Dies ist ein Roman, der nicht auf realen Ereignissen basiert. Alle Übereinstimmungen mit lebenden oder toten Personen oder etwaige Namensähnlichkeiten wären rein zufällig. Nur das Gymnasium Blankenese gibt es tatsächlich.
Inhalt:
Wenn dich der Maskenteufel holt …
Ganz Blankenese zittert vor dem unheimlichen Serienkiller, der nachts im Treppenviertel junge Frauen abschlachtet. Warum schafft es die Hamburger Polizei nicht, in einem so kleinen Areal für Sicherheit zu sorgen? Für Kommissarin Heike Stein wird der Fall zur persönlichen Herausforderung, als sie sich schließlich selbst als Lockvogel zur Verfügung stellt. Zu spät begreift sie, dass der satanisch intelligente Täter ihr eine Falle gestellt hat.
Christine Becker ahnte nichts von der Todesgefahr, als sie die Gartenparty verließ.
»Soll ich dich nach Hause bringen?«, rief der achtzehnjährige Dirk Bahl ihr zu.
»Nicht nötig«, entgegnete die gleichaltrige Christine. »Ich kann das Haus meiner Eltern ja fast von hier aus sehen. Mich wird schon keiner klauen. – Tschühüss!«
Erleichtert bemerkte das blonde Mädchen, wie Dirk sich wieder seinen Kumpels Olli Menkhoff und Carsten Broder zuwandte.
Christine wusste, dass Dirk ein heimlicher Verehrer von ihr war. Wenn er sie zu ihrem Elternhaus begleiten durfte, würde er sich noch irgendwelche Schwachheiten einbilden.
Die Achtzehnjährige fand Dirk ja ganz nett, aber ihr Klassenkamerad war überhaupt nicht ihr Typ. Christine war nämlich heimlich in Nils Rade verliebt. Er war einfach der umwerfendste Typ auf dem Gymnasium Blankenese. Das war jedenfalls Christines Meinung. Aber auch die vieler anderer Mädchen.
Christine verließ das Grundstück von Mareikes Eltern. In deren Garten war die Party immer noch in vollem Gang. Doch die blonde Achtzehnjährige hatte die Nase voll von der Musik, den schrillen Cocktails und den ewig gleichen Gesichtern. Sie war müde und wollte nach Hause. Außerdem fühlte sich Christine etwas enttäuscht. Sie hatte gehofft, Nils Rade auf der Party zu treffen. Aber er war nicht erschienen. Christine wusste gar nicht so recht, was ihr Traumtyp außerhalb der Schule eigentlich so machte. Aber gerade dieses Geheimnisvolle faszinierte sie so sehr an ihm.
Das Mädchen konnte sein Elternhaus wirklich fast sehen. Es waren nur ungefähr 500 m Luftlinie zwischen der schmalen weißen Villa von Mareikes Eltern und dem Anwesen von Christines Papa und Mama.
Das Mädchen und alle ihre Klassenkameradinnen und Klassenkameraden waren mehr oder weniger reich. Sie lebten eben in Blankenese, einem der exklusivsten Stadtteile der ohnehin wohlhabenden Stadt Hamburg.
Christine fühlte sich etwas unsicher auf den Beinen. Diese Cocktails waren tückisch. Oft bemerkte man erst, wenn es zu spät war, dass sie es alkoholmäßig ganz schön in sich hatten.
Dem Mädchen wurde schwindlig. Sie blieb mitten auf der Strandtreppe stehen.
Das Treppenviertel von Blankenese weist zahlreiche Straßen auf, die in Wirklichkeit mehr oder weniger lange Treppen sind. Christine lehnte sich gegen einen Zaun. Sie hatte einen Panoramablick auf die Elbe. Obwohl sie ihr ganzes bisheriges Leben in Blankenese verbracht hatte, war das Mädchen immer wieder fasziniert vom Anblick des großen Stroms. Bei Nacht konnte man das Wasser nur als eine große dunkle Fläche erahnen, auf der die farbigen Positionslaternen von Schiffen einsame Lichtflecke setzten.
Christine befand sich in einer seltsam wehmütigen Stimmung. Sie dachte an Nils und daran, wie sie seine Liebe erwecken konnte.
Da hörte sie plötzlich ein unterdrücktes Keuchen hinter sich!
