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Stern der Macht 1: „Herzensglut“

 

 

 

 

Wenn die Herzensglut entflammt

und Salomons Fluch Rubin mit Saphir auf ewig vereint,

wird aus wahrer Liebe der Stern zur neuen Macht erwachen.

 

 

Prolog

1148, Heiliges Land, Mittelmeerküste


Mit letzter Kraft sprang Guy de Monterac in das bereits ablegende Boot. Das kleine Gefährt schwankte bedenklich und er musste sich an der Bordwand festhalten, um, von seinem Schwung mitgerissen, nicht über Bord zu fallen. Die anderen Männer murrten verärgert und maßen ihn mit feindseligen Blicken, als ein Pfeilhagel plötzlich auf sie niederging. Sofort rissen die kampferprobten Kreuzfahrer ihre schweren Schilde hoch, um sich zu schützen. Zumindest diejenigen unter ihnen, die noch einen Schild besaßen. Guy, der den Großteil seiner Rüstung auf der wilden Flucht vor dem Feind verloren hatte, duckte sich noch tiefer in das kleine Boot hinein, bis sein Kopf förmlich zwischen seinen Knien hing. Plötzlich schrie der Mann neben ihm schmerzerfüllt auf und kippte röchelnd nach vorne. Guy schloss die Augen und begab sich in Gottes Hand. Er kämpfte für eine gerechte Sache und der Herr würde gewiss nicht zulassen, dass er so kurz vor dem Ziel scheiterte.

Plötzlich hörte das Schießen auf und der Kreuzfahrer richtete sich vorsichtig auf. Die Ruderer hatten es geschafft, das Boot endlich aus der Gefahrenzone zu bringen. Nur noch vereinzelte Pfeile fielen wirkungslos hinter dem kleinen Gefährt ins Wasser. Doch schließlich versiegten auch diese und ein wütendes Geheul erklang am Ufer.

Mit einem zufriedenen Lächeln lehnte Guy sich entspannt zurück. Wie zufällig strich seine Hand über seine Brust, wo sicher vor allen Blicken verborgen, eingeschlagen in ein ölgetränktes Tuch, der Grund für seine Reise ins Heilige Land lag. Allein dafür hatte er zwei Jahre lang Hunger, Durst, Schmerz und das unendliche Grauen des Kreuzzugs ertragen. Und er hatte es geschafft! Gott war bei ihm gewesen, wie sein Großmeister es ihm vorhergesagt hatte. Er würde außerordentlich zufrieden sein, dachte Guy und ein seliges Lächeln erschien auf seinen Lippen. Denn auf seiner Brust ruhte ein Schatz, der beinahe alle Reliquien des Heiligen Landes in den Schatten stellte – ein Amulett der Macht!


Kapitel 1

Heute, Bergisches Land

 

Lautes Reifenquietschen ließ Erin erschrocken zusammenzucken. Ihr Fahrrad schlingerte und nur mit Mühe gelang es ihr, das Gleichgewicht zu halten. Verwirrt blickte das Mädchen sich um. Ihre zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen dunklen Haare peitschten dabei hin und her. Die große Kreuzung war um diese frühe Uhrzeit an einem Sonntag noch menschenleer. Bis auf ein Auto, das auf der anderen Seite gerade zum Stehen gekommen war.

Erins Herz setzte einen Schlag aus, als sie, wenige Meter von dem Wagen entfernt, eine Gestalt regungslos am Boden liegen sah. Ohne darüber nachzudenken, trat Erin entschlossen in die Pedale und raste darauf zu.

Die Autoreifen quietschten erneut, als der Wagen zurücksetzte. Die Fahrertür öffnete sich und ein Mann in einem dunklen Anzug stieg aus. Er machte eine Bewegung, als wollte er auf die am Boden liegende Person zugehen. Doch als er Erin erblickte, die die Unfallstelle schon fast erreicht hatte, zögerte er kurz, dann drehte er sich abrupt um, stieg wieder in den Wagen und fuhr eilig davon.

Empört und fassungslos starrte das Mädchen ihm hinterher. Zu spät dachte Erin daran, sich das Nummernschild des flüchtenden Fahrzeugs zu merken, und jetzt konnte sie es schon nicht mehr erkennen. Schnell legte sie die letzten Meter zurück, sprang von ihrem Fahrrad und kniete sich neben die reglose Gestalt auf den Boden.

Es war eine alte Frau, wie Erin mit Schrecken erkannte. Eine leichenblasse, alte Frau, der ein kleines Blutrinnsal aus dem Mundwinkel lief.

„Hallo, können Sie mich hören?“, fragte das Mädchen, während sie mit panisch zitternden Fingern nach dem Puls der alten Frau suchte. Sie bekam keine Antwort, aber zumindest spürte sie ein leises Pochen unter ihren Fingerspitzen. Die Frau war anscheinend noch am Leben. Rasch kramte Erin ihr Handy hervor und wählte den Notruf. Während sie die Adresse durchgab, behielt sie die alte Frau ängstlich im Auge. „Bitte nicht sterben. Bitte, bitte nicht sterben“, hämmerte es immer wieder in ihrem Kopf.

Plötzlich lief ein leises Flattern über die blassen, faltigen Augenlider und der Blick zweier erstaunlich klarer, grüner Augen heftete sich auf ihr Gesicht.

Erin atmete erleichtert auf. „Hilfe ist schon unterwegs, es wird alles wieder gut“, flüsterte sie aufmunternd. Die Frau erwiderte nichts. Sie fixierte das Mädchen dafür umso intensiver mit ihrem Blick, sodass Erin unbehaglich ihre Augen senkte. „Hilfe ist unterwegs“, wiederholte sie lahm.

Die blutleeren Lippen der alten Frau teilten sich zu einem schwachen Lächeln. „Du hast ein gutes Herz. Ja, es wird alles gut“, hauchte sie, indem sie Erins Worte wiederholte. Sie hob wie suchend ihre Hand und das Mädchen beeilte sich, diese zu ergreifen. Das Lächeln der Alten wurde breiter. Dann, so als hätte diese Anstrengung ihre ganze Kraft verbraucht, schlossen sich ihre Augen wieder.

Hätte die Hand der Frau nicht weiterhin beruhigend warm und erstaunlich stark ihre eigene gedrückt, Erin hätte sie für tot halten können.

Wann nur würde endlich der Notarzt kommen? Bei jedem Geräusch blickte sie hoffnungsvoll auf, doch die wenigen Fahrzeuge, die tatsächlich schon unterwegs waren, schienen sie entweder überhaupt nicht zu bemerken oder kümmerten sich einfach nicht um das Mädchen, das neben seinem Fahrrad auf dem Boden hockte. Erins Mut sank. Sie konnten sie doch nicht einfach allein lassen mit der sterbenden Frau! Und wo blieb bloß der verdammte Krankenwagen?

Als sie schließlich von Weitem das Tatütata des herannahenden Rettungsdienstes hörte, hätte sie vor Erleichterung beinahe aufgeschluchzt. Gleich dahinter kam ein Polizeiauto.

Beide Fahrzeuge blieben neben der Unfallstelle stehen, Menschen sprangen heraus und liefen auf sie zu.

„Wir kümmern uns jetzt um sie“, sagte ein Mann in weißer Kleidung sanft zu Erin. „Du kannst deine Großmutter nun loslassen.“

„Das ist nicht meine Oma“, erwiderte das Mädchen überrascht, doch der Mann schien ihr bereits nicht mehr zuzuhören. Er war gerade dabei, nach dem Puls der alten Frau zu tasten. Erin versuchte, ihre Hand aus der der Frau zu ziehen, doch die Alte hielt sie weiterhin krampfhaft fest.

Erst als eine Liege herbeigeschafft wurde, um das Unfallopfer hinaufzuheben, lockerte sich ihr Griff. Die Frau öffnete noch ein letztes Mal die Augen und sah Erin fest an. „Pass gut darauf auf!“, flüsterte sie noch, dann wurde sie fortgetragen. Erst als sich die Tür des Rettungsfahrzeugs hinter der Trage geschlossen hatte, bemerkte Erin, dass die Alte eine Kette in ihrer Hand zurückgelassen hatte. Verwirrt starrte sie dem Rettungswagen hinterher.

„Könntest du mir ein paar Fragen beantworten?“, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihr.

Erin drehte sich um und sah in das mitfühlende Gesicht einer Polizistin. Das Mädchen nickte schwach. „Wohin bringt man die Frau?“, fragte sie, während sie der Polizistin einige Schritte folgte.

„Ins St. Servatius-Hospital.“

„Danke.“ Erin lächelte schwach. Vielleicht konnte sie die alte Frau ja später mal besuchen und ihr dann die Kette zurückgeben.

„Wie geht es dir?“, fragte die Polizistin und sah ihr forschend ins Gesicht.

Erin zuckte leicht mit den Schultern. „Geht so, schätze ich.“ Wie sollte es ihr schon gehen, wenn praktisch vor ihren Augen eine alte Frau angefahren worden war und sie über zehn Minuten lang fürchten musste, dass diese jeden Augenblick neben ihr sterben könnte?

„Gut. Ich muss dir jetzt ein paar Fragen stellen. Wenn es nicht geht, sag bitte Bescheid. Dann müsstest du eben später mal auf dem Revier vorbeikommen.“

„Geht schon“, sagte Erin. Sie wollte auf keinen Fall ins Polizeirevier gehen müssen.

„Erzähl mir jetzt bitte genau, was passiert ist.“

„Viel habe ich eigentlich nicht gesehen“, erwiderte das Mädchen. „Ich war mit dem Fahrrad unterwegs, dort hinten.“ Sie wies auf die entsprechende Straßenseite. „Dann habe ich das Quietschen von Autoreifen gehört und den Wagen gesehen, der stehen geblieben war. Die alte Frau lag schon auf dem Boden. Aber zuerst habe ich gar nicht gesehen, dass es die Frau war. Ich habe nur gemerkt, dass jemand angefahren worden war. Ich bin sofort mit dem Rad rübergefahren. Dann setzte das Auto zurück und ein Mann stieg aus. Aber als er mich sah, stieg er schnell wieder ein und fuhr davon.“

„Glaubst du, dass er der Frau helfen wollte?“

Erin sah die Polizistin unsicher an. „Ich weiß es nicht. Wenn er hätte helfen wollen, wieso ist er dann weggefahren, als er mich gesehen hat?“

Die Frau machte sich ein paar Notizen. „Es könnte also Vorsatz oder einfach Fahrerflucht gewesen sein“, murmelte sie. „Hast du dir vielleicht das Kennzeichen des Wagens merken können?“

„Leider nicht. Als ich daran gedacht habe, war es bereits zu spät.“

„Automarke, Farbe?“

„Dunkelgrau, ein Volvo, glaube ich. Er hatte getönte Scheiben. Sie wissen schon, solche, durch die man nicht reinschauen kann.“

„Und der Mann?“

„Er trug einen dunklen Anzug. Ich habe ihn ja nur kurz gesehen. Ich glaube, er war recht groß, so einen Meter fünfundachtzig, und hatte kurze, dunkle Haare.“ Erin zuckte mit den Achseln. „Normal halt.“

Die Polizistin lächelte. „Fällt dir sonst noch etwas ein?“

Erin dachte kurz nach, dann schüttelte sie den Kopf. „Tut mir leid. Ich bin wohl keine besondere Hilfe.“

Die Frau sah das Mädchen ernst an. „Doch“, sagte sie. „Du hast der alten Frau heute sehr geholfen. Sie hatte großes Glück, dass du gerade hier warst. Wohin wolltest du eigentlich so früh an einem Sonntag?“

„Zum Turnwettkampf.“ Erin deutete mit dem Kopf auf ihre Sporttasche, die auf dem Gepäckträger ihres Fahrrads festgeklemmt war. „Ich bin Kampfrichterin.“

„Ich hoffe, wir haben dich nicht zu sehr aufgehalten. Ich brauche nur noch deinen Namen und deine Adresse. Dann sind wir fertig.“

„Okay.“

Nachdem sie Erins Daten aufgeschrieben hatte, reichte die Polizistin ihr noch eine Karte. „Hier, falls dir später noch etwas einfällt, ruf mich bitte an.“

„Mache ich“, versprach Erin ihr. Dann nahm sie ihr Fahrrad hoch und blickte auf die Uhr. Das Ganze hatte keine halbe Stunde gedauert. Sie würde sogar noch fast pünktlich zum Wettkampfbeginn in der Sporthalle eintreffen. Erin warf der Unfallstelle noch einen letzten Blick zu, schwang sich in den Sattel und fuhr langsam mit zittrigen Knien davon.

