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Schwänli, der weiße Freiberger

Vom Läbe und vo de Liebi

Eine Schweizer Geschichte

 

von E.R.Thaler

 

 

 

 

Personen und Handlungen dieser Geschichte sind frei erfunden.

Mit dieser Geschichte möchte ich niemandem zu nahe treten und jede Ähnlichkeit zu lebenden und verstorbenen Personen, oder Persönlichkeiten

des öffentlichen Lebens, wären rein zufällig und von mir nicht beabsichtigt.

 

 

 

1. Marianne Bonnet

 

Ich ließ meinen Blick aus dem Fenster schweifen und mit einem Lächeln betrachtete ich Jean-Luc, meinen jüngsten Sohn, der seinem Freund Reto einen Kuss raubte. Die beiden sind wirklich ein süßes Paar. Auch wenn es mir manchmal schwerfällt zu akzeptieren, dass ich nicht mehr die Nummer eins in seinem Leben bin. Ich denke, das geht jeder Mutter so. Jean-Luc ist etwas Besonderes, er ist mein Engel.

So viel geschah bis zum heutigen Tag und es waren meine Söhne, die mir Kraft und Freude schenkten. Sie bewahrten mich davor, durchzudrehen und aufzugeben. Florian, mein Ältester, mittlerweile selber Vater von zwei reizenden Kindern, arbeitet als Heilpädagoge in Magglingen. Eine Berufswahl, die er schon früh traf. Paul, mein verstorbener Mann hatte ihn dazu ermutigt, denn er war immer stolz auf seine Söhne. Selbst auf seinen Jüngsten, auch wenn es ihm schwerfiel, sich das einzugestehen. Es hatte ihn tief beeindruckt, mit welcher Hingabe Florian seinem Bruder nach dessen Unfall half, während er selbst überfordert war. Paul brach es das Herz, als sein Jüngster mit einer Kopfverletzung im Spital lag und ihm die Ärzte erklärten, dass Jean- Luc nie wieder richtig gesund werden würde.

Dieser Unfall, der das Leben aller Familienmitglieder veränderte, lag nun schon so viele Jahre zurück, trotzdem sind die Folgen längst nicht vorbei. Irgendwann hatte ich beschlossen, Jean-Lucs Geschichte aufzuschreiben, wie ihm ein zweites Leben geschenkt wurde und wie er seinen Freund und Lebensgefährten, Reto, fand.

Aus den Erzählungen von Jean-Luc, Reto und Bruno versuchte ich so, ein paar kleinere Anekdoten zusammenzutragen.

Meine Gedanken schweifen zurück, zu dem verhängnisvollen Tag, an dem sich Jean-Lucs leben für immer änderte ...

 

 

Florian war damals vierzehn und Jean-Luc gerade zehn geworden. Die Buben spielten im Wald Verstecken, als Jean-Luc verschwand. Die Kinder suchten ihn überall, aber er blieb verschollen. Keine Spur von ihm - nichts. Es war bereits später Nachmittag als Florian und Pierre, die damals noch die besten Freunde waren, aufgeregt auf den Hof gerannt kamen.

 

„Jean-Luc ist verschwunden, ist er schon zu Hause?“, hörte ich Florian rufen.

 

Ich rief aus dem Garten: „Nein, ich dachte er wäre mit euch am Spielen.“

 

„Mama, wir suchen ihn schon so lange, das war unsere letzte Hoffnung!“

Plötzlich schnürte es mir die Luft ab, die Stimme meines Ältesten überschlug sich und Panik ergriff mich. Ich ließ die Hacke liegen, wo sie war. Rannte zu den beiden und schrie sie panisch an: „Wo seid ihr gewesen? Wo? Warum findet ihr ihn nicht?“

 

„Mama!“, schluchzte Florian erschrocken, „Wir haben Verstecken gespielt, im Wald, aber er kam nicht mehr, wir haben ihn überall gesucht. Er ist einfach weg, verschwunden. Weg, Mama, er ist einfach weg.“ Sein gequältes Gesicht tat mir weh und ich bereute es, dass ich ihn so angefahren hatte.

 

Ich zog ihn in meine Arme und versuchte ihn (oder mich?), zu trösten. „Wir finden ihn, bestimmt. Ich hole Papa und dann suchen wir ihn. Pierre, hole Hilfe im Dorf, jeder soll suchen helfen. Er braucht uns!“

 

Ich redete mir ein, dass er ganz bestimmt lebt und in seinem Versteck über die vergeblichen Versuche, ihn zu finden, lacht.“ Gleichzeitig war da diese eisige Hand, die mein Herz zu zerquetschen drohte. Ich riss mich zusammen, versuchte, stark zu sein, und raste mit dem Fahrrad aufs Feld wo mein Mann am Heuwenden war. Die Zeit wurde zu Gummi - dehnte sich, wie es ihr gefiel und ich versuchte, klar zu denken.

Doch je später der Tag wurde, desto mehr verließ mich die Kraft. Jean-Luc war wie vom Erdboden verschluckt. Um Mitternacht fanden sich die Helfer bei uns auf dem Hof ein. Keiner wollte aufgeben, Jean-Luc war damals sehr beliebt im Dorf. Auch wenn er immer zu Streichen aufgelegt war, konnte ihm nie jemand lange böse sein.

Erst kurz bevor es hell wurde, kam Philipp, der Wirt vom Hôtel de la Gare mit dem Fahrrad auf den Hof gerast und schrie: „Wir haben ihn, schnell, ruf den Doktor an! Eine Doline hat sich aufgetan und er ist da reingefallen. Sieht nicht gut aus, und wir kommen schlecht an ihn ran!“ Als ich das hörte, verließ mich meine Kraft endgültig und ich brach zusammen. Eine Doline! Diese heimtückischen Löcher, die sich plötzlich bilden konnten, kamen in unserer Gegend sehr oft vor. Überraschend brach der Boden unter einem weg und es war oft schwer zu sagen, wie tief so ein Loch war. Meine Schwiegermutter hielt mich in den Armen, versuchte, mir Mut zuzureden, aber die eiserne Hand, die mich im Griff hielt, quetschte weiter. Andere Nachbarn, die ebenfalls bei der Suche halfen, kamen und machten sich auf den Weg, um bei der Bergung von Jean-Luc dabei zu sein. Wie es ihnen schlussendlich gelang, meinen Bub da rauszuholen, war mir ein Rätsel, aber zwei Stunden später trugen sie ihn auf den Hof. Der Dorfarzt rief ohne lange zu zögern die REGA, die Schweizer Rettungsflugwacht. Zum Glück waren wir Gönner und die Rettungskosten wurden so übernommen. Mein Sohn sah furchtbar aus. Erde, Blut, Schürfwunden am ganzen Körper und eine große Wunde am Kopf, das war doch harmlos, dachte ich. Was zu dem Zeitpunkt noch niemand wusste, war, dass er eine schwere Schädelfraktur erlitten hatte. Wenigstens durfte ich mit dem Hubschrauber mitfliegen. Ohne Umschweife wurde er ins Berner Inselspital geflogen und auf die Intensivstation gebracht.

Die Zeit, die nun folgte, war die Schlimmste in meinem Leben. Tag für Tag verbrachte ich an seinem Bett, half bei seiner Pflege. Die Schwestern waren sehr verständnisvoll, ich lernte, wie ich ihn zu waschen hatte und wechselte seine Windeln. Die schwere Kopfverletzung war nicht das Einzige, das seinen kleinen Körper quälte. Durch die lange Zeit, bis man ihn fand, hatte er sich auch noch eine Lungenentzündung eingefangen. Die Ärzte kämpften um sein Leben, gaben ihn nicht auf. Dafür war ich ihnen sehr dankbar. Mit den ganzen Geräten, die seinen kleinen Körper am Leben hielten, wirkte er so verloren und es gab einen kurzen Moment, da wünschte ich ihm, er dürfe gehen. Es kam mir so vor, als wäre er nur auf einer Warteliste und würde nächstens abgeholt. Ich schämte mich für meine Gedanken, denn Jean-Luc war immer ein Kämpfer und wenn mich alles zu sehr zu erdrücken drohte, waren es die Erinnerungen an den fröhlichen Buben, welche mir die Kraft gaben, weiter an seine Genesung zu glauben. Oft hatte ich das Gefühl, als würde er nächstens aufspringen und mich anlachen. Die Aussichten, dass er wieder aufwachen würde, standen laut den Ärzten jedoch sehr schlecht. Trotz der Zweifel, die mich quälten, das konnte - nein - wollte ich dann doch nicht glauben. Für mich bedeutete es sehr viel, dass ich bei ihm sein konnte und ihn pflegen durfte. Ich erzählte ihm Geschichten, redete mit ihm, war für ihn da.

Mein Mann brach zusammen, als er seinen Sohn so daliegen sah. Seine Besuche waren in dieser Zeit sehr selten. Er vermisste zwar seinen Sohn und mich, aber als er Jean-Luc an die Geräte angeschlossen sah, die ihn am Leben hielten, brach er zusammen.

Aufgelöst gestand er mir vor der Tür zu Jean-Lucs Zimmer: „Marianne, ich kann das nicht. Bitte, versuch mich zu verstehen. Ich liebe dich und Jean-Luc - kommt zurück, egal wie lange es dauert. Ich spüre, du schaffst das, aber ich kann das nicht.“ Ich hielt meinen Mann tröstend fest. In all den Jahren, die wir zusammen verbrachten, war er der Starke, nun war ich es, die ihm Kraft schenken musste. Nie hatte ich ihn weinen sehen, bis zu diesem Zeitpunkt.

Florian hingegen war fasziniert von all den Geräten, besuchte uns jedes Wochenende und blieb sogar in seinen Schulferien bei mir und Jean-Luc. Dabei half er mir in dieser Zeit, wo er konnte, versuchte seinen schlafenden Bruder, wie er ihn nannte, mit Geschichten und imaginären Spielen zu unterhalten. Oft hatte ich das Gefühl, Florians Anwesenheit würde ihm helfen und ich glaubte, wenn er die Augen aufschlug, sei alles wie früher. Doch je länger mein Sohn im Koma lag, desto mehr war ich versucht, den Ärzten zu glauben. In dieser Zeit gab es für mich nur noch diese kleine Welt, in der wir lebten. Manchmal, wenn die Verzweiflung am heftigsten war, war es Florian, der mir half und mir Mut machte. Wie ich, baute er in dieser Zeit eine sehr enge Bindung zu seinem Bruder auf.

 

Er war auch dabei, als Jean-Luc nach zwei Monaten die Augen öffnete, uns mit einem Blick anstarrte, der fragend und gleichzeitig leer wirkte. Wachkoma nannten die Ärzte diesen Zustand und versuchten mir zu erklären, dass er für immer so daliegen könnte. Aber ich kämpfte weiter, konnte ihn nicht aufgeben. Irgendwie wusste ich, da, in dieser Hülle ist mein Sohn, mein geliebter Sonnenschein.

 

Ein paar Tage später bewies Jean-Luc, dass die Ärzte sich irrten. Ich hielt seine Hand und spürte einen leichten Druck. Ich weinte vor Freude, es war seine erste Reaktion nach den vielen Operationen, die er über sich ergehen lassen musste. Das erste Zeichen, dass er wirklich lebte.

Von da an ging es mit ihm aufwärts, aber er hatte vor allem große Schwierigkeiten mit dem Sprechen, konnte keine richtigen Worte bilden. Seine Bewegungen waren unkontrolliert und durch das lange Liegen hatte sich die Muskulatur zurückgebildet. Die Reha war für ihn nicht einfach, zum Teil sicher auch schmerzhaft. Jeder kleine Fortschritt gab uns die Kraft, weiterzumachen. Nach neun Monaten konnte ich mit ihm nach Hause. Die Zeit, die hinter uns lag, kam mir vor, wie die neun Monate bis zur Geburt. Ich hatte meinen Sohn neu ins Leben gebracht und die Zeit in der Klinik, stärkte mein Band zu ihm nur fester. Doch noch war nicht alles vorbei. Jeden zweiten Tag musste ich mit ihm zur Therapie, bei der uns Florian begleitete, wenn es die Schule zuließ. Ich bewunderte Florians Geduld, mit der er mit ihm die Sprachübungen machte. Sogar das Lesen und Schreiben brachte er ihm erneut bei und ich war dankbar, über den Erfolg meiner Söhne.

 

Doch die größten Erfolge machte Jean-Luc gemeinsam mit einem Fohlen, dass sein bester Freund wurde. Jean-Luc war damals dreizehn, drei Jahre nachdem er - ich sagte immer - neu zur Welt kam. Es war ein besonderes Tier, denn zum ersten Mal kam ein weißes Fohlen, eine genetische Mutation, in der Herde der Bonnets zur Welt. Weiße Freiberger sind keine Albinos, aber es fehlt ein genetisches Bauteil, das für die Pigmentierung des Fells und der Haut zuständig ist.

 

Florian und sein bester Freund Pierre, unternahmen viel mit Jean-Luc, doch ihre Freundschaft brach auseinander, als Jean-Luc im Überschwang Pierre küsste. Die älteren Burschen waren in dem Alter, wo sie ihre Sexualität entdeckten und Pierre stieß der Gedanke, von einem anderen Jungen geküsst zu werden, ab. Was für Jean-Luc eine spontane Geste der Freundschaft war, weil er sich mit Worten nicht richtig ausdrücken konnte, war für Pierre schockierend. Nach diesem Vorfall änderte sich auch das Verhalten der anderen Jugendlichen im Dorf. Florian verteidigte seinen Bruder, zog sich von seinen Kameraden zurück und kümmerte sich noch mehr um seinen kleinen Bruder. Ich fand es zwar nicht gut, aber Florian sagte einmal zu mir: „Mama, wie kann ich mit Leuten zusammensein, die meinen Bruder auslachen und verachten? Sie sind es nicht wert, dass ich meine Zeit mit solchen 'crétins' verschwende.“

 

Für meinen Schwiegervater, dem Oberhaupt unseres Familienbetriebs, war das Fohlen jedoch eine Katastrophe. Drei Generationen der Familie Bonnet, dazu eine prachtvolle Herde Freiberger, das war sein Leben. Dem Rassestandard entsprechend waren sie alle braun, mit schwarzer Mähne. So wie es sich gehörte. Aber dieses weiße Tier war in seinen Augen eine Ausgeburt des Bösen. Er gab dem Tier die Schuld an all dem Unglück, dass er erlitt. Am Verlust seiner Frau, die kurz nach der Geburt des Pferdes an Herzversagen starb und fünf Jahre später auch am Tod seines Sohnes. Irgendetwas gab es immer, dass ihm bestätigte, dass das Tier mit dem Teufel im Bunde stand.

Paul stritt damals oft mit seinem Vater, der nicht einsehen wollte, dass das Fohlen nichts mit dem Tod seiner Mutter zu tun hatte. Rosmarie hatte schließlich schon länger Probleme mit dem Herz, doch Jacques war richtig besessen von dem Gedanken, dass das Pferd aus der Hölle kam. Die Streitereien mit seinem Vater und der Zustand seines Sohnes setzten ihm immer mehr zu, bis er anfing, zu trinken. Er liebte seinen Sohn, aber, dass sein Bub nie mehr derselbe Wirbelwind wie vor dem Unfall war, schmerzte ihn zu sehr.

 

Immer öfter kam er betrunken heim bis zu dem Tag, an dem er beim Holzfällen ums Leben kam. Betäubt durch Alkohol war seine Reaktion zu langsam und er wurde von einem Ast aufgespießt. Für Jacques war es klar, der Gaul war schuld und für meine Gegenargumente hatte er kein offenes Ohr.

Dabei war es vor allem Schwänli, der Jean-Luc half, seine Bewegungen zu koordinieren. Keine der Therapien, bewirkten so viel, wie die Arbeit mit dem Pferd. Er blühte auf und auch seine Sprachschwierigkeiten verbesserten sich. Er erzählte dem Tier alles Mögliche und der Hengst hörte ihm immer geduldig zu. Die beiden wurden unzertrennlich und als Schwänli eingeritten werden sollte, duldete er nur Jean-Luc auf seinem Rücken.

 

Als Paul Verunfallte, war Jean-Luc achtzehn und arbeitete in Cerlatez bei Philipp im Hôtel de la Gare als Küchenbursche. Er hatte für die Beerdigung freibekommen und sollte am nächsten Tag seinen ersten Lohn abholen. Dies nutzte sein Großvater aus und brachte Schwänli weg, als ich Einkaufen war.

Erst am Abend erfuhr ich von Jacques, dass Schwänli weg war. Ich versuchte Georg, den Besitzer der Metzgerei in Saignelégier, zu erreichen, doch niemand nahm das Telefon ab. Mir blieb nur noch, Jean-Luc zu erklären, was passiert war.

Er kam am frühen Abend, gegen acht nach Hause und spürte sofort, dass mich etwas bedrückte. In seiner unschuldigen Art tröstete er mich und dachte, es wäre wegen seines Vaters. Er konnte nicht verstehen, dass Schwänli weg war. Es brach mir das Herz, als er mich abends, als ich ihn ins Bett brachte, nochmals traurig fragte, ob sein Pferd wirklich nie mehr zu ihm zurückkam.

Ich lag noch lange wach, überlegte immer wieder, was ich machen sollte. Ich war mir nicht sicher, ob ich George nochmals anrufen sollte und hoffen durfte, das Schwänli noch lebte. Irgendwann schlief ich ein und wachte am folgenden Morgen viel später auf, als sonst. Jean-Luc war nicht mehr im Bett und ich dachte mir, er wäre im Stall. Doch als er um zehn nirgends zu sehen war, fing ich an, mir Sorgen zu machen. Durch das späte Aufstehen und die morgendlichen Arbeiten, hatte ich vergessen, in der Metzgerei anzurufen. Auch die Suche nach Jean-Luc hielt mich auf Trab. Erst am frühen Nachmittag fiel es mir wieder ein, dass ich anrufen wollte. Ich erfuhr, dass Jean-Luc schon früh bei ihm aufgetaucht war und dass er es nicht über das Herz gebracht hätte, Schwänli zu töten. Er hatte das Pferd an einen Mann aus der Ostschweiz verkauft, der zufällig bei ihm vorbei kam und nach weißen Freibergern fragte. Er hoffte, auf einem der Höfe eines dieser Pferde zu kaufen. Froh, das schöne und gesunde Tier nicht töten zu müssen, überließ er dem Fremden das Pferd. Er gab Jean-Luc die Adresse des neuen Besitzers, mit dem Hinweis, mit mir sein Pferd zu suchen. Der Verdacht, dass sich Jean-Luc auf eigene Faust auf den Weg gemacht hatte, um seinem Schwänli zu Hilfe zu eilen, keimte in mir auf, auch wenn ich es ihm nicht so recht zutraute. Bestimmt hätte er auf den Rat von George gehört und wäre nach Hause gekommen!

Verzweifelt suchte ich weiter nach meinen Sohn. Ich war stinksauer auf meinen Schwiegervater. Sein Aberglauben hatte es fertig gebracht, dass ich nicht nur meinen Mann, sondern jetzt auch noch meinen jüngsten Sohn verloren hatte. Dieser verdammte und verbohrte Idiot konnte Stolz auf sich sein. Ob er wirklich glaubte, ein weißes Pferd sei ein Teufelswerk? Der Einzige, der hier vom Teufel besessen war, war er.

 

 

Eine von Jean-Luc Schwierigkeiten war sein Erinnerungsvermögen. Interessanterweise waren es aber genau diese Ereignisse, die sich in ihm festsetzten und ich schrieb sie auf, sammelte die Geschichten. Andere hatten vielleicht ein Fotoalbum von ihrer Familie, ich jedoch ein Album mit Geschichten von meinem jüngsten Sohn. Vieles erzählte er selber, tippte seine Erinnerungen mit meiner alten Schreibmaschine, welche ich ihm geschenkt hatte. Aber auch die Menschen, die ihm sehr wichtig wurden, fügten einiges dazu. Selbst die Gedanken meines Schwiegervaters hielt ich fest, so gut ich es nachvollziehen konnte.

 

2. Der alte Bonnet


Gedanken auf dem Weg


Der weiße Hengst musste weg.

Hatte ich es nicht immer gesagt, dass dieses Vieh Unglück brachte? Doch mein Sohn und seine Frau hatten sich immer für das Tier eingesetzt. Für den Bub, das Tier würde ihm guttun. Pah, jetzt hatte es allen das Schicksal gezeigt, dass ich Recht hatte! Dass der Gaul nur Unglück brachte!

Tags zuvor wurde mein Sohn zu Grabe getragen. Sicher, es war ein Unfall im Wald. Betrunken war er, sagten die Waldarbeiter, die dabei waren.

Wie jeden Tag, seit dem schrecklichen Unfall meines jüngsten Enkels, Jean-Luc. Die Familie musste damals viele der Pferde verkaufen, um die hohen Rechnungen bezahlen zu können. Jedes dieser Tiere war mein Stolz, schließlich gewannen sie viele Preise am ‚Marché-Concours national de cheveaux‘ in Saignelégier und die Zucht war sogar außerhalb des Kantons bekannt. Nur ein kleiner Teil mit einem Zuchthengst wurde damals behalten. Er war der Stolz der Familie, zeugte er doch gesunde und kräftige Nachkommen und die Herde wuchs wieder.


Doch seit dieser Zeit wurde über meine Familie gespottet. In der Wirtschaft tuschelte man über den verblödeten Enkel und, über meinen Sohn, der dem Alkohol verfiel. Einzig die Schwiegertochter bewahrte das einst stolze Gehöft vor dem Verfall. Dabei hatte ich, als mein Sohn sie heimbrachte, nichts von ihr gehalten. Eine Städterin, aus Basel. Wie sollte so ein verwöhntes Ding hier zurechtkommen? Doch das raue Leben hier in den jurassischen Freibergen schien ihr zu gefallen. Nie klagte sie, keine Arbeit war ihr zu viel. Vor allem war sie geschickt im Umgang mit den Pferden.

Schon nach kurzer Zeit bewies sie, dass sie hier an die Seite meines Sohnes passte und ich begann, sie zu schätzen. Auch mit meiner Frau, die ich vor fünf Jahren verlor, kam sie gut zu Gange. Ja, sie war eine Zierde für die Familie. Schnell wurde sie von allen akzeptiert und niemand interessierte es, wo sie herkam.

Fünf Jahre ist es her, dass das weiße Fohlen zur Welt kam. Ich war überzeugt, dass das Vieh nur Unglück brachte und die Schuld am Tod meiner Frau trug. Sie hatte schon immer Herzprobleme, aber ihr plötzlicher Tod, kurz nach der Geburt dieses Fohlens, war die Bestätigung.

Nie zuvor gab es ein weißes Fohlen in meiner Herde, das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen! Das musste einfach das Werk des Teufels sein!


Mit diesen Gedanken fuhr der alte Jacques Bonnet mit dem Heuwagen, vor dem zwei seiner Pferde eingespannt waren, Richtung Saignelégier, um den weißen Unglücksgaul dem Metzger zu verkaufen. Das Tier hatte er hinten festgebunden. Noch zwei Kilometer, dann war das Teufelsbiest aus dem Leben seiner Familie verschwunden. Dann würde das Glück wieder auf dem Hof Einzug halten.


Das Unglück ist abgewendet


Beim Metzger handelte ich einen guten Preis aus und zufrieden machte ich mich am Nachmittag auf den etwa fünf Kilometer weiten Rückweg zu meinem Hof, außerhalb von Cerlatez, den ich nun nur noch mit meiner Schwiegertochter und dem jüngsten Enkel bewohnte. Florian, der ältere Enkel war in Airolo in der Rekrutenschule und es würde noch ein Weilchen dauern, bis er wieder zurückkam. Wenigstens kam er zur Beerdigung, aber am Abend musste er wieder zurück. Verächtlich brummte ich auf, als ich daran dachte, wie Florian voll Stolz erzählt hatte, dass er zu den Sanitätern ging. Meiner Meinung nach war das nur etwas für die Schwächlinge. Wir Bonnets waren bei den Dragonern, eine Einheit, die leider dem Fortschritt zum Opfer fiel. Auch sein Ansinnen, das er nach der Rekrutenschule Lehrer für Behinderte werden wollte, gefiel mir nicht. So etwas gab es noch nie in der Familie Bonnet! Meine Eltern und deren Eltern betrieben den Hof, aber nie wäre es einem von ihnen in den Sinn gekommen, etwas anderes als Bauer zu sein.


Doch je näher ich dem Hof kam, desto mehr zweifelte ich ein bisschen, ob ich wirklich richtig gehandelt hatte. Für Jean-Luc war das Fohlen damals so etwas wie Medizin und der Bub blühte eigentlich wieder auf. Die beiden verband etwas, dass über jeden Verstand ging. Als der Hengst älter wurde, ließ er nur Jean- Luc an sich heran. Den Rest der Familie tolerierte er zwar, aber reiten durfte ihn nur der Bub. Da war er immer sehr brav, ja, beinahe hatte man den Eindruck, als wollte das Tier ihn vor allen beschützen. Das war richtig unheimlich.

Nur zu gut erinnerte ich mich an den Abend, als Jean-Luc nicht nach Hause kam. Da war er gerade zehn Jahre alt. Die ganze Nacht suchten wir nach ihm. Nachbars Pierre erzählte, dass sie im Wald Verstecken gespielt hatten, doch plötzlich tauchte der Junge nicht mehr auf. Die Buben suchten ihn vergeblich und kamen aufgelöst auf dem Hof an. Erst am nächsten Morgen wurde er gefunden, bewusstlos mit einer großen Kopfwunde lag er in einer Doline, die sich am Rande eines Busches gebildet hatte, als er sich dort verstecken wollte.

Fast ein Jahr dauerte es, bis er wieder nach Hause kam. Seither war er nicht mehr derselbe. Oft träumte er bloß vor sich hin, wenn man ihn ansprach, gab er stockend Antwort, als müsse er jedes Wort genau überlegen. Seine Mutter und Florian bemühten sich um ihn, lehrten ihn wieder das Sprechen und Laufen. Doch erst mit dem Fohlen, das der Bub liebevoll Schwänli nannte, ging es wieder aufwärts. Ihm konnte er stundenlang Geschichten erzählen, ohne zu stottern. Auch seine, oft unkoordinierten, Bewegungen wurden im Umgang mit dem Tier ruhig und sanft. Jean-Luc lernte nur langsam, wie ein kleines Kind musste er alles neu lernen und Florian kümmerte sich sehr um seinen Bruder. Ob daraus der Wunsch, Lehrer zu werden, entstand? Nun, egal, das Pferd war jetzt weg, das Unglück war nun vom Hof abgewendet. Der Bub würde darüber hinwegkommen. Schließlich war er kein Kind mehr und das Wohl des Hofes wichtiger. Davon war ich überzeugt. Schließlich lebten wir vom Verkauf der Pferde und es gab ja noch andere Fohlen.



3. Wo ist Schwänli? Jean-Luc


Mama hatte mir eine Schreibmaschine geschenkt, weil sie wollte, dass ich meine Geschichte selber aufschreibe. Sie war der Meinung, wenn ich selber erzähle, würde das meinem Kopf guttun. Aber was sie nicht weiß, Reto hat mir dabei viel geholfen. Sie hatte sich über die Blätter so gefreut, dass wir ihr das nicht verraten haben. Aber Mama ist klug und hat es trotzdem bemerkt, sie hat dann ganz toll gelacht und mir einen Schmatzer gegeben. Es gibt viel, an das ich mich nicht erinnern konnte, aber die Geschichte, wie mein Schwänli verschwand und wie mir Reto geholfen hat, meinen Freund zu finden, hat sich ganz fest in meinem Kopf festgesetzt. Das war schon eine verrückte Sache, damals.



Ich hatte meinen ersten eigenen Lohn bekommen! Seit einem Monat durfte ich in Cerlatez, im Hôtel de la Gare, als Küchenbursche arbeiten. Damit konnte ich etwas zum Haushalt beitragen und wenn ich sparsam war, reicht es schon bald für den schönen Cowboysattel, den ich das letzte Mal bestaunte, als Mama und ich in Saignelégier waren. Mein alter Sattel war zwar gut, aber für mein liebes Rössli wollte ich einfach etwas Besonderes. Auch die schöne, dicke Satteldecke wollte ich dazu haben. Ja, da lohnte es sich zu sparen. Vielleicht würde mir die Großmutter aus Basel auch einen Batzen dazu geben? Immer wenn sie zu Besuch kam, war sie besonders lieb zu mir und kaufte immer etwas Besonderes. Wie das schöne Pferdebuch mit den vielen Bildern, aus dem mir Florian immer vorlas, bis ich wieder selbst lesen konnte.

Ich musste so viel lernen, wobei ich nie wusste, warum sie sagten, dass ich das schon mal konnte. Mein Leben fing da an, wo ich in einem weißen Zimmer aufwachte und in das lächelnde Gesicht einer Frau sah. Ich wusste einfach, das ist Mama. Doch woher ich das wusste, konnte ich nicht sagen, es war ein Gefühl, mehr nicht. Sie fütterte mich, wusch mich und wenn sie mich auf den Schoss nahm und mit mir kuschelte, war das schön. Florian war oft dabei, half ihr und ich wusste, das ist mein Bruder.


Dann kam der Tag, an dem ich das weiße Zimmer für immer verließ. Die Reise war aufregend, bot sie doch Abwechslung vom Alltag, den ich gewohnt war. Wir kamen zu einem schönen, großen Haus und Mama sagte, hier wohnen wir. Ich fühlte mich sofort zu Hause und Florian verbrachte noch mehr Zeit mit mir.

Als ein weißes Fohlen zur Welt kam, wurde es mein bester Freund. Wir spürten genau, dass wir etwas Besonderes waren.