Das war gewiss nur Einbildung, sagte sich das junge Mädchen. Und wirklich: Als sie sich umdrehte, konnte sie keine Menschenseele erblicken. Abgesehen natürlich von den schemenhaften Umrissen der Partygäste, die illuminiert vom Schein bunter Glühbirnen weitertanzten. Aber die befanden sich in weiterer Entfernung. Die Gymnasiastin hatte sich wohl geirrt. Da war niemand in ihrer Nähe.
Christine atmete tief durch. Sie war nun etwas sicherer auf den Beinen und ging die Strandtreppe hinab. Ob wohl Nils Rade ebenfalls auf einer Party war? Auch sein Elternhaus befand sich nur einen Steinwurf weit entfernt. In gewisser Weise war Blankenese ein Dorf innerhalb der Millionenstadt Hamburg. Ein reiches, sehr grünes und exklusives Dorf.
Abermals vernahm die Achtzehnjährige ein Geräusch hinter sich. Nun erst kroch die Angst in ihr hoch. Zeitungsberichte fielen ihr ein, über schreckliche Verbrechen auf den nächtlichen Straßen der Elbvororte. Instinktiv begann Christine zu laufen.
Der Täter kam scheinbar aus dem Nichts. Er sprang das junge Mädchen an und warf sie zu Boden. Christine wollte schreien, aber die Furcht schnürte ihr die Kehle zu. Sie drehte den Kopf und erblickte eine riesige dunkle Gestalt mit Teufelshörnern. Ein Messer blinkte im Schein der spärlichen Straßenbeleuchtung. Die Strandtreppe war nachts nicht gerade ein belebter Ort.
Ein furchtbarer Schmerz in ihrem Oberkörper raubte Christine den Atem. Als der Täter zum zweiten Mal zustach, wurde sein Opfer durch eine gnädige Ohnmacht erlöst. Christines letzter wacher Gedanke galt Nils Rade, ihrem heimlichen Schwarm.
Melanie Hartwig wollte die Party eigentlich gar nicht verlassen. Sie hatte nur mitbekommen, dass ihre Freundin Christine sich vor ein paar Minuten von der Gastgeberin verabschiedet hatte. Melanie wollte Christine fragen, ob sie am nächsten Tag zu einer Segeltour mitkäme. Natürlich hätte sie ihrer Freundin auch eine SMS schicken oder ihr auf WhatsApp schreiben können. Aber in der Hinsicht war das junge Mädchen etwas altmodisch. Sie redete lieber Auge in Auge mit den Leuten.
Melanie eilte Christine nach. Weit konnte sie noch nicht gekommen sein. Allerdings musste sich die Gymnasiastin zwischen den vielen Partygästen durchdrängen. Es war sehr voll. Halb Blankenese schien gekommen zu sein. Aber schließlich schaffte Melanie es doch, das Grundstück zu verlassen. Sie eilte die Strandtreppe hinab.
Da wurde sie von einem Grobian einfach umgerannt!
Der Kerl schien sie gar nicht zu bemerken. Er gab nur ein heiseres Keuchen von sich. Melanie schrie auf. Sie hatte sich im Fallen das linke Knie zerschrammt. Sie wollte dem Flegel ein paar Beleidigungen nachrufen. Aber der Schuft war schon verschwunden.
Die dunkelhaarige Gymnasiastin kam wieder auf die Beine. Ihr Knie tat weh, aber es war auszuhalten. Was für ein Dummkopf!, ärgerte sich Melanie innerlich. Sie setzte ihren Weg fort.
Da erblickte sie Christine. Doch ihre Freundin lag auf dem Boden! Schnell kam Melanie näher. Sie erschrak. Das war auch kein Wunder, denn Christines zitronengelbes Minikleid war rot von Blut.
»Christine! Oh, Gott, Christine …«
Melanie war geschockt. Aber dann bewies sie zum Glück genügend Geistesgegenwart, Hilfe zu rufen. Sie lief nicht zur Party zurück, sondern alarmierte sofort einen Notarzt.
Es war genau 23.04 Uhr, als ihr Anruf per Handy in der Hamburger Notrufzentrale einging. Eine Viertelstunde später erreichte ein Notarzt mit zwei Sanitätern die schwer Verletzte. Christine Becker wurde ins nächstgelegene Hospital geschafft, und zwar ins Krankenhaus Tabea an der Kösterbergstraße in Blankenese. Durch eine sofortige Operation versuchten die Mediziner, das Leben des Mädchens zu retten. Doch Christine starb um 1.03 Uhr, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben.