 

Obwohl der Wettkampf bis zum späten Nachmittag andauerte, saß Erin der Schock noch immer mächtig in den Knochen, als sie schließlich nach Hause zurückfuhr. Wie gern hätte sie mit jemandem darüber gesprochen, was sie am Morgen erlebt hatte. Doch zu Hause würde – mal wieder – niemand auf sie warten.

Als ihr Vater vor rund sechs Monaten eine attraktive neue Stelle in Toronto angeboten bekommen hatte, hatten ihre Eltern lange darüber nachgedacht, ob er diese annehmen sollte. Doch schließlich hatten sie sich dazu durchgerungen, die siebzehnjährige Erin in der Obhut ihrer vier Jahre älteren Schwester Lisa zurückzulassen. Da Lisa, während sie in Köln studierte, problemlos von zu Hause zur Uni pendeln konnte und Erin ihr Abitur auf ihrer alten Schule beenden wollte, schien das für alle Seiten die beste Lösung zu sein. Und normalerweise klappte diese Regelung auch recht gut. Erin machte es nichts aus, öfter mal allein zu Hause zu sein, wenn Lisa bei einer Freundin oder, was nun immer öfter vorkam, bei ihrem Freund Florian übernachtete. Nur heute hätte Erin sich etwas Trost und Beistand von ihrer großen Schwester erhofft. Stattdessen hatte sie, als sie in der Wettkampfpause ihr Handy einschaltete, eine SMS bekommen. „Hab bis 7 Lerngruppe, dann Party. Warte nicht auf mich. Bis morgen. L.“

Natürlich hätte sie ihre Schwester oder auch ihre Eltern anrufen können. Aber am Telefon war es einfach nicht dasselbe.

Entschlossen trat Erin stärker in die Pedale und fuhr, so schnell sie konnte, an der Unfallstelle vorbei. Nachdem sie zu Hause angekommen war, inspizierte sie zuerst hungrig den Kühlschrank. „Wir müssen dringend mal wieder einkaufen“, fuhr es ihr durch den Kopf, als sie die Tür mit leeren Händen wieder schloss. Außer einer Tube Senf und einem Glas Marmelade war da nichts zu holen gewesen. Kurzentschlossen spähte Erin in die Schublade, in der Lisa und sie das Haushaltsgeld aufbewahrten. Es war zwar nicht besonders viel, aber für eine Pizza würde es noch reichen, stellte Erin zufrieden fest und griff in ihre Tasche, um das Handy herauszuholen.

Zu ihrer Verwunderung ertasteten ihre Finger aber etwas ganz Anderes. Irritiert zog sie ihre Hand wieder heraus und starrte verwirrt auf die dicke silberne Kette, die dabei zum Vorschein kam. Die hatte sie in der ganzen Aufregung ja völlig vergessen. Nun sah sie sich das Schmuckstück neugierig an. Die Kette an sich war nichts Besonderes, aber der Anhänger, der daran hing, fesselte ihre Aufmerksamkeit. Er war fast vier Zentimeter lang und schien ebenfalls aus Silber zu sein. Er hatte eine schöne, verschlungene Form, wie eine Schlaufe, die zweimal um sich selbst gedreht war, und enthielt zwei rote Steine. Granate vielleicht, oder auch Rubine, wie Erin vermutete. Der Anhänger war schön, aber vermutlich nicht besonders wertvoll, auch wenn er ziemlich alt aussah.

Sie musste ihn natürlich bei der nächsten Gelegenheit der alten Frau zurückgeben. Gewiss würde sie das Schmuckstück vermissen, das sie zufällig oder aus Schwäche in Erins Hand zurückgelassen hatte.

Das Mädchen holte nun ihr Handy hervor und suchte die Nummer des St. Servatius-Hospitals heraus. Es tutete ein paarmal, dann hörte sie eine geschäftsmäßige Frauenstimme.

„Ja, hallo“, meldete sich Erin plötzlich unsicher. „Heute Morgen ist eine alte Frau bei Ihnen eingeliefert worden, sie hatte einen Unfall. Können Sie mir sagen, wo ich sie finden kann? Ich würde sie gerne besuchen.“

„Wie ist der Name?“, fragte die Frau nach.

Erin stutzte. Sie hatte gar nicht daran gedacht, nach dem Namen der Alten zu fragen. „Ich bin nicht sicher, welchen Namen sie angegeben hat“, erwiderte sie ausweichend.

„Bist du mit ihr verwandt?“

„Nein, aber …“

„Es tut mir leid, aber ich darf dir keine Auskunft geben.“ Das Gespräch schien beendet.

„Warten Sie!“, rief Erin, bevor die Frau auflegen konnte. „Ich will doch nur wissen, wie es ihr geht. Ich habe sie schließlich gefunden. Und ich muss ihr auch noch etwas geben …“

„Es tut mir leid“, wiederholte die Frau am anderen Ende. „So sind nun mal die Vorschriften.“

„Ja, verstehe, trotzdem danke“, brummte Erin und legte auf. Vielleicht könnte sie morgen nach der Schule im Krankenhaus vorbeifahren und die Kette einfach auf der Station abgeben.

 

Doch als sie am nächsten Morgen einen Blick in die Zeitung warf, wurde ihr schnell klar, dass dies keinen Sinn mehr haben würde. Gleich auf der ersten Seite stand eine kurze Meldung, dass gestern eine 88-jährige Frau an den Folgen eines Autounfalls mit Fahrerflucht im Krankenhaus gestorben war. Da stand kein Name, nur dass die Frau keine Angehörigen hinterließ und die Polizei in der Sache bereits ermittelte.

Erschüttert ließ Erin die Zeitung sinken. Sie hatte der Frau also doch nicht helfen können. Unschlüssig tastete sie nach der Kette, die noch immer in ihrer Jackentasche lag. Was sollte sie jetzt bloß tun? Anscheinend gab es niemanden mehr, dem sie die Kette zurückgeben konnte. Flüchtig dachte sie daran, sie der Polizei zu überlassen, aber das hätte wohl auch nichts gebracht. Die würden die Kette vermutlich nur in eine Box packen und in irgendein verstaubtes Archiv stellen.

Und dann kamen ihr plötzlich die letzten Worte in den Sinn, die die Frau zu ihr gesagt hatte: Pass gut darauf auf. Vielleicht also, nur vielleicht, hatte sie Erin die Kette ja mit Absicht gegeben.

Die große Pendeluhr im Wohnzimmer schlug plötzlich zweimal und riss das Mädchen aus seinen Gedanken. „Oh Mist“, flüsterte Erin mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. Sie musste sich beeilen, wenn sie nicht zu spät zur Schule kommen wollte. Rasch steckte sie die Kette in ihre Schultasche. Sollte jemand danach fragen, konnte sie sie immer noch zurückgeben. Und bis dahin würde sie einfach nicht mehr daran denken.

 

 

Der große Mann kniete in dem dunklen Raum, den Kopf respektvoll gesenkt. „Wir haben alles durchsucht“, erklärte er knapp. „Die Wohnung und auch das Krankenzimmer. Es war nicht da.“

„Und das Mädchen?“, ertönte die befehlsgewohnte Stimme des Großmeisters aus der Dunkelheit.

„Noch keine Spur.“ Der Mann atmete tief durch. Er wusste, dass er bald Ergebnisse liefern musste.

„Unser Kontakt bei der Polizei wird dir helfen“, sagte die Stimme nach einer Weile.

In diesem Augenblick summte das Handy des Mannes kurz. Er hatte eine SMS mit der Kontaktnummer empfangen.

„Ich kümmere mich sofort darum“, sagte er dankbar.

„Enttäusche uns nicht noch einmal“, erwiderte der Großmeister. Die Drohung in den Worten war unüberhörbar.

Der Mann verharrte noch eine Weile in respektvollem Schweigen. Es gab nichts, das er zu seiner Verteidigung hätte sagen können. Er hatte versagt.

Dann erhob er sich langsam und ging hinaus, um seinen Fehler zu korrigieren.

 

 

Als Erin am Freitag nach der Schule nach Hause kam, lief Lisa ihr schon aus der Tür entgegen.

„Was ist passiert?“, fragte Erin alarmiert, als sie das bleiche Gesicht ihrer Schwester bemerkte.

„Ich glaube, bei uns ist eingebrochen worden!“, rief Lisa erschüttert.

„Geht es dir gut?“ Besorgt suchte Erin ihre Schwester mit den Augen nach irgendwelchen Verletzungen ab.

„Ja, sicher. Ich bin ja auch erst vorhin nach Hause gekommen.“

„Was wurde denn gestohlen?“

„Das ist es ja“, erwiderte Lisa unsicher. „Nichts. Zumindest nichts, das ich bemerkt hätte. Sogar die paar Euro in der Haushaltskasse sind noch da.“

Erin sah sich aufmerksam um. „Die Tür scheint nicht aufgebrochen worden zu sein. Wurde ein Fenster eingeschlagen?“

„Nein.“

„Und wieso denkst du, dass jemand eingebrochen ist?“, fragte Erin verärgert. Ihre Schwester hatte ihr für einen Moment einen Mordsschrecken eingejagt.

„Na ja.“ Lisa druckste herum. „Es scheint alles in Ordnung zu sein, aber irgendwie liegen die Sachen nicht so, wie ich sie hingelegt habe.“

„Was denn für Sachen?“, fragte Erin nach, während sie sich an ihrer Schwester vorbei ins Haus zwängte.

„Mein Schmuckkästchen zum Beispiel. Ich weiß genau, dass es heute Morgen rechts auf meiner Kommode stand, und nun steht es links. Und die Ohrringe, die ich gestern da reingelegt habe, lagen unter der Kette, die ich seit Tagen nicht mehr angefasst habe.“

„Aber der ganze Schmuck ist noch da?“, vergewisserte sich Erin.

„Bei mir schon. Am besten, du schaust auch in deinem Zimmer nach.“

Das wird vermutlich nichts bringen, fuhr es Erin durch den Kopf, als sie nach oben in ihr Zimmer lief. Sie hatte plötzlich ein ganz mulmiges Gefühl.

„Und?“, fragte Lisa gespannt, nachdem Erin sich sorgfältig umgeschaut und den Inhalt ihrer Kommode überprüft hatte.

„Es fehlt nichts“, stellte sie knapp fest.

„Und ist alles an seinem Platz?“

„Ich bin nicht sicher.“ Erin ließ ihren Blick durch ihr Zimmer schweifen, in dem es nicht halb so ordentlich war wie in dem ihrer Schwester. „Meine Sachen haben keine festen Plätze“, erklärte sie das Offensichtliche.

„Und was sollen wir nun tun?“

„Wir könnten die Polizei rufen“, erwiderte Erin unsicher. „Aber ich weiß nicht, was wir denen sagen sollten. Immerhin fehlt nichts, es gibt keine Einbruchsspuren und vielleicht hast du das Schmuckkästchen auch selbst verschoben.“

„Du glaubst also, ich bilde mir das nur ein?“, fragte Lisa erleichtert.

Erin zögerte. Konnte ein Einbrecher die Kette der alten Frau gesucht haben? Aber wieso hatte er nicht einfach gefragt? Oder ging ihre Fantasie jetzt völlig mit ihr durch? Hatte sie sich von Lisas Panik anstecken lassen? „Vielleicht bildest du es dir nur ein“, sagte sie schließlich. „Vielleicht auch nicht. Zur Polizei können wir damit auf jeden Fall nicht. Wir sollten aber in den nächsten Tagen die Tür immer abschließen und am besten die Kette davormachen, wenn wir zu Hause sind. Sicher ist sicher.“

„Ja.“ Lisa nickte. „Und ich werde Flori bitten, die nächsten paar Tage hier zu übernachten.“

„Davor müssen wir aber auf jeden Fall noch einmal einkaufen gehen“, erwiderte Erin mit einem leichten Lächeln. „Dein Freund isst uns sonst noch die Haare vom Kopf.“

„Ha-ha“, sagte Lisa gutmütig, während sie das Zimmer verließ. Unterwegs hatte sie schon ihr Handy gezückt und wählte Florians Nummer.

