkt, freut Emily sich riesig. Doch kaum sind sie, der sympathische Andy und die anderen Tauchschüler an Bord der Fortuna, werden sie von Raubtauchern verfolgt und angegriffen. Dann zieht auch noch ein mächtiger Hurrikan auf, und plötzlich treibt Emily allein im Meer - voller Angst, die Verbrecher könnten sie finden. Die nächste Welle könnte ihre letzte sein ...

Eine frühere Version des Romans erschien 2012 unter dem Titel Atme, wenn du kannst!

 

 

1

Tina Rigby glitt hinab in eine geheimnisvolle Welt.

Die Zwanzigjährige hatte bereits mehrere Monate Erfahrung im Gerätetauchen. Und doch missachtete sie an diesem Tag die wichtigste Grundregel ihres Sports: Tauche niemals alleine!

 

Allerdings hatte Tina einen wichtigen Grund dafür, dass sie sich ohne Begleitung immer tiefer in das smaragdgrüne Meereswasser unweit vom East Cape an der Küste Floridas hinunter arbeitete. Tina wurde von ihrer Goldgier angetrieben. Sie hatte das wertvolle Edelmetall immer schon geliebt. Doch obwohl ihre Eltern nicht gerade arm waren, stimmten Tinas zahlreiche Wünsche einfach nicht mit dem Limit ihrer Kreditkarte überein. Ihre Shopping-Trips rissen regelmäßig große Löcher in ihr Budget.. Sie stand auch auf rote Sportwagen, die in Italien montiert wurden, flach wie eine Flunder waren und ein kleines Vermögen kosteten. Und nennenswerte Reichtümer besaß Tina nicht – noch nicht.

 

Die junge Frau war in Florida aufgewachsen. Sie wusste, dass sie nicht als einzige vor der Küste des Sunshine State nach untergegangenen Schiffswracks mit Goldfracht tauchte. Aber Tina hatte einen Hinweis, der ihren Konkurrenten nicht zur Verfügung stand. Jedenfalls hoffte sie das. Die Geschichtsstudentin war nämlich in einer Chronik aus dem 17. Jahrhundert auf einen versteckten Hinweis gestoßen. Dieses Wissen würde sie hoffentlich zu einer steinreichen Luxuslady machen.

 

Tina bewegte jetzt nur noch ihre langen schlanken Beine, deren Füße in Schwimmflossen steckten. In den Händen hielt sie eine leistungsstarke druckdichte Taucherlampe. Die benötigte sie auch, denn je tiefer sie kam, desto finsterer wurde ihre Umgebung. Sie erschrak, als unmittelbar vor ihrer Taucherbrille plötzlich ein schillernder Clownfisch erschien. Aber das Tier war von der Begegnung genauso geschockt wie sie selbst. Der Fisch machte ein paar hektische Bewegungen mit seiner Schwanzflosse und jagte zurück in die Dunkelheit an dem zerklüfteten Riff.

 

Vor Haien fürchtete sich Tina nicht. Die meisten Geschichten über menschenfressende Raubfische waren nichts weiter als Schauermärchen, das wusste sie. Trotzdem breitete sich ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend aus. Tina fühlte sich bedroht, ohne eine greifbare Gefahr vor sich zu haben. Sie konzentrierte sich auf ihr Vorhaben und fühlte sich sofort etwas besser. Immerhin war es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie ganz allein tauchte, und die Gewässer am East Cape waren ihr nicht wirklich vertraut. Da konnte man schon einmal Panik schieben, fand Tina.

 

Doch plötzlich erblickte sie das versunkene Schatzschiff vor sich.

 

Zunächst fiel der Strahl von Tinas Tauchlampe nur auf eine Erhebung, die wie ein unterseeischer Hügel aussah. Doch die geübte Taucherin wusste, dass jahrhundertealte Wracks oftmals von Korallen überwuchert waren und kaum noch ihre ursprüngliche Form besaßen. Tinas Herz klopfte schneller. Während sie dichter an die Überreste des Seglers heran schwamm, wurde ihre Hoffnung immer stärker zur Gewissheit.