Um 3.22 Uhr klingelte das Telefon in der Sonderkommission Mord des Hamburger Polizeipräsidiums. Kriminalhauptkommissarin Heike Stein nahm den Hörer ab. Die blonde Kriminalistin hatte in dieser Nacht Bereitschaftsdienst.
»Stein, Sonderkommission Mord.«
»Hier spricht Lutz Brehe vom Dezernat für Gewaltverbrechen, Heike. Nach dem bisherigen Ermittlungsstand hat heute Nacht wieder dieser Maskenteufel zugeschlagen …«
»Ach du Schande!« Der Hauptkommissarin schwante Übles. Besonders, da der Polizeikollege sie anrief. Schließlich war Heike Mordspezialistin. »Gab es diesmal eine Leiche?«
»Exakt, Heike. Wie du wahrscheinlich auch weißt, hat dieser Mistkerl bisher keines seiner Opfer lebensgefährlich verletzt. Aber heute Nacht schon. Eine achtzehnjährige Schülerin, sie war auf dem Weg von einer Party nach Hause. Fünf Einstiche in Brust und Rücken. Die Ärzte haben noch operiert, aber … na ja.«
»Das sieht wirklich danach aus, dass wir diesen Fall nun übernehmen werden«, erwiderte die Kriminalistin. »Wo bist du gerade?«
»Im Krankenhaus Tabea. Es gibt anscheinend eine Zeugin. Sie ist ebenfalls hier eingeliefert worden, mit Schocksymptomen. Von ihr weiß ich auch das mit der Party, jedenfalls indirekt. Ich will damit sagen, dass ich noch nicht mit ihr sprechen durfte. Das Krankenhauspersonal hat mir mitgeteilt, dass sie ständig von einer Party reden würde, auf der sie und das Opfer gewesen seien.«
Heike hatte bereits in Gedanken angefangen, zu ermitteln.
»In Ordnung, ich komme dann gleich zu dir raus, Lutz.«
Heike beendete das Gespräch. Dann gab sie in der Telefonzentrale bekannt, dass sie einstweilen über ihr Handy zu erreichen war. Oder per Funk in dem neutralen Dienstwagen, den sie sich aus der Fahrbereitschaft nahm.
Die Hauptkommissarin stieg in den roten VW Golf mit Polizeifunkgerät. Sie trug in dieser Spätsommernacht Jeans, Sneakers, einen beigen Baumwoll-Rolli und ein weit geschnittenes Leinen-Jackett. Dieses verdeckte gleichzeitig ihre Dienstwaffe, die sie in einem Clipholster hinten am Gürtel trug.
Während Heike den Wagen vom Präsidium im Hamburger Norden Richtung Südwesten lenkte, ging sie in Gedanken ihre Informationen über den so genannten Maskenteufel durch. Die Fakten waren höchst spärlich. In Wahrheit wusste die Kriminalistin nicht mehr über diesen Täter als der durchschnittliche Hamburger Zeitungsleser. Das verwunderte allerdings nicht, denn bisher hatte sie beruflich noch nicht mit diesem Verbrecher zu tun gehabt.
Jedenfalls machte seit einigen Wochen ein unheimlicher Gewalttäter den reichen Elbvorort Blankenese unsicher. Er fiel scheinbar wahllos über Frauen her und verletzte sie mit verschiedenen Stichwaffen. Bisher hatten alle seine Opfer die nächtliche Attacke überlebt. Aber diesmal war der Maskenteufel offenbar zu weit gegangen.
Dunkle Kleidung und eine Maske mit Teufelshörnern. Das waren alle Informationen, die bisher über den Verbrecher vorlagen. Oder die zumindest der Öffentlichkeit bekannt gegeben wurden.
Außerdem war Heike aufgefallen, dass der Maskenteufel einen sehr kleinen Aktionsradius hatte. Soweit sie wusste, hatte er alle seine Untaten im Umkreis von nur drei Kilometern begangen. Und zwar im so genannten Treppenviertel von Blankenese. Daran musste Heike denken, als sie über die Blankeneser Landstraße auf das Krankenhaus Tabea zusteuerte.
Die blonde Hauptkommissarin befestigte ihren blauen Kripo-Ausweis an ihrem Revers. Es war noch angenehm kühl, als sie vom Parkplatz zum Haupteingang der Klinik eilte. Von der Elbe her wehte eine steife Brise, die Meeresgeruch mitbrachte.