Erin wusste, dass sie jetzt mindestens eine halbe Stunde ungestört sein würde, und öffnete ihre Schultasche. Seit dem eigenartigen Unfall waren fünf Tage vergangen und sie hatte gar nicht mehr an die Kette gedacht. Nun kramte sie auf dem Boden ihrer Tasche danach. Als sich ihre Finger endlich darum schlossen, wusste sie gar nicht, ob sie erleichtert oder besorgt sein sollte, dass sie noch immer da war.

Das Mädchen hielt sich die Kette mit dem Anhänger dicht vors Gesicht. Konnte das Schmuckstück wirklich so wertvoll sein, dass jemand danach suchte und sogar vor einem Einbruch nicht zurückschreckte? War die alte Frau womöglich deswegen angefahren worden?

„Jetzt fange ich wohl endgültig an zu spinnen“, murmelte sie kopfschüttelnd und versuchte, mit einem Lächeln die eigenartigen Gedanken zu vertreiben.

Sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte nichts erkennen, das die Kette oder den Anhänger irgendwie besonders machte. Nein, die Kette konnte es definitiv nicht sein. Sie hatte die typische 925er-Prägung, wie jeder gängige Silberschmuck, den man für zehn bis zwanzig Euro bekommen konnte. Der Anhänger war etwas Anderes. Er hatte keine Prägung, obwohl er ebenfalls aus Silber zu sein schien. Und er wirkte alt, sehr alt.

„Kommst du?“, riss Lisas Stimme sie aus ihren Gedanken.

„Wie, schon fertig?“, rief Erin erstaunt zurück.

„Ja. Flori ist bereits auf dem Weg hierher. Wir sollten jetzt also lieber einkaufen fahren.“

„Komme gleich“, sagte Erin und steckte die Kette in ihre Hosentasche. Sie hatte zwar keine Lust, für Florian einkaufen zu fahren, doch allein zu Hause bleiben wollte sie im Augenblick auch lieber nicht.

 

„Ich muss hier raus!“, sagte Erin gequält. Sie lag bäuchlings auf ihrem Bett und drückte sich ihr Handy ans Ohr. „Ich halte es keine Stunde länger mehr aus.“

„Ist es so schlimm?“, drang die Stimme ihrer Freundin Mia aus dem Lautsprecher.

„Schlimmer“, bestätigte Erin düster. „Es heißt nur noch Flori-Schatz hier und Lisa-Liebling dort. Die halten ständig Händchen, himmeln sich an und fangen ohne Vorwarnung an zu knutschen.“

„Igitt“, sagte Mia.

„Du sagst es“, stimmte Erin ihrer Freundin zu. „Ich muss dringend wieder unter normale Leute.“

„Gut. Wir treffen uns in einer halben Stunde am Marktplatz. Ich verordne dir einen Kinobesuch und danach einen riesigen Eisbecher.“

„Abgemacht!“ Zufrieden sprang Erin auf. Manchmal war Mia ein echter Schatz.

Rasch zog sie sich einen knielangen Rock und einen passenden leichten Pulli an. Während sie vorsichtig Lidschatten und Lipgloss auftrug, betrachtete sie sich prüfend im Spiegel. Die schulterlangen, braunen Haare umspielten in leichten Wellen ihr Gesicht und der Rock brachte ihre schlanken, langen Beine gut zur Geltung. Insgesamt war sie mit ihrem Aussehen mehr als zufrieden. Zugegeben, sie war keine so auffällige Erscheinung wie Mia mit ihren langen, blonden Haaren und den puppenhaft großen, blauen Augen. Dennoch verstand sie nicht, wieso sie noch nie einen Freund gehabt hatte, während die Jungs bei Mia regelrecht Schlange standen. Vielleicht war es ja ihre Körpergröße von einem Meter fünfundsiebzig, die die Jungs einschüchterte. Oder vielleicht lag es auch daran, dass sie alle Jungs, die sie kannte, für unreife Idioten hielt. Es gab keinen einzigen in ihrer Jahrgangsstufe, mit dem sie hätte ausgehen wollen. Also brauchte sie sich vermutlich auch nicht zu beschweren.

Erin schnappte sich ihre Handtasche, nahm im Vorbeigehen ihre Jacke mit und lief in die Garage, um ihr Fahrrad zu holen.

Die kleine Innenstadt war zwar nicht besonders spannend, aber zumindest gab es dort ein Kino, zwei Eisdielen und ein paar Boutiquen. Natürlich konnte der Ort bei Weitem nicht mit der Kölner City mithalten, aber dafür musste man auch keine dreiviertelstündige Auto- oder Zugfahrt in Kauf nehmen, wenn man nur ein bisschen bummeln wollte.

Als Erin am Marktplatz ankam, war Mia noch nicht da. Daher stellte sie ihr Rad an der Wand des Kinogebäudes ab und schaute sich neugierig die Plakate der laufenden Filme an. Während sie langsam daran entlangging, überkam sie plötzlich ein ganz eigenartiges Gefühl. Verwirrt blickte sie sich um. Sie hätte schwören können, dass jemand sie beobachtete. Aber da war niemand. Kopfschüttelnd wandte Erin sich wieder dem Schaufenster zu.

„Und weißt du schon, worauf du Lust hättest?“, ertönte plötzlich Mias Stimme hinter ihr.

Erin zuckte erschrocken zusammen, dann entspannte sie sich wieder. „Mensch, schleich dich ja nie wieder so an mich ran“, sagte sie mit einem leichten Lächeln.

„Ist ja gut. Was wollen wir uns ansehen?“

„Bloß keine Schnulze“, sagte Erin und schüttelte sich gespielt.

Mia nickte verständnisvoll. „Das wäre im Augenblick nicht förderlich“, stimmte sie zu.

„Wie wär’s mit der Komödie hier?“, fragte Erin schließlich. „Sie fängt in zehn Minuten an.“

„Klingt super!“, sagte Mia gutgelaunt. „Besorgst du die Karten, während ich das Popcorn hole?“

 

Nach dem Film schlenderten die Mädchen in das nahegelegene Eiscafé herüber. Da die erste Frühlingssonne überraschend warm vom Himmel schien, nahmen sie auf der Terrasse Platz. Während Erin aufmerksam die Karte studierte, beugte Mia sich aufgeregt zu ihr herüber.

„Da ist schon wieder dieser unglaublich süße Typ, der dich anstarrt.“

„Welcher Typ?“ Überrascht sah Erin auf. „Und wieso schon wieder?“

„Scht, nicht umdrehen“, hielt Mia sie zurück, bevor Erin sich suchend umschauen konnte. „Sag bloß, du hast ihn vorhin nicht bemerkt?“

„Wann denn?“

„Na, als wir ins Kino reingegangen sind. Er hatte dich regelrecht mit seinen Augen verschlungen. Und jetzt ist er auch wieder da. Zwei Tische weiter.“

„Wo denn?“ Es kostete Erin ihre ganze Kraft, nicht hinzusehen.

„Mann, du musst echt an deinem Männerradar arbeiten“, bemerkte Mia kopfschüttelnd. „Der ist wirklich unglaublich süß.“

Nun hielt es Erin nicht länger aus und sie wandte langsam, wie unbeabsichtigt, ihren Kopf.

„Gut“, flüsterte Mia anerkennend, doch Erin hörte ihr nicht mehr zu.

Da war er. Lässig saß der junge Mann an einem der Tische und nippte an seinem Eiskaffee. Ein feiner, schwarzer Pulli spannte sich über seine breiten Schultern und ließ die verborgenen Brust- und Bauchmuskeln erahnen. Auch die Arme, die sich darunter abzeichneten, schienen genau die richtige Menge an Muskeln vorzuweisen. Nicht zu viel, sodass er wie ein Bodybuilder gewirkt hätte, aber auch nicht zu wenig, sportlich und durchtrainiert eben. Mit seinen dichten, braunen Haaren, den strahlend blauen Augen und männlich ebenmäßigen Zügen sah er einfach unverschämt gut aus. Aber das war es nicht, was Erin einen Schauer über den Rücken jagte, jedenfalls nicht ausschließlich. Es war der grimmige Blick, den er ihr flüchtig zuwarf, der sie die Augen rasch abwenden ließ.

„Ich glaube nicht, dass er auf mich steht“, flüsterte sie Mia errötend zu.

„Na klar“, widersprach diese entschieden. „Warum sonst sollte ein Kerl ein Mädchen so anstarren?“

„Keine Ahnung. Aber es ist kein besonders freundlicher Blick.“

„Ach, hör doch auf. Vielleicht solltest du rübergehen und ihm deine Nummer geben. Oder soll ich das für dich tun?“

„Untersteh dich!“, zischte Erin.

„Ah, er gefällt dir also.“

„Natürlich gefällt er mir. Ich müsste blind sein, um ihn nicht attraktiv zu finden. Aber darum geht es nicht.“

„Und warum nicht?“

„Er ist zu alt“, sagte Erin das Erste, was ihr einfiel.

„Blödsinn. Der ist kaum älter als Anfang zwanzig. Genau richtig, glaub mir.“ Sie ließ ein wissendes Lächeln aufblitzen. „Wenn du ihn nicht willst, vielleicht sollte ich ihn mir schnappen.“

„Und was ist mit Sven?“, erinnerte Erin sie an ihren derzeitigen Freund.

„Sven ist ganz süß. Aber ich werde bestimmt nicht ewig mit ihm zusammenbleiben.“ Mia grinste schon wieder.

„Mach, was du willst“, erwiderte Erin verstimmt. „Ich wollte eigentlich nur in Ruhe ein Eis essen und der ganzen Flirterei für einen Nachmittag entkommen.“

„Ist ja gut, du Spaßverderberin“, lenkte Mia ein. „Dann eben Eis. Nach einem süßen Typen ist das ohnehin das Zweitbeste.“

 

„Und du bist ganz sicher, dass du nicht wissen willst, dass er dich noch immer anstarrt?“, nahm Mia die Unterhaltung wieder auf, als sie ihr Eis bereits halb aufgegessen hatten. „Er kann seine Augen praktisch nicht von dir nehmen.“

Erin riskierte noch einen Blick. Und wieder zuckte sie zurück, als er sie unverwandt, ja fast feindselig ansah. Wie konnte Mia das bloß entgehen?

„Ich glaube wirklich nicht, dass er was von mir will“, sagte sie fest und spürte einen leichten Stich des Bedauerns. Es wäre zu schön gewesen, wenn dieser außergewöhnlich coole Typ tatsächlich Interesse an ihr gehabt hätte. „Und es gefällt mir nicht, dass er mich so anstarrt. Das ist irgendwie unheimlich. Immerhin kenne ich ihn nicht und habe ihm bestimmt nichts getan.“

„Wie du meinst“, sagte Mia achselzuckend. Es war offensichtlich, dass sie die Bedenken ihrer Freundin weder verstand noch teilte.

„Wir sollten jetzt besser gehen“, sagte Erin, während sie die letzten Reste aus ihrem Eisbecher kratzte.

„Okay“, erwiderte Mia gedehnt und erhob sich, wobei sie dem Typen einen langen Blick schenkte.

Erin erhob sich ebenfalls, doch sie vermied es sorgsam, in seine Richtung zu schauen.

„Ruf mich an, wenn es dir zu Hause wieder zu viel wird, ja?“, sagte Mia zum Abschied und drückte ihre Freundin an sich.

„Ist gut, mache ich. Ansonsten sehen wir uns Montag in der Schule.“

„Ja, bis dann“, sagte Mia und lief zur Bushaltestelle, während Erin zurück zu ihrem Fahrrad ging.