 

Hier lag wirklich eine Galeone aus dem 17. Jahrhundert auf dem Meeresboden. Obwohl der Zahn der Zeit an den Planken und Masten genagt hatte, war die typische Form des altmodischen Schiffstyps noch gut auszumachen, jedenfalls für Tina. Sie hatte sich lange genug im Studium mit der damaligen Zeit beschäftigt.

 

Tina lief ein ehrfürchtiger Schauer über den Rücken, als ihre behandschuhte Rechte zum ersten Mal die korallenüberwucherte Reling berührte. Sie hoffte, dass der Schatz noch im Inneren des gesunkenen Schiffs verborgen war. Vorausgesetzt, sie hatte überhaupt das richtige Wrack vor sich. Die Florida Bay war schon damals ein vielbefahrenes Seegebiet gewesen, und in Kriegen und Konflikten wurden unzählige Schiffe auf den Meeresgrund geschickt.

 

Doch Tina setzte ihre ganze Hoffnung auf die Chronik, deren Geheimbotschaft sie entschlüsselt zu haben glaubte. Es war schon gefährlich genug, alleine einen Tauchgang zu unternehmen. Aber zusätzlich ohne Begleitung in ein Wrack einzudringen, wäre für jeden normalen Schnorchler beinahe selbstmörderisch gewesen. Tina tat es trotzdem. Das heißt, sie wollte es tun.

 

Aber plötzlich nahm sie einen großen dunklen Schatten wahr, der seitlich an ihr vorbei glitt. Tina zuckte zusammen und drehte ihre Lampe in die Richtung. Hatte sie einen gefährlichen Fisch aufgeschreckt? Einen Rochen? Eine Muräne? Oder vielleicht doch einen Blauhai? Sie wurde von Panik erfasst. Es war, als ob eine eiskalte Klaue nach ihrem Herzen greifen würde. Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können? Es gab praktisch keinen Raubfisch, der einen Taucher nicht einholen konnte.

 

Tinas Hände begannen so stark zu zittern, dass sie beinahe ihre Lampe verloren hätte. Nur mit Mühe gelang es ihr, die Nerven zu behalten. Ihre Linke tastete zu ihrem Tauchermesser, das sie mit sich führte. Es sollte ihr eigentlich nicht als Waffe, sondern als Werkzeug dienen. Zur Selbstverteidigung war es ziemlich ungeeignet. Allein schon, weil sich Tina vor einem Kampf fürchtete.

 

Im nächsten Moment bemerkte sie allerdings, dass sie gar kein Tier vor sich hatte. Im Licht ihrer druckfesten Lampe sah Tina einen Neoprenanzug, der ihrem eigenen ähnelte, außerdem Schwimmflossen, Schnorchel und ein Sauerstoffgerät. Aber wieso hatte der andere Taucher keine Lampe bei sich? Was hatte er zu verbergen? War er aus demselben Grund hier, der Tina ebenfalls zu dem Schiffswrack getrieben hatte?

 

Diese Fragen drängten sich ihr auf, aber eine Antwort darauf erhielt sie nicht mehr. Tina erblickte nun die Harpune in den Händen des unbekannten Tauchers. Instinktiv wandte sie sich ab und floh. Von diesem Fremden hatte sie nichts Gutes zu erwarten. Woher wusste der andere Taucher, dass sie hier sein würde? War die Begegnung nur purer Zufall? Das konnte Tina nicht glauben, denn sie befand sich weitab der bekannten karibischen Tauchgebiete. Plötzlich kam ihr ein furchtbarer Verdacht, wer der Mann mit der Harpune sein könnte.

 

Tina verschwand hinter einer scharfzackigen Felsnase, die beinahe so groß war wie ein Kleinwagen. Sie hatte gehofft, ihren Verfolger abschütteln zu können. Aber ihr Widersacher war zu reaktionsschnell. Schon war er auf Schussdistanz heran gekommen. Tina hob instinktiv die Hände zur Abwehr, aber das war sinnlos.

 

Sie spürte noch einen heftigen Schmerz, als der Harpunenstahl ihre Brust durchbohrte. Danach wurde es schwarz um sie herum, und zwar für immer Das Blut sickerte aus ihrem Körper und vermischte sich mit dem grünblauen Wasser der karibischen See.

2

Emily Price fühlte sich hundsmiserabel.