Heike hatte durch ihre Tätigkeit bei der Sonderkommission Mord schon alle Hamburger Krankenhäuser kennen gelernt. Daher fand sie sich auch in diesem Hospital schnell zurecht. Ihr Kollege vom Dezernat für Gewaltverbrechen wartete im Eingangsbereich der Intensivstation auf sie.
Kriminaloberkommissar Lutz Brehe war ein Mann um die vierzig mit schütterem Haar und einem bleichen Gesicht, das auch bei dem momentan vorherrschenden Sonnenwetter keine Brauntönung annahm. Er gab Heike die Hand.
»Ich bin nicht gerade unglücklich darüber, wenn ihr Mordermittler jetzt den Fall übernehmt. Ich würde diesen Maskenteufel zwar gerne selbst erwischen, aber wir können uns über Mangel an anderen Fällen nicht gerade beklagen.«
»Kann ich mir vorstellen, Lutz. Dann bring’ mich doch bitte mal kurz auf den neuesten Stand. Ich weiß nicht mehr als das, was in der Zeitung steht.«
Der Oberkommissar lächelte, als ob er in eine saure Zitrone gebissen hätte.
»Ich fürchte, viel mehr findet sich auch nicht in der bisherigen Ermittlungsakte. Es gab bisher vier Opfer dieses Verbrechers. Iris Brander, Natalie Schmölder, Vera Grune und Christine Becker. Das ist die junge Deern, die heute Nacht dort hinten auf dem OP-Tisch ihren Verletzungen erlegen ist.«
Lutz Brehe drehte den Kopf und deutete mit dem Kinn auf die Intensivstation hinter sich.
»Woran genau ist sie gestorben?«, wollte Heike wissen.
»Todesursache war ein Lungenriss, sagen die Ärzte. Eine genaue Obduktion wird natürlich durch die Gerichtsmedizin durchgeführt.«
Heike nickte.
»Was glaubst du, Lutz? Ist es Zufall, dass der Maskenteufel diesmal getötet hat?«
Der Beamte aus dem Dezernat für Gewaltverbrechen hob die Schultern.
»Wenn ich nur wüsste, was in seinem verflixten Schädel vor sich geht, Heike. Aber ich persönlich glaube, dass es bisher nur durch glückliche Umstände noch kein weiteres Todesopfer gegeben hat. Der Maskenteufel sticht offenbar wahllos zu. Wir haben jedenfalls noch kein System hinter seinen Untaten erkennen können. Man kann auch nicht behaupten, dass er seine Opfer besonders auswählt. Es sind Frauen, die im Dunkeln allein im Treppenviertel unterwegs sind. Das ist die einzige Gemeinsamkeit, die ich unter den bisherigen Opfern entdecken konnte.«
Heike zog eine Augenbraue hoch.
»Das hat mir gerade noch gefehlt! Ein geisteskranker Gewalttäter, der wahllos Frauen niedersticht.«
Die Kriminalhauptkommissarin hätte am liebsten gefragt, warum das Dezernat für Gewaltverbrechen noch keinen Erfolg vorzuweisen hatte. Das Treppenviertel von Blankenese war ein vergleichsweise winziger Teil der Metropolregion Hamburg.
Aber es wäre ungerecht gewesen, den Kollegen mangelnden Einsatz zu unterstellen. Sie hatten gewiss ihr Möglichstes getan. Heike beschloss, sich zunächst selbst ein Bild vom Tatort zu machen.
»Wo ist der Maskenteufel über das Mädchen hergefallen, Lutz?«
»Auf der Strandtreppe, ungefähr auf der Höhe vom Osterweg. Die Spurensicherer müssten jetzt vor Ort sein. Und dann wäre da auch noch die Zeugin …«
Heike schaute ihren Polizeikollegen fragend an. Lutz Brehe blätterte in seinen Aufzeichnungen.
»Sie heißt Melanie Hartwig. Anscheinend ist sie eine Freundin des Opfers, wenn ich das richtig mitgekriegt habe. Jedenfalls wurde sie hier im Krankenhaus auf der neurologischen Abteilung aufgenommen. Weil sie eben einen seelischen Schock erlitten hat.«
Das konnte Heike sich lebhaft vorstellen. Eine enge Freundin als Opfer eines Messerangriffs in einer Blutlache liegen zu sehen, musste jedem normal empfindenden Menschen an die Nieren gehen.
»Ich werde die Ärzte fragen, ob ich sie vernehmen darf«, kündigte die Kriminalistin an.