Als sie sich daraufsetzte, merkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. „Oh, Mist!“, fluchte sie, als sie den platten Hinterreifen bemerkte. „Mist, Mist, Mist!“ Natürlich hatte sie keine Pumpe dabei, denn die passte nicht in die Handtasche und am Fahrrad wurden die Pumpen ständig geklaut. Einen Moment lang blieb sie unschlüssig stehen, dann seufzte sie tief, stieg ab und umfasste die Lenkstange mit beiden Händen. Es blieb ihr wohl nichts Anderes übrig, sie würde zu Fuß nach Hause gehen müssen.

 

Während sie ging, blickte Erin sich immer wieder um. Normalerweise litt sie nicht an Verfolgungswahn, aber heute wurde sie dieses eigenartige Gefühl einfach nicht los. Dass ein total süßer Kerl sie völlig grundlos böse angestarrt hatte, trug auch nicht gerade dazu bei, ihre Anspannung zu lindern.

Plötzlich rempelte sie jemand von der Seite an und sie spürte einen scharfen Ruck an ihrer Schulter. Das Nächste, was sie sah, war eine schmale Gestalt in Jogginghose und Baseball-Cap, die mit ihrer Handtasche in der Hand ganz schnell davonrannte.

„He, was soll das!“, rief Erin empört, ließ ihr Fahrrad scheppernd zu Boden fallen und lief hinterher. Doch noch bevor sie drei Schritte getan hatte, rannte jemand blitzschnell an ihr vorbei und dem Dieb nach. Überrascht erkannte Erin den Typen aus dem Café. Noch bevor sie sich entscheiden konnte, ob sie weiterlaufen oder abwarten sollte, was nun geschah, waren die beiden Männer hinter einer Kurve verschwunden. Also entschied Erin sich fürs Warten. Es dauerte nicht lange und der Café-Typ kam mit ihrer Handtasche in der Hand zurück.

„Hier, du solltest besser darauf aufpassen“, sagte er unwirsch.

Erin, die ihm schon überschwänglich danken wollte, blieben die Worte im Hals stecken. „Ich werd’s mir merken“, erwiderte sie kühl und riss ihre Handtasche an sich. „Bist du mir etwa gefolgt?“, konnte sie sich dann doch nicht zurückhalten.

„Hättest du wohl gern“, entgegnete er verächtlich.

Empört schnappte Erin nach Luft. Was erlaubte er sich eigentlich? Nur weil er genauso gut roch, wie er aussah, gab es ihm noch immer nicht das Recht, so mit ihr zu reden. Sie atmete tief durch und sah ihm direkt in die Augen. Obwohl sie selbst recht hochgewachsen war, musste sie dafür ihren Kopf heben, denn er überragte sie noch um gut fünfzehn Zentimeter. „Träum weiter“, sagte sie langsam und deutlich. Dann presste sie ihre Handtasche fest an sich, nahm ihr Fahrrad wieder auf und ging stolz davon. Falls er ihr nachsah, bemerkte sie es nicht, denn sie blickte sich kein einziges Mal um.

Erst zu Hause fiel es ihr ein, den Inhalt ihrer Handtasche zu kontrollieren. Es fehlte nichts, aber sie war definitiv durchwühlt worden. Es blieb die Frage, ob das der Dieb oder der arrogante Kerl selbst gemacht hatte.

 

Kapitel 2

 

Erin gähnte herzhaft und schlug sich etwas verspätet die Hand vor den Mund. SoWi in der ersten Stunde an einem Montagmorgen war einfach tödlich. Und dabei hatte der Unterricht noch nicht einmal begonnen. Verstohlen blickte sie auf ihre Armbanduhr.

„Vielleicht haben wir ja Glück und die Stunde fällt aus“, sagte Mia neben ihr, als hätte sie Erins Gedanken gelesen.

„Dann hätte ich noch eine Stunde länger schlafen können“, beschwerte Erin sich.

„Immer noch besser, als eine Stunde lang Mr. Langweiler zuzuhören, oder?“

Erin lächelte leicht. Damit hatte Mia auch wieder recht.

Doch in diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Aber statt des erwarteten Lehrers trat plötzlich er durch die Tür.

Erin riss vor Überraschung die Augen auf.

„Aber das ist doch …“, flüsterte Mia neben ihr ganz aufgeregt.

„Ja!“, zischte Erin ihr zu. Es war nicht zu fassen. Da stand doch tatsächlich dieser aufgeblasene arrogante Kerl plötzlich mitten in ihrem Klassenzimmer und sah sie herablassend an.

„Was macht er hier?“, fragte Mia.

„Keine Ahnung.“ Erin schüttelte den Kopf und wandte ihren Blick demonstrativ ab. Was auch immer er hier wollte, sie ging das nichts an. Und sie würde ihn gewiss nicht so hingerissen anstarren, wie Michaela in der ersten Reihe. „Die fängt ja gleich an zu sabbern“, kommentierte Erin trocken und Mia grinste.

„Nicht nur sie“, fügte ihre Freundin hinzu. „Sieh nur.“

Und tatsächlich hatte sich auf den Gesichtern der meisten Mädchen ein ziemlich dümmliches Lächeln breitgemacht.

Erin rollte genervt mit den Augen. Der Typ schien das auch noch zu genießen.

Zum Glück betrat nun auch Herr Kormann, alias Mr. Langweiler, den Raum, bevor sich die lechzende Mädchenmeute auf den Neuankömmling stürzen konnte.

„Das ist Daniel Hall“, sagte Herr Kormann schlicht. „Er wird von nun an am Unterricht teilnehmen.“

Überall erhob sich aufgeregtes Gemurmel.

„Er ist ein Schüler?“, fragte Mia fassungslos. „Ich hätte ihn eher für einen Referendar oder so was gehalten. Wieso wurde er überhaupt noch zugelassen? Immerhin stehen wir kurz vor den Abi-Prüfungen. Müsste er da nicht zumindest das Halbjahr wiederholen?“

„Hm“, war alles, was Erin dazu sagte. Ihr gefielen die finsteren Blicke nicht, die er ihr schon wieder zuwarf. Und sie wollte bestimmt nicht über ihn nachdenken.

„Da vorne ist noch ein freier Platz“, wandte Herr Kormann sich an den Neuankömmling.

Gehorsam ging Daniel herüber und warf seine Schultasche unter den Tisch. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte gelangweilt zur Tafel.

Herr Kormann runzelte über diesen Mangel an Interesse unwillig die Stirn und fing dann an, die mitgebrachten Arbeitsblätter zu verteilen.

 

Erin hatte den Eindruck, dass sie in dieser Stunde die Einzige war, die beim Unterricht mitmachte. Herr Kormann war über ihren plötzlichen Eifer sehr erstaunt. Aber er ahnte ja auch nicht, dass es nicht das Interesse an seinem Lehrstoff war, das Erin antrieb, sondern ihr trotziger Entschluss, den Neuen zu ignorieren.

Endlich klingelte die Schulglocke und Erin atmete erleichtert auf. Rasch packte sie ihre Sachen zusammen und lief zu ihrem Englischkurs, während Mia in Richtung der Kunsträume abrauschte. Doch als sie den noch abgeschlossenen Kursraum erreichte und sich wartend an die Wand lehnte, sank ihr Herz. Daniel stand nur zwei Schritte von ihr entfernt.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte sie giftig. Allmählich ging er ihr echt auf den Keks.

„Ich glaube nicht. Ich warte hier nur auf meinen Unterricht“, erwiderte er ungerührt.

„Englisch?“, fragte Erin verdattert und hätte sich für die blöde Frage am liebsten auf die Zunge gebissen.

„Steht zumindest so auf meinem Stundenplan“, sagte er mit einem überlegenen Lächeln.

„Na dann, viel Spaß“, murmelte sie und wandte sich ab. Sie hatte keine Lust, diese Unterhaltung fortzusetzen.

Der Englischunterricht lief im Wesentlichen so ab wie die SoWi-Stunde zuvor. Die Mädchen kicherten und konnten ihre Augen nicht von dem neuen Mitschüler nehmen, er nahm das gelangweilt zur Kenntnis und Erin konzentrierte sich verbissen auf den Unterricht.

Als es schließlich zur großen Pause läutete, war sie froh, seiner irritierenden Gegenwart zumindest für zwanzig Minuten zu entkommen.

Doch kaum hatte sie sich mit Mia auf ihre Lieblingsbank gesetzt, kam er schon wieder auf sie zugeschlendert.

„Der verfolgt mich echt. Was will der bloß von mir?“, flüsterte Erin frustriert.

„Ich könnte mir da eine oder zwei Sachen vorstellen“, kommentierte Mia grinsend. „Oh, da fällt mir ein, ich muss noch ein Buch in der Schulbücherei abgeben“, sagte sie laut, als Daniel vor den beiden Mädchen stehen blieb.

„Das hat doch bestimmt auch bis später Zeit“, sagte Erin nachdrücklich.

„Nein, sonst muss ich Mahngebühren bezahlen“, erwiderte Mia leichthin und kümmerte sich nicht um den bösen Blick, den ihre Freundin ihr zuschoss. Sie lächelte Daniel kurz an und verschwand in der Menge.

Erin verschränkte ihre Arme vor der Brust und sah ihn herausfordernd an. „Was willst du hier?“, fragte sie so unfreundlich, wie sie nur konnte.

„Mein Abitur“, erwiderte er belustigt.

„Bist du dafür nicht ein bisschen zu alt?“, schoss es aus ihr heraus, bevor sie sich zurückhalten konnte.

„Ich hatte es vor ein paar Jahren abgebrochen und möchte es nun nachholen“, erklärte er und es klang, als hätte er den Satz auswendig gelernt.

„Und das fällt dir erst jetzt ein? Immerhin sind die Prüfungen schon in knapp zwei Monaten.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe die Zulassung bereits in der Tasche, mir fehlen nur die Abschlussprüfungen selbst.“

„Und was willst du nun von mir?“

Für einen Augenblick verfinsterte sich wieder sein Gesicht, doch dann riss er sich zusammen. „Vielleicht gefällst du mir einfach.“ Der lauernde Blick in seinen Augen passte dabei gar nicht zu dem lockeren Tonfall.

„Ja, sicher“, schnaubte Erin. Sie hatte zwar nicht viel Erfahrung mit Jungs, aber sie war sich ziemlich sicher, dass diese ein Mädchen, das ihnen gefiel, nicht so grimmig anstarrten.

„Vielleicht können wir heute Nachmittag ja zusammen lernen“, schlug er unvermittelt vor und Erin hätte beinahe aufgelacht. Doch sie beherrschte sich.

„Ich glaube nicht“, sagte sie stattdessen mit einem kühlen Lächeln. „Und jetzt entschuldige mich bitte, ich möchte mich auf die nächste Stunde vorbereiten.“ Demonstrativ schlug sie ihr Deutschheft auf und vertiefte sich in den Aufsatz, den sie als Hausaufgabe geschrieben hatte.

Daniel blieb noch ein paar Minuten bei ihr stehen. Dann wandte er sich schulterzuckend ab und ging davon.

Erin hatte fast erwartet, ihn in der nächsten Stunde wiederzusehen. Doch zum Glück blieb sie verschont. Erst in der siebten Stunde stieß er wieder zu ihr. Doch bis dahin hatte sie sich an die Tatsache, dass er an der Schule war, so weit gewöhnt, dass es ihr gar nicht mehr schwerfiel, ihn und seine Blicke zu ignorieren.

Als sie schließlich nach Hause ging, war sie froh, den Tag halbwegs erfolgreich überstanden zu haben. Nur der Gedanke an morgen bedrückte sie ein wenig, denn dann würde er auch wieder da sein. Erin hätte zu gerne gewusst, was sie ihm eigentlich getan hatte.

 

Einige Tage später saßen Erin, Lisa und Florian gerade beim Frühstück, als Lisa plötzlich etwas einfiel. „Schau mal, was ich in deiner Jeans gefunden habe, als ich sie waschen wollte“, sagte sie und hielt Erin die silberne Kette mit dem Anhänger hin. „Die ist neu, oder?“, fragte sie neugierig.