Vor dem Großvater hatte ich immer Angst. Seine finstere Mine schüchterte mich ein. Einmal hörte ich sogar, wie Papa mit ihm stritt. Ich verstand nicht viel, nur, dass der Großvater über mein Schwänli schimpfte und Papa das Tier in Schutz nahm. Nur für mich! Dafür hatte ich Papa sehr gerne. Auch wenn es ihm schwerfiel, mich so zu akzeptieren, wie ich war. Aber was war 'so anders' an mir? Papa war immer lieb zu mir, aber er vermittelte auch das Gefühl, als wäre es falsch, dass ich hier war. Irgendetwas war nicht richtig mit mir, aber ich verstand das nicht. Einmal hatte er mir ein Buch gezeigt, dass wir gemeinsam ansahen und der fremde Junge auf den Bildern war mir unbekannt. Papa sagte, das wäre ich gewesen. Aber das konnte doch nicht sein, oder? Papa war danach sehr traurig und weinte. Es gab also etwas, dass vor dem Aufwachen in dem weißen Zimmer war, aber nichts erinnerte mich an diese Zeit. Die Einzigen, die ich wirklich kannte, waren Mama und Florian. Sie waren immer da, als es dunkel war und ihre Stimmen beruhigten mich, wenn die Dunkelheit mich zu verschlingen drohte.


Manchmal hatte ich das Gefühl, allen nur eine Last zu sein. Einzig das weiße Fohlen gab mir das Gefühl, gebraucht zu werden. Stundenlang konnte ich ihm Geschichten erzählen und das Pferd hörte geduldig zu. Dem Tier war es egal, was ich sagte, nie schimpfte es und sagte, das musst du anders sagen. Auch ein Küsschen auf die Nase gefiel ihm.

Nicht wie Pierre, der Nachbarsbub. Einmal kam er zum Spielen auf Besuch und weil ich nicht richtig sagen konnte, dass ich gerne mit ihm spielte, gab ich ihm einen Kuss. Noch heute hörte ich das „wäääh, du Grüsel!“. Ich mochte doch Pierre, weil der immer so lustige Spiele kannte, und verstand nicht, was er meinte.

Danach kam er nie wieder zu Besuch und im Dorf wurde ich ausgelacht. Ich sei blöd, ein Dummkopf, pervers und zu nichts zu gebrauchen. Das war komisch, ich verstand das nicht, aber dass mich niemand mehr gern hatte, spürte ich sehr wohl.

Einzig der Wirt vom Hôtel de la Gare war immer nett und bot mir sogar Arbeit an. Darüber hatte ich mich sehr gefreut und nun hatte ich meinen ersten Lohn bekommen. Ja, ich war wirklich stolz auf mich.


In der Küche brannte noch Licht, draußen war es schon dunkel und Mama saß am Küchentisch. Traurig sah sie mich an, stand auf und zog mich in ihre Arme.

„Mama, nicht traurig sein, ich bin doch jetzt für dich da. Ich werde dir helfen, wie Papa.“


„Es ist nicht wegen Papa, Jean-Luc. Es geht um das Schwänli. Er ist weg.“


„Warum? Ist er fortgelaufen? Sicher habe ich ihm gefehlt. Wenn er sieht, dass ich da bin, kommt er schnell zurück.“


Mama drückte mich ganz fest und schüttelte den Kopf.

„Er kommt nicht mehr, der Großvater hat ihn dem Metzger verkauft. Weil er Unglück bringt, hat er behauptet.“


Nur langsam verstand ich, dass Schwänli für immer weg war. Mein einziger Freund - und Großvater hatte ihn mir genommen. Lange lag ich dann im Bett, ohne zu schlafen, bis mir einfiel, dass der Metzger immer nur am Dienstag schlachtete. Dann würde Schwänli noch leben, denn es war ja erst Donnerstag! Ja, ich konnte mein Rössli retten!

Meine Gedanken kreisten nur um Schwänli und ich konnte nicht einschlafen. Darum stand ich auf und schlich in die Küche. Aus der Schublade nahm ich das Geld von meinem Lohn, das Mama dort hinein gelegt hatte und verließ den Hof. Wo die Metzgerei war, wusste ich.


Es wurde bereits hell, als ich in Saignelégier ankam. In der Metzgerei herrschte schon reges Treiben. George, der Metzger, war wie immer sehr nett und er hörte mir genau zu. Dann schüttelte er bedauernd den Kopf und sagte:

„Dein Schwänli ist nicht mehr hier. Ich hätte es nicht über das Herz gebracht, dieses schöne Tier zu töten. Ich habe ihn einem netten Mann verkauft. Er wird gut für ihn sorgen.“


„Wo i-ist dieser Mann? Ich mu-muss Schwänli fi-fi-finden. W-wenn i-ich ihn fi-fnde, be-bekomme ich mein Rössli zu-zurück. Bitte, du mu-musst es mir sa-sagen.“ Tränen der Verzweiflung liefen über mein Gesicht, ich war so aufgewühlt, dass ich nicht mehr richtig reden konnte. So fest hatte ich gehofft, meinen Freund hier zu finden.


George sah mich ganz nachdenklich an und weil er ein gutes Herz hatte und ich ihn ganz traurig ansah, schrieb er eine Adresse auf ein Stück Papier, dass er mir in die Hände drückte. „Versprichst du mir, dass du keine Dummheit machst? Dass du mit deiner Mutter zusammen nach deinem Ross suchst?“


Ich war sehr glücklich und freute mich, dass er wusste, wo mein Pferd war. Mit Mama war ich schon oft mit dem Zug bei Großmama und darum wusste ich, dass es am Bahnhof eine große Schweizer-Karte gab. Vielleicht fand ich da den Ort, wo Schwänli hingebracht wurde. Nach langem Suchen und vergleichen der Buchstaben fand ich den Ort. Fast am anderen Ende des Landes. Das war weit weg, bestimmt würde Mama nie dahin fahren und der Florian war auch nicht da. Was sollte ich nun tun? Traurig setzte ich mich auf die Bank, die neben der Karte stand. Keine Dummheit, hatte der Metzger geraten. Aber war es dumm, wenn ich Schwänli suchte? Bestimmt nicht! Großmama aus Basel? Ja, sie würde sicher helfen. Sie war doch immer so lieb, wenn sie zu Besuch kam. Mit Mama und Florian hatte ich sie auch schon besucht und darum wusste ich, wo sie wohnte. Ja, die Idee war gut und sie hatte ja auch sicher Zeit, weil sie nicht so viel Arbeiten musste, wie Mama. Die Frau am Billett-Schalter war nett und suchte die schnellste Verbindung. Über Biel, wo ich umsteigen musste, ging es direkt nach Basel. Die Reise würde etwas mehr als drei Stunden dauern.


Aufgeregt stieg ich in den Zug nach Biel ein. Das erste Mal alleine auf dem Weg zur Großmutter! Das war so spannend! In Biel musste ich umsteigen und mit Fragen fand ich meinen Anschlusszug recht schnell. Im Abteil waren nicht viele Leute und ich fand einen freien Fensterplatz. Der Kondukteur wollte das Billett sehen und lachte freundlich, als er es mir wieder zurückgab. Gerne hätte ich mit ihm geplaudert, doch der Mann musste weiter und versprach, kurz vor Basel wieder zurückzukommen. Die Fahrt verlief ruhig und ich betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Träumte davon, mit meinem Pferd über die Wiesen zu galoppieren und die fremde Landschaft zu erkunden. Kurz vor Basel kam der Kondukteur wieder vorbei und verriet mir, dass wir bald da sein würden. Diesmal schien er mehr Zeit zu haben. Freundlich fragte er mich:

„Besuchst Du jemand in Basel?“


Die Frage war irgendwie unerwartet und ich nickte. Wenn mich Fremde ansprechen, finde ich nie die richtigen Worte oder kann sie nur schwer sagen. Aber weil er nett war, versuchte ich es. „S'G-gr-osi.“ Konnte ich leise sagen und sah den Mann schüchtern an.


Der lächelte immer noch freundlich und nickte. „Das ist aber schön, da freut sich die Oma sicher. Bleibst du länger bei ihr?“


Ich schüttelte den Kopf. „Suche ... s'Schwänli.“


„Wer ist Schwänli? Ist es ein Haustier, dass bei deiner Großmutter wohnt?“


Wieder schüttelte ich meinen Kopf und suchte nach Worten. „I-i-ist mein Freund, m-mein Pf-pferd, Grosi hi-hi-hilft suchen.“


„Das ist aber ein tolles Grosi, hoffentlich findest du dein Schwänli. Ich muss leider weiter, aber ich drück dir die Daumen. Findest du den Weg zu deinem Grosi, weißt du, wo sie wohnt? Oder soll ich jemanden fragen, ob er dir hilft?“


Der Kondukteur war wirklich nett, aber ich schüttelte den Kopf. „S'Grosi w-wohnt beim Z-zolli, br-br-auche keine Hi-hi-lfe. K-ke-kenn den Weg.“ Der Mann nickte und verabschiedete sich nun endgültig.


Mit quietschenden Bremsen fuhr der Zug in den Bahnhof und als er stand, konnte ich aufstehen und verließ den Zug. Auf dem Weg zu Großmama hatte ich immer gut aufgepasst und es war noch nicht so lange her, als ich mit Florian das letzte Mal hier war. Die vielen Trämmli vor dem Bahnhof waren verwirrend, aber ich folgte dem Weg, den wir immer zu Fuß gelaufen sind und den ich kannte. Bald war ich beim Zoo, überquerte den großen Parkplatz und fand auf der anderen Straßenseite das Haus, in dem die Großmutter wohnte. Aufgeregt drückte ich die Klingel, wo ihr Name stand, aber niemand gab Antwort. Plötzlich ging die Tür auf und eine Frau mit Kinderwagen kam heraus und musterte mich ganz komisch. „Suchst du jemanden?“, fragte sie und ich zeigte auf die Klingel.


„S'Gr-osi“, dabei sah ich die Frau flehend an.


„Oh, die Frau Gerber! Ja, die ist heute nicht da. Sie geht jeden Freitag nach Rheinfelden, ins Kurzentrum, zum Baden. So gegen sieben kommt sie in der Regel wieder heim.“


„D-dann, w-wa-warte ich halt.“ Die Frau nickte lächelnd zu und verabschiedete sich. Eilig lief sie die Straße hinunter und ich sah ihr nach.


Und jetzt? Damit hatte ich nicht gerechnet. Oma war nicht da und vor dem Haus wollte ich aber auch nicht so lange warten. Der Zoo lag direkt unter mir und die Geräusche von irgendwelchen fremden Tieren waren zu hören. Ich vermisste Schwänli, er fehlte mir so und die Großmama war auch nicht da. Traurig lief ich zum Eingangsbereich des Zoos und setzte mich auf eine der Bänke vor dem Eingang. Dort musste ich nicht stehen und hatte viel Zeit zum Denken. Was Mama jetzt macht? Sucht sie mich? Oder schimpft sie, weil ich zu Oma bin? Tränen bahnten sich ihren Weg und liefen über meine Wangen. Hatte ich jetzt etwas Dummes gemacht? Ich war nicht mehr so mutig, hatte Angst und fühlte mich ganz allein.

Jemand stupste mich am Knie, und ich bemerkte, dass ich nicht mehr allein war.


4. Der traurige Junge, Reto


Ich stand mit Sybille und Petra, meinen besten Freundinnen, draußen vor dem Kiosk, am Eingang des Zoos. Wir wollten uns noch das Vivarium und Aquarium-Gebäude in Ruhe anschauen. Der Rest unserer Klasse sollte sich mit uns dann kurz vor fünf am Ausgang treffen, bevor es wieder zurück nach Frauenfeld ging. Die beiden Mädchen waren unzertrennlich. Dass sie nicht nur beste Freundinnen waren, sondern ein Paar, wusste außer mir niemand. Was man von mir nicht sagen konnte, denn ich ging offen mit meiner Neigung um. Allerdings hatte ich es nicht immer einfach. Einige Idioten starteten eine Hetzkampagne gegen mich. Erfreulicherweise waren dann doch mehr Leute auf meiner Seite, als ich dachte. Einige Mitschüler bewunderten meinen Mut.

Aber dieser Mut kam nicht von ungefähr. Denn es waren auch solche Idioten, die mich damals fertigmachten, als ich noch bei meiner Mutter in Winterthur lebte. Ihre Hetze trieb mich in den Abgrund und ich suchte die Befreiung durch Drogen. Meinen richtigen Vater hatte ich bisher nie kennengelernt und meine Mutter war immer auf der Suche nach Mr. Right. Einige der Typen waren zwar wirklich nett und mochten mich, aber den meisten war ich, wenn es gut lief, egal. Andere ließen mich spüren, dass ich nur ein lästiges Anhängsel war.


Dass ich mit Mädchen nichts anfangen konnte und mich stattdessen die Schwänze meiner Schulkameraden mehr faszinierten, fand ich schon früh raus. Aber ich hatte ja niemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Mobbing war an der Tagesordnung, als einige auf die Idee kamen, ich könnte schwul sein. Ich zog mich immer mehr zurück, bis ich in die Drogenszene abrutschte. Es war so einfach, ein Schuss und meine Probleme lösten sich auf. Um Geld für den Stoff zu haben, verkaufte ich meinen Körper. Ich vernachlässigte die Schule, wurde dort ein seltener Gast. Unser Klassenlehrer versuchte mich dann mit Gesprächen auf die rechte Bahn zu lenken, mit dem Erfolg, dass ich diese Gastspiele ganz beendete.


Die Wendung kam erst, als ich bewusstlos in der Toilette des Bahnhofs gefunden wurde. Als ich im Spital aufwachte, war ein fremder Mann im Zimmer und stellte sich als mein Götti Bruno, vor. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht einmal, dass ich einen Götti hatte und ich erfuhr das erste Mal etwas über meinen Vater, der nun in Amerika lebte.

Zudem bot er mir ein neues Zuhause an. Die einzige Bedingung, die er stellte war, dass ich die Schule nach holte und so einen Abschluss bekam. Er betrieb eine Pferdepension außerhalb von Frauenfeld. Er bat mich auch, ihm bei der Arbeit auf dem Hof zu helfen. Ich nahm an und zog zu ihm. Die Pferde gefielen mir sehr und in der neuen Schule wurde ich gut aufgenommen. Durch mein schulisches Defizit landete ich in einer Klasse, in der meine Schulkameraden alle etwa zwei Jahre jünger waren. Doch das störte mich nicht weiter und außer zwei Hohlköpfen hatte eigentlich niemand ein Problem mit meiner sexuellen Ausrichtung. Allerdings gelang es, den beiden für kurze Zeit Unruhe zu stiften, doch endete diese schnell wieder, da ich wirklich tolle Lehrer hatte, die dann auch gleich eine Aufklärungskampagne ins Leben riefen. Ich hatte mich nämlich dazu durchgerungen, mich gleich zu outen, damit klare Verhältnisse herrschten. Ganz nach dem Motto ‚ist der Ruf mal versaut, lebt sich's ganz gut‘.


Zwar hatte sich mein Körper noch nicht ganz von meinem Drogenkonsum erholt, ich war ziemlich mager und man sah die Narben an meinen Armen. Aber ganz so schlecht wie nach dem Krankenhaus, sah ich nicht mehr aus. Mit der fast mütterlichen Pflege von Marlies, der Haushaltshilfe von Bruno, wurde ich aufgepäppelt. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie wolle mich mästen, aber ich nahm trotzdem nicht zu.

Die beiden Mädels wedelten mit einem Eis vor meiner Nase. „Hier, etwas zum Abkühlen, bevor wir die Aquarien betrachten.“ Dankend nahm ich ihnen das Cornet ab. Während ich genüsslich daran schleckte, blieb mein Blick an einem Typen hängen, der außerhalb des Zoos auf einer Bank saß. Er wirkte einsam, traurig und so schutzbedürftig, dass es mir das Herz zusammenzog. Selbst das wenige, das ich von seinem Äußeren erkennen konnte, gefiel mir auf Anhieb. Braune Haare verdeckten sein Gesicht, das er auf den angezogenen Knien abstützte und die Schultern bebten, als würde er von Schluchzern geschüttelt. Eine Hand wedelt vor meinem Gesicht und ich löste mich von dem Anblick. „Huhu, Mond an Erde. Was träumst du? Lass und endlich die Fische und Reptilien betrachten. Wir müssen auch noch die Aufgaben lösen, die uns der Moser aufgebrummt hat. Bis jetzt haben wir alles gefunden, da wollen wir nicht den letzten Teil sausen lassen.“


„Mhm, ich komme. Habt ihr den Typen auf der Bank auch gesehen? Der sieht irgendwie traurig aus.“


Petra und Sybille schauten kurz rüber und zuckten mit den Schultern. „Och, der? Du hast Recht, der sieht wirklich fertig aus. Weißt du was, wenn wir unsere Aufgaben durch haben und er sitzt immer noch dort, dann kannst du ihn ja anquatschen. Aber jetzt wäre es toll, wenn du bei der Aufgabe mitmachst.“


„Klar, dann los! Aber ich nehme euch beim Wort.“ Damit lief ich zum Eingang und die Mädels hakten sich bei mir ein. Mit albernem Gekicher stolperten wir in den dunklen Gang und ließen uns von der Unterwasserwelt bezaubern. Die Zeit verflog schnell und wir schafften es, auch hier alle Fragen zu lösen. Erst als wir wieder draußen waren, musste ich wieder an den traurigen Jungen denken. Ob er immer noch auf der Bank saß?


„Na los, geh schon, der Typ ist ja immer noch da. Sybille und ich wollen noch Postkarten verschicken.“ Petra schubste mich zum Ausgang und der Junge, der meine Aufmerksamkeit geweckt hatte, schien sich nicht bewegt zu haben.


„Ja, macht ruhig, ich schau ihn mir mal aus der Nähe an.“


Wir trennten uns und ich verließ den Zolli. Ein seltsames Gefühl beschlich mich, je näher ich ihm kam. Ich konnte es nicht definieren, aber irgendwie war es ein seltsames Ziehen. So als ob es wichtig war, dass wir uns trafen. Ich hielt eigentlich nichts von diesem esoterischen Kram, Vorsehung oder wie das alles hieß, aber je näher ich kam, desto bestimmter wurde das Gefühl, das Richtige zu tun.


„Hoi du, was bedrückt dich denn. Hast du jemanden verloren?“ Er zuckte erschrocken zusammen und sah mich verloren an. Auf den Fersen hockend, musterte ich ihn genau. Er schien etwa genauso alt wie ich zu sein, hatte braune Haare und Augen, die mal Grau, mal Grün leuchteten. Je nachdem wie das Licht drauf fiel, wechselte sich der Farbton. Vorsichtig strich ich ihm die Tränen auf der Wange weg, die gerade über sein Gesicht kullerten und er zuckte unter der Berührung zusammen. „Sorry, wollte dich nicht erschrecken, aber die Tränen passen nicht zu deinem hübschen Gesicht. Ich heiße übrigens Reto und du?“


„Jean-Luc“, stieß er schnell hervor, doch durch die verstopfte Nase klang es eher wie Schalück. Ich konnte nicht anders und lächelte ihn immer noch an.


„Darf ich mich zu dir setzen? Erzählst du mir, was dich bedrückt? Vielleicht kann ich dir helfen. Wir sind mit der Schule hier und nun warten wir, bis alle da sind, damit wir zurückfahren können. Ich habe dich schon vor drei Stunden hier sitzen sehen, als ich mir ein Glacé kaufte. Als ich vorher rauskam, warst du immer noch da und ich dachte, vielleicht brauchst du Hilfe. Ich weiß, ich rede zu viel, aber du tust mir irgendwie leid. Ich sehe es nicht gerne, wenn jemand traurig ist. Also, darf ich?“

Er hatte wohl Mühe, meinem Gelaber zu folgen, aber er nickte zaghaft. Ich konnte nicht anders und setzte mich neben ihn und strahlte ihn an. „Dann erzähl mal“, munterte ich ihn auf und überwältigt stotterte er.


„M-mein Schw-wän-li ist weg. Ver-ver-kauft. I-i-ist mein Fr-freund.“


„Wer ist Schwänli? Wer hat deinen Freund verkauft? Warum?“


„Der Gr-gr-oßvater. Er sagt, da-dass Rössli bringt k-kein Glü-glück.“


Der Gedanke an sein Pferd schüttelte ihn und erneut liefen die Tränen über sein Gesicht. Beinahe zwanghaft legte ich dem fremden Jungen meinen Arm um seine Schultern und drückte ihn tröstend an mich. „Oh, weißt du, wo du suchen musst? Hast du eine Adresse?“


Er nickte, zog einen zerknitterten Zettel aus der Hosentasche und hielt ihn mir hin. „Hier, wo-wo-llte ihn mit Gr-gr-osi suchen. A-aber sie i-i-st nicht da-da-heim.“ Überrascht las ich die mir vertraute Adresse, die auf dem Zettel stand und fing glucksend an zu lachen. Verwirrt sah er mich an. „W-w-arum lachst du? I-i-ist ni-ni-nicht Lustig.“


„Oh, sorry, aber das ist jetzt wirklich ulkig, weißt du. Die Adresse kenne ich. Da wohnt mein Götti. Ich lebe jetzt bei ihm, nachdem ich im Spital gelandet war. Drogenprobleme, weißt du, hab mich fast damit umgebracht. Meiner Mutter war ich egal, sie hatte einen neuen Stecher und ich war nur im Weg. Irgendwann bin ich abgerutscht und im Dreck gelandet. Jetzt wiederhole ich die Schule, damit ich bessere Aussichten auf einen Job bekomme. Jetzt weißt du, was für ein Typ ich bin. Ein Junkie, ein schräger Typ. Eigentlich traut man Typen wie mir nichts zu. Aber mein Götti glaubt an mich. Auf dem Hof helfe ich in meiner Freizeit und er hilft mir mit der Schule. Er ist wirklich cool. Sag mal, ist dein Pferd ein Schimmel? Er hat sich in den Kopf gesetzt, weiße Freiberger zu kaufen. Für Kutschfahrten, bei Hochzeiten, weißt Du. Da sollten es schon Schimmel sein, darum klappert er die Gegend ab. Er fand eine Zucht im Emmental. Bist du von dort? Nein, kann nicht sein, dein Dialekt klingt anders. Wo kommst du her? Ach Shit, ich Rede mal wieder ohne Punkt und Komma, sorry Kleiner.“


Überwältigt von dieser Rede sah er mich erstaunt an. Später verriet mir Jean-Luc, dass er praktisch nichts verstanden hatte, weil meine Fragen wie ein Wasserfall auf ihn wirkten. Er gestand mir, dass er sogar neidisch war, weil er jedes Wort erst überlegen musste, bevor er es sagen konnte. Selbst dann, wenn er wusste, was er sagen wollte, kamen die Wörter nur stockend. Er starrte mich an, als hätte ich drei Hörner auf dem Kopf. „W-w-as i-ist Tschö-tschö-kie?“


„Na bravo, da labere ich dich voll und das Einzige, was dir bleibt, ist Junkie.“ Ich verstrubbelte seine Haare und brachte ihn damit zum Lachen. „Weißt du, dass du richtig süß bist? Es hat mich zu dir gezogen, weil ich fühlte, dass du mich brauchst. Du gefällst mir. Ich stehe auf Jungs. Mir gefiel dein Äußeres und ich wollte dich kennenlernen. Irgendwie sind wir für einander bestimmt, glaub ich. Deine Suche nach dem Pferd - weißt du was, ich nehme dich einfach mit. Wir werden Freunde und dann kannst du bei mir wohnen. Ja, die Idee gefällt mir. Willst du mein Freund sein?“ Damit zog ich ihn in meine Arme und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn.


„Du ha-hast mich g-g-gern? Fi-fi-findest das nicht gr-gr-grusig? I-ist das so, we-weil du ein tschö-kie bist?“


„Was? Wieso grusig? Wer hat dir diesen Blödsinn erzählt? Das ist etwas Wunderschönes, ich küsse gerne, aber nur Jungs. Mädchen schmieren sich immer ihre Lippen voll. Ich mag das Pure, Echte. Glaub mir, nur Männer können so küssen und schmecken dabei so unverfälscht. Ich möchte dich gerne nochmals küssen, aber diesmal auf den Mund. Darf ich?“


„W-w-warum?“


Er war so süß, ich strahlte ihn an und streichelte mit meiner Hand über seine Wange. „Du bist wirklich knuffig, echt.“


Er spitzte erwartungsvoll seine Lippen, als ich mich ihm näherte. „Das macht man doch so, wenn man küsst“, überlegte er laut und schon berührte ich seine Lippen. Ganz sanft war die Berührung, ich wollte ihn nicht erschrecken und doch fühlte sie sich so gut an. Er lächelte als ich mit meiner Zunge über seine Lippen fuhr. Ein angenehmes Kribbeln breitete sich vom Bauch über den ganzen Körper aus. Zaghaft erwiderte er die Berührung und ich hatte das Gefühl, mit ihm zu verschmelzen.


Dies war sein erster richtiger Kuss, gestand er mir. Auch dass er mich gleich mochte. Mich würde er gerne immer wieder küssen. Das war noch viel schöner, als den Schmatzer, den er Pierre mal gab. Ich war verwirrt, weil ich nicht wusste, von was er sprach. Tief in seinem Herzen wusste er, dass das Glück nun auf seiner Seite war und er vertraute mir blind, dass ich ihn zu seinem Schwänli bringen konnte. Sein Vertrauen ehrte mich, hoffentlich hatte ich mich nicht geirrt und Bruno hat wirklich dieses Pferd gekauft.


Plötzlich wurde die friedliche Stimmung gestört, als eine Gruppe Schüler auf uns zukam. „Hei, seht mal unseren Schwuli, hat sich doch was zum Bumsen aufgerissen. Das Affenhaus bot wohl zu wenig Abwechslung.“


Ich zuckte unter diesen Worten und dem lauten Gelächter der Schüler, zusammen und wollte schon etwas dazu sagen, als die Stimme eines Mädchens erklang. „Stoffel, du bist ein Arsch, echt! Nur weil du bei deinem Kumpel nicht ran darfst, heißt es noch lange nicht, dass du Reto beleidigen musst.“


Das Gekicher der anderen Mädchen aus der Gruppe, brachte den Jungen zum Schweigen und ich murmelte nur: „Danke Sybille, aber ich hätte dem Idioten schon selber das Maul gestopft.“


„Weiß ich doch, Sweatheart, aber das wollte ich schon lange mal loswerden. Echt, der Idiot nervt doch nur. Wer ist denn der hübsche Bursche an deiner Seite?“


„Oh, darf ich dir vorstellen, das ist Jean-Luc. Ihm wurde sein Pferd verkauft und ratet mal, wer der Käufer ist - niemand anderes als mein Götti!“


„Wow, echt jetzt? Das klingt ja voll cool! Wie in den Comics, die ich immer so gerne lese ...“, seufzte sie träumerisch, bevor sie sich besann und sich vorstellte. „Hoi Jean-Luc, ich bin Sybille und eine Freundin von Reto. Das ist ja eine faszinierende Geschichte, die du da hast.“


Sybille, die vor ihm stand, streckte ihm die Hand hin. Zögerlich schüttelte er sie und freute sich, dass er einfach so jemand kennenlernte, der ihn nicht gleich schief ansah. Er erzählte mir, dass das in seinem Heimatdorf die Regel war, denn kaum tauchte er auf, wandten sich alle von ihm ab und sagten hässliche Sachen. Bis auf Philipp, aber der zählte nicht, schließlich war der sein Freund. Bald waren wir von einem Rudel Schülerinnen umringt, die sich bald einig waren, dass er unbedingt mit uns mitfahren musste. Auch einige Jungs lösten sich von dem Großmaul und schlossen sich der Gruppe um uns an.


„Ich bin sicher, der Moser wird einverstanden sein. Seht, da kommt er“, rief eines der Mädchen und stürmte auf den Lehrer zu. Kurzerhand zog sie ihn zu der Gruppe und redete dabei ohne Unterbrechung auf ihn ein.

Als er bei uns ankam, musterte er Jean-Luc aufmerksam und der Blick von Herrn Moser blieb auf mir hängen. Ich hatte Jean-Luc meinen Arm beschützend um seine Schultern gelegt und starrte kampflustig zurück. Ich war bereit, im Notfall einen gewaltigen Terror zu veranstalten, wenn auch nur eine doofe Bemerkung kam.

„Christine hat mir da eine abenteuerliche Geschichte erzählt, sagt mal, wie habt ihr euch das vorgestellt? Wir können doch nicht einfach einen fremden Bub mitnehmen. Sicher wird er schon vermisst. Jean-Luc? So heißt du doch, wenn ich es richtig verstanden habe. Wissen deine Eltern, wo du bist?“


Ich spürte, wie er die Luft anhielt und sein Herz aussetzte. Seine Reaktion sagte alles, so nah daran, sein Schwänli zu finden, und nun sollte dieser Mann es verhindern? Er suchte nach Worten und stotternd versuchte er, Herrn Moser alles zu erzählen. Er kannte ihn ja nicht, das war mir klar. Aber Herr Moser reagiert wirklich cool, denn er hörte ihm geduldig zu, dann nickte er freundlich lächelnd. „Hm, ich denke, in dem Fall ist es wirklich besser, wenn du mit uns mit kommst. Dann kann dir nichts Schlimmeres als unser Reto passieren. Aber wir werden deine Mutter anrufen. Damit sie sich keine Sorgen mehr macht. Ich bin sicher, sie ist schon ganz verzweifelt.“ Mit diesen Worten zog Herr Moser sein Handy aus der Tasche und Jean-Luc sah ihn überrascht an. Herr Moser sah ihn fragend an. „Wie lautet eure Telefonnummer?“


„I-i-ch w-w-weiß nicht. K-k-kann mich nicht erinnern. I-ich b-bin blöd.“


Angst schnürte ihm die Luft ab und Tränen liefen über sein Gesicht. Sicher würde der Mann ihm nicht mehr helfen und Reto würde ihn nun auch nicht mehr gerne haben. Jetzt wo er wusste, dass er dumm war. Zu Hause hatten die Anderen es ihm oft gesagt, dass er blöd wäre und verschwinden soll. All die jungen Leute haben es mitbekommen. Jetzt würden sie sicher auch über ihn Lachen, genauso wie in Cerlatez die Gspänli von Pierre. Doch Reto zog ihn nur fester in seine Arme und streichelte tröstend seinen Rücken. Die beängstigenden Gedanken, die Jean-Luc lähmten, wurden mit Retos streichelnden Bewegungen weggewischt und als Reto weitersprach, huschte ein zuversichtliches Lächeln über sein Gesicht.