»Ja, tu das.« Lutz Brehe schaute auf seine Armbanduhr. »Als ich vorhin mit den Medizinern sprach, wurde sie noch untersucht. – Heike, ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich muss weiter. Wir haben noch einen umfangreichen Fall in St. Pauli am Hals. Ich schicke dir die Ermittlungsakte Maskenteufel dann rüber.«
Wenn das auf dem Dienstweg passiert, kann es dauern, dachte Heike. Aber andererseits – wozu brauchte sie einstweilen die Akte, wenn da auch nicht viel mehr drinstand als in den Hamburger Boulevardblättern? Die Namen der Opfer hatte sich Heike jedenfalls einstweilen notiert. Die Kriminalistin bedankte sich bei dem Mann vom Dezernat für Gewaltverbrechen.
Lutz Brehe hastete davon.
Heike hingegen versuchte, in der neurologischen Abteilung den Dienst habenden Arzt zu finden. Nach einigem Hin und Her wurde sie von einer Krankenschwester in ein winziges Arztbüro geführt.
Der Dienst habende Neurologe war eine Medizinerin und hieß Dr. Kerstin Dreher. Sie war eine Frau in Heikes Alter mit hennarot gefärbter Kurzhaarfrisur. Heike stellte sich kurz vor. Ihre dienstliche Legitimation baumelte ja immer noch an ihrem Revers.
»Kripo Hamburg?« Die Neurologin nickte. »Ja, ich kann mir vorstellen, dass Sie die Patientin sprechen wollen. Aber daraus wird nichts, fürchte ich. Frau Melanie Hartwig hat einen schweren Nervenschock erlitten. Ich musste sie sedieren – das bedeutet, mit Medikamenten ruhig stellen.«
Heike kannte den Fachausdruck zur Genüge. Durch ihre ständige Beschäftigung mit toten oder schwer verletzten Menschen kam sie sich manchmal schon selbst vor wie eine halbe Ärztin. Obwohl sie leider keine Schmerzen lindern konnte. Sie war einzig und allein dazu fähig, die Täter zu fangen. Wenn das für die Opfer oder deren Angehörige eine Erleichterung war, konnte auch Heike mit sich zufrieden sein.
Jedenfalls verzichtete sie darauf, gegenüber der Nervenärztin die Neunmalkluge zu spielen. Sie nickte nur und sagte: »Aha, so ist das. – Ich verstehe Sie ja, Frau Dr. Dreher. Aber bedenken Sie bitte, dass Melanie Hartwig zurzeit wahrscheinlich meine einzige Tatzeugin ist. Ich weiß noch nicht einmal, ob sie den Überfall mitansehen musste oder ob sie kurze Zeit später dazugekommen ist. Die Spur ist jetzt noch frisch. Wenn ich die Zeugin kurz vernehmen könnte …«
Die Medizinerin schüttelte resolut den Kopf.
»Nein, das ist völlig unmöglich, Frau Kommissarin. Nicht in ihrem momentanen Zustand. Wir sind froh, dass Melanie Hartwig endlich schläft. Wir haben ihre Eltern benachrichtigt, damit sie sich keine Sorgen machen. In einigen Tagen können Sie vielleicht kurz mit ihr reden. Aber garantieren kann ich für nichts. Da müssen wir den Heilungsverlauf abwarten.«
Heike ärgerte sich, konnte aber die Position der Ärztin verstehen. Ihr blieben also momentan nur zwei weitere Ermittlungsmöglichkeiten.
Einerseits die Indizien, die hoffentlich von der Spurensicherung zusammengetragen wurden. Und andererseits die übrigen Partygäste. Lutz Brehe hatte von einer Feier gesprochen. Möglicherweise hatten noch andere Personen vor, nach oder während der Tat Beobachtungen machen können.
Heike überreichte Frau Dr. Dreher ihre Visitenkarte und bat darum, sofort angerufen zu werden, wenn die Zeugin vernehmungsfähig war. Insgeheim glaubte die Kriminalistin allerdings nicht, dass die Leute vom Krankenhaus sich von sich aus melden würden. Da würde sie wohl noch einige Male nachfassen müssen.
Tatendurstig verließ die Hauptkommissarin das Krankenhaus. Sie fuhr nur ein Stück Richtung Innenstadt, stellte ihren Wagen dann am Kiekeberg ab. Es gab viele Parks hier in Blankenese, teilweise
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Martin Barkawitz
Images: www.klauddesign.com
Publication Date: 10-28-2016
ISBN: 978-3-7396-8082-8
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