Der Stadtbezirk Pine Hills war nicht die beste Gegend von Orlando, Florida. Im Polizeirevier dieses Stadtviertels erblickte Emily so viele Schlägertypen, Drogenwracks, Verbrechensopfer und offensichtlich Geisteskranke wie noch nie zuvor in ihrem einundzwanzigjährigen Leben. Die uniformierten Cops bewegten sich zwischen diesen Elendsgestalten mit der gelangweilten Routine von Leuten, die nur ihren Job machen. Und auch Emilys Anwalt Dr. Brennan ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Der Glatzkopf mit den großen Tränensäcken unter den Augen saß neben Emily auf der harten Holzbank. Dr. Brennan schien sich um seine Mandantin keine großen Sorgen zu machen. Jedenfalls hatte er seine Aktentasche geöffnet und arbeitete einige Papiere durch.


„Wann sind wir denn endlich an der Reihe?“, stieß Emily hervor. Sie war verängstigt und genervt zugleich.

„Bleiben Sie bitte ruhig, Miss Price.“ Der Jurist schaute noch nicht einmal von seinen Akten auf. „Wenn Sie zu nervös sind, wird die Polizei das als ein Schuldeingeständnis werten. Ich würde Ihnen ja einen Kaffee besorgen. Allerdings fürchte ich, dass diese Brühe sie noch nervöser macht, als Sie es ohnehin schon sind. Der Polizeikaffee ist nur etwas für alte Haudegen wie mich. Dieses Zeug zu trinken, das ist schon Strafe genug. Und vor einer Strafe wollen wir Sie ja schließlich bewahren, nicht wahr?“


„Strafe? Aber ich habe doch gar nichts getan!“ Emily fand selbst, dass sich ihre Stimme total hysterisch anhörte.

„Natürlich haben Sie das nicht“, stimmte Dr. Brennan zu. Aber es klang nicht so, als ob er ihr glauben würde. Der Verteidiger begleitete Emily schließlich nicht aus Sympathie zum Verhör, sondern weil Emilys Mom ihn dafür bezahlte. Und es hörte sich nicht so an, als ob er seine Mandantin für unschuldig hielt. Emily war den Tränen nahe, obwohl sie normalerweise nicht so nahe am Wasser gebaut hatte. Aber wenn schon ihr eigener Anwalt sie für eine Mörderin hielt -- wie sollte sie dann erst die Polizei von ihrer Unschuld überzeugen?


Ein junger Typ mit Gang-Tattoos rastete plötzlich und unerwartet aus. Beinahe hätte auch Emily einen von seinen unkontrollierten Hieben abbekommen. Er schlug wild um sich, traf einen alten Obdachlosen am Kopf und wurde schließlich von zwei Cops mit einem Taser ruhiggestellt. Sie schleiften ihn in eine Arrestzelle. Emily erkannte plötzlich, dass man sie vielleicht auch hinter Gitter stecken würde. Diese Vorstellung war beinahe unerträglich, und ihre Augen wurden feucht.


In diesem Moment öffnete sich die Bürotür, vor der Emily und ihr Rechtsbeistand warteten. Ein weiblicher Detective sprach sie an.


„Miss Price? Kommen Sie bitte herein.“


Emily hatte butterweiche Knie, als sie den Verhörraum betrat. Die Einrichtung bestand nur aus vier Stühlen und einem Tisch, auf dem ein Tonbandgerät stand. Emily wurde aufgefordert, sich zu setzen. Der Anwalt war den Zivil-Cops offenbar bekannt, jedenfalls fragte ihn niemand nach seinem Namen. Die Beamten stellten sich als Detective Dorothy Stewart und Detective Sidney Bartlett vor. Emily wurde über ihre Rechte belehrt und stimmte zu, dass die Befragung per Tonband mitgeschnitten wurde.


Der Anwalt hatte nun endlich seine Aktenlektüre beendet.


„Was wird meiner Mandantin eigentlich zur Last gelegt, Detectives?“

„Wir haben den begründeten Verdacht, dass Emily Price ihren Ex-Freund Jim Meadows ermordet hat.“

Dr. Brennan lachte, aber er klang nicht amüsiert.

