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Das durchdringende Geräusch aus dem Computerraum weckte Bessinger. Sie hatte nur eine halbe Stunde geschlafen, bei dem Geräusch dachte sie sofort an eine weitere Fehlfunktion des beschissenen Computers, sie hob den Fuß in der liegenden Position und trat mit dem Absatz gegen den Intercom an der Wand.
„Roger, kümmer dich um den Alarm.“
Sie schrie in den Intercom, ohne den Kopf zu heben. Aus dem Lautsprecher ertönte Rogers Stimme irgendwo aus dem Schiff und er klang angepisst, wie die meiste Zeit.
„Mach’s selbst, Bee. Ich stecke bis zum Anschlag in den Schaltkreisen der Aufbereitungsanlage. Du hast deinen Arsch doch schon wieder auf der Matratze. Geh rüber und schalt ihn ab.“
Bessinger schaltete den Intercom auf gleicher Weise aus, wie sie ihn eingeschaltet hatte.
Das ist kein normales akustisches Mein-Arsch-bricht-auseinander

, dachte sie, aber trotzdem erhob sie sich nicht. Sie starrte an die Decke. Es erinnerte sie an etwas, aber sie konnte es nicht definieren. Zu kurze Schlafphasen. Zu viel Stress und Hektik. Sie brauchte zu lange, um wieder in Fahrt zu kommen, aber wenn sie länger schlief, brauchte sie Chemie, um richtig wach zu werden. Nur die Chemie verhinderte dann, dass sie Traum und Wirklichkeit verwechselte. Ein Nebeneffekt des Jobs, der nicht selten vorkam und schon so manches Team dezimiert hatte.
„Bastard.“
Sie schwang die Beine von der Liege, streckte die Arme über ihren Kopf und stapfte in den Computerraum hinüber. In den Verbindungskorridoren hatten sie die Beleuchtung bis auf das Notwendigste reduziert. Wozu für eine Handvoll Soldaten und zwei Piloten, Hyänen und Mechaniker, die volle Halloweenbeleuchtung auf der Station einschalten.
Im Computerraum, mit der Zentrale und Steuerung des Schiffes verbunden, tickerte das leuchtend-grüne Signal auf dem Bildschirm, begleitet von diesem durchdringenden Ton. Es war nicht der Hauptbildschirm, sondern einer der kleinen Bildschirme, die an das ausgekoppelte System angeschlossen waren. Bessinger hatte noch immer die Arme erhoben, starrte auf den Bildschirm, ließ sie endlich sinken.
Endlich erinnerte sie sich an das Signal, aber was sie dort sah, war nicht möglich. Sie aktivierte das Eingabefeld, tippte ihren Code ein und lenkte das Signal in die Zentrale des Schiffes um. In dem Computerraum war der Intercom defekt und ließ sich nicht ausschalten. War man dort drin, sollte man aufpassen, was man sagte, weil man nie wissen konnte, wer irgendwo im Schiff mithörte.
„Roger!“ schrie sie, um einiges lauter als zuvor, „in die Zentrale! Das ist keine Fehlfunktion!“
Roger antwortete nicht. Sie wusste, dass er bereits auf dem Weg durch die Korridore zur Zentrale war. Sie arbeiteten schon so lange zusammen, als dass sie nicht die Notwendigkeit in der Stimme des anderen erkannt hätten. Bessinger trat ihm nicht in den Arsch, nur um sich an ihm abzureagieren, das tat sie nur, wenn es ernst war. Und das war keine Fehlfunktion. Das war ernst.
Die Wege in dem Schiff waren lang, aber die meisten Strecken waren mit Hyperverbindungen ausgestattet und Roger stand zeitgleich mit Bessinger in der Schiffszentrale. Auf dem halbrunden Bildschirm, der die ganze Wand einnahm, rauschte ein Wasserfall. Nach Jahren im Orbit war die Besatzung es leid, auf die Sterne zu starren, oder sehen zu müssen, wie sich kleine aber wichtige Teile des Schiffes lösten und in der Atmosphäre dieses verfluchten Planeten verglühten.
Roger, einen halben Kopf kleiner als Bessinger, mit kurzem glattem Haar unter der Baseballkappe, ließ seinem Commander den Vortritt in den Raum. Sie hatte an Gewicht zugelegt, aber er sah ihr schon lange nicht mehr auf den ausladenden Hintern, wenn sie vor ihm herging. Das Signal war jetzt auch hier zu hören und Bessinger schaltete den Wasserfall weg. Das Signal entsprang einer kleinen elektrischen Einheit, die die Hyänen und Piloten Tracker nannten. Im besten Fall und wenn der Tracker seiner Aufgabe korrekt nachkam, zeigte sie den Standort des Trägers an, bis auf einen Meter genau. Wenn der Tracker mit der Kampfausrüstung einer Hyäne gekoppelt war, zeigte er auch Direktbilder und Vitalwerte, sowie den Namen und Dienstgrad.
In den Schiffen, die im Orbit kreisten, gab es hauptsächlich Hyänen, die in Gleitern nach unten geschickt wurden, um die Tusk zu dezimieren. Das hatten sie in den letzten Monaten so gut erledigt, dass es richtig still geworden war und die Erzabbaumaschinen ohne Unterbrechung ihre Arbeit erledigen konnten. Manchmal wurden sie losgeschickt, um steuerlose Schiffe zu übernehmen oder von irgendwo Minenarbeiter umzusiedeln. Sie taten das, wofür sie bezahlt wurden, aber meistens räumten sie auf.