„Ja“, stammelte Erin. „War ein richtiger Glücksgriff.“

„Und wieso trägst du sie nicht? Sieht doch richtig toll aus!“, rief Lisa aus und stand auf. „Warte, ich mache sie dir gleich um. Die musst du heute unbedingt anziehen. Diese roten Steine passen echt gut zu deinem Outfit.“

„Stimmt“, sagte Erin überrascht und ließ sich ohne Widerworte die Kette anlegen. Seit dem Unfall waren immerhin schon fast zwei Wochen vergangen und niemand hatte danach gefragt. Also konnte sie sie wohl getrost tragen.

„Wirklich schön“, kommentierte Florian. „Und gut gemacht. Der Anhänger sieht richtig alt aus.“

Erin lächelte zufrieden. „Oh, jetzt muss ich aber los“, sagte sie dann mit einem Blick auf die Uhr.

 

Während sie zur Schule radelte, tastete Erin immer wieder nach der Kette an ihrer Brust, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Es wäre äußerst schade gewesen, sie einfach so zu verlieren. Doch nach und nach wich ihre Besorgnis und sie musste den Anhänger nicht mehr anfassen, um zu wissen, dass er um ihren Hals hing. Sie spürte sein Gewicht als leichten Druck durch den dünnen Stoff ihres Oberteils hindurch und fühlte sogar eine leichte Wärme auf ihrer Haut.

Gutgelaunt stellte Erin ihr Fahrrad an dem überdachten Ständer ab und ging ins Schulgebäude hinein. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten und sie hatte Mathe in der ersten Stunde. Mit etwas Glück hatte Daniel jetzt einen anderen Kurs und sie konnte sich ungestört auf ihr Lieblingsfach konzentrieren. Als sie ankam, war der Kursraum noch verschlossen und sie lehnte sich wartend an die Wand. Dabei spielten ihre Finger unbewusst mit ihrem Anhänger. Daher sah sie Daniel auch erst, als er wutentbrannt auf sie zustürmte.

„Hast du den Verstand verloren?“, zischte er ihr zu und riss ihr den Anhänger aus den Fingern.

Die umherstehenden Mitschüler sahen die beiden überrascht an. Einige Mädchen stupsten sich mit ihren Ellbogen an und kicherten leise, während andere sich bedeutungsschwere Blicke zuwarfen.

Doch Daniel kümmerte sich nicht darum. Noch bevor Erin wusste, wie sie reagieren sollte, nahm er den Anhänger und stopfte ihn einfach so in ihren Ausschnitt.

Das weckte sie aus der Erstarrung. „Hey!“, rief sie wütend und holte mit ihrer Hand aus, um ihm eine zu scheuern.

Problemlos fing Daniel ihre Hand ein, wobei er ihr schmerzhaft das Handgelenk quetschte, und zog sie grob mit sich fort.

„Was fällt dir ein!“, schrie sie protestierend auf und versuchte, sich aus seinem eisernen Griff zu befreien.

„Sei still, du dummes Mädchen!“, presste er zwischen zusammengebissnen Zähnen hervor und zog sie unerbittlich weiter mit sich fort, während das Getuschel hinter ihnen immer lauter wurde.

Erst als sie durch eine Seitentür in den leeren Schulhof getreten waren, lockerte er seinen Griff und Erin riss sich energisch von ihm los.

„Elender Mistkerl!“, brüllte sie und drehte sich um, um wieder ins Gebäude zu laufen.

„Hiergeblieben!“, befahl Daniel genervt und fasste sie an der Taille, um sie aufzuhalten.

Erin erstarrte. „Lass mich auf der Stelle los!“, sagte sie betont und gefährlich leise.

In diesem Augenblick kam Herr Homberg, der Mathelehrer, in den Schulhof und sah Daniel streng an, der das Mädchen sofort losließ. „Ist alles in Ordnung, Erin?“, fragte der Lehrer besorgt. Anscheinend hatten die Anderen ihm von Daniels ungewöhnlichem Benehmen erzählt.

„Sicher“, antwortete dieser schnell an Erins Stelle. „Wir haben nur eine kleine Meinungsverschiedenheit, wie das bei Pärchen eben so ist.“ Er lächelte entwaffnend. „Wir müssen nur dringend etwas besprechen. Etwas äußerst Wichtiges.“

„Das hat bestimmt noch ein wenig Zeit“, sagte Herr Homberg streng. „Wir haben jetzt Unterricht.“

„Es tut mir leid, aber das kann leider nicht warten“, widersprach Daniel ruhig. „Nicht wahr, mein Schatz?“

Fassungslos und wütend blickte Erin zwischen den beiden Männern hin und her. Die Versuchung, Herrn Homberg einfach wieder hineinzufolgen und Daniel draußen stehen zu lassen, war überwältigend. Aber irgendetwas in seinem Ton und Blick ließ sie innehalten. „Wir sollten das wirklich erst klären“, sagte sie widerstrebend zu ihrem Mathelehrer.

„Das ist unentschuldigtes Schwänzen“, ermahnte dieser sie ernst.

„Ich weiß, aber es geht leider nicht anders.“

Herr Homberg sah seine beste Schülerin einige Zeit lang nachdenklich an, dann nickte er schließlich. „Aber Sie lassen Ihre Hände bei sich, junger Mann“, sagte er warnend zu Daniel. „Sollte mir zu Ohren kommen, dass Sie Erin oder ein anderes Mädchen wieder so grob behandeln, fliegen Sie von der Schule, verstanden?“

Daniel nickte.

Der Lehrer warf den beiden einen letzten missbilligenden Blick zu, dann wandte er sich ab und ging zu seiner Klasse.

„Was ist eigentlich dein Problem?“, fuhr Erin Daniel an, kaum dass Herr Homberg außer Hörweite war. „Jetzt wird die ganze Schule denken, ich hätte etwas mit dir!“ Wütend starrte sie ihn an.

„Es gibt Schlimmeres.“ Selbstsicher erwiderte er ihren Blick. „Ich bin zwar noch nicht lange hier, aber ich kenne einige Mädels, die alles dafür geben würden.“

„Nun, ich gehöre definitiv nicht dazu“, sagte Erin verächtlich. Dann sah sie ihn spöttisch an. „Wolltest du nur mit deinen Eroberungen vor mir prahlen oder gibt es noch einen anderen Grund für das Ganze? Wenn nicht, würde ich lieber zum Unterricht gehen, anstatt mich noch länger deiner so überaus charmanten Gesellschaft auszusetzen.“

Daniel warf ihr einen finsteren Blick zu. Anscheinend war er es nicht gewohnt, von einem Mädchen abgewiesen zu werden. „Ich hoffe, es ist das hier wert“, murmelte er seufzend. „Woher hast du das?“, wechselte er völlig ohne Vorwarnung das Thema und zeigte auf die Kette, die noch immer um Erins Hals hing, auch wenn der Anhänger nun unter ihrem Shirt verborgen war.

„Das geht dich nichts an!“

„Ach nein? Nur deswegen stecke ich in dieser verdammten Schule fest!“ Ärgerlich sah er sie an.

„Das verstehe ich nicht!“ Hatte er nun völlig den Bezug zur Realität verloren?

„Natürlich nicht! Du hast überhaupt keine Ahnung!“

„Jetzt reicht es mir!“ Entschlossen funkelte Erin ihn an. „Entweder du sagst mir endlich, was dein Problem ist, oder du lässt mich in Ruhe!“

Er atmete tief durch und fixierte sie mit einem nachdenklichen Blick.

Wütend wartete sie auf seine Antwort.

„Ich will dir eine Geschichte erzählen“, sagte er schließlich ruhig.

„Eine Geschichte?“, wiederholte Erin verwirrt.

„Ja.“ Daniel nickte. „Vielleicht setzen wir uns dazu am besten hin.“ Er wies auf ein niedriges Mauerstück.

Sie folgte ihm skeptisch und setzte sich gut einen halben Meter von ihm entfernt auf die Mauer. Sie glaubte, ein belustigtes Lächeln über seine Lippen huschen zu sehen, war sich aber nicht ganz sicher. Sie verschränkte die Arme demonstrativ vor ihrer Brust. „Ich warte.“

„Also gut.“ Er holte tief Luft. „Vor sehr langer Zeit hatte es mal einen äußerst mächtigen und weisen Mann gegeben. Einen Magier, wie wir heute sagen würden. Er fertigte fünf außergewöhnliche Amulette an, die zu einem Stern zusammengefügt werden konnten. Jedem dieser Amulette gab er eine besondere Kraft, die es an sich schon ziemlich mächtig machte. Zusammengefügt zu dem Stern verliehen die Schmuckstücke dem Besitzer aber unvorstellbare Macht. Der Magier wollte diese Macht nutzen, um den Menschen zu helfen. Doch er wurde verraten. Sein Schüler begehrte die Macht des Sterns für sich. Es gelang ihm, eines der fünf Amulette zu stehlen. Der Magier war untröstlich. Er erkannte, dass sein Werk bei den Menschen viel Schaden anrichten konnte, anstatt ihnen zu helfen. Um die letzten vier Teile des Sterns vor Missbrauch zu schützen, übergab er sie seinem König, der uns heute als Salomon, der Weise, bekannt ist. Salomon schwor, die Amulette vor Unheil zu bewahren und sie zum Wohle seines Volkes einzusetzen. Soweit es uns bekannt ist, hatte er sein Wort gehalten. Doch er wusste auch, dass ein einzelner Mensch nicht so viel Macht in den Händen halten sollte. Deshalb vererbte er je ein Amulett an seine vier Lieblingssöhne, die sie mehr oder minder ehrenvoll einsetzen sollten. Im Laufe der Jahrtausende gingen die Schmuckstücke immer wieder verloren und tauchten hie und da wieder auf. Fest steht allerdings, dass ihre Macht weiterhin ungebrochen ist.“

„Aha“, sagte Erin verständnislos, als er geendet hatte. Sollte ihr das jetzt irgendetwas erklären? „Es ist ein nettes Märchen“, setzte sie hinzu. „Und was hat das nun mit mir oder deinem unmöglichen Benehmen zu tun?“

Er sah sie an, als wäre sie völlig belämmert. „Begreifst du es immer noch nicht? Dies ist eines der Schmuckstücke!“ Er wies auf ihre Kette.

„Ja, klar.“ Sie rollte mit den Augen und sprang abrupt von der Mauer. Auf so einen Blödsinn hatte sie wirklich keine Lust.

„Hat es dich nie gewundert, dass die alte Frau dir die Kette gegeben hat?“, hielten seine nächsten Worte sie zurück.

„Woher weißt du das?“ Sie hatte niemandem davon erzählt.

Er ignorierte ihre Frage und sprach schnell weiter. „Hat sie vielleicht noch etwas zu dir gesagt? Dass du die Richtige bist oder so etwas?“

„Nein.“ Erin lächelte erleichtert. „Sie sagte nur, ich hätte ein gutes Herz, und dass ich aufpassen sollte.“

„Das ist fast das Gleiche“, beharrte er.

„Aber sicher.“ Erin blieb unschlüssig. Sie glaubte ihm kein Wort, aber sie konnte sich auch nicht erklären, welchen Grund er haben konnte, ihr eine so absonderliche Lüge aufzutischen. Ihre Neugier siegte. „Also gut, tun wir mal so, als ob ich dir glauben würde. Das erklärt aber nicht, woher du das alles weißt.“

„Wir suchen schon seit Tausenden von Jahren nach den Amuletten, um sie wieder zusammenzubringen und eine Ära des Friedens und des Wohlstandes für die Menschen einzuleiten“, sagte er feierlich.

Sie sah ihn skeptisch an. „So alt siehst du gar nicht aus.“

Er verzog zornig das Gesicht. „Wenn ich wir sage, dann meine ich die Gemeinschaft, der ich angehöre, und nicht mich persönlich“, erklärte er mit erzwungener Ruhe.