„Begründeter Verdacht? Finden Sie nicht, dass zu einem begründeten Verdacht wenigstens eine Leiche gehört?“

Emily konnte dem Wortwechsel kaum noch folgen, weil es ihr so schlecht ging. Nun hatte Detective Dorothy Stewart endlich ausgesprochen, was Emily schon die ganze Zeit befürchtet hatte. Ihr Ex-Freund war spurlos verschwunden, und die Polizei glaubte an ein Gewaltverbrechen. Emily konnte nicht mehr an das denken, was geschehen war. Am liebsten hätte sie sich in ein Mauseloch verkrochen, aber so etwas gab es in diesem Verhörraum natürlich nicht. Und außerdem sahen diese Zivilcops nicht so aus, als ob sie Emily entkommen lassen wollten.


Detective Sidney Bartlett zählte an den Fingern ab, warum Emily unter Mordverdacht stand.


„Dr. Brennan, Ihre Mandantin wurde monatelang von Jim Meadows belästigt, sie hat ihn wegen Stalking bereits angezeigt. Leider konnte die Polizei Jim Meadows nicht stoppen, er war offenbar wie besessen von Emily Price. Ihre Mandantin hat vor Zeugen mindestens einmal gesagt, dass sie ihren Ex-Freund umbringen könnte. Jim Meadows ist seit einer Woche spurlos verschwunden, in seinem Zimmer wurde eine größere Menge Blut von ihm gefunden. Er verschwand an dem Abend, an dem seine Eltern gewohnheitsmäßig zum Bowling gehen. Als seine Ex-Freundin wusste Ihre Mandantin, dass Jim Meadows jeden Dienstagabend allein im Haus ist. Sein Zimmer befindet sich direkt neben dem Hinterausgang. Die Gasse hinter dem Gebäude ist finster. Es wäre kein Problem, die Leiche durch den Garten zu einem wartenden Auto zu schaffen und in den Kofferraum zu legen. Emily Price ist sportlich, sie hat bei der ersten Befragung angegeben, dass sie schwimmt und Gerätetauchen betreibt. Sie wäre also in der Lage gewesen, den Toten ohne fremde Hilfe abzutransportieren.“


„Wollen Sie meiner Mandantin einen Strick daraus drehen, dass sie körperlich fit ist?“


„Selbstverständlich nicht, Dr. Brennan.“


Der Anwalt machte eine ungeduldige Handbewegung.


„Es ist kein Staatsgeheimnis, dass Jim Meadows‘ Eltern jeden Dienstag zum Bowling gehen. Das weiß übrigens jeder, der in Orlando Zeitung liest. Mr. und Mrs. Meadows spielen nämlich in einem erfolgreichen Amateur-Team und haben schon öfter Preise gewonnen. Die Trainingszeiten werden auch im Internet veröffentlicht. Außerdem gibt es noch zahlreiche andere Verdächtige, denn Jim Meadows ist ein Hitzkopf, der schon mit vielen Menschen aneinandergeraten ist – auch mit der Polizei. Und solange seine Leiche nicht gefunden wird, glaube ich auch nicht an seinen Tod.“


Detective Dorothy Stewart wandte sich nun direkt an Emily. Sie war noch jung, schätzungsweise Anfang dreißig. Die Polizistin bemühte sich um einen persönlichen Tonfall. Sie sprach mit einem freundlichen warmen Unterton – so, als ob sie Emilys Freundin wäre.


„Ich kann verstehen, wie Sie sich gefühlt haben müssen, Miss Price. Man ist so hilflos, wenn man einen Stalker an den Hacken hat. Die Gesetze machen es diesen kranken Typen immer noch zu leicht. Jim Meadows hat Ihnen das Leben zur Hölle gemacht, Sie waren mit den Nerven völlig am Ende. Vielleicht haben Sie sich noch zu einer letzten Aussprache mit ihm getroffen. Aber dann gab es Streit. Ich glaube nicht, dass Sie ihn wirklich töten wollten, aber dann ist es doch passiert. – War es so, Emily? Ich darf doch Emily sagen, oder?“


„Ja“, hauchte Emily. „Ich meine, nein. – Also, Sie dürfen Emily sagen. Aber ich war das nicht!“


„Netter Versuch, Detective Stewart“, knurrte der Anwalt. „Lernt man diese Verwirrspielchen neuerdings auf der Polizeischule? Ich bin ein alter Mann. Zu meiner Zeit gab es noch eine Leiche und eine Mordwaffe, bevor die Anklage erhoben werden konnte. Ich kann nicht glauben, dass das heutzutage anders sein soll.“


„Wir werden Jim Meadows‘ sterbliche Überreste finden“, meinte Detective Sidney Bartlett. „Das ist für uns nur noch eine Frage der Zeit.“


Dr. Brennan lachte erneut.