„Hei, schsch ist doch kein Problem, du bist nicht blöd. Ganz sicher, es gibt viele Leute, die ihre Telefonnummer nicht kennen. Wir finden eine Lösung. Herr Moser fragt einfach die Auskunft. Hier, warte, nimm das Taschentuch und schnäuze dir erst die Nase.“ Damit hielt ich ihm ein Taschentuch hin. Tröstend ließ ich meine Hand über den Rücken wandern und es schien ihn zu beruhigen. Er flüsterte mir leise zu, dass Florian, sein Bruder, das auch immer gemacht hatte, wenn er traurig war und dass er das sehr gerne hatte.


Herr Moser sah ihn lächelnd an und nickte ihm aufmunternd zu. „Wie heißen Deine Eltern und woher kommst du, Jean-Luc? Es ist wirklich kein Umstand, glaub mir. Ich würde mich wohler fühlen, wenn sie Bescheid wissen.“ „Bonnet, Cerlatez“, schnell sprach er die Worte aus und der Lehrer tippte einige Tasten auf dem kleinen Gerät. Kurze Zeit später grinste er und hielt den Daumen in die Luft.


5. Basel? Frauenfeld, Marianne


Ich hatte mich mit meinem Schwiegervater gestritten und er war wutschnaubend verschwunden. Nachdem mir klar wurde, dass mein Bub nicht in der Nähe zu finden war, saß ich alleine in der Küche und gönnte mir gerade einen Kaffee, als das Telefon klingelte. In der Hoffnung, es wäre Jean-Luc, ging ich in die Stube und hob ab.

„Grüezi, hier ist Moser. Ich bin Lehrer aus Frauenfeld und mit meiner Klasse gerade im Basler Zolli.“

Frauenfeld? Basel? Ich war verwirrt, doch der Mann sprach weiter: „Einer meiner Schüler hat ihren Sohn kennengelernt und dabei haben sie herausgefunden, dass der neue Besitzer des Pferdes, welches ihr Sohn sucht, der Götti von Reto ist. Es geht ihm gut und wir wollten uns vergewissern, ob es ihnen recht ist, wenn er mit uns mitkommt.“


„Jean-Luc ist in Basel? Wie? Kann ich mit ihm reden?“, schluchzte ich erleichtert auf und der fremde Mann sagte etwas zu jemandem.


Rascheln, eine leise Stimme die etwas erklärte und dann hörte ich zaghaft: „Mama?“ und ich atmete erleichtert auf.


„Jean-Luc, Schatz, wo bist du. Ich habe mir Sorgen gemacht.“


„I-i-ich wollte zum Gr-gr-osi. D-das sie mir hilft. Du ha-hast doch viel A-Arbeit. Schwänli ha-hat ein neues H-heim. W-w-will zu ihm. Ni-ni-nicht schimpfen, ja?“


Ich musste lächeln, obwohl mich der Tag und die Suche nach ihm fix und fertig gemacht hatten, konnte ich ihm nicht böse sein.


„Schatz ich schimpfe nicht. Ich bin einfach froh, dass es dir gut geht und dir nichts passiert ist. Du glaubst ja nicht, wie ich mich freue, dich zu hören.“


„Mama, ni-nicht tr-traurig sein. Ha-hab dich fest lieb. Aber Schwänli braucht mich mehr.“ Trotz der Tränen, die über mein Gesicht liefen, musste ich lächeln. Ja, das Pferd bedeutete ihm sehr viel und der Umgang mit dem Tier, ließ einem Vergessen, dass er nach dem Unfall nicht mehr derselbe Bub war. Mit Menschen hatte er Mühe, fand oft nicht die richtigen Worte und machte dann Sachen, die Fremde - die ihn nicht so gut kannten - erschreckten.

„Mama?“, ich schob meine Gedanken, die mir gerade durch den Kopf gingen zur Seite.


„Ja, ich bin noch da.“


„Darf ich?“ Ich seufzte, weg war er eh und so war er wenigstens nicht alleine.


„Ja, Schatz, finde dein Schwänli. Aber versprich, dass du dich bald wieder meldest. Versprich mir, dass du nichts Dummes machst. Ja? Gib mir den Herrn nochmals, damit er mir die Adresse gibt, wo du bist.“


„Ma-mach ich. Mutzi Mama.“

Dann gab er das Telefon weiter. Schnell erklärte ich Herrn Moser das Wichtigste über Jean-Luc und er versprach, auf ihn aufzupassen. Er gab mir die Adresse von Retos Götti und ich schrieb sie mir auf. Ohne zu zögern war mir klar, ich musste zu meinem Sohn. Ihm helfen, sein Pferd zurückzubekommen.


Schnell packte ich das Nötigste und wollte das Haus verlassen, als ich Jacques über den Weg lief.

„Wo willst du hin, es wird bald dunkel und für eine Witwe ziemt es sich nicht, um diese Zeit rauszugehen. Noch mehr Gerede über meine Familie dulde ich nicht!“, schrie er mich an.


In diesem Moment explodierte ich. Wütend baute ich mich vor ihm auf. „Es geht um Jean-Luc, meinen Sohn! Du hast mir überhaupt nichts mehr zu sagen! Ich werde jetzt zu ihm gehen und niemand - schon gar nicht du - wird mich daran hindern! Deine Tyrannei hat das Unglück heraufbeschworen, nicht ein weißes Pferd und schon gar nicht mein Bub! Wage es ja nicht, dich mir in den Weg zu stellen!“ Kochend vor Wut stieß ich ihn zu Seite und erst als ich die Tür des Autos schloss, atmete ich tief auf.

Zuerst fuhr ich nach Cerlatez und gab im Hôtel de la Gare Bescheid, dass Jean-Luc in nächster Zeit wohl nicht kommen würde. Philipp, der Besitzer versprach, unsere Entscheidung, wie es weitergeht, abzuwarten. Bevor ich losfuhr, rief ich noch von der Rezeption aus, Florian an und erzählte ihm kurz, was passiert war. Er versicherte mir, dass er über das Wochenende eh nicht heimkommen konnte.


Ich wollte mich verabschieden, als mich Philip zurückhielt. „Marianne, komm, iss noch was mit uns, das tut dir gut, glaub mir.“ Seufzend gab ich ihm Recht. Ich hatte tatsächlich außer dem Frühstück den ganzen Tag nichts gegessen. Beim Essen plauderten wir über Jean-Luc, die Arbeit und über Pferde. Mit keinem Wort wurde seine Behinderung erwähnt. Er war einfach ein Angestellter im Betrieb, der von allen geschätzt wurde. Philipp war einer der wenigen, der in Jean-Luc nicht nur den behinderten Dorftrottel sah, sondern den wunderbaren jungen Mann, der er ist. Philipp versuchte, ihm aufrichtig zu helfen. Als ich mich endlich auf den Weg machen konnte, war es schon sieben Uhr.


Philipp entschuldigte sich mehrmals, dass er mich versäumt hatte, aber Tina, eine der Serviertöchter meinte nur lachend: „Dafür sind die Staus durch. Da solltest du gut an Olten und Zürich vorbeikommen.“ Gesättigt fuhr ich los, das gemütliche Essen mit Philipp und den Angestellten hatte mir wirklich gutgetan. Auch half es mir, mich zu beruhigen.


Auf der Fahrt dachte ich an meinen Sohn und die letzten Jahre nach. Das strahlende Gesicht, mit dem mir Jean-Luc erzählte, dass er jetzt selber eine Arbeit hat, machte mir bewusst, dass mein Bub erwachsen wurde. Ja, ich sah in ihm immer noch den hilflosen Jungen, der mich damals im Spital ansah und leise „Mama“ flüsterte. Da wussten wir noch nicht, wie es weitergehen würde. Ich war einfach überglücklich, dass er überlebt hatte.

Sicher, seit seinem Unfall haperte es mit seinem Gedächtnis und oft konnte er sich nicht mehr erinnern, wo etwas hinkam. Er war dann immer sehr traurig, aber Florian hatte ihm geholfen, alles aufzuschreiben, damit er eine Gedächtnisstütze hatte und sich besser erinnern konnte. Ich bewunderte die Geduld meines Ältesten, wie er Jean-Luc das Lesen und Schreiben, wieder soweit beigebracht hatte, dass er diese Hilfslisten selber schreiben konnte. Auch kleine Nachrichten verteilte Jean-Luc gerne, oft nur die vier Worte: Hab dich lieb Mama.

Der Gedanke an meinen Sohn und der Wunsch, dass er irgendwann ein eigenes Leben führen konnte, hatten mein Leben geprägt. Irgendwie spürte ich auf der Fahrt, dass dieser Tag schneller auf mich zukam, als das ich es mir vorstellen konnte. Diese Fahrt war ein Schritt in eine neue Zukunft, für Jean-Luc und mich.


6. Wiedersehen, Reto


„Ich bin blöd.“ Dieser Satz von Jean-Luc traf mich sehr, vor allem weil ich genau spürte, dass er Angst hatte. Das er stotterte, hatte ich ja schnell bemerkt, auch das er Mühe hatte, die richtigen Worte zu finden. Aber es störte mich nicht. Alles zog sich in mir zusammen, bei dem Gedanken, dass er vielleicht deswegen in seinem Heimatdorf gemieden und ausgelacht wurde. Ich kannte dieses Gefühl bestens, es war damals der Grund warum ich in die Drogenszene rutschte.

Zum Glück war Herr Moser, unser Lehrer, sehr verständig. Ohne ‚Wenn und Aber‘ sorgte er dafür, dass Jean-Luc mit durfte. Jean-Luc strahlte richtig, während er mit seiner Mutter redete. Mit ernster Miene sprach Herr Moser danach nochmals mit seiner Mutter und dann rief er die ganze Klasse, die mittlerweile komplett war, zusammen. Er stellte Jean-Luc all denen vor, die ihn noch nicht kennengelernt hatten. Es schien ihn zu verunsichern, dass Herr Moser über seine Behinderung sprach, als wäre es das Normalste der Welt. Meine Schulkollegen waren, bis auf Christoph und seine zwei engsten Freunde, begeistert. Die Geschichte mit seiner Suche nach seinem Pferd, fanden alle spannend und bewunderten ihn für seinen Mut. Selbst die anderen Begleitpersonen, Eltern von einigen Schülern, fanden es gut, dass Jean-Luc mit uns kam und nicht mehr alleine warten musste. Er wurde erst lockerer, als er bemerkte, dass er doch von fast allen akzeptiert wurde. Sybille und Petra fragten ihn über sein Pferd aus und freudig erzählte er ihnen von seinem Schwänli und kaute zufrieden an einem Sandwich, das ihm eines der Mädchen brachte. Dabei strahlte er und wurde immer sicherer und stotterte nur noch vereinzelt.

Das wir durch die Verzögerung später als vorgesehen in Frauenfeld ankamen, war allen egal, außer Christoph und seinen Kumpels. Doch ihr wichtigtuerisches Gehabe wurde einfach ignoriert. Am Samstag war eh Schulfrei und Jean-Luc hatte den Ausflug bereichert. Die meisten fanden den Zuwachs toll. Während der Fahrt hatte Herr Moser die Unruhestifter zur Seite genommen und führte ein eindringliches Gespräch mit ihnen. Was er erzählte, wusste ich nicht, aber sie waren danach etwas freundlicher zu Jean-Luc und mir.

Das normale Chaos von Eltern, die ihre Kinder abholten, erwartete uns. Einzig die Mütter von Christoph und seinem Kumpel, führten sich auf, als stünde die Welt vor dem Untergang. Kampflustig stürzten sie sich auf Herrn Moser, der bei uns geblieben war. Er wollte uns heimfahren und ich war ehrlich froh, denn Jean-Luc schlief schon fast im Stehen ein.

Die Frauen beschwerten sich lautstark, dass es eine Unverschämtheit sei, dass sie sich Sorgen um ihre Sprösslinge gemacht hätten und, und, und. Herr Moser ließ sie reden, hörte ihnen zu und zum Schluss erklärte er ruhig und sachlich, was vorgefallen war. Frau Caduff, die Mutter von Christoph, wollte noch weiter giften, als eine der anderen Frauen eingriff: „Helen, es reicht! Ich finde, Herr Moser hat richtig gehandelt. Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich mich von dir nicht so aufstacheln lassen. Wenn ich mir vorstelle, das wäre mein Sohn, dann würde ich mich freuen, dass ihm jemand hilft. Roman, pack deinen Rucksack ins Auto, wir gehen!“


„Aber Doris, du ...“ „Vergiss es, oder du kannst selber sehen, wie Christoph morgen mit ans Grümpelturnier kommt!“

Wow, ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Diese Doris gefiel mir. Wenn nur meine Mutter sich nur auch so verhalten hätte.


In diesem Moment spürte ich, wie Jean-Luc sich schwerer an mich lehnte und ich rief leise: „Herr Moser, können sie mir helfen?“


„Was hat er?“ Doris, wie ich vermutete, kam zu uns und sah Jean-Luc besorgt an.


„Ich glaub, er schläft. Er hatte einen langen Tag, weil er sein Pferd gesucht hat.“, versuchte ich zu erklären. Sie nickte verständnisvoll und half Herrn Moser und mir, Jean-Luc ins Auto zu setzen.


„Ihr kommt wirklich klar?“, fragte sie besorgt und ich versicherte ihr, dass Marlies sicher wusste, was zu tun war.


Auf der Fahrt kuschelte sich Jean-Luc fester an mich und ich hätte ewig so weiterfahren können. Doch nach viel zu kurzer Zeit fuhr Herr Moser bei uns in den Hof und wir weckten Jean-Luc auf. „Wir sind da, komm.“


„Oh, Schwänli? Ist er auch da?“


„Nein, ich glaube noch nicht. Aber Marlies wird wissen, wann sie kommen. Aber du kannst nicht im Auto bleiben und zum Tragen bist du mir zu schwer.“


„Nicht für Schwänli, da bin ich eine F-feder.“ Ich musste Lachen und Jean-Luc lächelte verlegen zurück.


Marlies lud Herrn Moser ebenfalls ins Haus ein und wir setzten uns in die Küche. Hier war der Treffpunkt für alle. Am Küchentisch wurde gemeinsam gegessen, Spiele gespielt, Hausaufgaben gemacht oder einfach zusammen gehockt und geredet. Während sich Marlies und Herr Moser unterhielten, zauberte sie innerhalb kürzester Zeit ein Abendessen auf den Tisch. Mit großem Appetit verschlang Jean-Luc zwei Portionen und ich sah, dass Marlies richtig strahlte. Wenn sie mich nicht mästen konnte, so würde sie es bestimmt bei Jean-Luc probieren.


„F-f-fein, b-besser wie von Mama.“


Ich verdrehte die Augen. Oh weh, ich musste ihn dringend vor Marlies warnen. „Pass auf, wenn du so weiter futterst, bist du bald ein Kartoffelsack und nicht mehr so leicht wie eine Feder. Das arme Schwänli.“, neckte ich und den Topflappen, den mir Marlies an den Kopf warf, fing ich grinsend auf.


„Du Schelm du!“ schimpfte sie lachend und Jean-Luc sah uns verwundert zu.


„Ihr spielt schimpfen?“


„Ja, Marlies ist eine ganz Liebe, weißt du. Sie hat ein viel zu gutes Herz. Pssst, ich verrate dir ein Geheimnis, sie ist die gute Seele hier.“


„Ja da-das ha-habe ich gespürt. Bin müde.“ Eifrig stimmte mir Jean-Luc zu, gähnte dabei und Marlies errötete leicht.


„Daran habe ich ja gar nicht gedacht, Reto!“, rief Marlies und sah mich an: „Wo soll Jean-Luc schlafen? Das Gästezimmer ist nicht bereit.“


„Ich möchte ihn nicht alleine lassen, er schläft bei mir. Ich passe auf ihn auf. O. k.?“

„Aber seid anständig, ihr zwei!“ Ich zwinkerte Marlies zu, die einen Finger drohend in die Luft hielt und wir wünschten ‚gute Nacht‘.

Jean-Luc trottete hinter mir her und sah sich um. „I-ist anders hier, a-aber hü-hübsch.“ Ich musste grinsen und öffnete die Tür zu meinem Zimmer.


„Komm, ich gebe Dir ein Shirt von mir und dann putzen wir die Zähne. Mein Bett reicht für uns beide und ich bleibe bei dir. Wenn du etwas brauchst, musst du mich nur aufwecken und ich helfe dir.“


„G-gut.“

Im Bad gab ich ihm eine neue Zahnbürste und fasziniert sah ich zu, wie er sich hoch konzentriert die Zähne gründlich putzte. „Isch wischtig, schonscht macht Schaanteufel aua.“, nuschelte er beim Putzen und ich stimmte ihm zu. „Daheim ha-habe i-ich einen Plan, da steht ge-genau wie i-ich es ma-machen muss. A-aber ich k-kann es auch alleine!“ Voll Stolz sah er mich an und ich fragte mich, ob er doch mehr behindert war als ich zuerst annahm und ob ich mich da nicht in etwas einließ, dass mich vielleicht überforderte.

Bald lagen wir im Bett und er kuschelte sich an mich. Der ereignisreiche Tag forderte seinen Tribut und meine aufkeimenden Befürchtungen schob ich vorerst zur Seite.

Das Jean-Lucs Mutter spät in der Nacht ankam, bekamen wir nicht mehr mit.



Etwas kitzelte mich und langsam öffnete ich die Augen. Grau-grüne Augen blitzten mich an und sein Finger zeichnete die Konturen meines Gesichts nach. Draußen wurde es gerade hell und ich wollte noch ein wenig weiter dösen.

„Nicht schlafen, Schwänli braucht mich.“


„Kommt erst am Mittag, lass uns noch ein wenig schlafen.“, brummte ich verschlafen.


„Aber die anderen Pferde? Haben doch Hunger, brauchen sicher ihr Frühstück. Ich hab auch Hunger.“ Seufzend gab ich nach, ein leichtes Brummeln in seinem Bauch ließ mich schmunzeln.


„Wie machst du das, ohne zuzunehmen? Überhaupt, du hast ja nicht mal gestottert!“, freute ich mich.


„Geht nur, wenn ich jemand sehr gern hab. Dich hab ich gern. Du bist lieb. Zeigst du mir den Stall?“ Ergeben nickte ich, denn mittlerweile war ich richtig wach und an Schlaf war eh nicht mehr zu denken. Ich gab Jean-Luc frische Wäsche von mir, die zwar etwas eng war, aber zur Not reichte es. Gemeinsam gingen wir in die Küche.


„Magst du Kaffee, oder lieber Nesquick?“ Ich trank am Morgen lieber eine kalte Schoggi und war dabei, mir das Pulver in die Milch zu streuen.


„Schoggi ist fein, das habe ich gern.“ Dabei strahlte er mich an und ich fragte mich, wie man zu dieser Tageszeit schon so munter sein konnte. Ich stellte die beiden Gläser auf den Tisch und schnitt einige Scheiben Brot ab. Schmierte Butter und Zwetschgenkonfi darauf und brachte den Teller zu Jean-Luc, der mir begeistert zusah.

„Mhm, feine Konfi.“, nuschelte er begeistert.


„Gell, die macht Marlies, mit Zimt und einem Schuss Vieille Prune. Sie sagt, das ist eine Geheimzutat, ich sage dazu Schnaps.“


„Mit Schnaps? Oh, aber das macht betrunken!“


„Nö, in der Konfi nicht mehr, da ist der Schnaps weg, aber der Geschmack bleibt.“


Genüsslich kaute er seine Schnitte und ich betrachtete ihn dabei. Er war wirklich hübsch, seine braunen Haare standen in alle Richtungen ab. Wie bei einem kleinen Igel. Obwohl diese Uhrzeit nicht die meine war, gefiel es mir, mit ihm so dazusitzen und zu Frühstücken. Kaum waren wir fertig, schnappte sich Jean-Luc das Geschirr und stellte es in die Spüle. In dem ganzen Trubel auf der Heimreise ist es mir gar nicht aufgefallen, dass er ein Bein nachzog und hinkte.

„Hast du dir den Fuß verstaucht?“, fragte ich ihn und er schüttelte den Kopf.


„Nein, aber am Morgen ist mein Bein nicht wach. Da läuft es nicht gut. Manchmal bleibt es, manchmal ist es weg. Ist halt so, tut nicht weh. Deine Beine sind auch lustig. Die zappeln, wenn du schläfst.“


Ich grinste. „Siehst du, bei mir ist auch nicht alles, wie es sein soll. Das habe ich, seit ich die Drogen genommen habe. Ist wie bei dir, manchmal mehr, manchmal weniger. Komm, lass uns die Pferde begrüßen. Die freuen sich bestimmt, wenn sie dich kennenlernen.“


Ich zeigte ihm den Stall und erzählte zu jedem Pferd, was ich wusste. Jedes Tier hatte einen kleinen Auslauf vor der Box und die Pferde, die sich gut verstanden, wurden gemeinsam auf die große Koppel gebracht. In der letzten Box war Wicki, eigentlich eine hübsche, fuchsrote Stute, die jedoch immer zickig und hinterhältig war. Ehrlich gesagt, hatte ich furchtbare Angst vor ihr. Bruno kam recht gut mit ihr zugange, aber ich traute mich nicht an sie heran. Mit angelegten Ohren kam sie wie immer auf mich zu und ich wich zurück. Jean-Luc jedoch blieb stehen und sah sie ruhig an. Leise sprach er auf sie ein und staunend stellte ich fest, dass sie ihre Ohren plötzlich spitzte und ruhiger wurde. „Nicht!“, wisperte ich, als sich seine Hand langsam Wickis Nase näherte, doch er schien mich nicht wahrzunehmen. Ich wurde Zeuge, wie das missmutige Tier plötzlich sanft wurde und vertrauensvoll die Nase an die Hand stupste. Ich hielt den Atem an, als er die Tür öffnete und in die Box trat. Ich verstand zwar nicht, was er ihr erzählte, aber das Pferd schien mir wie ausgewechselt. Jean-Luc tätschelte ihr den Hals und ich streckte neugierig den Hals um einen Blick in die Box zu werfen. Wicki schmiegte ihren Kopf an seine Brust und brummelte zufrieden. „Wie hast du das gemacht?“, fragte ich leise in die Box und Jean-Luc zuckte mit der Schulter.


„Vielleicht wurde sie einfach nicht gut behandelt? Sie hat einfach Angst. Weil du Angst hast, zeigte sie dir ihre. Aber du hast sie nicht verstanden. Komm, sie macht nichts. Sie ist lieb.“ Mit pochendem Herz stellte ich mich neben Jean-Luc und zum ersten Mal ließ sie es zu, dass ich sie streicheln durfte. Jean-Luc strahlte mich glücklich an. „Jetzt seid ihr Freunde, du kannst sie überall anfassen.“


Wieder staunte ich, wie zuvor, so stotterte er auch hier mit dem Pferd kein bisschen. Ich überlegte, ob es einfach deshalb war, weil er wusste, dass die Pferde ihn nicht verurteilen würden, wenn er etwas machte, dass die Menschen nicht verstanden. Mir fielen die Bedenken, die mich vor dem Einschlafen beschäftigt hatten, wieder ein. Durfte ich überhaupt in Jean-Luc verliebt sein? Am Vortag war es sein Äußeres, das mich anzog. Danach faszinierte mich seine Geschichte und es war klar, dass ich ihm helfen musste. Für mich war es das erste Mal, dass ich mich zu jemandem auf Anhieb so hingezogen fühlte. Es war neu für mich, mit jemandem das Bett zu teilen, ohne gleich Sex zu haben. Nun ja, ich musste ja auch nicht mehr auf die Art Geld verdienen. Würde man mir irgendwann vorwerfen, dass ich mich an ihm vergriffen hatte? Durften wir je mehr sein, als 'nur' Freunde? Nun ich denke, diese Fragen werden sich klären lassen, aber im Moment fiel mir nichts Schlaues dazu ein.


Wir brachten die Pferde auf die Koppel. Selbst Wicki trotte Jean-Luc hinterher, während er sie mit den anderen Tieren hinausführte. Eigentlich wollte ich schon widersprechen, aber ich war viel zu neugierig wie sie sich verhalten würde. Bruno hatte für sie eigentlich eine kleine Weide abgegrenzt, denn er fürchtete, dass es zu Keilereien zwischen den Tieren kommen könnte. Ihre schwierige Art und das aggressive Verhalten zwangen ihn dazu, denn er wollte den anderen Pferdebesitzern nicht erklären, warum ihre Pferde verletzt waren. Entsprang ihr Verhalten wirklich aus Angst heraus? Nach dem Motto, ‚ich teile zuerst aus, dann könnt ihr mir nicht wehtun‘?

Ich hielt den Atem an, Wickis Kopf schoss panisch hoch, während er die Stangen vom Eingang zur Koppel zur Seite schob. Ruhig redete er auf sie ein und ich atmete erleichtert aus, als sie sich wieder beruhigte. Ängstlich drängte sie sich an Jean-Luc, so als hoffte sie, der kleine Mensch könnte sie beschützen. Die Gruppe Pferde beobachteten die beiden neugierig und in dem Moment verstand ich Wicki.

Ich verglich die Szene mit mir, als ich meiner Klasse vorgestellt wurde. Buster, ein dunkelbrauner Wallach, näherte sich den beiden. Jean-Luc beruhigte Wicki und Buster beschnupperte sie. Sie wurde ruhiger und die anderen Pferde kamen nun ebenfalls näher, es schien, als hätte Buster ihnen mitgeteilt, dass Wicki zu ihnen gehört und dass keine Gefahr droht. Es dauerte nicht lange, bis ein strahlender Jean-Luc aus dem Knäuel auftauchte. Die Pferde verteilten sich wieder und Wicki genoss sichtlich den größeren Auslauf.

„Jetzt ha-hat sie Fr-Freunde und muss nicht mehr alleine sein. Es ist nicht gut, wenn man k-keine Fr-Freunde hat. Hast du viele Freunde?“


Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nicht so viele.“ „Dann bin ich dein Freund. Du bist lieb. Du denkst nicht, dass ich blöd bin, du hast mich nicht aus-ausge-gelacht. I-ich habe sonst auch ni-nicht viele Freunde.“ Ich zog Jean-Luc in meine Arme und küsste sanft seine Stirn während er seinen Kopf an meine Schulter schmiegte.


„Ja, wir werden Freunde sein“, murmelte ich gerührt und streichelte mit kreisenden Bewegungen seinen Rücken.


„Guten Morgen.“ Eine fremde Stimme riss mich aus meinen Gedanken und Jean-Luc löste sich von mir.


„Mama!“, rief er und strahlte die Frau an, die auf uns zukam. „Mama, das ist Reto, mein Freund, aber Schwänli kommt erst heute. Warum bist du gekommen? Schimpfst du jetzt?“



Sie lächelte ihren Sohn an und zog ihn in eine Umarmung. „Dummerchen, ohne ein Wort zu verschwinden. Aber ich bin stolz auf dich. Ich musste doch kommen und sehen, dass es dir gut geht.“


„Oh!“


Ich stand da und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, als Jean-Lucs Mutter ihn losließ und mich ebenfalls umarmte. „Danke, dass du ihm geholfen hast. Danke. Ich bin Marianne.“ Ihre Herzlichkeit rührte mich und ich wünschte mir, meine Mutter hätte mich einmal einfach in den Arm genommen. Ich fühlte mich auf Anhieb geborgen.

Jean-Luc hatte sich von uns abgewandt und beobachtete die Herde mit einem verträumten Ausdruck. Ich rief ihn, doch es schien als würde er mich nicht hören. Marianne seufzte leise. „Er hat das manchmal. Dabei kann er stundenlang den Pferden zusehen. Zuhause war es vor allem dann, wenn ein Fohlen zur Welt kam. Ich hab dann das Gefühl, als würde er den anderen Pferden sagen, dieses Tierchen gehört zu euch, seid nett zu ihm. Ihr habt kein Fohlen in der Herde?“


„Nein, aber vielleicht wegen Wicki? Sie war immer so schwierig und mein Götti ließ sie nie mit den anderen Pferden raus. Sie hat sonst eine kleine Weide für sich. Ich hatte immer Angst vor ihr, aber Jean-Luc, das war wirklich cool, ging zu ihr in die Box und plötzlich wurde sie ruhig und ganz lieb. Sogar ich konnte sie streicheln. Sie war wie ausgewechselt. Selbst ihr Besitzer fürchtet sich nur vor ihr.“


Mariannes Augen leuchteten vor Stolz und sie nickte. „Er sieht in ihre Seele, irgendwie unheimlich und ich kann es nicht erklären. Die Pferde sind wie ausgewechselt und er kann alles mit ihnen machen, was er will. Sie folgen ihm einfach.“


Fasziniert beobachtete ich Jean-Luc, bis mir einfiel, dass wir ja eigentlich die Boxen ausmisten wollten. „Mist, wir wollten doch ausmisten!“, entfuhr es mir und Marianne, die neben mir stand, bot ihre Hilfe an.