„Und was für eine Gemeinschaft soll das sein?“

„Die Bruderschaft des Lichts.“

„Aha“, sagte Erin nicht besonders einfallsreich. „Und nun?“

„Und nun bist du in großer Gefahr.“

„Wieso denn das?“

„Weil wir nicht die Einzigen sind, die danach suchen.“

„Lass mich raten. Es gibt noch eine Bruderschaft der Finsternis?“

„Sie nennen sich zwar nicht so, sondern Suchende im Zeichen des Sterns, aber im Grunde hast du den Kern erfasst.“

Erin sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Glaubst du wirklich an diesen ganzen Blödsinn, den du da erzählst?“

„Das ist kein Blödsinn“, brauste er auf, „sondern schlicht und einfach die Wahrheit!“

„Es gibt also zwei uralte Organisationen, die nach irgendwelchen magischen Amuletten suchen, die große Macht verleihen?“, fasste sie skeptisch zusammen.

„Genau.“ Daniel nickte. Er schien erleichtert zu sein, dass sie seiner Ansicht nach endlich Vernunft annahm.

„Und was unterscheidet euch von den Anderen?“

Er stutzte. „Ist das nicht offensichtlich? Wir wollen die Macht nutzen, um den Menschen zu helfen.“

„Und wie wollt ihr das anstellen? Was habt ihr bisher gemacht?“

„Nichts, wir suchen ja noch.“

„Wenn ihr helfen wollt, hättet ihr auch jetzt schon völlig ohne okkulte Magie einiges für Menschen in Not tun können.“

„Das ist doch gar nicht der Punkt“, erwiderte er verärgert.

„Doch“, widersprach sie. „Wenn deine Geschichte stimmen sollte, habe ich nur deine Aussage, dass ihr gut seid und die Anderen böse.“

„Du willst einen Beweis?“ Irritiert sah er sie an.

„Das wäre zumindest ein Anfang.“

„Ist dir die Tatsache, dass ich hier gerade mit dir rede, anstatt dir einfach den Hals umzudrehen und das Amulett zu nehmen, nicht Beweis genug?“

Erin erbleichte. „Das würdest du tun?“

„Ich nicht, aber die Anderen.“ Er sah sie eindringlich an. „Versteh doch, du bist in großer Gefahr. Wenn wir herausfinden konnten, wer du bist, können sie es auch. Ich bin sicher, sie haben es längst getan. Erinnerst du dich noch an den Taschendieb? Das war nichts weiter als der verzweifelte Versuch, den Anhänger an sich zu bringen, bevor du seine Macht erkennst.“

„Hier, du kannst die Kette haben.“ Entschlossen zerrte Erin den Anhänger wieder aus ihrem Ausschnitt. „Ich will sie nicht. Ob es nun wahr ist oder nicht, ich will mit dieser ganzen Sache nichts zu tun haben.“

„Dafür ist es leider zu spät. Du bist ihre Trägerin. Schon bald wirst du ihre Macht spüren.“

„Aber ich will das nicht!“ Mit zitternden Fingern nahm Erin die Kette ab.

Daniels Hand zuckte unwillkürlich vor, um sie zu nehmen. Doch dann ließ er sie wieder sinken. „Verlockend, sehr verlockend“, sagte er langsam. „Aber du wurdest von ihrer Vorbesitzerin dazu auserwählt, sie zu tragen. Bei niemandem sonst würde die Kette ihre volle Kraft entfalten. Und es ist die volle Kraft, die wir benötigen.“

„Wofür?“

„Die Anderen haben zwei der Amulette, wir haben eins. Doch keins von denen wird von seinem wahren Träger beherrscht. Den Anderen mag es egal sein. Wenn sie es schaffen, deinen Anhänger zu bekommen, sind sie uns drei zu eins überlegen.“ Er schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, wenn wir eine Chance in diesem Kampf haben wollen, brauchen wir dich zusammen mit der Kette.“

„Und wenn ich nicht will?“

„Es ist ein Risiko, das wir eingehen müssen. Aber ich warne dich. Das Risiko für dich ist noch viel, viel höher.“

Es klingelte. Die erste Stunde war um.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte Erin erleichtert. „Ich will nicht auch noch die nächste Stunde verpassen.“ Sie steckte die Kette unter ihr Shirt und lief, so schnell sie konnte, davon.

 

Erin konnte gar nicht sagen, wie sie den Rest des Schultages hinter sich brachte. Vom Unterricht bekam sie jedenfalls nicht viel mit. Unaufhörlich kreisten ihre Gedanken um das Gehörte und sie konnte sich einfach nicht entscheiden, was sie von Daniels verrückter Geschichte halten sollte. Schließlich schaffte sie es, sich auf drei mögliche Erklärungen zu fokussieren, von denen ihr keine besonders gefiel. Entweder trieb er irgendeinen makabren Spaß mit ihr, oder er war geisteskrank und glaubte tatsächlich selbst an seine Geschichte, oder – so unwahrscheinlich und unglaublich das auch sein mochte – er hatte ihr die Wahrheit erzählt. Doch welche Erklärung auch immer zutraf, in allen drei Fällen sollte sie sich lieber vor ihm vorsehen und ihm am besten aus dem Weg gehen.

Da war es wenig förderlich, dass Mia in der großen Pause aufgeregt auf sie zusprang. „Eigentlich müsste ich richtig böse auf dich sein“, flötete ihre Freundin. „Aber ich kann es nicht, weil ich mich sooo sehr für dich freue!“

Verständnislos blickte Erin sie an. „Wovon redest du?“

„Na, von Daniel und dir!“, rief Mia fassungslos aus. „Da lässt du mich in dem Glauben, dass du ihn gar nicht kennst, und dabei geht ihr miteinander! Ich kann es nur nicht glauben, dass ich das als deine beste Freundin von der Zicke Jennifer erfahren musste.“ Sie setzte sich neben Erin auf die Bank. „Und jetzt will ich alle schmutzigen kleinen Details.“

Erin atmete tief durch in dem Versuch, ihre Ruhe zu bewahren. Dieser elende Mistkerl! Sie hatte gewusst, dass so etwas passieren würde. Jetzt zerriss sich die ganze Schule das Maul über sie. „Da gibt es nichts zu erzählen“, sagte sie betont ruhig.

Mia zog eine beleidigte Schnute. „Du willst es mir nicht sagen?“, fragte sie ungläubig.

Irritiert sah Erin ihre Freundin an. Wie sollte sie ihr bloß erklären, dass Daniel schlichtweg gelogen hatte? Mia würde ihr das nie im Leben abkaufen.

„Es gibt nichts zu erzählen, weil es schon vorbei ist“, sagte sie schließlich. Wenn er haltlose Gerüchte in die Welt setzen konnte, konnte sie das auch. „Wir sind nur ein Mal zusammen ausgegangen. Ich wollte nichts erzählen, solange ich nicht wusste, was daraus wird. Aber jetzt ist es eh vorbei. Ich habe ihn knutschend mit einer Anderen erwischt!“

„So ein A-Loch!“, rief Mia mitfühlend aus und drückte Erin an sich. „Wie geht es dir jetzt, Süße?“

„Ich werde darüber hinwegkommen, aber ich brauche etwas Zeit. Und ich will auf keinen Fall wieder mit ihm sprechen. Das verstehst du doch, oder?“

„Aber klar. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich werde ihn von dir fernhalten.“

„Danke“, sagte Erin aufrichtig erleichtert.

Dann läutete die Glocke das Ende der großen Pause ein. Mia lief zu ihrem Psychologiekurs und Erin machte sich schweren Herzens zu Erdkunde auf. Und dort hatte sie dann alle Zeit der Welt, um wieder in Ruhe über Daniels Geschichte und ihren Anhänger zu grübeln.

 

Nach Schulschluss ging sie gedankenverloren zum Fahrradständer und wäre fast in Daniel hineingelaufen, der plötzlich neben ihrem Fahrrad auftauchte. Erschrocken fuhr sie zurück.

„Entspann dich, ich tu dir schon nichts“, sagte er stirnrunzelnd.

Sie versuchte, sich wortlos an ihm vorbeizudrängen.

„Lass nur.“ Er legte seine Hand auf die Lenkstange ihres Fahrrads. „Ich fahre dich nach Hause. Anders ist es viel zu gefährlich für dich.“

„Ich komme schon klar“, sagte sie fest und machte das Fahrradschloss auf.

„Ist es, weil ich mit dieser drallen Blondine rumgeknutscht habe?“, fragte er plötzlich und seine Augen funkelten amüsiert.

„Von einer Blondine habe ich nichts gesagt“, erwiderte Erin befriedigt. Die Gerüchteküche arbeitete schnell. „Und jetzt lass mich durch, ich will nach Hause!“

Daniel schenkte ihr einen Blick, in dem sich Ärger und Resignation mischten, aber zumindest ließ er ihr Fahrrad los.

Sie nahm es energisch aus der Halterung, setzte sich drauf und fuhr davon.

 

Zu Hause lief Erin in ihr Zimmer und schloss ihre Tür. Dann holte sie ihren Anhänger hervor und beäugte ihn sorgfältig. Er war unzweifelhaft alt. Aber konnte er so alt sein? Ach, das alles brachte doch nichts! Als sie ihn schon frustriert in ihre Schublade werfen wollte, fielen ihr plötzlich zwei kleine Schlitze an der Fassung des oberen Steins auf. Es sah tatsächlich so aus, als könnte man da links und rechts einen ähnlichen Anhänger andocken, wenn man die entsprechenden Anschlussstücke hatte.

Nachdenklich ließ Erin sich in ihren Stuhl zurückfallen. Das würde für Daniels Geschichte sprechen. Immerhin hatte er den Anhänger vorher nicht gesehen. Und er hatte das mit der alten Frau gewusst.

Auf einmal bekam sie richtig Angst. Am liebsten hätte sie sich die Kette vom Hals gerissen und sie in irgendeine Mülltonne geworfen, damit sie nicht zu ihr zurückverfolgt werden konnte. Und doch spürte sie eine angenehme Wärme, dort, wo der Anhänger ihre Haut berührte, ein wohliges Gefühl, das Schutz und Geborgenheit verlieh. Und sie wusste, dass sie es nicht würde tun können.

 

Kapitel 3

 

Der Mann schrie vor Schmerz. Flammen blendeten ihn und verbrannten seine Haut. Er konnte nichts sehen, hören oder fühlen außer der allumfassenden Qual, als das Feuer an ihm leckte. Keuchend fiel er zu Boden. Er wollte nur, dass es aufhörte. Auch die Tatsache, dass er wusste, dass das Feuer nicht real war, änderte nichts an seinem Schmerz.

Die Flammen verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren. Zitternd blickte der Mann hoch. Vor ihm stand der Großmeister, in einen dunklen Kapuzenumhang gehüllt, der sein Gesicht vollständig verbarg. Seine Finger hatten den verschlungenen Silberanhänger, der an einer Kette um seinen Hals hing, gerade losgelassen. Und die zwei Edelsteine in seiner Mitte glühten noch schwach.

„Du hast erneut versagt!“, rief der Großmeister schneidend. „Und nun ist die Macht des Herzens wieder erwacht. Es hat einen neuen Träger gefunden.“ Langsam ging der Großmeister um den Mann herum, der sich nun mühsam auf seine Knie hochzog. „Finde das Herz und bringe es her.“

„Ja, Meister“, keuchte der Mann.

„Wir werden kein weiteres Versagen von dir tolerieren!“ Der Großmeister wandte sich ab und verließ den Raum.

 

 

Erin warf einen Blick in den Kühlschrank und knallte ihn wütend zu. Entschlossen lief sie in Lisas Zimmer und funkelte ihre Schwester verärgert an. „Es gibt schon wieder nichts zu essen im Haus!“, beschwerte sie sich.

„Ich hätte ja eingekauft“, erklärte Lisa beschwichtigend, „aber ich habe den ganzen Tag für diesen blöden Test morgen gebüffelt. Und ich bin noch lange nicht durch.“ Klagend wies sie auf das vor ihr liegende Skript. „Könntest du vielleicht einkaufen?“

Normalerweise hätte Erin sich mit dieser Erklärung zufriedengegeben und brav den Einkauf erledigt. Aber heute fühlten sich Lisas Worte irgendwie falsch an. Verwirrt starrte sie ihre Schwester an. Hatte sie sich das eben nur eingebildet? „Du hast also den ganzen Tag gelernt?“, wiederholte sie vorsichtig.