„Ich würde sagen, die Polizei braucht dringend einen Erfolg. Das ist alles, was ich sehe. – Und nun präsentiere ich Ihnen meine Fakten. Die Spurensicherung konnte im Garten keinen Hinweis auf einen Leichentransport feststellen.“


„Weil es in der Nacht stark geregnet hat“, warf Dorothy Stewart ein.


„Wollen Sie das jetzt auch meiner Mandantin anlasten? – Wie auch immer, Emily Price hat ein Alibi. Zur fraglichen Zeit war sie laut Aussage ihrer Mutter die ganze Zeit daheim.“


„Emily ist das einzige Kind von Mrs. Price“, gab Sidney Bartlett zu bedenken.


„Und dadurch wird die Aussage unglaubwürdiger? Das ist echte Polizei-Logik, das muss ich schon sagen. – Auf jeden Fall hat meine Mandantin im Affekt dem verschwundenen Jim Meadows den Tod gewünscht. Aber das war nur ein Ausrutscher, den sie selbstverständlich bedauert. Nicht wahr, Miss Price?“


Emily nickte nur stumm mit dem Kopf. Ihr Anwalt hatte ihr eingeschärft, so wenig wie möglich zu sagen und das Reden ihm zu überlassen. Sie war nun doch froh, ihn bei sich zu haben. Dr. Brennan hatte zwar zunächst gelangweilt gewirkt, aber nun legte er sich für sie richtig ins Zeug. Der Jurist hatte offenbar seine Hausaufgaben gemacht. Dass ihr Ex-Freund ein richtiger Stinkstiefel sein konnte, wussten viele Leute. So gesehen gab es gewiss noch viel mehr Verdächtige. Emily presste die Lippen aufeinander. Sie wollte nicht mehr an das denken, was geschehen war, und sich nicht mehr mit Jim beschäftigen. Doch durch die Mordanklage wurde sie dazu gezwungen.


Der Anwalt stand abrupt auf.


„Wir gehen, Miss Price. – Detectives, bei dieser dürftigen Beweislage wird der Richter niemals Untersuchungshaft anordnen. Ich wette, dass dieser nichtsnutzige Bengel Jim Meadows schon bald putzmunter wieder irgendwo erscheint und uns allen auf die Nerven geht, auch Ihren uniformierten Kollegen vom Streifendienst.“


Emily wusste auch, dass Jim Meadows schon öfter Ärger mit dem Gesetz gehabt hatte. Auf Party benahm er sich regelmäßig daneben, und wenn die Gastgeber schließlich die Polizei riefen, legte er sich auch noch mit den Cops an. Früher hatte Emily ihren damaligen Freund wegen solcher Erlebnisse wild und aufregend gefunden. Doch als sein explosives Temperament sich plötzlich gegen sie richtete, gefiel ihr seine dunkle Seite plötzlich gar nicht mehr. Jims unberechenbare Art war nur noch nervenzermürbend und bedrohlich für Emily.


Sie atmete erst einmal tief durch, nachdem sie die Polizeistation endlich wieder verlassen durfte. Dr. Brennan brachte Emily noch in seinem Chevrolet zum Haus ihrer Mutter. Zum Abschied sagte der Anwalt: „Sie müssen sich keine Sorgen machen, Miss Price. Die Polizei hat nichts in der Hand. Die Cops können Ihnen den Mord nicht nachweisen, nicht bei dieser Beweislage.“


„Und Sie, Dr. Brennan? Glauben Sie, dass ich Jim Meadows getötet habe?“


Der Jurist lachte und öffnete die Beifahrertür.


„Ich werde nicht fürs Glauben bezahlt. Überlassen Sie nur alles mir, dann löst sich die Anklage in Wohlgefallen auf. – Wir sehen uns dann beim Haftprüfungstermin.“


Emily stieg aus und durchquerte den Vorgarten. Der Anblick des kleinen Hauses, in dem sie ihr gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte, beruhigte sie etwas. Ihre Mutter war nicht daheim. Brenda Price hatte einen Job bei der Stadtverwaltung von Orlando und musste tagsüber arbeiten.