„Lass ihn, es hat im Moment keinen Zweck, er nimmt uns nicht wahr. Ich helfe dir.“


Gemeinsam reinigten wir die Boxen. Dabei erzählte mir Marianne, wie sie gegen zehn Uhr abends hier ankam und von Marlies und Herrn Moser empfangen wurde. Marlies hatte sie kurzerhand im Gästezimmer einquartiert, obwohl es eigentlich nicht bereit war. Aber unter vielen Entschuldigungen und Hilfe, hatten die beiden Frauen das Zimmer schnell soweit, dass Marianne wenigsten in einem frischbezogenen Bett schlafen konnte. Nachdem sie gesehen hatte, dass Jean-Luc ruhig bei mir schlief, ging sie beruhigt ins Bett. Ich erzählte ihr, wie ich auf Jean-Luc aufmerksam wurde. Ich weiß nicht warum, aber ich erzählte ihr ebenfalls von meinen Befürchtungen, ob ich ihn lieben durfte oder ob es falsch wäre. Sie verstand mich, zog mich mitten im Stall in den Arm und drückte mich. „Florian, sein älterer Bruder, hat ihm erklärt was Sex ist. Du musst da keine Bedenken haben, schließlich ist er achtzehn und kann durchaus selber entscheiden, was er will. Wenn du ihn gern hast und er es auch will, dann ist das doch etwas Wunderbares. Ich würde mich freuen, wenn er jemand findet, der ihn so nimmt, wie er ist. Ich liebe meinen Sohn und mir ist es egal, ob er ein Mädchen oder einen Mann liebt. Einzig, sei Aufrichtig zu ihm, verarsche ihn nicht! Es wird nicht immer einfach sein, aber er ist mein Engel und du würdest auch mir wehtun, falls du unehrlich bist. Er war nicht immer so, wie jetzt. Erst durch einen Unfall wurde er zu dem, was er jetzt ist.“ Ich nickte und Marianne ließ mich los. „Wenn du willst, erzähle ich dir später alles, aber jetzt lass uns hier fertigmachen.“ Sie nahm die Mistgabel wieder zur Hand und wir beendeten die Arbeit.


Zu zweit gingen wir anschließend in die Küche, wo uns eine glückliche Marlies empfing. Herr Moser saß ebenfalls am Küchentisch und ich musste grinsen. Anscheinend hatte es nicht nur bei mir gefunkt. Aus dem Küchenfenster beobachtete ich Jean-Luc, der immer noch mit entrücktem Gesicht am Zaun stand und die Pferde beobachtete. Irgendwie fühlte ich mich einsam, ausgeschlossen. Plötzlich legte sich ein Arm um mich. Marianne stand neben mir und auch ihr Blick ruhte auf ihrem Sohn. Wie im Stall fühlte ich mich in ihrer Nähe auf seltsame Weise geborgen.

„Keine Sorge, irgendwann löst er sich schon von den Pferden. Er will einfach sicher sein, dass es Wicki gut geht.“

Ich nickte abwesend und wandte mich vom Fenster ab. Wir setzten uns zu den Anderen und zusammen fragten wir Marianne über Jean-Luc aus. Bereitwillig erzählte sie uns von dem Unfall und der Zeit danach. Eigentlich hatte er ja viel Glück, bestimmt gab es auch Fälle, bei denen die Folgeschäden schwerwiegender waren. Irgendwie gelang es Marianne, meine Zweifel zu besänftigen. Ja, ich wollte sein Freund sein, vielleicht auch sein Geliebter, vor allem wollte ich dabei nichts überstürzen. Das Bewusstsein, dass ich irgendwie die Verantwortung für ihn übernahm und was das für unsere Zukunft bedeuten würde, konnte ich mir aber nur vage vorstellen.


Jean-Luc kam kurz vor elf in die Küche. Dabei strahlte er über das ganze Gesicht und setzte sich neben mich. „Jetzt fehlt nur Schwänli, wann kommt er?“


„Bald sollte Bruno da sein. Er rief an, als ihr im Stall wart. Übrigens, danke, dass ihr den Stall sauber gemacht habt. Normalerweise müssen unsere Gäste eigentlich nicht arbeiten, aber heute war ich wirklich froh. Danke.“, sagte Marlies. Dabei sah sie mit einem verschmitzten Lächeln zu Herrn Moser, der plötzlich errötete und verlegen seinen Kopf kratzte.


„Ähm, ja. Marlies war vor langer Zeit mein Schulschatz. Wir hatten uns aus den Augen verloren und na ja, gestern wiedergefunden. Übrigens, ich heiße Urs. Allerdings“, dabei sah er mich fest an, „wäre ich froh, wenn Du zu mir in der Schule weiterhin Herr Moser sagst. Nicht, dass Gerede gibt.“ Ich grinste und versprach, dass ich ihn in der Öffentlichkeit weiterhin mit Herrn Moser ansprechen würde.

Wir waren so ins Gespräch vertieft, Marlies und Marianne kochten gemeinsam, dass wir beinahe verpassten, wie Bruno zurückkam. Es war Jean-Luc, der es als Erster bemerkte.


Er sprang auf. „Schwänli ist da!“ jauchzte er und sprang von seinem Stuhl auf und rannte so schnell los, wie es mit seinem Bein ging. Trotz seines Hinkens hatte ich Mühe, ihm zu folgen und schaffte es erst kurz vor dem Jeep, mit dem großen Anhänger, ihn einzuholen.

Bruno stieg aus und hielt den Daumen hoch, als er mich sah. Dann musterte er neugierig Jean-Luc, der ihn skeptisch anstarrte. „I-i-ist Schwänli d-d-da drin?“

Bruno sah mich mit einem Blick an, der verriet, dass er verwirrt war. Ich grinste und klärte ihn kurz auf. Im Anhänger hörte man schon das ungeduldige Schnauben eines der Pferde und Bruno beeilte sich, den Anhänger zu öffnen. Kaum war die Rückwand, die jetzt als Rampe diente, offen, schlüpfte Jean-Luc rein. Bruno wollte ihn schon zurückhalten, doch ich schüttelte den Kopf. Er zuckte ergeben die Schultern und ließ Jean-Luc gewähren.


„Bin gespannt, was du mir dazu noch genauer erzählst. Wer ist dieser Junge? Wer sind all die Leute bei Marlies? Im Moment bin ich etwas überfordert.“


„Lass uns erst die Pferde rausholen. Die sind sicher froh, wenn sie nicht mehr eingepfercht sind. Dann erklären wir dir alles, ist etwas kompliziert, aber du magst ja spannende Geschichten.“

Bald waren die Pferde draußen und ich bewunderte Schwänli. Sein Fell war schneeweiß. Rosa schimmerte die Haut durch das Fell. Sanfte, braune Augen ruhten auf Jean-Luc und die Ohren bewegten sich aufmerksam vor und zurück, während Jean-Luc auf ihn einredete. Ich hörte, wie Bruno Marlies mit Fragen bombardierte - während er das zweite Pferd, eine Stute, in den Stall brachte. Doch ich blieb mit Jean-Luc im Hof zurück und konnte mich von dem Anblick der beiden Freunde nicht lösen. Jean-Luc strahlte mich an und rief mich. Beinahe ehrfürchtig ging ich zu ihm und er kicherte. „Keine Angst, Schwänli beißt nicht.“ Er legte einen Arm um meine Hüfte und zog mich zu dem Pferd, das mich neugierig ansah. „Schwänli, du musst jetzt auch auf den Reto aufpassen. Er ist mein Freund. Er hat mich zu dir gebracht und ich hab ihn fest lieb.“ Als würde das Pferd jedes Wort verstehen, brummelte es leise vor sich hin. Meine Pferdekenntnisse waren eher gering, aber ich spürte, dass ich ein Teil einer besonderen Freundschaft wurde. Bruno kam zu uns und bat uns, Schwänli in den Stall zu bringen. Er wollte endlich erfahren, was genau hier los war. Wir brachten Schwänli in den Stall und das Pferd betrat, an der Seite von Jean-Luc, ohne zu Zögern, sein neues Zuhause.

Kurze Zeit später betraten wir die Küche und setzten uns an den gedeckten Tisch.


7. Wer sind all die Leute? Bruno


Kaum war ich endlich auf dem Hof angekommen, sprangen Reto und ein fremder Junge aus dem Haus. Ich begrüßte die beiden und Reto stellte mir kurz den jungen Mann an seiner Seite vor. Irritiert stutzte ich, kein Grüezi, nur die Frage nach einem Schwänli. Reto zuckte nur grinsend die Schultern. „Erkläre ich dir später, das ist Jean-Luc und du hast sein Pferd gekauft.“

Ich wunderte mich, sein Pferd gekauft? Was sollte der Mist? Ich öffnete den Hänger und wollte zuerst die ruhige Stute heraus holen. Mit dem Hengst hatte ich schon Mühe, ihn in den Anhänger zu bringen und wollte mir Zeit lassen, beim Hinausführen. Doch der fremde Bursche schlüpfte zuerst in den Anhänger, bevor ich hinein konnte. Ohne Probleme holte er den Hengst raus und ich beobachtete die beiden. Es schien wirklich, dass das Pferd ihn kannte. Der Hengst war wie ausgewechselt. Wie eine Furie hatte er sich aufgeführt und ich hatte ihn schon Fury getauft. Nun schmuste er ruhig mit dem Jungen und ich verstand die Welt nicht mehr. Da war ich auf der Suche nach einem weiteren weißen Freiberger gewesen, die Stute hatte ich schon länger im Auge. Aber für meinen Plan, Kutschfahrten für Hochzeiten anzubieten, brauchte ich noch ein weiteres Pferd. Dazu fuhr ich durch die jurassischen Freiberge und hatte ihn zufällig entdeckt, als ich mich bei einem Metzger in Saignelégier erkundigte, ob es in der Gegend Züchter gab, die weiße Freiberger züchteten. Er führte mir gleich diesen Hengst vor, meinte, es wäre eine Schande, wenn er ihn töten müsste und ich war sofort begeistert von diesem Tier. Der Preis war ein Schnäppchen und ich zögerte keinen Augenblick. Der Mann war sichtlich froh, dass er das Tier nun nicht töten musste. Ich war überglücklich, dass sich mein Umweg gelohnt hatte, und fuhr dann ins Emmental, wo ich das zweite Pferd, das ich bereits in Aussicht hatte, kaufen wollte. Reto versprach mir eine spannende Geschichte und ich platzte vor Ungeduld. Nach gefühlten Ewigkeiten führten die beiden das Tier endlich in den Stall und ich folgte ihnen mit der Stute. Nachdem die Tiere ihr neues Heim bezogen hatten, gingen wir zum Haus zurück. Da war ich mal zwei Tage weg und ich hatte das Gefühl, ich würde hier nichts mehr kennen.


In der Küche stellte mir Marlies Frau Bonnet und Jean-Luc vor. Herr Moser kannte ich bereits aus der Schule. Diesmal grüßte mich der Junge und ich musterte ihn neugierig. Braunes strubbeliges Haar, grau-grüne Augen, nicht allzu groß, trotzdem kräftig ohne ein Gramm zu viel, stand er vor mir und hielt mir schüchtern die Hand hin. Seine Mutter war mir ebenfalls auf Anhieb sympathisch. Lange, ebenfalls braune Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte und ein hübsches Gesicht weckten meine Aufmerksamkeit. Man sah deutlich, dass sie Jean-Lucs Mutter war. Freundlich lächelte sie mich an und ihr Händedruck war nicht zu fest, aber auch nicht zu lasch. Er passte einfach zu ihr.

Bald saßen wir am Tisch und genossen das Mittagessen. Dabei erzählten mir Reto, Herr Moser und Frau Bonnet alles, was passiert war. Jean-Luc wirkte abwesend, nur hin und wieder sah er mich mit einem schüchternen Blick an, der mich berührte. Reto nahm ihn in den Arm und streichelte seinen Rücken. Eine Geste, die ihn zu beruhigen schien, denn er wirkte mit der Zeit nicht mehr so verschüchtert und abwesend. Nun hatte ich ein Problem, denn eigentlich wollte ich das Pferd nicht weggeben, andererseits verstand ich Jean-Luc und seine Mutter. Das abergläubische Verhalten seines Großvaters hatte ihn und seine Mutter hierher geführt. Ich musste in Ruhe nachdenken. Ich entschuldigte mich und verließ die Küche.


Im Stall betrachtete ich meine neuen Pferde. Bei Schwänli - ja der Name passte zu ihm - blieb ich stehen und redete mit ihm. Beim Namen Jean-Luc spitze er die Ohren und wieherte leise. Ich spürte, dass es falsch wäre, dieses Pferd hier zu behalten. Es würde mir nie so vertrauen, wie eines der anderen Pferde.

Ich bemerkte Jean-Luc erst, als er neben mir stand und das Pferd zu ihm kam. Schweigend sahen wir uns an. Sein trauriger Blick traf mich mitten ins Herz. „D-du w-w-willst ihn be-behalten?“


Ich schluckte. „Ja und nein, ich habe ihn gekauft. Aber ihr gehört zusammen, das spüre ich hier.“ Ich legte meine Hand auf mein Herz und ein seltsamer Ausdruck huschte über sein Gesicht.


„Opa ha-hat Schwänli ni-nicht lieb. Du schon.“


Plötzlich wusste ich die Lösung. Die ganze Zeit lag sie vor mir und ich müsste nur zugreifen. „Willst du hierbleiben? Mit deinem Pferd? Dann ist er vor deinem Großvater sicher. Er gehört zwar mir, laut dem Vertrag, den ich mit dem Metzger habe, aber du kannst hier wohnen, hilfst mir mit den Pferden und kümmerst dich um Schwänli. Wäre das etwas?“


„Aber Mama?“


„Das muss sie entscheiden, aber ich weiß nicht, immerhin hat sie gerade ihren Mann verloren.“


„Ja, Papa ist weg. Ko-kommt ni-nicht mehr.“

Er sah mich mit einem seltsamen Blick an und ich wusste nicht, wie ich ihn deuten sollte. Ein seltsamer Laut ließ mich zusammenzucken und mit den Worten, „Muss fr-fr-fragen.“, ließ er mich einfach stehen und verschwand in Richtung Haus.


Ich genoss noch für einen kurzen Moment die Ruhe im Stall, bevor ich mich ins Haus zurückbegab. „Wo sind denn alle?“, fragte ich Marlies, die noch das Geschirr fertig wegräumte.


„Ach, der Urs musste mal nach Hause und die Jungs und Marianne sind im Zimmer von Reto. Jean-Luc hast du irgendwie recht durcheinandergebracht.“


„Ach ja? Jetzt bin ich noch Schuld daran? Ich habe ihn durcheinandergebracht? Was ist mit mir?“, rief ich entrüstet aus und erntete einen bösen Blick, der mich traf. „Gopfriedstutz Marlies! I bi uf de Stümpe! Wie soll ich von Null auf sofort das Richtige sagen?“ Die Verwirrung über den Hengst, diesen Jean-Luc und die lange Fahrt hatte mich mehr geschlaucht, als ich dachte. Ich war bestimmt nicht der aufbrausende Typ, aber in diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, alles würde sich gegen mich verschwören.


„Fluchen hilft dir nichts! Bruno, der Bub muss sich entscheiden und das geht nicht so einfach. Da du ihm ja das Pferd nicht einfach so zurückgeben willst. Einfach zu deiner Information, der Großvater hat sein Pferd verkauft! Ohne sein Wissen, einfach so! Die Papiere, die Marianne mitbrachte, beweisen es. Das Pferd gehört ihm! Sein erst kürzlich verstorbener Vater hatte es ihm geschenkt. Zudem ist es ein gekürter Zuchthengst. Das Pferd hat alle Anforderungen dafür bei der Hengstprüfung in Avenches bestanden. Anscheinend liebte der Vater seinen Sohn mehr, als dass er zugab. Du hast ein gestohlenes Pferd gekauft, finde dich damit ab. Das Tier gehört dem Bub!“, erklärte Marlies aufgebracht.


Entgeistert starrte ich sie an. Sie drückte mir Papiere in die Hand und ich begann zu lesen. Sie hatte Recht, vielleicht hatte ich mich Jean-Luc gegenüber falsch ausgedrückt, niemals wollte ich, dass er glaubt ich würde darauf bestehen, das Pferd zu behalten. Ich fühlte mich plötzlich mies, falsch verstanden und verdammt müde. „Rede mit den Jungs, Marianne wird dir das Geld zurückerstatten, aber rede! Zögere nicht!“

Sie sah mich mit einem Blick an, der zu sagen schien: „Du wirst das Richtige entscheiden, ich glaub an dich.“


Aus dem oberen Stock hörte ich ein Schluchzen und die Papiere, die ich immer noch in der Hand hielt, wurden schwer. Seufzend ging ich zu Retos Zimmer und starrte schweigend auf das Bild das sich bot. Jean-Luc lag bäuchlings auf dem Bett und wurde von heftigen Schluchzern geschüttelt. Reto und Marianne versuchten, ihn zu trösten.


Räuspernd machte ich mich bemerkbar und trat in das Zimmer. „Ich wusste nicht, dass mich Jean-Luc so falsch verstanden hat.“ Mit zitternden Händen hielt ich die Papiere vor mich hin. „Es ... Ich ... Verdammt, ich will das Pferd nicht. Nicht auf diese Weise. Aber mein Angebot steht. Wenn Jean-Luc mit seinem Schwänli hierbleiben möchte, ist er willkommen, wenn nicht, habe ich Pech. Selbstverständlich gehört er ihm. Das Geld will ich nicht zurück!“


Marianne sah mich ungläubig an, ich legte die Papiere auf Retos Schreibtisch und verließ mit hängenden Schultern das Zimmer. Ich konnte nicht sagen wie, aber ich stand plötzlich im Garten. Eine seltsame Mattigkeit befiel mich und ich legte mich auf meinen Liegestuhl. Für ein Mittagsschläfchen war ich zu aufgewühlt, aber der schattige Platz unter dem alten Apfelbaum, hatte eine beruhigende Wirkung. Hatte ich richtig gehandelt? Der Anblick des schluchzenden Jungen hatte mich berührt, Marlies hatte Recht. Ich durfte nicht darauf bestehen, das Pferd zu behalten. Meine Wut galt diesem Großvater, der seinen Enkel bestohlen hatte. Irgendwie überforderte mich das Ganze. Immer wieder kreisten meine Gedanken um diese Geschichte und ich wusste nicht, was richtig war. Im Stall schien doch alles noch so einfach.


Schritte näherten sich mir und ich öffnete meine Augen. Vor mir stand Marianne, die sich an den Stamm des Baumes lehnte. „Danke.“

Ich setzte mich auf und sah sie an. Sie wirkte genauso müde, wie ich mich fühlte und ich hätte sie am liebsten in den Arm genommen. Man sah ihr an, dass ihr Leben nicht leicht war und doch war sie immer noch eine attraktive Frau. Ich wusste nicht warum, aber sie weckte etwas in mir, dass ich schon lange nicht mehr empfand. Mit 26 dachte ich, ich hätte die richtige Frau fürs Leben gefunden, doch Melanie verließ mich für einen Mann, der ihr ein gemütlicheres Leben bot. Damals schwor ich mir, nie wieder jemanden an mich heranzulassen. Der Gedanke, dass sie erst vor kurzem zur Witwe wurde, hielt mich jedoch ab, aufzustehen und sie in den Arm zu nehmen. Schweigend sahen wir uns für gefühlte Ewigkeiten nur an.

Niemand von uns wusste, was er sagen wollte, doch als sie sich abwenden wollte, rief ich: „Warte, es tut mir Leid.“


Sie stoppte und wandte sich mir wieder zu. „Was tut dir Leid? Du wusstest ja nichts davon. Mir tut es leid, dass wir hier so ein Chaos veranstalten. Das vorhin war sehr anständig von dir. Jean-Lucs Behinderung macht es ihm nicht leicht, das alles zu verstehen. Er hängt an mir und weiß, dass sein Großvater sein Pferd hasst. Reto ist sein neuer Held, er hat ihn zu seinem Schwänli gebracht. Jean-Luc verstand vorhin nur, dass er sein Pferd nicht mehr zurückbekommen würde. Dass du Schwänli behalten möchtest. Ich habe mir schon überlegt, was ich dir alles an den Kopf werfen wollte. Aber ich hatte mich in dir getäuscht. Das, was du im Zimmer gesagt hast, war sehr anständig von dir. Danke.“


Ich schluckte und verdrehte in Gedanken meine Augen. Dass mich Marlies angefaucht hatte, verschwieg ich. Seufzend fuhr sie fort. „Jean-Luc soll ein eigenes Leben führen können, selber bestimmen, was er will. Sicher wird er immer Hilfe brauchen. Ich dachte, nein hoffte, dieser Zeitpunkt würde etwas später sein. Es kam mir immer so vor, als hätte ich ihn zweimal geboren. Einmal, als er auf die Welt kam und das zweite Mal, als er nach dem Unfall aufwachte. Er war immer mein Baby, mein Engel. Es war aber vor allem Schwänli, der ihn zu dem machte, was er jetzt ist. Reto ist sich durchaus bewusst, welche Verantwortung er übernimmt, wir hatten heute Morgen ein ausführliches Gespräch. Ich glaube, Jean-Luc würde es hier gefallen, aber er hat Angst, sein Pferd, seinen bisher einzigen wahren Freund, zu verlieren. Darum wollte ich dir das Geld zurückerstatten. Man hat dich genauso verarscht wie Jean-Luc.“


Mit dem letzten Satz traf Marianne ins Schwarze. Ja, ich fühlte mich wirklich verarscht. Jean-Luc und ich wurden Opfer eines alten Mannes, der nur von seinem seltsamen Aberglauben beherrscht wurde. Marianne machte mir keinen Vorwurf und meine Bewunderung für sie wuchs. Sie stand vor mir, ihr Blick offen und ehrlich. Wieder musste ich schlucken, sie war so stark und hatte es bestimmt nicht einfach gehabt in ihrem bisherigen Leben. Aber sie hatte ihr Schicksal angenommen und sich nicht unterkriegen lassen. Plötzlich fühlte ich mich klein und nichtig.

„Würde Jean-Luc denn hier bleiben wollen?“ Fragte ich schüchtern und sie nickte.


„Ja, wie gesagt, er hat Reto sehr lieb und er spürt, dass auch du ein gutes Herz hast. Dass du ihm sein Pferd zurückgabst, hat es ihm bestätigt. Er fürchtete, dass du darauf bestehst, Schwänli nicht herzugeben. Mit dieser Geste hast du gezeigt, dass du das Herz am rechten Ort hast. Er würde dir gerne helfen, so wie du ihm geholfen hast.“


„Im Stall kam er zu mir, eigentlich wollte ich es ihm da sagen, aber er verstand mich wohl falsch und rannte davon.“, seufzte ich und rieb verlegen mein Kinn.


„So etwas hatte ich vermutet, als Jean-Luc völlig aufgelöst ins Haus kam. Er stammelte etwas von - er dürfte Schwänli nur noch pflegen und bei ihm sein, wenn er hier bleiben würde, aber dass du das Pferd nicht hergeben möchtest.“ Marianne lächelte mich erleichtert an und fuhr fort: „Ehrlich gesagt, ich finde es toll, wie du gehandelt hast. Sicher bist du müde, schließlich bist du schon lange unterwegs und mit diesem Drama hast du sicher auch nicht gerechnet.“


„Nein, da hast du recht. Das war keine lustige Überraschung. Ich wollte mich gerade hinlegen, aber diese Geschichte hat mich zu sehr aufgewühlt und ich finde keinen Schlaf. Lass uns einen Kaffee trinken, dann gehe ich halt früher zu Bett. Da schlafe ich bestimmt besser, vor allem wenn es gelingt, die Missverständnisse auszubügeln.“


Wir erzählten uns gegenseitig aus unserem Leben, von den Höhen und Tiefen. Meine Bewunderung für diese Frau wuchs und je länger wir miteinander sprachen, desto mehr schien es mir, als würden wir uns schon ewig kennen.


8. Schwänli gehört mir? Marianne


Ja? Nein? Jean-Luc verstand ihn nicht. Hierbleiben? Schwänli gehört doch mir, ist mein Freund. Er wollte ihn behalten. Mama würde helfen, bestimmt, sie wusste immer was zu tun war. Er rannte in das Haus, auf einmal gefiel es ihm hier nicht mehr. Stolperte und Reto fing ihn auf. Streichelte beruhigend über seinen Rücken und er drückte sich fest an ihn. Mama kam, schluchzend warf er sich in ihre Arme.

Wie er in das Bett kam, konnte er nicht mehr sagen. Tief vergrub er sein Gesicht im Kissen, wollte nichts Sehen, nichts hören. Einzig der

Gedanke, Schwänli verloren zu haben, drehte sich in seinen Kopf im Kreis. Mamas Stimme versuchte, ihn zu beruhigen, Reto hielt ihn tröstend und sagte immer, es werde wieder gut. Dann kam dieser Mann ins Zimmer, von dem er dachte, er wäre nett. Aber er war es nicht. Dann sagte er, Schwänli würde natürlich ihm gehören, er wolle ihn nicht. Durfte er das Glauben? Nachdem was im Stall passiert war?

Jean-Lucs Gedanken, die ihm durch den Kopf wirbelten, lähmten ihn und er fühlte sich hilflos.


Was nun geschah, brannte sich für immer als gute Erinnerung in seinen Kopf, darum wird Jean-Luc diesen Teil selber erzählen. Noch heute muss ich schmunzeln, wenn ich daran denke, wie unverblümt mein Sohn mir alles erzählte. Jedem anderen wäre es peinlich, mir zeigte es nur, wie er mir noch immer vertraute und wie stark unsere Bindung war. Obwohl ich eigentlich nicht so erpicht auf genaue Details war, konnte ich seiner begeisterten Erzählung keinen Einhalt gebieten. Wie dem auch sei, ich wollte die Geschichte niederschreiben, da muss ich mich wohl auch mit den schlüpfrigen Details abgeben, die mir mein Bub so freizügig anvertraute. Das hatte ich mir wohl selber eingehandelt.

Interessanterweise waren es jedoch genau solche Erinnerungen, die in Jean-Lucs Kopf hängen blieben. Oft genug lebte er in seiner eigenen Welt, verwirrte oft die Umstehenden mit seinen Handlungen. Aber alles, was er mit Reto erlebte, wurde irgendwie speziell in seinen Kopf abgelegt. Wie ein eigener Ordner. Diese Vorstellung half mir, ihn immer besser zu verstehen und sie half auch, selbst über Peinliches hinwegzusehen. Naja, dass was ich als peinlich empfand. Kümmerte es meinen Sohn, ob ich alles wissen wollte? Nein. Für ihn war es einfach etwas, das zu ihm gehörte. Dass er plötzlich fast gleichaltrige Freunde hatte, die ihn nicht mieden, war neu. Dass er von Reto als Gleichgestellter gesehen wurde, auch. Es waren diese neuen Reize, die ihm halfen, weiter zu kommen. Die ihn dazu brachten, sich Dinge zu merken, die zuvor nicht wichtig waren. Sie so festzuhalten, wie er sie erzählte, sah ich als meine Pflicht.


9. Das gefällt mir, Jean-Luc

 

Mama ließ uns alleine, folgte dem Mann und Reto hauchte mir Küsse auf den Kopf und Rücken. Das mochte ich und mein Penis auch. Ich spürte ganz deutlich, wie er drückte und ein schönes Gefühl breitete sich aus. Florian hatte mir erklärt, was das ist, warum das passiert. Aber er hat auch gesagt, dass ich mich nur zu Hause da berühren darf. Es würde die Leute erschrecken.

Ich war aber nicht zu Hause. Darf nicht sein! Mein Penis drückte schmerzhaft, ich sah verlegen zu Reto. Er lächelte, ich liebte es, wenn er das tat und er streichelte mein Gesicht. „Schwänli gehört für immer dir.“, sagte er glücklich und küsste mich auf den Mund. Das gefiel mir und ich drückte meinen Kopf an seine Brust. Aber mein Penis plagte mich, ob es wohl in Ordnung war, wenn ich mich hier im Bad erlöste? Das war mir wirklich peinlich.

 

„Muss a-auf die Toi-toil ... ähm, WC. Mein P-p ... hart.“ Nuschelte ich und drückte mein Gesicht wieder ins Kissen. Er würde es sehen, das mit meinem Penis, dann würde er Angst haben. Aber ich wollte nicht, dass er Angst vor mir hatte. Er war so lieb zu mir. Florian hatte mir aber gesagt, dass Leute erschrecken würden, wenn mein Penis hart ist. ‚Vielleicht merkt er es nicht? Wenn ich ganz schnell hinlaufe?‘, dachte ich und stand hastig auf, rannte, stolperte, fand das Bad. Hose auf und dann schnell mit der Hand reiben bis die weiße, klebrige Feuchtigkeit kam. So war mein Plan, aber es kam anders.

 

Plötzlich legte sich ein Arm um meine Hüfte, eine Hand umschloss meine Hand die meinen Penis hielt. Ich erschrak und zuckte zusammen. „Darf ich dir helfen?“ Reto! Ich erstarrte, fing an zu zittern. „Hey, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Er küsste mich am Hals, seine freie Hand streichelte meinen Bauch unter dem Hemd und ich schämte mich, weil er mich so sah. Ich wollte mich verstecken, irgendwo. Er würde mir sagen, dass ich grusig war. Wie Pierre. Ich wagte nicht zu Atmen oder mich zu bewegen, spürte nicht den Krampf in meiner Hand.

„Lass los, entspanne dich.“ Wie durch einen Nebel hörte ich seine Stimme und meine Hand fiel lahm herunter. Gehorchte mir nicht mehr. Dafür spürte ich ihn. Seine Hand an meinem Penis? Ich zuckte, spürte wie ich explodierte. Meine Beine wurden zu Gummi und Reto hielt mich, küsste mich. Rannte nicht fort, sagte nicht, ich wäre grusig.

 

„Du, du ...“, ich fand keine Worte und Reto drehte mich zu sich, sah mich lieb an.

 

„Jean-Luc, hattest du Angst, ich würde dich nicht mehr lieb haben? Nur weil du auf mein Streicheln, meine Küsse reagierst? Das ist doch eine normale Reaktion. Schau mich nicht so geschockt an.“

 

„Florian ha-hat gesagt, ni-nie vor a-a-anderen.“, er sah mich fragend an.

 

„Florian? Komm her, er hatte sicher gemeint, nicht vor Fremden, aber wir sind doch Freunde. Besondere Freunde. Sicher, nicht alle würden das Verstehen, aber ich schon. Weil ich mich in dich verguckt habe und dich sehr lieb hab. Komm her, ich möchte gerne für dich da sein. Auch wenn dein Penis hart ist, möchte ich dir immer helfen.“

 

Er zog mich fest an sich und hielt mich in seinen Armen. Ja, ich hatte ihn auch sehr gerne. Seit er mich zum ersten Mal ansprach, fühlte ich so ein schönes Kribbeln in meinem Bauch. „Hab dich auch lieb. Schwänli gehört mir. Ich bin glücklich.“ Sagte ich und drückte meinen Kopf an seine Schulter.