„Ja“, sagte Lisa kläglich und nickte bestätigend mit dem Kopf.

Der falsche Klang blieb. Und plötzlich hatte Erin ein kurzes Bild vor Augen, wie Lisa und Florian vor dem Fernseher auf dem Sofa saßen.

„Du hast also nicht mit Florian die letzte Chips-Packung vertilgt und dir einen Film angeschaut?“, fragte sie stirnrunzelnd.

Überrascht blickte Lisa hoch. „Vielleicht habe ich eine ganz kurze Pause gemacht“, gab sie kleinlaut zu. „Woher weißt du das?“

Erin zuckte mit den Schultern. „Ich habe geraten.“

Lisa lächelte entschuldigend. „Du kennst mich einfach zu gut, Schwesterherz.“

„Oh nein“, erwiderte Erin streng. „So leicht kommst du mir nicht davon. Du machst jetzt nämlich noch eine kleine Pause und fährst mit mir zusammen zum Supermarkt. In das Auto passt schließlich um einiges mehr rein als in meinen kleinen Fahrradkorb.“

 

Während Erin langsam den Einkaufswagen durch die Gänge schob, grübelte sie über den eigenartigen Einblick, den sie in Lisas Kopf bekommen hatte. War es nur Zufall gewesen oder hatte sie angefangen, die Kraft des Anhängers zu spüren, wie Daniel es ihr vor ein paar Tagen vorhergesagt hatte?

Wenn es tatsächlich der Anhänger gewesen sein sollte, müsste sie es doch auch steuern können. Suchend sah Erin sich um, bis ihr Blick schließlich auf einem etwa 15-jährigen Jungen hängen blieb, der vor dem Spirituosenregal stand. Konzentriert starrte sie ihn an und versuchte, etwas über seine Absicht zu erfahren.

„Hey, träumst du?“, ertönte plötzlich Lisas spöttische Stimme neben ihr.

Erin zuckte zusammen und wandte schnell ihren Blick ab. Doch sie hätte schwören können, dass sie für eine Millisekunde etwas gespürt hatte. Es würde sie nicht überraschen, wenn der Junge versuchen würde, mit einer Flasche Schnaps in seinem Schlabberärmel aus dem Laden zu verschwinden.

Während Lisa fleißig Lebensmittel in den Einkaufswagen lud, suchte Erin sich ein neues Versuchsobjekt. Da! Die Frau, die so abwesend auf die Gemüseauslage starrte, erschien ihr ganz vielversprechend. Sie fixierte die Frau mit ihrem Blick und legte ihre Hand unwillkürlich auf ihre Brust, genau dorthin, wo unter ihrem Oberteil das Medaillon lag. Plötzlich spürte sie Wärme von dem kleinen Schmuckstück aufsteigen und im nächsten Augenblick traf Erin eine solche Welle der Traurigkeit, dass sie erschrocken nach Luft schnappte und ihre Hand von dem Anhänger wegzog, als hätte er sie verbrannt.

Vorsichtig schob sie sich an der Frau vorbei und vermied es, sie auch nur flüchtig anzusehen. Es ging definitiv etwas sehr Eigenartiges mit ihr vor. Etwas, das sie sich ganz bestimmt nicht einbildete.

Nach dieser Erfahrung hatte Erin keine Lust mehr auf weitere Experimente und sie war froh, als Lisa ihr schließlich bedeutete, mit dem Wagen zur Kasse zu fahren.

 

Zu Hause überließ Erin ihre Schwester ihren Büchern und lief in ihr Zimmer. Dann fuhr sie ihren Laptop hoch. Es wurde höchste Zeit, dass sie sich mehr Informationen verschaffte. Sie trommelte ungeduldig mit den Fingern, bis sich das Fenster der Suchmaschine öffnete, und tippte den ersten Suchbegriff ein, der ihr in den Sinn kam. Leider brachte „Magisches Amulett“ etwa 290.000 Suchergebnisse, die meisten von irgendwelchen Esoterikläden, die ihr allesamt nicht weiterhalfen. Erin seufzte und tippte „magischer Anhänger“ in das Suchfenster. Nun waren es fast 700.000 Treffer, die sie zu verschiedenen Schmuckseiten lotsen wollten. Das schien nicht der richtige Weg zu sein.

Erin atmete tief durch und versuchte sich zu erinnern, was Daniel ihr sonst noch so erzählt hatte. Er hatte von einem Stern gesprochen, fiel es ihr plötzlich ein. Hoffnungsvoll versuchte sie es mit „magischer Stern“, „Zauberstern“ und schließlich mit „fünf Anhänger Stern“ – ohne Erfolg. Natürlich könnte sie Daniel auch einfach fragen. Aber dann hätte sie wieder nur sein Wort, dass er ihr die Wahrheit sagte. Und sie wusste nicht, ob sie sich tatsächlich darauf verlassen wollte.

Frustriert strich sie sich die Haare aus dem Gesicht und tippte „Bruderschaft des Lichts“ ein. Als sie die Trefferliste sah, musste sie ein hysterisches Kichern unterdrücken. Die einzigen Seiten, die darüber berichteten, handelten von irgendwelchen Fantasy-Rollenspielen und waren daher frei erfunden. So viel zu Daniels Vertrauenswürdigkeit.

Insgesamt sprach das Ergebnis ihrer Recherche bisher weder für ihn noch für seine verrückte Geschichte. Konnte etwas überhaupt wahr sein, wenn es im Internet gar nicht erwähnt wurde?

Doch so leicht wollte sie nicht aufgeben. Erin machte noch einen Versuch und tippte „König Salomon Stern“ in das Suchfenster ein. Interessiert beugte sie sich vor, als sie dieses Mal die Trefferliste sah. Eine halbe Stunde später wusste Erin immerhin, dass der König um 965 vor Christus geboren worden war. Wenn das stimmte, musste ihr Anhänger fast dreitausend Jahre alt sein! Außerdem fand sie heraus, dass er als Herrscher über die Dschinn, Geister und Teufel bekannt war. Weiterhin sollte er einen magischen Talisman besessen haben, mit dem er seine Macht ausübte. Auch sollte sein Siegelsymbol ein Stern gewesen sein. Ein sechszackiger zwar, aber immerhin.

Nachdenklich lehnte Erin sich zurück und kaute auf ihrer Unterlippe. Sollte das ausreichen, um Daniels Geschichte zu untermauern? Und selbst wenn, hatte sie noch immer keine Antwort auf die Frage gefunden, die sie so brennend interessierte: Was war es für eine Kraft, die ihr Anhänger ihr verleihen sollte? Und was konnten die Anderen tun?

Es war schon fast Mitternacht, als sie ihren Laptop schließlich zuklappte. Während sie sich im Bad müde die Zähne putzte, ließ sie sich noch einmal alles durch den Kopf gehen, was sie erfahren hatte:

Punkt 1: Daniels Geschichte konnte wahr sein oder zumindest einen wahren Kern enthalten.

Punkt 2: Es gab unzählige Bruderschaften und Geheimbünde, die nach irgendwelchen magischen oder verschollenen Dingen suchten. Es konnte also auch welche geben, die sich mit den fünf Amuletten beschäftigten, auch wenn sie es nicht gerade auf ihre Homepage schrieben. Für einen Geheimbund wäre dies zugegebenermaßen eine ziemlich blöde Vorgehensweise.

Punkt 3: Sie hatte keine explizite Erwähnung ihres Anhängers gefunden und hatte nach wie vor keine Ahnung, was er bewirkte. Nun gut, eine kleine Ahnung hatte sie schon, immerhin hatte sie seine Kraft bereits gespürt, aber sie hatte keinen geschichtlichen oder wissenschaftlichen Text gefunden, in dem ihre Vermutung bestätigt worden wäre. Nur einen einzigen Hinweis hatte sie gesehen, der in die richtige Richtung ging. Auf einer Seite über okkulte Legenden hatte sie einen obskuren Hinweis auf ein Amulett gefunden, das mit zwei blutroten Rubinen geschmückt war. Dem Amulett sollte die Kraft des Herzens innewohnen, was auch immer das bedeuten mochte.

Erin seufzte. Es blieb ihr wohl doch nichts Anderes übrig, als Daniel zu befragen. Sie grinste boshaft. Aber wenn er dachte, sie würde blind alles glauben, was er ihr sagte, dann täuschte er sich gewaltig. Wenn sie bei Lisa gespürt hatte, als sie sie belogen hatte, würde ihr dies bei Daniel bestimmt auch gelingen.

Zufrieden lief Erin in ihr Zimmer zurück, kuschelte sich in ihr Bett und schlief sofort ein.

 

Am nächsten Morgen ging sie mit gemischten Gefühlen zur ersten Stunde. Daniel war bereits da. Er stand lässig an die Wand gelehnt, wie immer von einer kleinen Schar seiner Verehrerinnen umzingelt.

Meine Güte, merken sie nicht, wie gelangweilt er ist, während sie um seine Aufmerksamkeit buhlen?, fuhr es ihr verärgert durch den Kopf. Dann ließ sie tapfer den grollenden Blick über sich ergehen, mit dem er sie zur Begrüßung immer bedachte. Seit ihrem letzten Gespräch hatte sie ihn entschieden gemieden und Mia hatte sie dabei voll unterstützt. Zunächst hatte er noch versucht, zu ihr vorzudringen, doch dann hatte er es aufgegeben und sie stattdessen aus der Entfernung mal zornig, mal kopfschüttelnd angesehen.

Jetzt weiteten sich seine Augen überrascht, als sie ihre Schultern straffte und energisch auf ihn zuging. „Können wir kurz reden?“, fragte Erin fest. „Unter vier Augen?“, fügte sie mit einem bedeutungsvollen Blick auf den Daniel-Fanclub hinzu.

Er zögerte kurz. Fast schien es Erin, als wollte er sie für die Zurückweisung der letzten Tage ein wenig zappeln lassen, doch schließlich nickte er knapp. „Nach dir“, sagte er mit einer ironischen Verbeugung und wies mit der Hand in einen leeren Seitenflur. Nachdem sie außer Hörweite der Anderen waren, blieb er mit verschränkten Armen stehen und sah sie erwartungsvoll an. „Nun?“, fragte er kühl, als sie nichts sagte.

„Ich brauche ein paar Antworten“, erwiderte Erin ernst.

„Und da dachtest du, du müsstest nur mit dem Finger schnippen und ich würde sie dir geben?“ Er schien echt sauer zu sein.

„Was ist eigentlich dein Problem?“, brauste auch sie nun auf. Es war normalerweise überhaupt nicht ihre Art, aber dieser selbstsichere, arrogante, undurchsichtige Typ brachte sie einfach immer wieder in null Komma nix auf die Palme. „Du tauchst einfach so auf, erzählst mir eine ganz unglaubliche Geschichte und streust auch noch wilde Gerüchte über mein Liebesleben. Und dann wunderst du dich, dass ich ein paar Tage brauche, um das Ganze zu verdauen?“

Ein betroffener Ausdruck huschte kurz über sein Gesicht. „Also, was willst du wissen?“, brummte er unwillig.

„Was genau soll mein Anhänger eigentlich bewirken?“, fragte sie geradeheraus und fixierte ihn mit ihrem Blick. Sie wollte sich nichts von seiner Reaktion entgehen lassen.

„Dann glaubst du mir also endlich?“

„Ich denke schon“, erwiderte sie. Es war wohl besser, ihn nicht wissen zu lassen, wie unsicher sie bezüglich seiner wahren Absichten noch war.

„Hast du denn schon was gespürt?“, fragte er neugierig und ein aufgeregtes Funkeln trat in seine Augen.

„Möglich“, entgegnete Erin ausweichend. „Ich bin mir allerdings nicht sicher, was es genau war.“

„Was war denn geschehen?“

„Ich hatte nur so ein komisches Gefühl gehabt, als meine Schwester etwas zu mir sagte“, erwiderte sie vorsichtig. Sie wollte ihm bloß nicht zu viel verraten, ohne weitere Informationen und ohne einen Beweis, dass sie ihm wirklich vertrauen konnte. Und bestimmt würde sie ihm nichts von der Frau im Supermarkt erzählen oder dem kurzen Einblick in Lisas Kopf.