Emily war im zweiten Jahr auf dem College, und die Sommerferien waren erst vor zwei Wochen mit einer feuchtfröhlichen Riesenparty eingeläutet worden. Ruhelos und nervös tigerte sie durch das Haus, nachdem sie aufgeschlossen hatte. Emily musste jetzt unbedingt mit jemandem reden, sonst würde sie noch platzen. Es kam ihr vor, als ob hinter den Gartenhecken der Finnegans irgendwelche heimlichen Beobachter lauerten. Und was war mit dem Oldsmobile, das schräg gegenüber parkte? Das Auto gehörte keinem ihrer Nachbarn, da war Emily sicher. Ob sie von den Cops beschattet wurde?


Im Bad riss sich Emily die Kleider vom Leib. Für den Besuch der Polizeiwache hatte sie ein braves Leinenkostüm mit knielangem Rock und spießiger Bluse angezogen, doch in diesen Klamotten fühlte sie sich unwohl. Außerdem brauchte sie jetzt dringend eine Dusche, um die beklemmende Atmosphäre von Gewalt und Elend abzuspülen.


Nachdem sie sich ausgiebig abgebraust hatte, ging es ihr etwas besser. Emily betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, während sie sich abfrottierte. Eigentlich sah sie recht hübsch aus mit ihren großen dunkelbraunen Augen, die gut zu ihrem kastanienfarbenen schulterlangen Haar passten. Ihre Lippen waren auch ohne Botox-Behandlung schön geschwungen, und Jim hatte immer gesagt …


Emilys Gedankengang brach abrupt ab. Sie wollte nicht mehr an diesen Kerl denken und auch nicht an das, was zwischen ihnen geschehen war. Nie mehr!


Das Telefon klingelte.


Emily wickelte sich in das Badetuch und eilte in die Küche, wo das Festnetztelefon an der Wand hing. Sie nahm den Hörer ab.

„Hallo?“


Am anderen Ende der Leitung war nichts zu hören. Oder etwa doch? Ein unterdrücktes Atmen, ein keuchendes Geräusch? Oder bildete Emily sich das nur ein? Spielte ihr ihre Fantasie einen Streich? Gleich darauf ertönte das Besetztzeichen. Emily lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, obwohl sie soeben heiß geduscht hatte.


Wer war der Anrufer? Was bezweckte er? Falls er kontrollieren wollte, ob sie zu Hause war, dann hatte er dieses Ziel jedenfalls erreicht. Emily wollte zwar nicht mehr an ihren Ex denken, aber nun fiel ihr wieder ein, dass Jim Kontakt zu einigen zwielichtigen Typen gehabt hatte. Ob einer von denen am Apparat gewesen war? Aber weshalb? Darüber wollte sie lieber nicht nachgrübeln.


Das Telefon schrillte erneut.


Emily zuckte zusammen und ließ vor Schreck das Handtuch fallen. Splitternackt stand sie in der Küche, aber es war ja niemand außer ihr da. Oder? Unwillkürlich ließ sie ihren Blick über die geschlossenen Türen zu den anderen Zimmern schweifen. Hatte sich gerade der Türknauf ihres eigenen Zimmers gedreht? Emily erkannte, dass sie schon fast hysterisch war. Das entnervende Geräusch hörte einfach nicht auf. Es half nichts, sie musste das Gespräch annehmen. Ihre Hand zitterte, als sie den Hörer erneut an ihre Ohrmuschel presste.


„H-hallo?“


„Emily? Hier ist Mom. Ich wollte mich nur kurz melden und fragen, wie es bei dem Verhör gelaufen ist.“


Emily war unglaublich erleichtert, weil sie die vertraute Stimme ihrer Mutter hörte.