 

10. Premieren, Reto


Jean-Luc klammerte sich an mich und ich war nicht gewillt, ihn loszulassen. Ja, von diesem Moment, als ich ihn zum ersten Mal sah, hatte ich mich wirklich in ihn verliebt. Irgendwie war es ja seltsam. War es Mitleid oder das Helfersyndrom? Bestimmt nicht! Magie? Der Gedanke war erheiternd, der gehörte ins Reich der Märchen. Und doch, das Ganze war einfach zu schön. Er brachte in mir etwas zum Klingen, etwas das ich noch nie so empfand. Ich hatte früher meinen Körper verkauft, ja, aber nie hatte einer der Freier in mir etwas berührt. Es war dieses Etwas, dass mich zu ihm zog. Sein Äußeres? Ja, er war hübsch, ich mochte seine Augen, sein Gesicht. Er war einen Kopf kleiner als ich und wenn er sich an mich schmiegte, lag sein Kopf an meiner Schulter. Ich sog seinen Geruch ein, und musste lächeln. „Du riechst nach Pferd und Sex, aber ich mag das.“


Jean-Lucs Kopf an meiner Schulter verschwand und er sah mich mit einem schelmischen Lächeln an. „Du stinkst auch.“ Er fing an zu Kichern und ich musste einfach mitlachen.


Zärtlich hob ich sein Kinn mit meiner Hand und küsste seine weichen Lippen. „Magst du duschen?“ „Mhm, a-aber nur, wenn du hilfst. Ich ver-vergesse … kein Plan.“ Sein hilfloser Blick sprach Bände und ich nickte. „Klar, ich helfe dir. Ich hole nur kurz frische Klamotten. Warte kurz.“ Ich ließ Jean-Luc alleine und suchte in meinem Schrank nach bequemen Sachen. Zum Glück hatte Marianne sogar für Jean-Luc ein paar Sachen mitgebracht. Nicht viel, aber für ein paar Tage würde es reichen. Ich bewunderte ihre Weitsicht, in der gleichen Situation hätte ich bestimmt nicht daran gedacht. Kurze Zeit später hatte ich alles und kam damit ins Badezimmer zurück. Jean-Luc stand immer noch da, wo ich ihn verlassen hatte, nur war er schon nackt. Seine Kleider lagen auf einem Haufen und ich stand in der Tür und sog seinen Anblick in mir auf. Für mich war er einfach wunderschön. Letzte Nacht waren wir einfach zu müde und ich wollt nur noch ins Bett. Aber hier und jetzt konnte ich nicht genug von seinem Anblick bekommen. Ich schloss die Tür hinter mir, legte die Klamotten auf eine Kommode, zog meine Sachen ebenfalls aus und ging zu ihm.


„Du bist aber dünn! Man sieht ja die Knochen. Dein Penis gefällt mir.“ Vorsichtig berührte er meine Rippen, fuhr über meine Hüfte, die hervorstand und berührte beinahe ehrfürchtig meinen Schwanz.


Ja, ich war mager, das waren noch die Folgen meiner Sucht. Aber Marlies hoffte, mir ein paar Kilos aufzubrummen. Nur klappte das nicht so, wie sie gerne hätte. Ich grinste ihn verlegen an. „Ja, war dumm von mir. Aber vielleicht ändert sich das noch.“


Seine Hand löste kleine Brandherde auf meiner Haut aus und ich spürte, wie mein Glied sich versteifte. Glucksend beobachtete er, wie mein Glied sich verhärtete. „Mein Penis macht das auch. Schau.“


Er war so süß in seiner Unschuld, dass ich am liebsten über ihn hergefallen wäre. Dabei wollten wir doch eigentlich bloß duschen, doch so, war er für mich die pure Versuchung. Ich schluckte, zog ihn näher zu mir und hauchte einen Kuss auf seine Nasenspitze. „Komm.“ Ich zog ihn mit mir unter die Dusche und stellte das Wasser auf eine angenehme Wärme ein. Sanft massierte ich ihm das Shampoo ins Haar, seifte ihn mit dem Duschgel ein und brachte ihn zum Kichern, als meine Hand sich um sein steifes Glied schloss.


„Schön, besser als alleine.“, seufzte Jean-Luc und nahm eine pinkfarbene Shampooflasche und verteilte den Inhalt großzügig über meinem Körper. Es war mir egal, was er nahm, dann roch ich halt nach Kirschen. Nur kurz wunderte ich mich, wer von uns Shampoo mit Kirschduft nutzt, aber seine Hand auf meinem Körper ließ mich erschauern und das Denken verabschiedete sich. Ich seifte seinen Rücken ein und mit meinen seifigen Händen zog ich ihn zu mir. Mein hartes Glied drückte dabei gegen seine Pospalte. Genießerisch ließ ich meine Hände über seinen Bauch gleiten und küsste ihn in den Nacken. Vor mir stöhnte Jean-Luc leise auf, und ich rieb meine Härte an seinem Körper. Das fühlte sich einfach herrlich an. „W-was?“


„Nicht reden, lass mich machen“, raunte ich ihm ins Ohr und mit einer Hand umfasste ich seinen Penis, der schon wieder hart war. Ein Zittern ließ ihn erschauern und seine keuchenden Laute erregten mich so sehr, dass alleine ihr Klang und das Reiben meines Schwanzes an seinem Körper, mich kommen ließ. In heftigen Schüben ergoss ich meine Ladung über seinen Rücken und spürte, dass er ebenfalls kurz davor war. Immer heftiger stieß er seinen Schwanz in meine Faust und mit einem wunderschönen, erotischen Seufzen kam er. Ich hielt ihn sanft umschlungen, sein Körper bebte in meinen Armen und ich küsste ihn beruhigend auf den Nacken und Schultern. Das Wasser rieselte über unsere Körper und Jean-Luc drehte sich um. Seine leuchtenden Augen sahen mich an und er streckte seinen Kopf zu mir hoch. Unsere Lippen trafen sich zu einem innigen Kuss.


Ich hätte stundenlang so stehen können. Mein Herz raste vor Glück, doch das Wasser wurde langsam aber sicher kalt und ich drehte den Wasserhahn zu. Schnell trockneten wir uns ab und schlüpften in die bereitgelegten Klamotten. Jean-Luc strahlte mich noch immer an. „Das war schön ...“, seufzte er: „Ma-machen wir d-das w-wieder?“


„Wenn du möchtest? Von mir aus jeden Tag.“ „Oh ja! Komm, Schwänli muss wi-wissen, dass du jetzt mehr als mein Freund bist!“ Er zog mich aus dem Bad und ich war so überrumpelt, dass ich mich nicht wehren konnte.


An der Tür gelang es mir, ihn zu bremsen. „Warte, Schuhe! Ich gehe nicht mit nackten Füssen in den Stall!“ Er stoppte so schnell, dass ich gegen ihn prallte. „Oh, tu-tut mir leid. I-ist besser, ja.“ Er war so überdreht, dass ich lachen musste. Ich schlüpfte in meine Stiefel und er zog sich ein Paar von Bruno an, dass ihm zu groß war. Wie ein Storch stakste er nun über den Hof, doch wenn ich glaubte, er wäre dadurch langsamer, hatte ich mich getäuscht. Aus dem Stall drang ein lautes Wiehern und bevor ich etwas sagen konnte, standen wir keuchend in der Box. Jean-Luc hing am Hals des Pferdes und jauchzte. „Schwänli, du gehörst mir! Für immer! Schau, das ist Reto, du musst jetzt auch für ihn da sein! Er hat mich ganz besonders lieb, weißt du.“ Wie zur Antwort schnaubte der Hengst und streckte mir seinen Kopf entgegen. Aufmerksam beobachtete er mich und ich streichelte seine Nüstern. Er war wirklich ein schönes Tier. Seine Haut schimmerte rosa durch das weiße Fell und seine braunen Augen strahlten eine Sanftheit aus, die mich in ihren Bann zogen.

Ich kannte mich mit Pferden nicht besonders gut aus, schließlich hatte ich, bevor ich zu Bruno kam, nie Bekanntschaft mit diesen Tieren gemacht. Erst hier lernte ich den Umgang mit ihnen. Leise sprach Jean-Luc auf ihn ein und fasziniert lauschte ich seinen Worten, die ich nicht verstand. Es schien, als würde er in einer anderen Sprache mit ihm reden. Nur das Zucken der Ohren verriet, dass das Pferd ihm lauschte. Plötzlich löste sich Jean-Luc und zog mich zu sich. Ich wunderte mich, dass Schwänli dabei so ruhig blieb. Die meisten Pferde meines Götti wären nervös zurückgewichen, aber Schwänli zuckte dabei nicht mal mit dem Kopf. Er schnaubte leise und ich kraulte seine Stirn.

„Magst du auf ihm reiten?“


„Jetzt? Wir haben doch gerade geduscht und ich kann nicht gut reiten.“


Ein verschmitztes Grinsen huschte über sein Gesicht. „Dann duschen wir halt nochmals. Mit dir dusche ich gerne.“


Na super, was habe ich da geweckt‘, dachte ich mir und schon zog er mich auf die Seite und half mir hoch. Ein Zittern überzog den Körper des Pferdes und ich klammerte mich fest, so gut ich konnte. Ich rechnete damit, in hohem Bogen durch die Luft zu fliegen, und sah mich schon an der Wand kleben. Immerhin war das ein Hengst und in Filmen, die ich sah, wurden Hengste oft als unberechenbar dargestellt. Wenn mich Jean-Luc nicht überrumpelt hätte, niemand hätte mich da rauf gebracht. Bruno gab mir zwar Reitunterricht, aber ohne Sattel saß ich noch nie auf einem Pferd. Jean-Luc öffnete die Boxentür und Schwänli folgte ihm langsam. Obwohl ich das Gefühl hatte, nächstens vom Pferd zu rutschen, geschah nichts in der Richtung. Draußen führte Jean-Luc Schwänli zu einer Mauer, die den Innenhof vom Garten trennte. Er kletterte auf die Mauer und von dort ebenfalls auf Schwänlis Rücken.


Er saß hinter mir und schlang seine Arme um mich. „Ist so schön wie duschen.“, hörte ich ihn sagen und musste Lächeln. Langsam entspannte ich mich und Jean-Luc lenkte sein Pferd über den Hof.


„Wo willst du hin?“, fragte ich und überlegte, was passieren würde, wenn das Pferd draußen erschrickt.


„Nur um den Hof. Ein paar Mal. Ich weiß ja nicht, wie es hier aussieht.“


Das beruhigte mich und so drehten wir gemütlich einige Runden. Irgendwie gelang es mir, mich richtig zu entspannen, und meine Bewegungen dem Pferd anzupassen. Das Spiel der Muskeln zu spüren gefiel mir genauso wie Jean-Lucs Körper, der sich an meinen Rücken schmiegte. Das Klappern der Hufe hatte ebenfalls eine beruhigende Wirkung. Es faszinierte mich, wie Jean-Luc jedes Mal, wenn es um sein Pferd ging, wie ausgewechselt war - und obwohl wir uns erst so kurz kannten, jetzt auch bei mir. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich ein Teil von ihm wurde und mein Herz schlug einen schnelleren Takt an. Die Zweifel, seine Unerfahrenheit auszunutzen, schwanden immer mehr. Die gleichmäßigen Runden, die wir im Hof drehten, Jean-Lucs Hände, die auf meinen Schenkeln ruhten, dass alles ließ mich glücklich lächeln. Es fühlte sich einfach richtig an. Ja, ich konnte mir vorstellen, für immer mit ihm zusammen zu sein. Meine Ängste wurden nichtig. Ich wollte für ihn da sein und ihn beschützen. Er war etwas Besonderes, ein Engel, mein Sonnenschein.


Erstaunt über meine Gedanken, bemerkte ich nicht, dass wir vor der Stalltür standen. Jean-Luc löste seine Arme und sprang vom Pferd. „Schwänli ist jetzt müde. Komm, du musst auch runter.“

Meine Beine waren wie Gummi, als ich den Boden berührte und mit einem Grinsen lehnte ich mich an Schwänli. Jean-Luc sah mich besorgt an und ich murmelte: „Du machst mich ganz wuschig.“


„Wu-wuschig? Oh!“ Sein schelmisches Lächeln brachte mich zum Kichern und bevor ich mich versah, zog er mich zu sich und stahl sich einen Kuss. Das ungeduldige Schnauben von Schwänli und ein Schubser mit seinem Kopf, hinderten uns daran, den Kuss zu vertiefen. Wir führten ihn in seine Box und Jean-Luc half mir, die Boxen für die anderen Pferde vorzubereiten. Kaum waren wir fertig, tauchte Bruno auf.


„Wow, ihr seid schon fertig? Dann könnt ihr ja gleich helfen, die Pferde von der Weide zu holen. Was habt ihr eigentlich mit Wicki gemacht? Das frage ich mich schon die ganze Zeit. Noch nie war sie so friedlich mit den anderen Pferden zusammen. Oder ließ sich von mir führen.“


„Sie war tr-traurig. Angst. Alleine. A-a-ber hier“, Jean-Luc hielt seine Hand an sein Herz, „ist sie lieb.“


Bruno starrte ihn überrascht an. „Du meinst, sie ist nur so zickig, weil sie Angst hat?“


Eifrig nickte Jean-Luc und plötzlich sah er betreten auf den Boden. „Ni-nicht sch-schim-pfen. Ich, ich ...“


Bruno zog ihn in seine Arme und klopfte beruhigend auf seine Schulter. „Wieso sollte ich schimpfen? Das war genial! Du bist genial! Bisher war diese Stute unmöglich, aber du hast es an einem Tag geschafft, dass sie sich so friedlich auf der Weide verhält. Dafür danke ich dir und würde mich wirklich freuen, wenn du hier bleiben möchtest. Aber zuerst holen wie die Pferde von der Weide, und dann reden wir mit deiner Mutter zusammen über die Zukunft.“


Kurze Zeit später hatten wir alle Tiere im Stall. Wicki benahm sich wirklich wie ausgewechselt und ich verlor endgültig meine Angst vor ihr. Am Morgen zeigte sie noch, dass sie sich am liebsten auf mich stürzen wollte und nun drängte sie sich nach Zuneigung bettelnd, an mich. Bruno sah uns erfreut zu und seufzte: „Hoffentlich ist das nicht bloß eine Eintagslaune, die sie da hat.“


Gemeinsam gingen wir zum Haus und betraten die Küche. Marianne plauderte mit Marlies, die sich richtig hübsch gemacht hatte. „Ich hab euch noch Gschwellti, Butter und Käs‘ vorbereitet, ich bin eingeladen und weiß nicht, wann ich zurückkomme.“

Bruno nickte und Marlies verließ uns. Während dem Essen besprachen wir nun, was Marianne mit Bruno ausgemacht hatte und zu meiner größten Freude wollte Jean-Luc wirklich bei uns bleiben. Doch bald gähnte Bruno nur noch und ließ uns alleine. Es überraschte mich, wie locker Marianne damit umging, dass ich mich in ihren Sohn verliebt hatte. Irgendwie hatte ich mit mehr Widerstand gerechnet. Marianne zog sich ebenfalls zurück und wünschte uns eine gute Nacht. Endlich alleine, zog ich Jean-Luc mit und wir gingen gemeinsam in mein Zimmer.

Kichernd schnupperte Jean-Luc an mir und ich grinste. Ja, der Geruch von Stall und Pferd hatte sich wieder festgesetzt und lachend zogen wir die Sachen aus. Huschten, nur in der Unterwäsche schnell ins Bad und nach einer kurzen Dusche machten wir uns fertig für die Nacht.

Im Bett kuschelte er sich an mich und ich hielt ihn einfach im Arm. Der Tag war doch recht ereignisreich, aber die Frage, ob er vielleicht doch lieber eine Freundin hätte, beschäftigte mich. Auch wenn ich meine Zweifel niedergerungen hatte, so war ich mir in dem Punkt einfach nicht sicher. Es konnte ja sein, dass er es einfach mal ausprobieren wollte. Immerhin hatte ich ihn einfach im Bad überfallen und wenn Marianne mir auch versichert hatte, dass ihn sein Bruder aufgeklärt hatte, fürchtete ich, dass er nicht so recht wusste, was ich tat.


„Was gefällt dir besser, Mädchen oder Jungs?“


„Wa-warum fragst du?“


„Ich habe das Gefühl, ich hätte dich irgendwie überrumpelt, es würde mich wirklich interessieren. Weißt du, es ist nicht selbstverständlich, dass man Jungs lieber hat.“


„Oh, nicht? Hm, mir gefällt es aber. Mädchen sind wie Mama. Mama fasst mich nicht an, so wie du. Sie sagt, das gehört sich nicht. Ist das falsch?“


Ich musste grinsen, „Nein, falsch ist es nicht, aber bei einem anderen Mädchen kann das schon richtig sein.“

„Mäd-chen sind doof. In Cerlatez lachen die mich aus. Du nicht. Du sagst nicht wääh. Du hast mir deinen Penis gezeigt, mich angefasst und mich glücklich gemacht. Das ist schön. Sehr schön sogar.“ Dabei sah er mich im Licht der Nachttischlampe ernst an. „Du bist anders, ich hab dich sehr lieb.“


Er rutschte zu mir hoch und gab mir einen zarten Kuss, den ich erwiderte. Während ich seinen Rücken streichelte, eine Geste, bei der er beinahe anfing, zu schnurren wie eine Katze, rutschte mir die nächste Frage raus. „Warum stotterst du bei anderen Menschen und bei mir nicht? Das ist mir jetzt einige Male aufgefallen.“


„Oh, du machst mir keine Angst, du hörst mir zu. Lachst mich nicht aus, wenn es falsch ist. Dann geht es. Fremde verstehen mich nicht, sagen ich bin blöd. Dabei finde ich einfach das Wort nicht.“


„Du bist nicht blöd. Wer hat dir das nur eingetrichtert.“


„Die Anderen, im Dorf. Sie sagen das immer zu mir.“ Seine Aussage betrübte mich. Bestimmt war er anders, aber ihn als blöd zu bezeichnen wäre mir vom ersten Augenblick an, nie in den Sinn gekommen. Sein herzhaftes Gähnen erinnerte mich, dass unser Tag doch schon lange dauerte und ich löschte das Licht. Während ich noch wach lag, schlummerte Jean-Luc fest an mich gekuschelt ein.

Dabei war ich eigentlich auch müde, aber Jean-Luc und das ganze Drum und Dran hatten mich sehr aufgewühlt. Dass ich es war, der ihm helfen konnte war einfach genial. Seine Mutter war echt toll und ich wünschte, meine wäre auch so.

Als ich ihr im Stall gestand, dass ich mich in ihren Sohn verliebt hatte, reagierte sie gelassen und fand es schön. Jean-Lucs Unfall hatte eine besondere Bindung zu ihrem Sohn geschaffen, aber sie spürte wohl, dass es für Jean-Luc wichtig war, dass er sich von ihr löste. Ich staunte über ihre Einsicht und ihre Worte waren beruhigend. Ich war mir sicher, wenn mir etwas Ähnliches passiert wäre, hätte sich meine Mutter nicht so um mich gekümmert. Bestimmt hätte sie mich in ein Heim abgeschoben, wo ich keine Hoffnung auf ein Leben außerhalb gehabt hätte. Ja, seine Mutter war einfach Klasse, ich mochte sie auf Anhieb.


Auf die Frage, was wäre, wenn wir mehr als Küsse austauschten - lachte sie nur. Dann meinte sie, ihr Sohn sei alt genug und hätte doch auch ein Recht auf Spaß im Bett. Dass ich dabei rot wurde, quittierte sie mit einem wissenden Grinsen. Obwohl dieses Gespräch am Morgen hilfreich war, hegte ich doch noch einige Zweifel.

Denn über meine Reaktion heute Mittag war ich selber überrascht. Obwohl es sich richtig anfühlte, hatte ich das Gefühl, wie ein ausgehungertes Raubtier über ihn herzufallen. Ehrlich gesagt, hatte es mich gewundert, dass Jean-Luc nicht schreiend aus dem Bad gerannt ist. Stattdessen hat er mich anschließend auf sein Pferd gesetzt, sich an mich geschmiegt und ich – ich hatte es genossen. Noch nie hat jemand mein Herz so berührt, wie Jean-Luc. Noch nie hatte es sich so angefühlt. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich intimen Kontakt mit jemandem, ohne dass es ein 'Muss' war. Hier ging es nicht um Kohle. Nein, hier ging es um mein Herz – und das Herz von Jean-Luc. Was, wenn etwas geschah, dass uns trennen würde? Wenn wir feststellen mussten, dass wir doch nicht zusammengehörten? Auch fühlte ich mich irgendwie unsicher, denn wir waren beide noch so jung und ich wusste nicht, ob ich je selber in der Lage sein würde, Jean-Luc das Leben zu bieten, dass er verdiente, dass er wollte. Ich musste mir eingestehen, die Gedanken brachten mich nicht weiter, im Gegenteil. Sie schienen mich zu erdrücken und was heute Mittag noch einfach und leicht schien, machte mir nun irgendwie Angst.

Irgendwann schlief ich ein, doch ein Traum, in dem ich versuchte, Jean-Luc vor einer Gefahr zu retten, weckte mich. Panisch versuchte ich, mich zu orientieren, und beruhigte mich sogleich wieder, als ich seinen Arm um meinen Bauch spürte. „W-was hast du?“, wisperte es leise neben mir und ich wandte mich zu ihm und zog ihn näher.


„Ich hatte einen schlimmen Traum, du warst in Gefahr und ich konnte dir nicht helfen. Ich habe Angst, dass ich dir nicht das geben kann, was du brauchst. Dass ich etwas falsch mache, dass ich für dich nur ein Lückenbüßer bin, oder, ach ich weiß auch nicht ...“


„T-tut es dir Leid? Dass d-du mich g-gern ha-hast?“ Ich hörte die Furcht in seiner Stimme und zog ihn ganz fest zu mir.


„Nein! Verstehe mich nicht falsch, ich habe dich sehr, sehr gern. Vom ersten Augenblick, als ich dich vor dem Zoo gesehen habe. Du hast mich angezogen, wie eine Mücke vom Licht angezogen wird, du hast in mir etwas Schönes geweckt.“

„D-dann ha-hast du mich auch richtig lieb? Ich ha-hab dich a-auch ganz lieb, das ist doch gut, oder? A-alles a-andere kommt, wie es muss. Da-dann sehen wir es.“


Konnte es so einfach sein? Hatte ich mir zu viele Gedanken für nichts gemacht? Jean-Luc lebte den Augenblick, warum konnte ich ihn nicht auch einfach genießen? Seit ich clean war, dachte ich vielmehr über meine Zukunft nach, war mir bewusster, dass das Leben nicht einfach ein Konfibrot war. Seit ich hier bei meinem Götti lebte, war es das erste Mal in meinem Leben, dass sich jemand um mich kümmerte. Dass ich geliebt wurde und nun hatte ich mein Herz an ihn verloren. Einfach so, er war da, hatte meine Hilfe gebraucht und aus lauter Zufall konnte ich ihm helfen. Schicksal? Irgendwie schon, es musste einfach richtig sein.

Jean-Luc bewegte sich, sah auf mich herunter und im schwachen Licht, dass von draußen hereinfiel, erkannte ich, dass er lächelte. „Ja, ich habe dich auch lieb, Jean-Luc. Sehr sogar. Auch deine Mutter habe ich sehr gerne. Sie ist wirklich eine tolle Frau.“


„Gibst du mir einen Kuss?“ Ich musste schmunzeln. „Komm her, ich könnte dich pausenlos küssen.“

Wir schmusten noch eine Weile, bis Jean-Luc erneut anfing zu gähnen und sich an mich kuschelte. Bald schliefen wir und ich wurde nicht mehr von schlimmen Träumen geplagt.


11. Ruhelose Nacht, Jean-Luc



Ich wachte auf, draußen war es noch stockdunkel. Reto hatte die ganze Decke für sich geklaut und ich fror. ‘Nicht nett!‘, dachte ich, aber dann erinnerte ich mich, wie dünn er war. Ich konnte in der Dusche jede Rippe sehen und es machte mich traurig. Sicher war es ihm darum so kalt und ich war froh, dass er es mit der Decke nicht kalt hatte. Nur, ich musste aufs Klo. Dringend! Aber ich wollte Reto nicht aufwecken und schlich ganz leise aus dem Zimmer. Das war nicht einfach, mein Bein schlief noch und ich kämpfte mit dem Gleichgewicht. Ich öffnete die Tür und machte Licht. Aber da war nicht das Badezimmer, sondern ein Bett und ich erkannte im Licht Bruno. Mein Herz klopfte ganz schnell, ich löschte das Licht und verließ sofort das Zimmer. Hoffentlich hatte ich ihn nicht geweckt. Meine Beine zitterten und ich konnte mich nicht bewegen, starrte nur in den Gang und wusste nicht wohin. Ich traute mich nicht, hatte Angst, dass ich jemand weckte. Nicht dass jemand mit mir schimpfte. Ich wollte doch niemand stören. Aber wo ist das Badezimmer jetzt? Gestern habe ich es doch auch gefunden. Krampfhaft überlegte ich, kam aber auf keine Lösung und ich spürte, dass ich weinte. Dann öffnete sich die Tür vor der ich immer noch stand und ich starrte auf Bruno, der verschlafen vor mir stand. „Kann ich dir helfen?“, fragte er und ich konnte nur nicken.

„W-WC?“, stotterte ich erschrocken und er nahm mich an der Hand.

„Komm, ich zeige es dir.“



12. Ruhelose Nacht, Bruno



Jean-Luc nahm meine Hand und ich führte ihn ins Badezimmer. Auch wenn ich noch halbwegs schlief, spürte ich seine Unsicherheit. Ich wartete, bis er fertig war, und zeigte ihm dann, wo er das Zimmer von Reto findet. Marianne hatte mir am Nachmittag erzählt, dass er schnell die Orientierung verlor und auch wenn ich müde war, ärgerte es mich nicht. Er wirkte so verloren und ich zog ihn in meine Arme als er aus dem Bad rauskam. „Du b-bist lieb. Danke.“, nuschelte er an meiner Brust und ich strich ihm über den Kopf.

„Ich wollte nur sehen, dass du im richtigen Zimmer landest. Komm, ein bisschen Schlaf wird dir guttun, ist ja noch mitten in der Nacht. Sag mal, hast du kalt? Du zitterst ja am ganzen Körper.“

Er nickte und flüsterte mir zu: „Der Reto ha-hat mir die D-Decke geklaut.“

Ich rubbelte über seine Arme und den Rücken, bis er aufhörte, zu zittern. Dann führte ich ihn zu Retos Zimmer zurück und musste schmunzeln. Reto hatte sich wirklich so fest in die Decke eingewickelt, dass für ihn kein Zipfel mehr übrig blieb. „Warte kurz, ich hole dir eine Decke, damit du nicht mehr frieren musst.“ Als ich zurückkam, lag er schon im Bett und ich deckte ihn zu, gab ihm noch einen Kuss auf die Stirn. Er lächelte mich dankbar an und ein warmes Gefühl hüllte mein Herz ein. Ja, einen eigenen Sohn zu haben, wäre schon schön gewesen. Nun hatte ich zwei, zwar schon erwachsen aber immerhin. Jean-Luc war trotz seines Alters noch ein Kind, irgendwie. Noch einmal streichelte ich sein Gesicht und ging dann wieder in mein Bett. Auch ich war froh, wenn ich noch eine Runde schlafen konnte. Die Aktion hatte mir gezeigt, dass es nicht so einfach sein wird, wie ich dachte. Aber ich war bereit, das auf mich zu nehmen. Ich mochte Jean-Luc. In der kurzen Zeit, die ich ihn nun kannte, hatte er mein Herz erobert und er war ja auch ein echter Sonnenschein. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen, aber wenn ich ehrlich mit mir bin, war es vor allem seine Mutter, die mich anzog. Sie faszinierte mich - ihre Stärke und vor allem wie sehr sie ihren Sohn liebte, zeigten mir, dass sie genauso etwas Besonderes war wie Jean-Luc. Eine zarte Blume inmitten eines Dornengestrüpps. Der Gedanke brachte mich zum Lachen. Seit wann hatte ich so blumige Gedanken? Aber der Vergleich passte zu ihr. Wobei sie überhaupt nicht zerbrechlich wirkte. Die beiden hatten einfach auf Anhieb meinen Beschützerinstinkt geweckt und ich spürte, wenn es eine Frau gab, mit der ich zusammen sein wollte, dann mit ihr. Sie wusste, wie es auf einem Hof zuging, nicht wie Melanie, die nur ein bisschen Spaß mit den Pferden haben wollte, aber für die strenge Arbeit untauglich war. Zudem sah sie gut aus, zumindest gefiel mir ihr Aussehen sehr. Dass Mariannes Mann erst vor so kurzer Zeit ums Leben kam, war für sie nicht einfach. Allerdings hatte ich auch den Eindruck, dass sein Tod sie nicht sonderlich belastete. Im Gegenteil, das Wohl ihres Sohnes lag ihr mehr am Herzen, als alles andere. Das gab mir Hoffnung und ich wollte alles daran setzen, dass es ihr und Jean-Luc gut ging. Mit diesen Gedanken schlief ich irgendwann ein und viel zu früh wurde ich von meinem Wecker wieder geweckt. Trotz der ruhelosen Nacht fühlte ich mich gut ausgeruht und war gespannt, was der neue Tag so brachte.