„Ich dachte, die Wirkung würde bei dir stärker sein“, murmelte er enttäuscht. „Aber vermutlich ist es noch zu früh.“

„Zu früh wofür?“, hakte Erin nach.

„Um die volle Kraft des Amuletts zu spüren.“

Erin war ganz Ohr. In ihrem Bemühen, irgendeine Schwingung von Daniel zu empfangen, die ihr verriet, ob er die Wahrheit sagte, zog sie ihre Stirn in Falten und legte eine Hand genau über dem Anhänger auf ihre Brust.

„Dein Amulett wurde das Herz genannt“, erklärte Daniel ihr ruhig. „Es heißt so, weil du damit in die Herzen der Menschen blicken und ihre Gefühle lesen kannst. Es heißt, dass ein wahrer Träger in seltenen Fällen sogar Visionen haben könnte.“

Erin spürte, wie ihr eigenes Herz vor Aufregung zu hämmern anfing. „Und die anderen Amulette?“, fragte sie atemlos.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Daniel plötzlich und sah sie belustigt an. „Du siehst aus, als würden gleich Laserstrahlen aus deinen Augen schießen.“ Dann wandelte sich sein Blick und jede Spur von Heiterkeit verschwand aus seinen Zügen. „Du versuchst, mich zu lesen, nicht wahr?“, stieß er verärgert hervor. „So viel dazu, dass du nicht weißt, was das Amulett bewirkt.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Verarschen kann ich mich auch allein. Ach ja, und vielen Dank für das Vertrauen!“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und stürmte davon.

Verdattert starrte Erin ihm hinterher. Dann ging auch sie langsam zum Klassenraum zurück.

 

Schon wieder konnte sie sich nicht auf den Unterrichtsstoff konzentrieren. Wenn das so weiterging, würde sie wegen des blöden Kerls noch durchs Abi rasseln. Er war doch echt so empfindlich wie eine Superdiva, dachte sie ärgerlich. Aber etwas Anderes beschäftigte sie noch viel mehr. Sie hatte nichts von seinen Gefühlen gespürt, als sie miteinander gesprochen hatten. Auch jetzt durchbohrte er sie zwar mit finsteren Blicken und es war nicht wirklich schwer zu erraten, was er gerade von ihr hielt. Aber spüren konnte sie es nicht, obwohl das Amulett fast schon unangenehm heiß auf ihrer Haut brannte.

Erin wandte den Kopf. Sie konnte mühelos spüren, dass Martin ziemlich nervös wurde, als die Hausaufgabenkontrolle losging. Anscheinend war er mal wieder nicht vorbereitet. Sie spürte auch Elinas aufgeregtes Kribbeln, als Manuels Blick sie flüchtig streifte. Bahnte sich da etwa was zwischen den beiden an? Aber nichts, rein gar nichts von Daniel.

Schließlich gab Erin die fruchtlosen Versuche auf und bemühte sich, wieder dem Unterricht zu folgen. Immerhin hatte der Morgen ihr zwei Erkenntnisse gebracht. Erstens, ihr Anhänger verlieh ihr tatsächlich besondere Kräfte. Und zweitens, allein der Gedanke, sie könnte hinter Daniels undurchdringliche Stirn blicken, schien ihn mächtig zu stören. Es gab also etwas, von dem er nicht wollte, dass sie es erfuhr.

 

Die Ampel sprang auf Grün und Erin machte einen Schritt auf die Straße. Sie hatte beschlossen, eine Freistunde und das schöne Wetter zu einem gemütlichen Bummel durch die Innenstadt zu nutzen.

Plötzlich durchzuckte sie Eiseskälte wie ein Blitz. Gefahr!, hallte es in ihrem Kopf.

Erin erstarrte und schaute sich hektisch um. Und da sah sie es! Ein LKW hatte anscheinend die Kontrolle verloren und raste, die rote Ampel ignorierend, direkt auf sie zu. Wie in Zeitlupe sah sie das Ungetüm auf sich zurollen. Ein entfernter Teil ihres Gehirns hatte noch genügend Zeit, sich über die Geschwindigkeit des Fahrzeugs zu wundern – hier waren doch maximal dreißig Stundenkilometer erlaubt! Vermutlich hatte sie auch genug Zeit, um auszuweichen, sich in Sicherheit zu bringen, aber sie war plötzlich wie erstarrt. Sie hatte immer den Kopf darüber geschüttelt, wenn sich Menschen im Film vor Schreck nicht rühren konnten. Und nun war sie selbst vor Angst wie gelähmt.

Der LKW war nur noch wenige Meter entfernt und doch konnte sie nichts weiter tun, als sein Näherkommen mit wild klopfendem Herzen zu beobachten.

Plötzlich rammte sie etwas fest von der Seite und riss sie durch den Schwung einfach mit. Sie spürte Hände um ihre Taille, während sie immer weiter geschleift wurde. Sie blickte auf und sah direkt in Daniels wutverzerrtes Gesicht.

Er sagte nichts, sondern zog sie noch ein wenig weiter, bis er, an einen kleinen Kiosk gelehnt, keuchend stehen blieb. Als er seine Hände von Erins Taille nahm, knickten ihre Beine weg und sie rutschte kraftlos zu Boden.

Allmählich löste sich ihre Erstarrung und sie fing an, unkontrolliert zu zittern. Sie hätte vorhin sterben können. Tatsächlich sterben. „Du hast mir das Leben gerettet“, flüsterte sie fassungslos.

„Ja, dafür bin ich wohl gut genug“, brummte er unwirsch und zog sie am Arm. „Wir müssen weg von hier“, sagte er ungeduldig, als sie verständnislos zu ihm aufsah.

Erst jetzt fing Erin an, ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen, und sie spähte an Daniel vorbei, um einen Blick auf den Lastwagen zu erhaschen, der mittlerweile einen Baum oder ein Haus gerammt haben musste. Doch es war keine Spur von ihm zu sehen. „Wo ist der LKW?“, fragte sie verwirrt.

Daniel sah sie überrascht an. „Längst über alle Berge“, erklärte er dann mit sichtlicher Beherrschung das Offensichtliche.

„Aber der Fahrer hatte doch die Kontrolle verloren …“, stotterte Erin lahm und Daniel sah sie mitleidig an. „Bist du wirklich so dumm oder tust du nur so?“, fragte er zynisch.

Sie riss erschrocken ihre Augen auf, doch sie kam nicht mehr zu einer Antwort.

Der Kioskbesitzer stürmte nun auf sie zu. „Ist alles in Ordnung? Bist du verletzt? Brauchst du einen Krankenwagen? Soll ich die Polizei rufen?“, fragte er besorgt.

„Alles gut“, beruhigte Daniel den Mann. „Sie ist noch einmal mit einem Schrecken davongekommen. Und es ist ja nicht wirklich was passiert. Ich bringe sie jetzt nach Hause, dann wird es schon gehen.“

„Wenn du meinst. Geht es dir wirklich gut?“ Eindringlich sah der Mann Erin an.

Sie nickte schwach. „Also dann“, wandte er sich schließlich ab.

Daniel warf einen Blick auf Erins noch immer blutleeres Gesicht. „Warten Sie“, hielt er den Mann dann zurück. „Haben Sie in Ihrem Kiosk auch Cola? Ich glaube, sie könnte jetzt gut eine vertragen.“

Der Verkäufer nickte und verschwand in dem kleinen Häuschen. Wenige Augenblicke später kam er mit zwei bereits geöffneten Flaschen in der Hand wieder heraus. „Das geht auf mich“, sagte er und reichte Daniel die Getränke.

„Danke.“ Er nickte dem Mann zu und streckte Erin seine Hand hin, um ihr beim Aufstehen zu helfen. „Und jetzt komm. Mein Auto steht nicht weit von hier.“

Erin ließ sich gehorsam hochziehen. Und nahm auch ohne Widerrede die Flasche entgegen, die Daniel ihr in die Hand drückte. In ihrem Kopf hämmerte nur der eine Gedanke: Ich hätte tot sein können. Ich hätte jetzt tot sein können.

Automatisch nahm sie einen Schluck aus der Flasche und spürte, wie die kühle Flüssigkeit durch ihren Hals rann. Nach ein paar weiteren Schlucken kehrten ihre Lebensgeister allmählich wieder.

„Danke“, sagte sie schließlich zu Daniel, der schweigend neben ihr ging. „Ein Glück, dass du in der Nähe warst.“

„So könnte man es wohl auch ausdrücken“, murmelte er leise.

„Und was für ein Glück, dass der Fahrer noch die Kurve gekriegt hat. Nicht auszumalen, was gewesen wäre, wenn er in ein Haus gekracht wäre“, sagte Erin schaudernd.

Abrupt blieb Daniel stehen und riss sie an ihrem Arm herum, sodass sie ebenfalls stehen bleiben musste. Ärgerlich wischte sie sich die Colatropfen, die dabei aus der Flasche geschwappt waren, von ihrer Jeans. Doch Daniel kümmerte sich nicht darum.

„Hast du es denn immer noch nicht begriffen?“, fuhr er sie an und Erin zuckte zusammen. „Es war kein Unfall. Der Mann hatte es auf dich abgesehen! Du-hättest-jetzt-tot-sein-sollen!“ Er schrie es ihr beinahe ins Gesicht. Dann ließ er sie los und wandte sich kopfschüttelnd ab.

Erin spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Das war einfach zu viel für sie. Und es war definitiv nicht fair. Er war nicht fair! Sie schluchzte laut auf und Daniel drehte sich wieder zu ihr um.

„Jetzt komm“, sagte er genervt, aber immerhin ein wenig leiser. „Wir sind fast da.“

Sie ließ sich wieder von ihm mitziehen, weil sie einfach nicht wusste, was sie sonst hätte tun sollen. Sie konnte nichts denken und nichts fühlen, sondern nur darauf warten, dass das Zittern in ihrem Körper endlich aufhörte und ihr Kopf wieder klar wurde. Dann würde alles wieder gut sein. Wenn sie es nur schaffte, so lange durchzuhalten.

Sie bekam es kaum mit, als sie schließlich vor einem Auto stehen blieben und Daniel sie für seine Verhältnisse relativ sanft auf den Beifahrersitz drückte. Dann nahm er ihr die leere Colaflasche ab und ersetzte sie durch die volle.

Während sich das Auto durch die engen Straßen der kleinen Innenstadt schlängelte, starrte Erin teilnahmslos aus dem Fenster. Doch dann zuckte sie plötzlich zusammen. „Hier geht es nicht zu mir nach Hause“, sagte sie alarmiert.

„Ich weiß“, erwiderte er ungerührt.

„Aber du sagtest, du würdest mich nach Hause bringen.“ Erin spürte eine neue Panikattacke in sich aufsteigen. Die Tatsache, dass sie Daniels Absichten noch immer nicht spüren konnte, trug auch nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. Ebenso wenig wie seine Antwort.

„Ich habe gelogen“, sagte er schlicht. „Du hättest von mir doch eh nichts Anderes erwartet, oder?“

„Und wohin bringst du mich jetzt?“, fragte sie, wobei es ihr nicht gelang, das klägliche Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

„In unser Hauptquartier. Für mich allein wird die Sache allmählich zu groß. Ich weiß nicht, ob ich dich beim nächsten Mal vor deiner eigenen Dummheit werde beschützen können.“

Empört schnappte Erin nach Luft. Es war wohl kaum ihre Schuld, dass sie erst beinahe überfahren und dann auch noch entführt worden war. „Und was hätte ich deiner Ansicht nach tun sollen?“, fragte sie giftig. Ihre Wut hatte zumindest einen Teil ihrer Angst vertrieben.

„Das erfährst du, wenn wir da sind“, erwiderte er und hüllte sich für den Rest der Fahrt in tiefes Schweigen.

 

Imprint

Text: Elvira Zeißler
Images: Covererstellung: Viktoria Petkau; Bildmaterialien eugenesergeev / fotolia, https://www.facebook.com/MrsTheaPhotography
Editing: Dr. Andreas Fischer
Publication Date: 11-17-2014

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