„Ganz gut, glaube ich. Dr. Brennan war richtig super, Mom. Er hat die Anklage gegen mich in der Luft zerrissen. Er meint, ich muss mir keine Sorgen machen.“


„Das finde ich auch, Emily. Es ist ja sowieso unglaublich, dass du verdächtigt wirst, obwohl du den ganzen Abend daheim warst. Aber die Aussage der eigenen Mutter nehmen diese Cops anscheinend nicht ernst. Naja, die müssen auch nur ihren Job machen. Außerdem glaube ich, dass der wahre Mörder bald gefasst werden wird. Dann bist du sowieso entlastet.“


„Dr. Brennan glaubt, dass Jim noch am Leben wäre.“


„Das kann natürlich sein. Wer weiß, was in Jims Kopf vorgeht. Du hast ja mit diesem Kerl schon genug Ärger gehabt, dem ist doch alles zuzutrauen. – Hör mal, lass uns heute Abend weiterreden, ja? Ich darf hier nicht so lange Privatgespräche führen.“


„Schon klar. Nur noch eine Sache, Mom …“


„Ja?“


„Hast du gerade eben schon mal angerufen?“


„Ja, das war ich. Aber die Leitung war plötzlich weg, das liegt an unserer blöden Telefonanlage hier im Office. Bis später dann.“


„Okay, bis später.“


Emily war froh, dass der verdächtige erste Anruf ebenfalls von ihrer Mutter stammte. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, beobachtet und überwacht zu werden. Aber war das vielleicht ein Wunder? Für die Cops war sie zumindest momentan immer noch eine Hauptverdächtige. Es war das gute Recht der Polizei, jeden ihrer Schritte zu kontrollieren.


Oder waren es gar nicht die Cops, die sie im Auge behielten, sondern – jemand anders?


Emily schüttelte sich, als müsste sie einen bösen Traum abstreifen. Sie zog Unterwäsche, Shorts und ein ärmelloses Shirt an. Mitten im Sommer von Florida war das genau die richtige Kleidung. Ob sie das Haus verlassen sollte? Vielleicht würde sie ein Abstecher in die Shopping Mall auf andere Gedanken bringen. Aber Emily traute sich nicht, allein vor die Tür zu gehen. Ihre Freundinnen waren ausnahmslos schon in den Ferien, einige von ihnen sogar in Europa. Emily blieb nichts anderes übrig, als auf ihre Mom zu warten. Sie schaltete den Fernseher ein, aber es war wie verhext. Auf allen Kanälen liefen nur Krimis und Gerichtsshows, in denen es ständig um Schuld und Verurteilungen ging.


Plötzlich musste Emily an Charlene Briggs denken, obwohl diese eingebildete Ziege nun wirklich nicht ihre Freundin war. Aber wahrscheinlich hatte sie es Charlene zu verdanken, dass sie überhaupt zur Mordverdächtigen abgestempelt worden war. Emily wollte plötzlich unbedingt ihren Frust an jemandem abreagieren. Sie schaltete das TV-Gerät wieder aus und schnappte sich ihr Handy. Sie hatte Glück und erreichte Charlene sofort.


„Emily? Das ist aber eine Überraschung.“


„Ja, du dachtest wahrscheinlich, ich würde schon in der Todeszelle sitzen, wie? Aber ich muss dich enttäuschen, die Cops haben mich noch nicht einmal verhaftet. Zu schade, oder?“


„Weshalb bist du denn so aggressiv, Emily? Was habe ich dir denn getan?“


„Das fragst du noch, du falsche Schlange? Du hast doch bei der Polizei ausgesagt, dass ich Jim den Tod angedroht habe, oder etwa nicht?“


„Ja, das habe ich getan. Und – war das etwa eine Lüge? Ich habe dich wörtlich zitiert: ‚Diesen Jim Meadow werde ich irgendwann noch einmal eigenhändig umbringen‘. Hast du diesen Spruch von dir gegeben oder nicht?“


„Ja, das habe ich getan“, räumte Emily mit erzwungener Ruhe ein. „Aber du musst doch auch den Zusammenhang sehen. Ich war völlig fertig, weil Jim meine Katze getötet hatte, und ….“


„Dafür gibt es nicht den geringsten Beweis. Ich glaube, das bildest du dir alles nur ein, Emily.“


„Ach, wirklich? Und den monatelangen Psychoterror durch meinen Ex, den

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Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Martin Barkawitz
Images: Photoarena, www.fiverr.com
Publication Date: 01-07-2017
ISBN: 978-3-7396-9221-0

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