Wie immer war ich der Erste der auf den Beinen war und während der Kaffee durch den Filter tropfte, genoss ich die Ruhe in der Küche. Ich liebte diese Zeit, die Stille und die Schmuserunde mit Basti, meinem rot-weiß getigertem Kater. Am Tage sah man ihn selten, aber in dieser frühen Morgenstunde genoss er die menschliche Gesellschaft und wurde zum absoluten Kampfschmuser. Manchmal saßen wir schweigend da, nur sein Schnurren durchbrach die frühmorgendliche Stille, oder ich erzählte ihm etwas. Je nach Laune. Heute war ich in Plauderlaune und ich erzählte ihm, was mich beschäftigte. Auch wenn ich keine Antwort bekam, wusste ich das er mir zuhörte. Er widersprach mir zwar nicht, aber manchmal hatte ich das Gefühl, dass er gewisse Sachen nicht gut fand. Dann hatte er so eine Art an sich, die mich dazu anregte, genauer darüber nachzudenken. Die Entscheidung, Reto zu mir zu holen, fand ebenfalls in so einer Gesprächsrunde mit Basti seinen Anfang. Mein Bruder wusste lange nicht, dass er einen Sohn hatte. Erst als Reto bewusstlos gefunden wurde und im Krankenhaus landete, meldete sich ein Amt und teilte ihm mit, dass er einen Sohn hatte. Seine Mutter hatte bis zu diesem Zeitpunkt nie irgendwelche Ansprüche geltend gemacht. Sie hatte mit ihm eine kurze Beziehung, die endete, bevor er in Amerika einen Job auf einer Farm annahm. Sie hatte immer wechselnde Beziehungen, konnte nie treu sein und das verletzte meinen Bruder sehr. In Amerika fand er nicht nur einen neuen Job, sondern auch eine ganz tolle Frau. Mittlerweile hat er zwei Söhne und eine Tochter. Die Nachricht über den unbekannten Sohn hatte ihn zwar erschüttert, aber er war nicht bereit, ihn zu sich zu holen. Er rief mich noch am selben Tag an und wir hatten ein langes Telefongespräch. Meinem Bruder war klar, dass er seinen Sohn nicht einfach dem Schicksal überlassen konnte und dass seine Mutter nicht die Richtige war, um ihm einen neuen Start ins Leben zu ermöglichen. Es war meine Idee, ihn zu mir zu holen und mein Bruder war sehr erleichtert. Durch einen DNA-Test wurde dann bestätigt, dass mein Bruder tatsächlich sein Vater war. Doch bis das Resultat hier war, lebte Reto bereits einen Monat bei mir und selbst wenn das Resultat anders gewesen wäre, hätte ich ihn nicht mehr vor die Tür gesetzt. Ich mochte ihn von Anfang an und es war schön, zuzusehen, wie aus dem verschlossenen jungen Mann, ein offener Mensch wurde. Seine Homosexualität störte mich dabei nicht, ich versuchte einfach, ihm zu zeigen, dass ich für ihn da bin. Dass ich ihm zuhörte, ihm half, wo ich konnte. Für Reto war das neu, bisher war es allen egal, was er trieb. Interessanterweise verstanden wir uns auf Anhieb sehr gut und als er hier ankam, wusste ich, dass ich richtig gehandelt hatte.

Seine anfängliche Scheu gegenüber den Pferden verlor er schnell und es gefiel mir, ihm so viel wie möglich über sie beizubringen. Wehmütig dachte ich daran, wie schön das mit einem eigenen Sohn gewesen wäre. Ich schmunzelte selbstvergessen vor mich hin. Nun hatte ich zwei 'Söhne' für die es galt, Verantwortung zu übernehmen. Mit Jean-Luc zog ein junger Mann bei mir ein, der eine größere Herausforderung war, als Reto. Auch wenn ich das Ausmaß seiner Behinderung noch nicht einschätzen konnte, war ich bereit, es zu versuchen. „Mein beiden Jungs“, der Gedanke gefiel mir. Basti schnurrte zur Bestätigung.

„Deine Jungs? Also, einer gehört immer noch mir, denke ich.“ Ein Kichern kam von der Tür her und ich zuckte zusammen, anscheinend hatte ich das wirklich laut gesagt? Marianne stand da und grinste, während ich spürte, dass ich rot wurde. „Öhm, ja, da hab ich wohl laut gedacht?“, versuchte ich mich zu entschuldigen. Sie nahm sich eine Tasse und goss sich ebenfalls Kaffee ein.

„Ja, hast du. Gestern war alles so chaotisch, irgendwie. Halt ein Überfall, oder wie man den sagt. Weißt du, Bruno, dein Angebot ist wirklich großzügig. Es fällt mir nicht leicht, Jean-Luc hier zurückzulassen, aber vielleicht ist es ganz gut so. Ich wollte immer, dass er irgendwann nicht mehr auf mich angewiesen ist. Ich habe nur Angst, dass es Reto überfordert, oder auch dich. Gestern war ich nur froh, dass es ihm gut geht, aber nachdem ich in Ruhe darüber nachgedacht habe, fand ich es doch unverschämt, wie wir dein Leben so über den Haufen werfen. Du musst dich nicht verpflichtet fühlen.“

Sie sah mich zerknirscht an und ich wollte nichts anderes, als sie in meine Arme zu ziehen. Doch ich sagte nur: „Glaube mir, das ist keine Pflicht. Ich habe meinen Neffen noch nie so glücklich gesehen, wie Gestern. Was auch immer die beiden verbindet, es hat sie beide erwischt und ich habe den Eindruck, dass es ihnen nur schaden würde, wenn sie jetzt getrennt werden. Jean-Lucs Art, mit den Tieren umzugehen, gefällt mir. Es wird ihm bestimmt gefallen, hier mit ihnen zu arbeiten. Mir gefällt auch, dass ich junges Leben um mich habe. Hier war es doch oft einsam, selbst wenn es manchmal auf dem Hof zugeht, wie in einem Bienenstock. Aber am Ende des Tages war ich mit Marlies allein. Vielleicht wunderst du dich, dass wir kein Paar sind, aber es hat nie zwischen uns gefunkt. Sie ist mehr eine Schwester, eine gute Freundin. Wir hatten beide Pech in der Liebe, das hat uns zu Leidensgenossen gemacht. Irgendwie.“ Ich zuckte mit der Schulter und sah zu ihr. Ein zauberhaftes Lächeln umspielte ihren Mund und mir wurde es ziemlich warm. Sie sah einfach hinreißend aus.

„Du musst dich nicht rechtfertigen“, kicherte sie und fuhr fort. „Ehrlich gesagt, mir geht es nur um das Wohl von Jean-Luc. Vielleicht bin ich da egoistisch, aber meine Beziehung zu meinem verstorbenen Mann war schon lange nicht mehr das, was sie mal war. Er hat nie gesehen, dass Jean-Luc immer noch sein Sohn ist. Halt mit ein paar Einschränkungen. Er zerbrach an dem Unfall, zog sich von seinem Jüngsten zurück und ertränkte seinen Kummer im Alkohol. Er war nie grob oder so, es war seine Hilflosigkeit, die ihm zu schaffen machte. Manchmal fragte ich mich, warum ich noch bei ihm blieb, aber dann habe ich an Jean-Luc gedacht, die Pferde waren sein ein und alles, das wollte ich für ihn nicht aufgeben. Schon seltsam, so zu denken. Eigentlich beschämend für mich, aber ich kann es nicht ändern. Auf dem Hof gab es immer genug zu tun und ich war so mit Jean-Lucs Therapien beschäftigt, dass ich nicht auch noch nach meinem Mann sehen konnte. Florian war da ganz anders. Kam vielleicht daher, weil er all die Geräte im Spital cool fand, weil sein Bruder besonders umsorgt wurde und er so von Anfang an auch in den ganzen Prozess, Aufenthalt im Krankenhaus, Reha, Therapien, miteinbezogen wurde. Meinem Mann brach es das Herz, als er seinen Sohn hilflos an all die Schläuche angeschlossen, sah. Ich erinnere mich nur zu gut, wie er aus dem Zimmer floh und im Gang zusammenbrach. Ich hatte damals einfach nicht die Kraft, mich auch noch, um ihn zu kümmern. Vielleicht war es falsch von mir, aber ich war überzeugt, ich müsse an der Seite meines Sohnes bleiben. Als wir dann auf den Hof zurückkonnten, mit Jean-Luc, da bemühte er sich noch um ihn, aber Jean-Luc erkannte ihn nicht, hatte sogar Angst vor ihm. Das Wissen, seinen Sohn verloren zu haben, war zu viel für Paul. Erst mit Schwänli fand er einen Weg, mit seinem Jüngsten so etwas wie Freundschaft aufzubauen. Aber eben da war er schon dem Alkohol verfallen.“ Seufzend endete sie ihre Erzählung und zuckte verlegen mit der Schulter. „Jetzt bin ich es, die sich rechtfertig. Sorry, wenn ich dich so vollgetextet habe. Aber ich kann mich nicht als trauernde Witwe sehen. Der Schock, als Jean-Luc verschwunden war, der Streit mit meinem Schwiegervater, die Fahrt hierher … Das hat mir gezeigt, dass auch mein Leben an einem Wendepunkt ist. Für Jean-Luc hat es schon begonnen, mal sehen, was ich nun daraus mache. Sicher muss ich zurück, Jean-Lucs Sachen holen, die er brauchen könnte. Dann muss ich mich mit meinem störrischen Schwiegervater aussprechen und überlegen, was mit dem Hof geschieht. Es wird sicher nicht leicht, aber es muss halt gehen. Florian ist bald mit der Rekrutenschule fertig, dann sehen wir weiter. Aber ich werde mich von Jacques nicht weiter tyrannisieren lassen, das steht fest.“

Ich weiß nicht wie, aber ich hatte während ihrer Rede ihre Hand ergriffen und drückte sie nun leicht. Sie sah mich schüchtern an und lächelte verlegen. „Marianne, wenn du ein neues Zuhause suchst, es würde mich freuen, wenn du auch herkommst. Dann kannst du bei Jean-Luc sein, vorausgesetzt, du möchtest das. Ich bewundere dich. Schon gestern, als wir geredet haben, da fühlte ich mich zu dir hingezogen. Ich verstehe aber auch, dass du Zeit brauchst. In der Zwischenzeit verspreche ich dir, dass ich alles mache, damit sich Jean-Luc wohlfühlt und auch Reto wird alles daran setzten, dass dem so ist. Ich wundere mich nur, dass es dir nichts ausmacht, wenn er mit einem anderen Burschen zusammen ist.“

„Danke für dein Angebot, Bruno. Das Jean-Luc mit Mädchen nichts anfangen kann, hat er mir mal erzählt. Er sieht in ihnen mich und er weiß, dass ich nicht auf seine sexuellen Wünsche eingehen kann. Florian hat die Aufgabe übernommen, ihn aufzuklären, nachdem er einem Jungen aus dem Dorf einen Kuss gab. Was für Jean-Luc einfach ein Zeichen war, um zu zeigen, dass er gerne mit ihm spielte, war für den Anderen eine Aufdringlichkeit. Dabei fanden meine Söhne raus, dass sich Jean-Luc von Männern angezogen fühlte, während Bilder von nackten Frauen, ihn abstießen. Ich habe mich danach lange mit einem Berater des Therapiezentrums unterhalten, während Jean-Luc eine Therapiesitzung hatte und danach konnte ich seine erwachende Homosexualität akzeptieren. Ich bin froh, dass er in Reto jemand fand, der es gut mit ihm meint. Hoffe ich zumindest. Jean-Lucs Begeisterung zu wecken, fiel sicher nicht schwer, aber wenn ich die beiden beobachte, denke ich, Reto empfindet dasselbe. Du hast mir ja gestern viel über ihn erzählt. Er hatte ebenfalls ein einschneidendes Erlebnis, dass ihn veränderte und wer weiß, vielleicht muss es so sein. Irgendeine höhere Macht die sie vereint, oder so. Ist es albern so zu denken? Vielleicht. Liebe geht manchmal seltsame Wege und wer bin ich, dass ich meinem Sohn im Weg stehen darf?“ “Seine Mutter?“, fragte ich dazwischen und Marianne kicherte. „Schon, aber das ist etwas, da kann ich ihm nicht reinreden. Das sind Erlebnisse, die er selber machen muss. Es ist einfach ein Schritt ins Erwachsen werden, einer, der sehr wertvoll für seine Entwicklung ist. Wenn die beiden aus dem Zustand ihrer Schockverliebtheit aufwachen und dann trotzdem zusammenbleiben wollen, dann ist es doch gut.“

Ich nickte, ja auch ich hatte mich 'Schockverliebt', in diese Frau, die ich erst einen Tag kannte und die mich in so kurzer Zeit faszinierte.

„Oh, guck Reto, Mama hält die Hand von Bruno! Die haben sich auch lieb. Schön!“

Erschrocken löste ich meine Hand und fühlte mich ertappt. Warum auch immer, aber ich fühlte mich, als hätte ich etwas Schlechtes getan. Marianne kicherte und begrüßte ihren Sohn, der Hand in Hand mit Reto in der Tür stand und der mich schelmisch angrinste. Die Hitze schoss mir in den Kopf und ich war sicher, dass ich glühte wie eine reife Tomate. Ich fühlte mich erleichtert, als Marianne sich Jean-Luc schnappte und ihn zu einem Gespräch unter vier Augen mitnahm. Reto füllte sich eine Tasse mit Kaffee und setzte sich zu mir an den Tisch. Basti war schon längst verschwunden, wahrscheinlich beglückte er eine der Katzendamen in der Umgebung mit seiner Anwesenheit oder war auf der Jagd nach Mäusen.



„Und?“

„Was und?“ fragte ich Reto und er verdrehte die Augen.

„Sie gefällt dir, nicht wahr?“

Knurrig antworte ich: „Geht dich nichts an.“, und der Frechdachs grinste mich frech an.

„Schon gut, sie ist eine Wucht. Ich mag sie. Ist 'ne echt tolle Mutter und wenn ich auf Frauen stehen würde, hättest du echt einen Konkurrenten.“

Ich verschluckte mich an meinem Kaffee und starrte ihn an. „Du bist nicht gerade frech, oder? Sie könnte deine Mutter sein! Also meine ich, ich habe da eher ein Anrecht, Anspruch auf sie zu erheben.“

Reto lachte laut auf und meinte dann nur: „Tja, Partner, jetzt hast du dich verraten. Du stehst auf sie, gib's einfach zu. Sie ist übrigens Freiwild, jetzt, wo sie solo ist. Schnapp sie dir, bevor es ein anderer tut.“

„Sie ist Witwe! Und das noch nicht allzu lange, spinnst du? Ich kann doch nicht einfach über sie herfallen!“ Reto zuckte nur mit den Schultern und brummelte etwas wie, ich mein ja nur, aber es wäre ja toll.

Irgendwie süß, dachte ich und neckte ihn meinerseits. „Ach, und wer kam händchenhaltend in die Küche? Musste Dir Jean-Luc zeigen, wo es lang geht?“ Nun war es Reto, der knallrot anlief. „Das ist unfair, du weißt, er braucht meine Hilfe.“ Ich strubbelte ihm durch die Haare und erntete ein entrüstetes ¨“Hey!“

„Ach, du darfst mich aufziehen und wenn ich es mache, ist es nicht in Ordnung?“

Reto machte eine abwägende Handbewegung, bevor er mir zur Antwort gab: „Nö, ist ja auch was anderes, ich darf in Jean-Luc verliebt sein, er ist ja keine Witwe.“ Ich musste mir echt das Lachen verkneifen, so ernst wie möglich, versuchte ich, seine Sticheleien zu ignorieren. Dass Marianne so einiges von unserem Gespräch wohl mitbekommen hatte, wurde mir erst bewusst, als sie anfing zu Lachen.

„Ich sehe schon, hier wird einfach über mich bestimmt. Aber es hilft nichts, ich muss zurück. Vorerst einmal. Ich habe Jean-Luc nochmals alles erklärt und ich denke, dass sollte funktionieren. Ich sehe zu, dass ich nächste Woche wiederkomme, und hoffe, dass auch Florian mitkommen kann. Jean-Luc hat ja seinen ganzen Lohn, den er bekommen hat, mitgenommen und wenn es keine Umstände macht, wäre ich froh, wenn er ein paar neue Sachen zum Anziehen bekommt. Ich hatte ja nicht damit gerechnet, dass er nicht mit mir zurückfährt. Ich werde dann bei meinem nächsten Besuch alles Nötige mitbringen.“

Reto und Jean-Luc hatten die Küche bereits verlassen und durch das Küchenfenster beobachtete ich, wie sie in Richtung Stall verschwanden. Marianne stand neben mir und folgte meinem Blick. „Magst du mitkommen? Helfen wir den beiden oder möchtest du schon bald losfahren?“ Mein Magen zog sich zusammen und ich fürchtete schon, sie würde darauf bestehen, gleich loszufahren.

„Klar! Los komm, dann kann ich mir schon einen Überblick verschaffen, wie es hier so ist, falls ich es mir überlegen sollte.“

Ich sah zu ihr und nickte. „Schön, dann zeige ich dir mein Reich.“, und machte eine einladende Geste. Gemeinsam folgten wir den Jungs in den Stall.



13. Jetzt bleibe ich hier, Jean-Luc



Etwas kitzelte meine Nase und ich blinzelte. Draußen war es schon hell und Reto streichelte mein Gesicht. Ich rutschte zu ihm und kuschelte mich fest an ihn. „Hi, Schlafmützchen, magst du nicht aufstehen?“, fragte er mich und ich schüttelte den Kopf. „Ich muss aber, denn ich sollte Bruno im Stall helfen. Außerdem vermisst dich Schwänli sicher.“

Ja, Schwänli, der war ja ganz allein! Hier kannte er ja noch nichts und ich muss ihm doch alles zeigen. Aber es war so schön, hier mit Reto zu sein, ich wollte wirklich noch etwas hier sein. „Be-be-komme ich einen Kuss?“ Ich spitzte meinen Mund und er lachte.

„Wann immer du möchtest.“, und er küsste mich ganz lieb. Das war so schön, das gefiel mir am besten. Das wollte ich den ganzen Tag machen. Nur, wie kann man so essen? Wenn man mit dem Mund zusammen ist? Mein Bauch brummelte und Reto hörte es. „Komm mit, dann gibt’s Frühstück. Ich könnte einen ganzen Zopf verdrücken. Mein Bauch knurrt auch.“ Widerwillig löste ich mich von ihm und zog mir etwas an. Reto nahm mich an der Hand und wir gingen zusammen in die Küche, wo Mama schon mit Bruno am Tisch saß. Sie redeten und Bruno hielt ihre Hand, das sah so lieb aus. Das wäre schön, wenn er auch mein Papa wäre. Nicht wie mein richtiger Papa, das wusste ich ja. Nein, einfach als lieber Papa, das würde mir schon gefallen. Nur wenn wir zusammen mit Schwänli waren, war mein Papa nicht komisch. Florian hat mir dann mal erklärt, dass es ihn und mich ohne Papa, nicht geben würde. Papa gehörte zu unserer Familie. Aber jetzt war er fort und da wäre es doch schön, wenn es wieder einen Papa gäbe. Darum habe ich gesagt, dass sie sich lieb haben. Mama fand es nicht so lustig und nahm mich mit raus aus der Küche. Dann hat sie mir gesagt, dass das nicht so einfach ist. Verstand ich nicht. Für Reto und mich war es ja auch einfach. Warum nicht auch für sie? Aber wir haben auch gehört, wie Reto und Bruno redeten. Da ist sie in die Küche gegangen und hat etwas Lustiges gesagt. Darum dachte ich, so schlimm war es nicht, obwohl sie ein bisschen mit mir geschimpft hatte.

Reto kam zu mir und wir gingen zu den Pferden. Auf dem Weg fragte ich ihn, ob Bruno nun mein neuer Papa wird und er hatte gelacht. „Wer weiß, ich glaube, die Zeichen stehen gut.“

„Die Z-zeichen? Was bedeutet das?“ Reto sah mich an, zuerst dachte ich, er denkt ich wäre blöd, aber dann legte er seinen Arm um meine Schultern.

„Das bedeutet, Bruno wird rot, wenn ich ihn necke und deine Mama fand es nicht lustig. Zumindest versuchte sie, mit uns böse zu sein. Weißt du, manche Leute versuchen so, ihre Gefühle zu verstecken. Vor allem Verliebte verhalten sich dann so komisch.“

Das war eine lustige Idee. „Du meinst, wenn sie dann böse spielen, dann sind sie es gar nicht?“

„Genau! Glaub mir, das ist ein ganz sicheres Zeichen.“

Schön, ja, das wäre sicher toll. Mama und ich hier, zusammen mit Schwänli und Reto. Mama hatte mir gesagt, dass ich hierbleiben darf. Aber auch, dass sie zu Großvater zurück müsse. Das war ein komisches Gefühl, ich konnte mich nicht erinnern, dass ich je alleine und ohne sie war. Aber ich war ja nicht alleine. Reto wohnte hier und das gefiel mir am besten. Ich hatte ihn von Anfang an sehr gerne und die Sache mit dem Küssen ist einfach schön. Ich habe Florian auch immer geküsst, aber das war etwas anderes. Da hatte ich nie das schöne Gefühl, dass in meinem Bauch kitzelte.

Kaum waren wir im Stall, wieherte Schwänli und ich rannte zu ihm. Dabei stolperte ich, weil mein Bein einfach machte, was es wollte. Schwänli hat mich ganz dumm angeguckt, als ich auf dem Boden lag und ich war sicher, er lachte mich aus. Reto aber nicht. Der half mir beim Aufstehen und dann gingen wir zu Schwänli. Ich schimpfte mit ihm, dass er frech wäre, aber das war ihm egal. Er schubste mich mit seinem Kopf und knabberte an meinem Hosenboden, wo ich normalerweise ein paar Rüebli versteckt hatte. „Nein, mein Guter, die hast du nicht verdient. Du hast mich ausgelacht. Dafür gibt’s nur Heu.“

Enttäuscht schnaubte Schwänli und Reto kicherte von der Boxentür her. „Sei nicht so streng zu deinem Pferd. Er hat dich doch gerne. Er wollte dir doch nur sagen, dass es nicht so schlimm ist, wenn man stolpert und fällt.“ Ich fragte Reto darauf, ob das auch so ist wie mit den Verliebten und er nickte. Also dass mit dem verliebt sein, war schon eine seltsame Sache. „Dann darf ich auch lachen, wenn jemand anderes hinfällt. Oder wenn du vom Pferd fällst?“

„Bei mir schon, aber bei Fremden kann das schlecht sein.“

„Aha, dann ist das nur bei den Verliebten so.“

Gut, ich hatte wieder etwas gelernt. Das wollte ich dann Florian erzählen. Er fehlte mir. Wir waren immer zusammen, wenn er in der Schule war, kam er immer am Abend nach Hause. Aber mit dem Militärzeugs, da konnte er nicht mehr heimkommen. Also, nicht so oft.

Reto rief mir zu, ob ich nicht auch helfen wolle und Mama und Bruno kamen auch in den Stall. Aber diese ‚Verliebtengeschichte‘ gab mir zu denken. Bin ich jetzt auch so komisch? Bruno bat mich, Schwänli zusammen mit Ariele auf eine eigene Weide zu bringen, damit sie sich aneinander gewöhnen konnten, da sie ja beide die Kutsche ziehen sollten. Schwänli war ganz aufgedreht. Tanzte wie ein Wilder und ich hatte Mühe, dass er brav neben Ariele lief. „Bist du jetzt auch so ein Verliebter?“, fragte ich mein Rössli und zur Antwort quietschte er so lustig, dass ich lachen musste. Mein Ross also auch, diese Verliebtheit war wohl ansteckend. Aber ich konnte Schwänli verstehen. Wenn diese Verliebtheit eine Krankheit war, war es eine Gute, denn es fühlte sich einfach toll an. Ich sah zu, wie Schwänli um Ariele herumtanzte, aber sie ignorierte ihn. Ich musste lachen und rief Schwänli zu: „Führ dich nicht so wichtig auf. Sie mag dich, ich weiß es, das habe ich heute gelernt. Die tun dann immer so, als wollen sie nicht. Aber wenn du lieb bist, hat sie dich bald auch gern. Dann kannst du mit ihr die Kutsche ziehen und wir können ganz weit fahren. Das gefällt dir dann.“ Es war so schön, den beiden zuzusehen und ich vergaß, dass ich ja den Anderen auch helfen wollte. Erst als sie mich riefen, löste ich erschrocken den Blick von den beiden Pferden und ging zum Stall zurück.

Ich entschuldigte mich, dass ich die Zeit vergessen hatte und Mama schimpfte ein bisschen. Aber nicht fest, weil Bruno auch nicht böse war, dass ich die Zeit vergessen hatte.

An diesem Tag war viel los auf dem Hof, immer wieder kamen Leute, die ihre Pferde besuchten und mit ihnen ausritten. Alle freuten sich auf die neuen Pferde und Schwänli wurde von vielen bewundert. Ich glaube, er freute sich auch über die vielen Besucher und ich musste ein paar Mal unsere Geschichte erzählen. Mama fuhr kurz nach dem Mittagessen weg. Aber weil so viel los war, war es nicht so traurig. Und sie versprach ja, bald wieder zu kommen.

Sybille und Petra kamen auch und wollten später mit Sybilles Pferd, einem Haflinger, namens Joggeli, ausreiten. Vielleicht durften wir mit Schwänli mit, aber zuerst wollten sie und Reto Hausaufgaben machen.

Sie begrüßten mich, als würde ich zu ihnen gehören und das fühlte sich richtig schön an. Zuhause machten alle einen großen Bogen um mich, aber die Mädchen drückten mich und freuten sich, mich zu sehen. Ich erzählte ihnen, dass mich Reto ganz lieb hat und dass er mir seinen Penis gezeigt hat. Die Mädchen kicherten und Reto bekam ein rotes Gesicht. Dann erklärten sie mir, dass ich das nicht so offen sagen darf. Dass das ein Geheimnis zwischen mir und Reto wäre und dass es niemand sonst wissen muss. War Reto jetzt böse auf mich? Verunsichert sah ich zu ihm, während mir Petra das alles erklärte. Petra zupfte an meinem Ärmel und ich sah wieder zu ihr. „Hast du mir zugehört? Jean-Luc?“ Ich nickte, aber ich fühlte, dass Reto nicht so glücklich war.

„Schimpfst du jetzt mit mir?“, fragte ich ihn leise und er schüttelte langsam den Kopf.

„Nein, aber Petra hat Recht. Du musst das wirklich nicht jedem erzählen. Das ist nur zwischen uns, ich erzähl ja auch nicht jedem, dass die beiden zusammen sind. Damit kannst du jemand wütend machen.“

„Oh, tu-tut mir leid.“ Das machte mich nachdenklich und musste an Florian denken, der mir mal etwas Ähnliches gesagt hat. Das war nicht einfach, ich wollte doch nur, dass alle wissen, wie lieb ich doch Reto habe und er mich auch.

Ein Schubser in meine Seite riss mich aus meinen Überlegungen und Sybille grinste mich an. „Hei, hör auf, Trübsal zu blasen, unter uns ist das ja nicht so schlimm. Wir sind Freunde! Aber sonst geht das wirklich niemand etwas an. Willst du uns bei den Aufgaben helfen? Komm - vergessen wir das Ganze, sonst muss ich noch erzählen, was ich mit Petra zusammen mache und dann lauft ihr Jungs noch schreiend fort.“

Reto starrte die Mädchen mit großen Augen an und murmelte: „Beherrsche dich, das ist etwas, dass ich nicht wirklich wissen will.“ Weil alle lachten, vergaß ich, dass ich traurig war, ihre Fröhlichkeit war einfach ansteckend. Wirklich ganz anders als Zuhause. Ich mochte die beiden. Nicht so wie ich Reto lieb hatte, aber es fühlte sich schön an.



Im Garten saßen wir um einen Tisch und ich sah ihnen zu. Sie erklärten mir, dass sie ihre Notizen vom Zolli ins Reine schreiben müssen, und bald hatten sie mich vergessen. Ich schnappte mir einen Zettel und schrieb mir Zettel, wie Zuhause. Damit ich in der Nacht nicht wieder das Bad suchen musste und Retos Zimmer wiederfand. Bis die drei fertig waren, hatte ich auch meine Zettel fertig und erklärte Reto, was ich damit im Sinn habe. Er fand das eine tolle Idee und ich war stolz auf mein Werk. Jetzt wohnte ich ja hier und ich wollte ihnen zeigen, dass ich nicht blöd bin. Ich hatte zudem jetzt Freunde, die mich lieb hatten. Reto fragte Bruno, ob es in Ordnung wäre, wenn wir zusammen ausreiten und er beschloss, uns zu begleiten. So viel Neues stürmte auf mich ein, aber das gefiel mir.



14. Ausritt, Reto



Jean-Luc hatte mich zwar in Verlegenheit gebracht, aber ich konnte ihm einfach nicht richtig böse sein. Sein zerknirschtes Gesicht zeigte mir, dass es ihm leidtat. Er war so unschuldig, und ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich an seiner Stelle war. Es war nicht nur sein Äußeres, dass ich liebte, sondern seine ganze Art wie er war. Für ihn war alles neu, Marianne hatte mir erzählt, dass er keine Freunde hatte und dass er vielleicht Sachen sagen oder tun würde, die peinlich werden konnten. Jean-Luc wäre manchmal wie ein Kleinkind, aber gleichzeitig war er auch so Erwachsen. Ein Mann, kein kleiner Junge. Eine interessante Mischung, die mich faszinierte.

Die Mädchen nahmen seinen Ausrutscher locker und Sybille neckte mich. Damit war die bedrückende Situation schnell wieder gelöst. Während wir unsere Aufgaben lösten, malte Jean-Luc 'Schilder' für die Türen. Das fand ich gut und ich zeigte ihm, dass ich stolz auf ihn war. Er hatte eine Lösung für seine Orientierungslosigkeit gefunden und ich fand, die Idee war gar nicht dumm.

Bruno bestand darauf, uns zu begleiten, obwohl die beiden Mädchen kurz eine Schnute zogen. Brunos Argumente überzeugten sie, dass es vielleicht besser wäre, wenn ein Erwachsener uns bei diesem ersten Ritt mit Schwänli und Jean-Luc begleitete. Außerdem lockte er sie mit dem Versprechen, sie in einem Restaurant zu einem Coupe einzuladen. Bald ritten wir los. Sybille mit ihrem Joggeli, Petra durfte Buster reiten, der heute nicht von seiner Besitzerin besucht wurde, Bruno auf Ariele und ich bekam Mira zugeteilt, eines der ruhigeren Pferde, das meinem Götti selber gehörte und das ich sehr mochte. Mira war ebenfalls ein Freiberger, aber sie war nicht weiß, sondern braun, mit schwarzer Mähne. Bruno fand in der Sattelkammer noch ein Zaumzeug, dass jemand vergessen hatte, aber weil kein passender, Sattel übrig war, der nicht einem der Privatpferde gehörte, ritt Jean-Luc ohne mit. Wir waren eine lustige Truppe und Jean-Luc kam aus dem Staunen nicht raus. Die Gegend gefiel ihm und als wir das Restaurant erreichten, konnte er sich an den Bergen in der Ferne kaum sattsehen. Immer wieder fragte er, wie sie heißen. Die Serviertochter war voll cool, brachte Brotstückchen für die Pferde und Jean-Luc erzählte ihr begeistert, dass Schwänli ein weiser Freiberger ist. Geduldig hörte sie zu, obwohl schon andere Gäste böse zu uns hinsahen. Jean-Luc störte das jedoch nicht weiter und als er einfach spontan die nette Frau in den Arm nahm, lachte sie freundlich und klopfte seinen Rücken. Bruno war das zwar peinlich, aber sie schüttelte nur lachend den Kopf und sagte, das wäre schon in Ordnung.

Sie winkte sogar, als wir wieder nach Hause ritten. Unser Ausflug war für alle lustig, Bruno war begeistert von Ariele und Schwänli führte sich auf, als wäre er der King und die anderen Pferde wären seine Leibeigenen. Jean-Luc trieb seinem Pferd schnell die Flausen aus und Bruno beobachte ihn dabei sehr aufmerksam. War Jean-Luc auf seinen Beinen manchmal tapsig, so schien er mit Schwänli verwachsen zu sein. Auch meine Freundinnen bewunderten die beiden und ich hatte den Eindruck, als wären sie neidisch auf die Harmonie, die zwischen meinem Schatz und seinem Pferd herrschte.

Zuhause versorgten wir die Pferde und Sybille und Petra verließen uns. Marlies war auch wieder zurück und am Küchentisch erzählten wir alle durcheinander von unseren Erlebnissen. Marianne rief am Abend kurz an und teilte uns mit, dass sie gut angekommen war. Jean-Luc kuschelte sich irgendwann an mich und gähnte herzhaft und Bruno meinte, es wäre nun wirklich Zeit, um ins Bett zu gehen.

Jean-Luc und ich duschten wieder gemeinsam. Wir genossen das gegenseitige Einseifen, das Spiel unserer Hände auf dem anderen Körper. Er war so zart, neckte Stellen die ich noch nie als empfindsam betrachtete und ich erwiderte diese Berührungen. Dieses Erkunden war einfach sanft. Gefühlvoll, so anders wie das raue gefickt werden von den Typen, an die ich mich verkauft hatte. Seine Hand umschloss mein Glied, streichelte es, umspielte mit dem Finger meine Eichel. Mein Orgasmus war keine Explosion, sondern löste sich in sanften Wellen und ich fühlte mich leicht, ja schwerelos. Ein tiefes Glücksgefühl durchströmte mich. Mein Blick ruhte auf Jean-Luc, der fasziniert zusah, wie sich mein Sperma mit dem Wasser vermischte und weggespült wurde. Ich zog ihn in meine Arme, hob sein Kinn und küsste ihn. Es fühlte sich einfach richtig an und er strahlte vor Freude, als ich ihn ebenfalls mit streichelnden Bewegungen zum Höhepunkt führte. Er seufzte wohlig, drängte sich fester an mich und mit zitternden Beinen klammerte er sich an mich, während er von seinem Höhepunkt überrollt wurde. So hätte es vielleicht sein müssen, wenn ich nicht angefangen hätte, meine Jugend wegzuschmeißen, dachte ich. Ich genoss es, diese übersprungenen Erfahrungen mit ihm nachzuholen. Was wir hier unter der Dusche geteilt hatten, war für mich genauso neu, wie für ihn. Jean-Luc war genauso ein junger Mann wie ich, für andere mag er behindert sein, für mich war er ein Geschenk. Er hatte auf Anhieb etwas in mir geweckt und nun durfte ich ein Teil von ihm sein - So Kostbar, so Rein ...

Ein energisches Klopfen an der Tür unterbrach meine wirren Gedanken und es fiel uns schwer, diesen Kokon aus feuchter Hitze, der uns wohlig umhüllte, zu verlassen.

„Wir sind bald fertig, nur noch Zähne putzen!“, rief ich und draußen vor dem Bad brummte Bruno: „Wird auch Zeit, es gibt noch andere Leute im Haus!“

Gemeinsam trockneten wir uns ab, putzten die Zähne und mit einem triumphierenden Lächeln schoben wir uns an Bruno vorbei, welcher mir einen spielerischen Klaps auf den Hintern gab. „Knutscht im Bett, das Bad gehört allen!“

„Meine Schilder! Sonst weiß ich nicht, wo das Bad ist!“, Jean-Luc zog mich ins Zimmer und griff nach den Blättern, die er beschriftet hatte und hielt sie mir hin. „Klebst du sie an die Türen? Damit sie richtig sind?“ Ich nickte und nahm die Tesarolle. Schnell hatte ich die Zettel an der richtigen Tür festgemacht und Jean-Luc nickte zufrieden, als ich zurückkam.

Jean-Luc krabbelte schon ins Bett und hielt die Decke einladend auf. „Kommst du?“ Ich ließ mich nicht zweimal bitten und gesellte mich zu ihm. Vertrauensvoll schmiegte er sich an mich, sein Rücken an meinen Bauch und war sogleich eingeschlafen. Glücklich zog ich ihn näher und hauchte noch einen Kuss auf seinen Kopf. Obwohl ich ziemlich aufgedreht war, schlief auch ich schnell ein und seit Langem hatte ich keinen Albtraum, der mich mitten in der Nacht aufschrecken ließ. Der Montag fing für mich seit langer Zeit entspannt an und ich freute mich schon darauf, dass ich nach der Schule Zeit mit Jean-Luc verbringen konnte.



15. Nicht nur Kleider braucht der Mann, Bruno



Reto war in der Schule und Jean-Luc blieb bei mir auf dem Hof. Die Stallarbeit war schnell erledigt und ich freute mich über seine Unterstützung. Doch wenn ich dachte, er würde mir helfen, das Heu vom Heuboden zu holen, musste ich schnell feststellen, dass es ihm wichtiger war, einige der Pferde zu striegeln, die sich besonders hingebungsvoll im Dreck gewälzt hatten. Hatte es einen Sinn, ihm zu sagen, dass das unnötig war? Die Tiere würden auf der Weide sein, da wurden sie wieder schmutzig, die Arbeit war eigentlich umsonst. Eigentlich müsste ich wütend sein, aber als ich ihn beobachtete, faszinierte mich sein Umgang mit den Pferden so sehr, dass sich mein anfänglicher Zorn in Rauch auflöste. Die Tiere vertrauten dem fremden Jungen, ließen alles mit sich machen. So als spürten sie, dass er ein gutes Herz hat und sie sorgsam mit ihm umzugehen hatten. In diesem Moment wurde mir klar, dass die Zeit und meine täglichen Routinen eine neue Dimension erreichten. Zu sehen, wie er die Pferde nach dem Striegeln voll Stolz auf die Weide führte und ihnen das Gefühl vermittelte, das schönste Ross im Stall zu sein, wärmte mein Herz. Aber es gab auch Arbeiten, die wichtig waren und ich bat ihn, mitzukommen. Er sah mich mit einem zufriedenen Lächeln an und fragte nur, ob ich ihm bei den letzten beiden Pferden helfen möchte. Dann könne er mir helfen. Ich war sprachlos, musste mir ein Schmunzeln verkneifen und tat das, worum er mich bat. Warum? Ich konnte es nicht sagen. Vielleicht weil es eine Unterbrechung zum Alltäglichen war? Es war neu und es wurde mir bewusst, wie oft ich ohne über etwas nachzudenken, handelte. Wir schafften zwar nur die Hälfte der Arbeiten, die ich eingeplant hatte, aber irgendwie störte es mich nicht. Mit Jean-Luc zu arbeiten war eigenwillig, langsam und immer wieder musste ich innehalten und ihn beobachten. Akribisch genau verteilte er das Heu und es hätte mich nicht erstaunt, wenn er mir die genaue Anzahl der verteilten Halme genannt hätte. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass Zahlen keine Bedeutung für ihn hatten. Es ist eigenwillig, was im menschlichen Gehirn vorging - er konnte lesen, zwar nur langsam, aber es ging. Buchstaben schrieb er nicht, er malte sie. Das, was für mich selbstverständlich war, war für ihn eine gewaltige Anstrengung. Doch das lernte ich erst mit der Zeit.

Der Morgen verging viel zu schnell. Schon rief Marlies zu Tisch und Jean-Luc sah mich verdattert an. „Du wolltest mir doch noch die Kutsche zeigen, müssen wir wirklich jetzt schon essen gehen?“

„Ja, sonst schimpft Marlies, sie hat es nicht gerne, wenn wir sie warten lassen.“

„Oh, ist Reto auch da? Warum hat er nicht Grüezi gesagt?“ Ich legte einfach meinen Arm um seine Schulter und erklärte ihm, dass Reto über den Mittag nicht heimkommt, weil die Zeit zu knapp ist. Gemeinsam betraten wir das Haus und während dem Essen fragte ich Marlies, ob sie mit Jean-Luc einkaufen gehen könnte. Sie wusste sehr wohl, dass ich es überhaupt nicht leiden konnte, wenn ich mir neue Klamotten kaufen musste. Ihre Antwort war schlicht nein. Das wäre eine Männeraufgabe. Sie würde eh nicht das Passende finden und fand, dass mir der Ausflug guttun würde. Jean-Luc kicherte als ich sie mit einem finsteren Blick bedachte und versicherte mir todernst, dass er auch lieber mit mir einkaufen wollte. Ich knurrte ergeben und er fand das komisch.

Auf meine Frage, was daran lustig sei, antwortete er nur lapidar: „Du spielst böse, bist du aber nicht. Ist wie diese Verliebtheit-Sache. Reto hat mir das erklärt.“ Dabei nickte er ernst und strahlte mich voller Stolz an. Marlies schluckte zuerst, bevor sie in schallendes Gelächter ausbrach und ich verstand gar nichts mehr. Ja, Marlies und ich lebten hier auf dem Hof, aber nie wäre es mir in den Sinn gekommen, etwas anderes in ihr zu sehen. Wir waren Freunde, aber weder sie noch ich wären auf die Idee gekommen, mehr zu wollen. Sie war eher wie eine große Schwester, die mir bei der Bewirtschaftung des Hofes half. Nicht mehr. Ich erklärte ihm das und seine Reaktion verblüffte mich. Ganz ernst sah er mir in die Augen, bis ein Lächeln sein Gesicht erhellte. „Mama hat diese Verliebtheit-Sache ausgelöst. Darum schimpfst du, auch wenn du nicht böse bist.“ Ich gab mich geschlagen, konnte ich da widersprechen? Die Stimmung war so locker wie schon lange nicht mehr. Oft saßen Marlies und ich schweigend am Tisch, besprachen nur das Nötigste. Aber mit Jean-Luc kam auch ein neuer Schwung in die Bude und das tat richtig gut.



Unser Männerausflug in die Modewelt wurde ein lustiges Abenteuer. Das Thema ‚Grundausstattung‘ war schnell erledigt - die Verkäuferin an der Kasse jedoch war von Jean-Luc verwirrt, da er ihr genau auf die Finger sah, während sie die Preise einscannte. Schon beim Anprobieren bemühte sie sich um uns und da ist ihr wohl aufgefallen, dass er sich nicht so wie andere Kunden verhielt. Leise fragte sie mich, ob er mein Sohn sei. Als ich verneinte, sah sie mich erschrocken an. „Aber das ist ja sicher eine gewaltige Herausforderung, auf so 'einen' aufzupassen! Das muss eine große Verantwortung für Sie sein.“ Dabei sah sie mich schräg von der Seite her an. Wahrscheinlich hatte ich sie ziemlich dämlich ausgesehen, ich war viel zu überrascht über ihre Fragen. Irgendwie ärgerte es mich aber auch, dass sie so abfällig über Jean-Luc sprach. So als wäre er gar nicht hier.

Jean-Luc, der durchaus mitbekommen hatte, was sie sprach, lächelte die Frau nur an und sagte zu ihr. „Ich bin nicht so 'einer'. Ich bin Jean-Luc. Man muss nicht auf mich aufpassen, ich bin Erwachsen und Reto ist mein Freund.“ Ihr giftiger Blick, den sie mir darauf zuwarf, hätte mich wohl töten sollen. Dass ich ihr diesen Gefallen nicht tat, erhöhte die Spannung zwischen dieser impertinenten Person und mir, erheblich. Jean-Luc zupfte an meinem Ärmel und ohne auf die unverschämte Person einzugehen, sagte er zu mir: „Komm Bruno, die ist dumm, die weiß gar nichts.“ Das saß und ihr wurde wahrscheinlich bewusst, dass sie sich daneben benahm. Beschämt murmelte sie eine Entschuldigung. Ich denke, sie war ziemlich erleichtert, als wir den Laden verließen.

Jean-Luc schien ihr Verhalten nicht weiter zu belasten und ich beschloss, einen Schulfreund zu besuchen, der im Nachbardorf eine Sattlerei betrieb und auch Reitkleidung verkaufte. Ich fand, Jean-Luc sollte geeignete Stallkleidung, bequeme Reithosen und Stiefel bekommen, statt dauernd in Jeans herumzulaufen. Walter begrüßte uns freudig und es war sehr angenehm, nicht so blöd angemacht zu werden, wie vorhin im Einkaufsladen. Schnell fanden wir Reithosen und Stiefel, die Jean-Luc gefielen und während ich mit Walter Neuigkeiten austauschte, fiel mir auf, wie Jean-Luc immer wieder einen der Westernsättel bewunderte. Beinahe ehrfürchtig strich er mit den Fingern darüber und fragte mich, ob sein Geld denn für den Sattel, reichen würde. Walter, der neben mir stand, schmunzelte, als ich ihm erklärte, dass sein Geld nicht reichen würde und Jean-Luc sah den Sattel bedauernd an. Sein „Schade.“ konnte man kaum hören, so leise murmelte er. Walter boxte mir in die Seite. „Bekommst ihn zu einem Sonderpreis, ist ein Ladenhüter.“, raunte er mir zu und ich wusste, dass er schwindelte. Ein Blick zu Jean-Luc ließ mich Grinsen. „Deal?“ fragte ich Walter und er nickte. Bestimmt war es nicht gut, wenn ich meinen Schützling so verwöhnte, aber was soll's. Ich war zwar kein Millionär, aber ich musste auch nicht am Hungertuch knabbern und den Burschen glücklich zu sehen, löste eine herrliche Beschwingtheit in mir aus. So als hätte ich ein besonderes Geschenk bekommen und nicht er. Walter und ich zogen uns kurz zurück und besprachen, wann er den Sattel bringen sollte. Auch war mir wichtig, dass er genau kontrollierte, ob der Sattel passte und das Pferd nicht drückte. Zudem sollte es ja eine Überraschung werden. Schnell reifte die Idee und Walter versprach, am Dienstag vorbeizukommen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass Pausenzeit war und ich rief Urs, Retos Klassenlehrer an. Dienstags hatte Reto laut Stundenplan 'nur' Sport am Nachmittag und vielleicht war Urs einverstanden, dass Jean-Luc mit Reto einen Tag in der Schule verbrachte. Kurz schilderte ich ihm die Situation und Urs fand die Idee gut und ohne zu Zögern sagte er zu.

Walter lud uns noch zu einem Kaffee in sein kleines 'Reiterstübchen' ein, dass ihm als Besprechungszimmer für Kundenwünsche diente. Wir saßen auf der gemütlichen Eckbank und Walter fragte Jean-Luc über sein Schwänli aus. Er erzählte ihm freudig alles, was Walter wissen wollte und woran er sich erinnern konnte. Die Suche nach seinem Pferd hatte ich bisher nur von Reto und Marianne gehört und ich war beeindruckt, wie er dabei vorgegangen war. Wir plauderten noch über meine Pläne mit den Kutschenfahrten und auf ein mal war Jean-Luc ruhig. Sein Kopf lehnte schwer an meiner Schulter und Walter meinte nur: „War wohl ein bisschen viel Aufregung für ihn heute. Meine Kinder sind dann auch oft eingeschlafen, wenn der Tag allzu anstrengend war. Das war immer erholsam für meine Frau und mich. Er ist zwar irgendwie Erwachsen, aber trotzdem nicht anders wie meine Kleinen damals. Ich denke, morgen sehen wir uns ja wieder und es ist besser, wenn du ihn jetzt heimbringst.“ Wir verabschiedeten uns und es gelang mir, ihn soweit zu wecken, dass er mit zum Auto kam. Dort schlief er – sobald er saß - gleich weiter, doch als wir auf den Hof fuhren und ich den Wagen abstellte, war er hellwach. „Ist Reto schon da?“, fragte er und bevor ich antworten konnte, sprang er aus dem Wagen und rannte hinkend aufs Haus zu, wo Reto gerade zur Tür rauskam. Kopfschüttelnd sammelte ich unsere Einkäufe ein und trug sie ins Haus. Marlies nahm mir einige der Taschen ab und versprach, die Klamotten gleich zu waschen, damit Jean-Luc morgen etwas Frisches zum Anziehen hatte. Nach dem Abendessen zog ich Reto zur Seite und weihte ihn in meine Pläne ein. Nach diesem gemeinsamen Tag konnte ich ein wenig nachvollziehen, was Reto in Jean-Luc sah. Obwohl ich nie an Männern interessiert war, hatte ich kein Problem damit, wenn die beiden sich küssten. Irgendwie fand ich es niedlich, ihnen dabei zuzusehen.



16. Schule, Jean-Luc



Ich sollte mit Reto in die Schule. Ich war noch nie in einer richtigen Schule seit ich in dem weißen Zimmer wach wurde. Florian spielte Schule mit mir. Aber mit anderen Schülern, das war neu. Ich war ganz aufgeregt und fragte immer wieder, ob ich auch das Richtige angezogen hatte. Irgendwann hat Bruno einfach gesagt, wir fahren jetzt. Unsicher folgte ich Reto und wurde von allen, die ich vor dem Zolli getroffen hatte, freudig begrüßt. Nur der Junge, der nicht nett war, sah mich nicht an. Ich musste nur zuhören, das Rechnen verstand ich überhaupt nicht, aber dann, nach einer Pause sprach er über Menschen wie mich. Das war lustig, vor allem weil er auch einen Film zeigte. Aber die waren anders als ich. Viele konnten nicht laufen, oder saßen nur ruhig da. Das erstaunte mich, denn Florian und Mama hätten das nie geduldet. Immer musste ich etwas tun, dann brauchte mich Schwänli oder die anderen Pferde mussten umsorgt werden. Da konnte ich doch nicht einfach still sitzen, oder? Eines der Mädchen, Miriam, schluchzte während des Films, weil er sie traurig machte. Ich bin zu ihr und habe ihr dann die Hand gehalten. Reto kam auch und das hat ihr geholfen, denk ich. Als der Film fertig war, hat sie mich ganz viel gefragt, aber alles konnte ich nicht beantworten. Aber ich erzählte ihr, wie Florian mit mir Schule gespielt hat, dass ich darum schreiben kann und dass ich oft mit Mama in eine spezielle Schule musste, wo ich Laufen und Sprechen lernte. Andere von Retos Kollegen hörten uns auch zu und fragten Sachen. Das war wirklich schön, vor allem weil ich von ihnen nicht komisch behandelt wurde. Keiner sagte, ich wäre blöd. Das war anders wie in Cerlatez. Da war ich nur der 'Blöde'. Sogar der komische Bub, den sie Stoffel nannten, wurde freundlich. Er entschuldigte sich bei mir, obwohl ich nicht so recht wusste, warum. Er hatte mir ja nichts getan. Er ärgerte zwar Reto und sagte Sachen, die nicht nett waren, aber das war so wie bei dieser Verliebten-Geschichte. Ich spürte, dass er es nicht so böse meinte, wie es klang. Das sagte ich dann auch und alle schauten mich überrascht an. Einige kicherten darüber und Urs räusperte sich, bevor er versuchte, ihnen zu erklären, was ich wohl meinte. Reto war richtig stolz auf mich und als es in die Mittagspause läutete, nahm er mich ganz lieb in den Arm und gab mir einen Kuss. Miriam, die vorher so traurig war, machte dabei ein Foto von uns. Alle kamen mit, als wir in das Restaurant gingen. Das war irgendwie chaotisch, aber auch ganz lustig. Sogar Urs kam mit, meinte, jemand müsse auf uns aufpassen. Das gefiel natürlich einigen nicht so, aber am Schluss freuten sie sich, denn er zahlte ihnen ihr Getränk. Das Turnen war spannend, aber weil ich mit dem Ball nichts anfangen konnte, sah ich ihnen nur zu.

Dann war die Schule fertig. Ob ich wieder einmal mit durfte? Das hatte mir wirklich gefallen. Die anderen Schüler verteilten sich und Reto und ich stiegen in den Bus, der uns auf den Hof zurückbrachte. Miriam kam auch mit, ihren Fotoapparat hatte sie die ganze Zeit dabei und ich fragte mich, was sie mit Reto tuschelte.

Dort erwartete mich mein Schwänli, den ich kaum erkannte. Er sah aus, wie ein richtiges Cowboypferd! Richtig chic! Genauso, wie ich es mir geträumt hatte. Bruno hielt ihn am Zügel und als er zu mir kommen wollte, ließ er ihn los. Staunend bewunderte ich mein Ross und getraute mich fast nicht, aufzusteigen. „Los, rauf mit dir!“, rief Bruno und Reto nickte mir aufmunternd zu und sagte: „Ja, steig‘ auf und Miriam macht Fotos von dir und Schwänli. Vielleicht ist eines dabei, aus dem wir ein tolles Poster machen können.“

Der Sattel war richtig bequem, nicht so hart wie der alte Militärsattel zu Hause. Auch Schwänli fühlte sich mit dem Sattel wohl, das spürte ich. Zuerst trabte ich mit Schwänli um den Hof, dann wechselten wir auf die Weide, wo es viel Platz hatte. Der neue Sattel war so schön und bequem und ich war sicher, Schwänli freute sich auch darüber. Im Galopp rannten wir über die Weide und ich fühlte mich wie ein richtiger Cowboy. Vor Bruno und den Anderen stoppte ich, und Bruno kam zu mir und fragte, wie mir sein Geschenk gefiel. Sein Geschenk, für mich! Ich jauchzte, noch nie hat mir jemand so etwas Großes und Schönes geschenkt. Ich sprang von Schwänli und drückte mich ganz fest an ihn und wusste nicht, wie ich ihm meine Freude zeigen konnte. Aber einen Schmatzer bekam er doch von mir. Er freute sich mit mir und das war so schön, dass ich auch Reto küssen musste. Alle auf dem Hof mussten wissen, wie glücklich ich war. Mein Schwänli war das schönste Pferd auf der Welt und Reto mein liebster Freund. Seit ich ihn kannte, war jeder Tag nur schön. Es war nur schade, dass Mama und Florian nicht dabei waren. Ich drückte Reto ganz fest an mich und sagte ihm, wie lieb ich ihn und Bruno hatte. Ihn aber mehr, weil er mein Schatz ist. Das gefiel Schwänli nicht so, er drängte sich dazwischen und als ich mit meinem Pferd deswegen schimpfte, ließ er die Ohren hängen. Zumindest wirkte es so. Ich war überzeugt, dem Schelm war es egal, aber er musste halt zeigen, dass er auch noch da war und mich lieb hat. Schwänli trottete hinter uns her und als ich ihm den Sattel abnahm, zeigte mir Bruno, wo ich den Sattel versorgen konnte. Schwänli schmeichelte um Miriam herum, die ihm ein paar Rüebli zusteckte. Reto stand neben mir und hatte seinen Arm um mich gelegt und amüsierte sich ebenfalls über Schwänlis Bettelei. Aber eigentlich wusste er auch, Rüebli gab es nur als Belohnung, wenn er brav war. Ich rief ihn und er kam sofort zu mir. Ich fragte ihn, was denn ein braves Pferd macht, wenn es etwas will und er wusste genau, was er jetzt tun sollte. Ich hatte mal im Zirkus zugesehen, wie die Pferde Tricks machten und ich hatte ihm ein paar Sachen beigebracht. Miriam hatte ihren Fotoapparat in der Hand und ich sagte „Bitte“. Schwänli streckte mir sein Vorderbein entgegen und schnaubte leise. Ich schüttelte sein Bein und als ich losließ, stellte er es wieder ab. Dann führte ich ihn vom harten Steinboden weg zu einem Grasstreifen in der Nähe vom Garten. Dort sagte ich „Sitz“ und Schwänli setzte sich. Das sah immer lustig aus, wie ein viel zu großer Hund und alle klatschten. Bruno kam zu mir und fand, dass ich wirklich ein besonderes Händchen für Pferde hätte. Dabei war das doch nur ein Spiel und nichts Besonderes. Aber ich spürte, dass er sich richtig freute. Komisch, auf einmal musste ich daran denken, wie Großvater immer böse war, wenn ich das mit den Tricks zeigte. Er sagte immer, er hätte keine Zirkuspferdezucht, dass wäre Blödsinn. Ein Ross muss gut zu reiten sein oder einen Wagen ziehen, aber nicht so dummes Zeug machen. Das machte mich immer traurig. Hier, weit weg vom Großvater, waren alle begeistert und das machte mich sehr glücklich. Niemand schimpfte und sagte das wäre Blödsinn. Irgendwann kam Miriams Mama und holte sie ab. Als wir endlich ins Bett gingen, war ich so müde, dass ich am liebsten eingeschlafen wäre. Aber ich wollte doch mit Reto kuscheln, weil er mich so glücklich gemacht hatte. Mit allem was ich mit ihm erlebt hatte. Ja, ich hatte ihn richtig lieb und er mich auch. Er zeigte es mir mit Küssen und Streicheln. Seufzend rieb ich mich an ihm, spürte, dass unsere Penisse hart wurden und wir streichelten sie, bis es klebrig wurde. Das war jedes Mal so schön und ich spürte, das gefiel auch ihm, da war ich sicher. Ich fühlte mich so frei, alles war leicht und bunte Sterne flackerten, dass ich nicht mehr wusste, wo ich war. Ich fragte Reto, ob das bei ihm auch so war und er nickte. Das machte mich sehr glücklich. Florian hatte gesagt, wenn ich einmal einen Schatz hätte, wäre das mit meinem Penis viel schöner. Weil ich dann nicht selber streicheln muss. Ich hab ihm das nicht so geglaubt, aber Florian hatte Recht, mit Reto war es wirklich viel schöner. Das musste ich ihm sagen, Florian musste wissen, dass er Recht hatte. Ich kicherte und Reto fragte mich warum, da hab ich ihm das erzählt und er tat ganz erschrocken. „Nein, Jean-Luc, das wirst du ihm nicht erzählen!“, rief er und ich durchschaute ihn.

Das war wieder so eine Verliebten-Sache. „Doch, er muss doch wissen, dass er recht hat!“ Reto kitzelte mich und ich musste Lachen.

Dann sagte er: „Glaub mir, der weiß das bestimmt. Der hatte bestimmt schon ein Schätzeli, mit dem er mehr als nur geschmust hat.“ Das konnte ich ihm aber nicht so richtig glauben. Reto war nicht lange böse mit mir und wir sind dann bald eingeschlafen.



17. Alles nur Show, Reto



Die turbulente Zeit wich viel zu schnell dem Alltag. Aber etwas änderte sich nicht. Mit Jean-Luc wurde es nie langweilig. War es zu Beginn sein Äußeres und seine Hilflosigkeit die mich anzogen, so spürte ich immer mehr, dass es wirklich Liebe war, die uns zusammen hielt. Mit seinem Bruder hatte ich mal darüber gesprochen, als er mir erzählte, wie er seine Frau, Sahra kennenlernte. Sie ist seit ihrer Kindheit blind und arbeitete als Physiotherapeutin in dem Heim, in dem Florian sein Praktikum absolvierte. Er verstand sehr gut, wie ich mich fühlte und nahm mir die Angst, dass ich Jean-Luc zu sehr beeinflusst hätte, was die Wahl seiner sexuellen Ausrichtung betraf. Florian versicherte mir, dass Jean-Luc sich gewehrt hätte, wenn es ihm nicht gefallen würde. Ein Jahr nachdem ich Jean-Luc kennengelernt hatte, heiratete Florian seine Sarah und die Hochzeit der beiden war ein rauschendes Fest. Ich habe noch nie eine Braut gesehen, die so gestrahlt hat … Aber ich greife vor …



Jean-Luc brachte Leben auf den Hof und meine Schulkameraden tauchten immer wieder bei uns auf. Einerseits, weil sie die Pferde toll fanden, andererseits, weil sie alle Jean-Luc mochten. Selbst Christoph, der mich oft gequält hatte, indem er mich im Klo, oder wo er mich gerade erwischte verbal oder auch körperlich angriff, wurde einer meiner besten Freunde. Dabei war es Jean-Luc, der herausfand, was sein wahres 'Problem' war. So wie er Wickys Angst kurierte, so erklärte er schlicht, dass Christoph sich gleich verhält wie die Stute. Weil er Angst hatte, wäre er böse und würde darum andere anpöbeln. Schlichte Jean-Luc Logik, da er nur an das Gute in seinen Mitmenschen glaubte. Das erklärte er mir völlig ernst, als ich mich mal wieder darüber aufregte, wie mich Christoph in der Schule hänselte. Ich konnte das nicht so glauben, ich war überzeugt, dass Christoph es auch so meinte, wie es bei mir ankam.

Wie Recht Jean-Luc hatte, zeigte sich, als Christoph an einem Abend völlig aufgelöst auf dem Hof auftauchte. Wir wollten uns gerade einen gemütlichen Fernsehabend machen, als Bruno mit einem schniefenden Stoffel in die Stube kam. „Ich hab ihn im Stall gefunden, bei Schwänli. Er sagte, du kennst ihn. Stimmt das Reto?“

„Ja, wir gehen zusammen in dieselbe Klasse.“,antwortete ich. „Was wolltest du bei Schwänli?“, fauchte ich Stoffel an und er schluchzte.

„Der Gaul bringt doch Glück, das brauch ich dringend. Mein Alter hat mich erwischt, als ich mit Thomas in meinem Zimmer gefummelt habe. Dabei sollten sie doch weg sein! Sie wollten an einer Veranstaltung teilnehmen!“, schniefte er verzweifelt.

Ich starrte ihn an als hätte er drei Hörner auf dem Kopf und Jean-Luc kicherte. „Du hast was?“, fragte ich ungläubig und er wand sich unter Brunos Griff. „Ich, ja – ich weiß, das klingt jetzt komisch, aber ich bin wie du. Ich weiß es schon lange. Ich wollte nicht, dass meine Eltern das herausfinden. In ihren Augen ist so etwas pervers und man sollte solche kranke Menschen in ein Heim sperren. Darum bin ich abgehauen und weil ich nicht wusste, wohin – da kam mir in den Sinn, dass der weiße Gaul dir Glück brachte. Ich – ich dachte, er würde mir auch Glück bringen. Ich habe Schiss, wenn ich heimgehe, was passiert dann? Sperren die mich irgendwo ein?“

Ja, Christoph hatte wirklich Angst und ich musste an Jean-Luc denken, der genau dasselbe gesagt hatte. Sein fieses Verhalten war gespielt, reiner Selbstschutz also. Bruno sah man an, dass er geschockt war. Jemand zu verurteilen, weil er nicht dem Standard entsprach, war nicht sein Stil. Für ihn zählte nur der Charakter und er war der Meinung, dass es egal war, ob jemand Grün, Blau oder Schwul war, die Person war immer dieselbe. Zum Ersten Mal war ich froh, dass meiner Mutter meine sexuelle Ausrichtung egal war – und nicht nur die. Obwohl mich ihr Desinteresse schmerzte und mich in meine Sucht getrieben hatte. Aber das war nichts zu dem, was Christoph gerade durchmachte. Im Nachhinein war mein Verhalten dumm, damals mein einziger Trost. Während wir in eine Art Schockstarre verfielen, handelte Marlies ganz pragmatisch. Christoph bekam einen Teller vom Abendessen vorgesetzt und sie rief unseren Lehrer an. Urs kam so schnell er konnte und nachdem ihm Stoffel seine Geschichte erzählt hatte, rief Urs bei seinen Eltern an und überzeugte sie, dass ein klärendes Gespräch wohl angebracht wäre. Auch bei Thomas rief er an, aber so wie es aussah, hatte der keine Probleme mit seinen Eltern. Seine Eltern schienen da wohl vernünftiger zu sein, denn das Telefongespräch mit Urs verlief sehr ruhig, hin und wieder lachte er sogar.

Stoffel wurde kurzerhand im Gästezimmer einquartiert und statt unserem geplanten Fernsehabend, wir wollten eine Dokumentation über Meere anschauen, gab es für Stoffel viele aufbauende Worte. Zuerst von den Erwachsenen und später dann bei mir im Zimmer. Er hatte viele Fragen an mich und irgendwie gefiel es mir, dass er in seiner Not zu uns gekommen ist. Auch wenn er mich oft zur Weißglut brachte, konnte ich nicht mehr wütend auf ihn sein. Vielmehr tat er mir leid, denn auch wenn er sich wie ein Arsch benommen hatte, so schlimm war es ja doch nicht. Naja, ärgerlich schon, irgendwie, aber so, wie er gerade drauf war, tat er mir jedenfalls leid. Jean-Luc hörte uns aufmerksam zu bis er der Meinung war, es wäre genug geredet und mit einem Memory-Spiel daher kam. Bevor ich etwas sagen konnte, hatte er die Karten auf dem Boden ausgebreitet und fing an, das Spiel aufzubauen. Natürlich wusste ich, dass Jean-Luc bei dem Spiel nicht viele Chancen hatte und auch Stoffel bemerkte dies schnell. Aber statt die Situation auszunutzen, half er ihm in der Hoffnung, ich würde es nicht merken. Schnell entbrannte eine Schlacht zwischen uns, bei der es darum ging, wer Jean-Luc am meisten Karten zeigen konnte. Als Jean-Luc nach der dritten Runde wieder die meisten Karten hatte, sah er mich und Stoffel streng an. „Ihr schummelt! Ich habe noch nie gewonnen!“

Wir lachten und Stoffel fragte ihn: „Freust du dich denn nicht, wenn du auch mal gewinnst?“

„Doch schon, aber es ist nicht richtig. Trotzdem danke.“ Spontan zog er Stoffel in den Arm und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Ein eifersüchtiger Stich fuhr durch mich, aber Jean-Luc beruhigte mich, in dem er sich an mich kuschelte und mich ebenfalls küsste. Leise raunte er mir zu: „Aber meinen Penis zeige ich ihm nicht, der gehört nur dir.“ Das war ein entwaffnendes Argument und ich musste schmunzeln.

Ich kraulte seinen Hals, das mochte er besonders gerne und küsste ihn zurück. Stoffel sah uns fasziniert zu und grinste. Sehr spät fielen wir in mein Bett und schliefen zu dritt ein, weil Stoffel viel zu faul war, um in sein zugewiesenes Zimmer zu gehen. Am nächsten Tag erwartete Stoffel ja das Gespräch mit seinen Eltern und etwas Schlaf würde uns allen guttun.

Er kam mit mir mit in die Schule, Bruno brachte uns mit dem Auto hin. „Damit ihr keine Dummheiten macht! Denkt daran, nach der Schule treffen wir uns im Lehrerzimmer!“ Eine gut gemeinte Tat, allerdings war nach der letzten Stunde kein Stoffel mehr da. Ich suchte ihn überall, zuletzt hatte ich ihn mit seinen Kumpel gesehen, aber die wussten auch nicht, wohin er plötzlich verschwunden war. Thomas und ich suchten jedes Klo ab, sogar bei den Mädels sahen wir rein und wurden von Kreischen und Kichern begrüßt. Außer Atem kamen wir fünfzehn Minuten zu spät im Lehrerzimmer an und wurden bereits erwartet.



18. Der verlorene Sohn, Bruno



Ich erinnerte mich genau an diesen Tag. Jean-Luc wollte unbedingt mitkommen, weil er doch auch ein Freund von Christoph war und ihm doch helfen müsse. Er bettelte so lange, bis ich zusagte. Warum nicht? Ich musste still lächeln, denn ich war überzeugt, dass er einfach den Trubel genoss. Langsam trudelten die anderen Eltern ein, pünktlich um vier sollte dieses Gespräch stattfinden, doch von den Jungs keine Spur. Jean-Luc, der mit mir die anderen begrüßte, zupfte mich plötzlich aufgeregt am Ärmel meines Hemdes und sagte nicht gerade leise: „Guck Bruno, das ist doch die Frau, die im Laden so dumm war!“ Tatsächlich! So wie es aussah, war also Christophs Mutter die Verkäuferin aus dem Kleiderladen. Da ich viele der Eltern, deren Kinder in derselben Klasse von Reto waren, nicht so gut kannte, wusste ich im Kleidergeschäft nicht, wer vor mir stand. Wenigstens ging es ihr gleich, denn in ihrem Blick sah ich, dass sie mich ebenfalls erkannte. Ich wollte Jean-Luc gerade sagen, er dürfe so etwas nicht so laut sagen, als sich gerade die Mutter von Thomas vorstellte. Im Gegensatz zu Helen Caduff war sie sehr nett und verwickelte Jean-Luc in ein Gespräch. Der strahlte sie an, als wäre es das Normalste, was er tat. Nur sein Stottern verriet, wie aufgeregt er war. Bei Menschen, die er kannte und mit denen er viel zu tun hatte, viel sein Stottern kaum noch auf, außer, wenn er aufgeregt war. Die Einzigen, die noch fehlten, waren die Jungs, um die es ja ging. Eine Viertelstunde zu spät stürmten Thomas, Reto und noch ein Kumpel von Christoph aufgelöst ins Lehrerzimmer. „Wir finden ihn nirgends!“, riefen sie und die hitzige Diskussion zwischen Eltern und Lehrer verstummte.

Eine keifende Frau Caduff tobte: „Was soll das heißen? Was habt ihr perversen Saugofen mit meinem Sohn gemacht! Ihr habt ihm diese schweinischen Flausen in den Kopf gesetzt, ist ja kein Wunder, bei dem Umgang! Ein Dubel, der nichts versteht und dann so einer aus der großen Stadt! Da wundert es mich nicht, dass mein Bub versaut wird!“

Alle starrten sie an. Sogar ihrem Mann viel der Kiefer wortwörtlich runter. „Helen, halt die Klappe!“, fuhr er sie wütend an. „Es reicht! Dein Verhalten ist unmöglich!“ Entschuldigend sah er uns an, bevor er weitersprach. Man sah nur zu gut, dass es ihm peinlich war, wie sich seine Frau aufführte. „Das Ganze ist mir jetzt peinlich, ehrlich! Eigentlich geht das jetzt niemand etwas an, aber mir reicht es mit dir, Helen. Du bist zu weit gegangen! Er ist unser Sohn! Er ist es und wird es doch immer bleiben, er ist doch immer noch derselbe! Eigentlich ist es doch nichts Schlimmes, wenn er statt einem Mädchen einen anderen Jungen heimbringt!“

Betretenes Schweigen lag auf allen Anwesenden, einzig Frau Caduff fauchte ihren Mann an: „Ihr Männer seid doch alle die gleichen Schlappschwänze! Wenn man euch braucht, zieht ihr den Schwanz ein! Du hast doch auch gesagt, dass du das nicht duldest! Warum änderst du deine Meinung und fällst mir so in den Rücken? Vor all den Leuten hier!“

„Weil ich darüber nachgedacht habe. Ganz einfach. Sicher war es ein Schock gestern, aber verdammt, Christoph ist unser Sohn! Als er weg war, bereute ich meine harten Worte und nach dem Telefongespräch mit Herrn Moser habe ich mich schlaugemacht. Schließlich bietet das Internet viele Informationen. Während du schliefst und endlich still warst, habe ich ein Büchlein gefunden, das genau darüber schrieb. Über Akzeptanz, Respekt, wie schön die Liebe ist und ich erkannte, dass es wirklich egal ist, in was, oder in wen, sich unser Sohn verliebt. Hauptsache er ist glücklich dabei. Und das ist es doch, was wir wollen, oder? Einen glücklichen Sohn, der selbstbewusst im Leben steht!“

Herr Caduff wurde immer lauter und seine Frau immer bleicher, bis sie dann heulend zusammen brach. „Aber in der Bibel steht doch 'Ein Mann soll nicht bei einem Manne liegen.', und die Kirche akzeptiert es auch nicht! Er wird in der Hölle landen ...“, hauchte sie verzweifelt und sah um Zustimmung bettelnd zu den anderen Eltern, die das ganze peinlich berührte.

Herr Caduff nahm seine Frau in den Arm und streichelte ihr behutsam über den Kopf. „Nein Schatz, das glaube ich nicht, Gott liebt alle Menschen und ich denke, ihm ist es egal, wen wir lieben. Es geht doch darum, dass wir überhaupt lieben. Dass wir uns nicht dauernd die Köpfe einschlagen. Gott hat Mördern verziehen, dann wird er unserem Sohn auch verzeihen. Immerhin hat Christoph niemanden umgebracht, oder?“ Herr Caduff hielt seine schluchzende Frau im Arm und so langsam entspannte sich die Situation. Doch die Frage, wo Christoph sein könnte, ob er nicht doch eine Dummheit begangen hatte, wurde laut. Suchpläne wurden aufgestellt, die Jungs zählten seine Lieblingsorte auf.

Jean-Luc, der dem Spektakel fasziniert zugesehen hatte, lächelte plötzlich. „I-ich weiß, w-wo er ist!“ Rief er plötzlich in das Stimmengewirr. Alle verstummten, Frau Caduff setzte schon zu einem „Wie will so einer etwas wissen ...“an, verstummte aber sofort, als ihr Mann ihr einen mahnenden Blick zuwarf. Reto, der neben Jean-Luc stand, legte seinen Arm um ihn, als ihn alle mit Fragen überhäuften. Jean-Luc wand sich unwohl, doch der Arm um seinen Schultern gab ihm Halt und Schutz.

Eingeschüchtert von dem ganzen Tumult stotterte er. „E-er ist b-bei Schwänli. Be-bestimmt.“ Er suchte meinen Blick und fuhr fort: „Da wo du ihn ge-gefunden h-ha-hast. Er ha-hat doch so gr- große A-Angst. Schwänli be-be-schützt ihn.“ Plötzlich kam Hektik auf, alle riefen durcheinander und Reto küsste Jean-Luc stürmisch, um ihm zu zeigen, dass seine Idee gut war. Das schien der beste Gedanke zu sein und einstimmig wurde beschlossen, bei uns auf dem Hof mit der Suche zu beginnen. Urs fuhr mit uns mit, die anderen Eltern folgten uns und kurze Zeit später hielten wir auf dem Hof. Wir stürmten in den Stall, doch Schwänli war weg. Kein Pferd, kein Christoph war zu sehen. Marlies, die von dem Trubel angezogen wurde, hatte nichts gesehen, oder mitbekommen. Wieder war es Jean-Luc, der bei der Panik ruhig blieb und still lächelte er zuversichtlich. „Er ko-kommt schon zu-zu-rück, Schwänli bringt ihn heim. Er pa-passt auf. Be-besser wir trinken e-etwas.“

Ich musste schmunzeln. Jean-Lucs Vertrauen in sein Pferd war unerschütterlich und seine Ruhe ansteckend. Bald versammelte sich die ganze Schar im Garten. Immer mehr tauchten auf, das Verschwinden von Christoph hatte wohl die Runde gemacht und bald versammelten sich die ganze Klasse, mit ihren Eltern auf meinem Hof. Da man aber erst sehen wollte, ob Jean-Luc Recht behielt mit seiner Vermutung, dass Schwänli wieder zurückkommt, wurde beschlossen, nicht einfach loszustürmen.

Marlies, die mit den vielen Leuten auf dem Hof genauso überfordert war, wie ich, kam zu mir und versuchte den Überblick zu behalten. Jemand brachte Würste mit und andere Getränke. Das Ganze hatte bald mehr von einer Grillparty, als von einer bevorstehenden Suche. Ich beobachtete, wie Christophs Eltern verloren am Rande des Gewühls standen und genauso wie ich, nicht wussten, was sie davon halten sollten. Jean-Luc zog Reto hinter sich her und ging auf die beiden zu. Frau Caduff löste sich von ihrem Mann und nahm ihn einfach in den Arm. Leider hörte ich nicht, was gesprochen wurde, doch irgendwie ahnte ich, dass in der Frau eine Wandlung vorging. Irgendwann, es war bereits dunkel, beschlossen einige der Eltern aufzubrechen und die Suche nach Pferd und Christoph zu beginnen. Doch bevor sie aufbrachen, hörten wir Hufgetrappel und wie aus dem Nichts steuerte ein weißes Pferd zielstrebig auf Jean-Luc zu. Auf seinem Rücken saß ein verstörter Christoph und stammelte dauernd: „Er hat einfach umgedreht, einfach so – umgedreht ...“

Jean-Luc schmiegte den Kopf an sein Pferd und lobte es während Christophs Eltern ihren Sohn überglücklich in die Arme zogen. Die Party wurde nun richtig ausgelassen und das glückliche Ende von Christophs Flucht ausgiebig gefeiert.



Nach diesem Vorfall war ich auch überzeugt, Schwänli, oder vielleicht lag es auch an Jean-Lucs sonnigen Gemüt, brachte allen nur Glück und ich konnte das Verhalten von Jean-Lucs Großvater immer weniger verstehen. Jean-Luc bereicherte unser Leben hier auf das Wertvollste. Manchmal beobachtete ich, wie die beiden selbstvergessen irgendwo schmusten, und beneidete sie um ihr Glück. Wobei sich in den nächsten Jahren auch bei mir in Sachen Liebe etwas tat. Marianne war nach dem Tod ihres Schwiegervaters die Alleinerbin des Hofes und da das Gehöft für so viele Jahre ihre Heimat war, wollte sie es nicht aufgeben. Das konnte ich gut nachvollziehen und nachdem Reto seine landwirtschaftliche Ausbildung beendet hatte, übernahm er meinen Hof. Jean-Luc wollte nicht mehr in den Jura zurück, wo er nach seinem Unfall nie richtig Willkommen war. Ich wusste, mein Hof war in guten Händen.



19. Am anderen Ende des Landes, Marianne Bonnet



Es war seltsam. Der Hof war ohne meinen Jüngsten viel zu ruhig. Jacques empfing mich mit einer grimmigen Mine, aber nachdem ich ihm ordentlich die Meinung gehustet hatte, sah er ein, dass er falsch gehandelt hatte. Bevor er sich zurückzog, brummte er noch, wenigstens brachte der Gaul dem Jungen Glück. Ich hatte mich während der Fahrt ziemlich aufgeheizt, mir dauernd überlegt, wie ich den alten Kauz zurechtweisen würde. Seltsamerweise verflog nach seinem Gebrummel meine Wut. Ich spürte, dass ihm sein Handeln leidtat. Immerhin war es ja doch ein unglücklicher Zufall, dass mit der Geburt des Fohlens sein Leben auseinandergerissen wurde. Er hatte seine Frau sehr geliebt, auch wenn er oft blind war, was die Bedürfnisse anderer anging. Ich versuchte damals wie heute, ihn zu verstehen. Richtig gelingen wollte es mir zwar nicht, aber ich wusste auch, dass hinter seiner harten Schale ein weicher Kern steckte. Nur sah man diesen weichen Kern selten. Einzig Jean-Luc lockte diese weiche Seite in ihm in ganz seltenen Fällen hervor. Zum Beispiel, wenn ein neues Fohlen auf die Welt kam, dann verband die beiden ihrer Liebe zu den Pferden.

Müde von all den Ereignissen ging ich früh zu Bett. Ein kurzes Gespräch mit Jean-Luc bewies mir, dass ich richtig gehandelt hatte, denn er sagte mir, dass er mich nicht vermisst, weil hier so viel los ist.

Aber es war seltsam, er fehlte mir. So viele Jahre war er mein Baby, der Mittelpunkt meines Lebens. Ich arrangierte mich mit Jacques, doch wie das Leben so spielt, im Sommer verschlechterte sich sein Gesundheitszustand und im Herbst dieses Jahres starb auch Jacques. Florian, mein Ältester beendete seinen Militärdienst und fing seine Ausbildung als Heilpädagoge an, besuchte hin und wieder seinen Bruder, genauso wie ich Jean-Luc so oft besuchte, wie ich konnte. Wenn ich in Frauenfeld war, sah Florian nach den Tieren und half mir mit dem Hof, wenn es seine Freizeit zuließ. Es war schön, wie Jean-Luc in der Ferne aufblühte und waren zu Beginn meine Besuche nur wegen ihm, änderte sich der Besuchsgrund immer öfter. Bruno trat immer mehr in den Vordergrund und es schmeichelte mir, wie er mich umwarb. Nicht aufdringlich, aber mit Kleinigkeiten. Ein Strauß Rosen, mal ein Ausflug mit der Kutsche, einfach so kleine Aufmerksamkeiten. Auch die Art, wie er mit Jean-Luc umging, zeigte mir, dass er kein Hallodri war. Zudem sah er richtig gut aus. Zwar nicht das ausschlaggebende Argument, für mich zählten vielmehr die inneren Werte, aber schwärmen durfte ich ja trotzdem. Der erste Kuss war für mich eine Offenbarung und aus einem wurde mehr. Natürlich spürte Jean-Luc die Veränderung sofort. Es war, als hätte er einen speziellen Sensor dafür. Nie hatte ich einen glücklicheren Bub erlebt, als in dem Moment, als er uns beim Küssen im Garten erwischte. Noch heute muss ich Lachen, wenn ich an seine Worte denke: „Jetzt hat Mama auch den Verliebten-Virus. Das ist schön, dann bin ich nicht mehr alleine damit.“ Dass sein Bruder diesem 'Virus' ebenfalls hatte, wusste er noch nicht. Aber Florian lernte in diesem Sommer seine Frau kennen und ein Jahr später heiratete er sie. War für den alten Jacques der weiße Hengst ein Fluch, so wurde er für Jean-Luc, Florian und mich ein Glücksbringer, der unser Leben zum positiven veränderte. Natürlich war es nicht nur ich, die Hin und Her fuhr. Bruno besuchte mich genauso oft und Jean-Luc kam mit Reto jedes Jahr für ein paar Wochen im Sommer zu uns. Schwänli war natürlich auch mit von der Partie und es war eine wahre Freude, wie er mit den anderen Pferden über die Weiden raste. Ich wusste, diesen Hof aufzugeben, würde ich nie über das Herz bringen. Doch für alles gab es eine Lösung und Reto, dem das Leben auf Brunos Hof sehr gefiel, machte eine Ausbildung zum Landwirt.

Ariel wurde ebenfalls stolze Mama, dem Fohlen konnte man ansehen, wer sein Vater und einer Laune der Natur folgend, war das Fohlen genauso schneeweiß wie seine Eltern. ‘Ja, und morgen ist nun mein großer Tag‘, dachte ich und lächelte still vor mich hin, während ich weiter meinen Jungs draußen zusah. Denn nach zwei Jahren hielt auch bei mir das Glück Einzug, da ich endlich meinen Bruno heirate. Schritte näherten sich mir und ein starker Arm legte sich um mich. Sanft pustete Bruno über meinen Hals und als ich mich ihm zuwandte, küsste er mich innig. Die Zukunft lag uns zu Füssen und ein tiefes Gefühl von Zuneigung und Liebe hüllte mich ein.



20. Zum Schluss, morgen heiratet Mama, Jean-Luc



Bruno hat ja Schwänli dem Metzger abgekauft, damit er seine Hochzeitskutsche ziehen konnte. Das war immer sehr schön und wir hatten viele Gäste, die sich so eine Kutschenfahrt wünschten. Mir gefiel es, wenn die Braut in ihrem weißen, selten auch mal buntem Kleid, den Ehrenplatz in der Kutsche hatte. Und bald ist Mama die Schönste in der Kutsche. Ich freute mich sehr, denn dann würde Bruno mein Ersatzpapa werden.

Aber bis es soweit war, dauerte es, weil Reto zuerst seine Schule fertigmachen musste. Marlies hatte auch schon geheiratet und ich glaube, das war auch so ein Virus wie die Verliebtheit, die uns befallen hat. Alle heiraten. Nur Reto und ich können nicht richtig heiraten, aber wir sind offiziell Partner. Damit er immer auf mich aufpassen kann und wenn etwas passiert, darf er so alles wissen und Mama muss nicht herkommen. Eigentlich schade, ich hätte ihn gerne in einem weißen Kleid gesehen. Wir machten aber trotzdem eine schöne Kutschenfahrt und die ganze Familie war dabei. Das war vor einem Jahr.

Reto hat seinen Papa endlich auch kennengelernt. Weil Bruno ihm gesagt hat, dass er heiratet, ist er extra von Amerika gekommen. Sogar mit seiner ganzen Familie. Aber ihre Sprache, Englisch, verstehe ich nicht. Aber das ist nicht so schlimm und seine Kinder mochte ich trotzdem. Sie versuchten sogar, mit mir deutsch zu reden. Jetzt habe ich auch Freunde aus Amerika und ich freue mich sehr, weil es so weit weg ist - darum ist es doch etwas Spezielles.

Petra und Sybille wohnen auch bei uns. Petra macht jetzt die Sachen, die Marlies machte und Sybille ist Reitlehrerin geworden. Petra hilft mir auch, bei meinen Geschichten, die ich auf der Schreibmaschine tippe. Aber sie versucht, mein Getippsel so abzuschreiben, dass es trotzdem ich bin, der es geschrieben hat. Nur manchmal hat sie etwas geändert, weil sie meinte, dass würde sonst niemand verstehen. Morgen schenke ich die Blätter Mama, bestimmt freut sie sich, weil sie ja alles zu einer großen Geschichte machen will. Ich freue mich für Mama, sie hat immer so viel Arbeit gehabt, bevor Bruno sie Lieb hatte. Jetzt muss sie nicht mehr alleine sein, sondern Bruno hilft ihr. Und ich helfe Reto auf dem Hof, wir haben immer zu tun. Sybille macht zwar Reitunterricht, aber sie hilft uns natürlich auch. Und wir haben immer noch Pensionäre, also Pferde, die uns nicht gehören, aber hier leben, weil ihre Besitzer keinen eigenen Stall haben.

Das Allerschönste ist aber, Schwänli ist jetzt auch Papa. Mit Ariele hat er ein Fohlen bekommen. Ein Mädchen. Das es auch so weiß ist wie er, finde ich ganz besonders schön, es hätte ja auch ein braunes sein können. Aber weil er ja so ein besonderer Hengst ist, hat die Natur gedacht, es müsse so sein. Alle haben es lieb und es gibt keinen Großvater, der schimpft und das Fohlen nicht gern hat. Aber manchmal muss ich trotzdem mit ihr schimpfen, so wie jetzt. Klaut sie mir doch einfach einen Zettel, wo ich gerade drauf geschrieben habe. Aber richtig böse kann ich nicht sein, und sie springt so lustig damit herum. Hoffentlich kann Petra noch lesen, was da drauf steht.

Ja, warum sie mir den Zettel klauen konnte, ist ganz einfach. Ich sitze gerne auf der Weide bei meinen weißen Rössli unter einem Chriesibaum, da kann ich am besten denken. Und die alte Schreibmaschine braucht ja keinen Strom. Aber jetzt muss ich den Zettel zurückholen, sonst weiß ich nicht mehr, was darauf steht, darum lasse ich alle allein und höre jetzt auf mit dem Schreiben. Weil ich jetzt glücklich bin und ihr ja schon so viel von mir erfahren habt. Ich finde, das reicht so, sicher gibt es noch viele Geschichten, die man erzählen könnte, aber das waren für mich die Wichtigsten. Einige darf ich ja nicht erzählen, weil Mama sonst rot wird. Das verstehe ich sogar. Reto hat mir ganz viel geholfen und auch Petra. Nicht so viel wie Reto, aber ich habe ihr trotzdem ihre Lieblingsschoggi geschenkt. Die hat ihr dann Sybille geklaut, weil sie die auch gern hat. Petra hat geschimpft, Sybille gelacht und ich hab halt noch eine gekauft. Dann waren sie beide glücklich und ich musste wieder daran denken, wie das mit dem Verliebten-Ding zusammen hängt.

Ja dann sage ich mal Tschüss und Mutzi für alle, die meine Geschichte lesen werden, wenn Mama damit fertig ist. Danke.

Oder muss ich jetzt Ende schreiben? Ich bin nicht sicher, stört mich aber auch nicht. Alles ist so gut geworden und ich bin sehr, sehr glücklich.





Kleines Wörterbuch


Liebi: Liebe


Läbe: Leben


Batze: Finanzieller Zustupf


RS: Rekrutenschule, militärische Grundausbildung


Doline: Als Doline, auch Karsttrichter, bezeichnet man eine schlot-, trichter- oder schüsselförmige Senke von meist rundem oder elliptischen Grundriss. Im Jura treten sie oft auf, der Kalkstein wird durch Wasser im Untergrund aufgelöst und formt Höhlen, die dann plötzlich einstürzen können


REGA: Schweizer Rettungsflugwacht, bei Gönnermitglieder, die jährlich einen kleinen Beitrag bezahlen, werden auf der ganzen Welt die Rettungskosten übernommen. Auch ausländische Touristen können davon profitieren und Mitglied werden


Crétins: französisches Wort für Doofköpfe oder Vollpfosten


Billet: Fahrkarte


Kondukteur: Schaffner


Trämmli: Strassenbahn


Götti: Patenonkel


Cornet: Eistüte, Eiswaffel


Zolli: Kosename des Basler Zoos


Glacé: Eis


Grüsel: Jemand, der etwas ekliges macht oder ist


Grusig: eklig


Gspänli: Spielkamerad


Serviertochter: Kellnerin, Bedienung


Versäumt: vertrödelt, aufgehalten


Grümpelturnier: Spassige Sportveranstaltung in Dörfern


Nesquick: Schokopulver für Milchgetränk


Gottfriedstutz: Schweizer Fluch


uf de Stümpe: Fix und Fertig, extrem Müde, auf der 'Schnauze' sein


Gschwellti: Pellkartoffeln


Konfi: Marmelade


Rüebli: Karotte


Coupe: Eisbecher


Grüezi: Guten Tag, Hallo


Joggeli: Koseform von Jacob


Schätzeli: Jemand, in den man verliebt ist


Saugofe: Unartige Kinder


Dubel: Depp


Hallodri: Verantwortungslose Person


Chriesibaum: Kirschbaum

 

Imprint

Text: E.R.Thaler
Images: E.R.Thaler
Editing: AnBiÖz
Publication Date: 05-19-2016

All Rights Reserved

Dedication:
Mein besonderer Dank geht an Biggy, weil sie ganz spontan bereit war, einen Blick über meinen Text zu werfen und mich auf einige korrekturbedürftige Stellen hinwies. ♥Danke und Mutzi♥ Auch möchte ich mich bei allen Leserinnen und Leser bedanken, die sich die Zeit nehmen, diese kleine Geschichte über das Leben von Jean-Luc zu lesen und vielleicht auch ein paar Worte dazu schreiben. ♥Danke♥

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