Es war drei Wochen her, dass eine Hyäne mit einem Gleiter rausgegangen war und das auch nur, um einen Testflug zu machen und der Mann war nach zwei Stunden wieder zum Schiff zurückgekehrt.
„Einer der Tracker“, sagte Roger, „aber sieh dir die Kennung an. Die benutzen wir gar nicht mehr.“
Sie starrten auf das Signal, auf das weiße Rauschen des optischen Überwachungsfeldes, auf die fehlenden Daten.
„Ich erinnere mich an den Transponder“, sagte Bessinger. Sie machte einen Schritt zur Seite, bediente das Feld der allgemeinen Nachrichtensysteme und löste auf dem Port den ersten Alarm aus, seid vor einem halben Jahr ein Kurzschluss in der medizinischen Station einen Brand ausgelöst hatte und sie sich alle auf eine mögliche Evakuierung hatten vorbereiten müssen. Roger stellte keine überflüssigen Fragen. Er schlüpfte mit dem Oberkörper in den Overall, der von seiner Hüfte herabgehangen hatte, damit er mehr Bewegungsfreiheit hatte, zog den Verschluss zu und drehte den Schirm seiner Kappe nach hinten. Er saß bereits in dem Co-Pilotensitz des kleinen Gleiters, schnallte sich an und aktivierte die Startsequenz, als Bessinger sagte: „Das ist Jacks Tracker. Gehen wir runter.“

Jack war auf dem Weg nach Hause. Weil Hudd der Schmied der Überzeugung war, bei Vollmond geschmiedetes Eisen würde sich besser verarbeiten lassen und länger halten, arbeiteten sie in Vollmondnächten ununterbrochen durch. Die Schmiede und kleine Hütte, wo er lebte, waren außerhalb des Dorfes am Fuße der Berge, weil das Hämmern so nicht die anderen Bewohner um den Schlaf brachte. Für Jack war es in Ordnung, nachts zu arbeiten und im Morgengrauen nach Hause zu kommen. Das einzige, was ihn tagsüber vom Schlaf abhalten konnte, waren die Hunde, die kläffend um das Haus strichen und Rachel, die vergaß, dass sie versuchten sollte, leise zu sein. Er ging zu Fuß den hügeligen Bergpfad hinunter, roch nach Rauch, Feuer und Metall und würde diesen strengen Geruch erst nach einem langen Bad im seichten Arm des Flusses wieder ablegen. Mit einem Geländewagen wäre er schneller vorwärts gekommen, aber in diesem Teil der Welt gab es keine Geländewagen. Die Bewohner wussten, dass es motorisierte Fahrzeuge gab, aber sie hatten sie nicht. Zum Transport schwerer Lasten benutzten sie die Bergponys und Karren, das genügte für alle Zwecke. Auf den schmalen Straßen und Wegen war kein Platz für etwas anderes als trittsichere Ponys.
Jack ging zu Fuß, weil er für ein Pony zu groß war und mit diesen Viechern auch nach so langer Zeit noch immer keine Freundschaft geschlossen hatte. Wenn er sich ihnen näherte, drehten sie ihm gewöhnlich die Hinterteile zu, es sei denn, er brachte Äpfel und Mohrrüben mit. Rachel hatte ihm beizubringen versucht, wie er mit ihnen umgehen musste und was er auf keinem Fall tun durfte, aber sie hatten sofort spitz, dass etwas an ihm anders war. Er gehörte nicht dazu.
Die Farmer sperrten ihre Ponys weder in Ställe noch in Gattern zusammen. Sie ließen sie frei herumlaufen und sie verhinderten, dass sie das Dorf verließen, indem sie sie jeden Morgen fütterten. In den ersten hellen Stunden des Tages kamen die Ponys aus den Wäldern, fanden sich vor den Häusern ein, um ihre tägliche Ration abzuholen, ließen sich dann einfangen und zur Arbeit einspannen. Sie waren verdammt schlau. Sie wussten, dass sie es bei den Menschen gut getroffen hatten und in ihrer Nähe vor den Räubern sicher waren. Rachel hatte zwei Ponys, die ihn auf dem Weg nach Hause vermutlich überholen würden.
Das Tal schnitt sie sowohl von der Außenwelt als auch von der Sonne ab. Nur selten bekamen sie umflankt von den Bergen und dichten Wäldern die intensive Sonnenstrahlung ab und es regnete häufig. Die Temperaturen waren immer mild, es gab keinen Winter und keinen heißen Sommer und Jack wusste, dass die Ciudad zwar die Jahre zählten, sich dabei aber nicht an die Jahreszeiten orientierten, sondern an sehr viel komplizierteren Dingen, die den Wasserstand des Flusses und an den Sternen, wenn sie diese zu Gesicht bekamen. So kam es auch, dass Jack der Einzige war, der genau wusste, dass er drei Jahre und fünf Monate bei ihnen lebte, denn seine eigene Zeitmessung war exakt.
„Ihr könnt die Sonnenaufgänge zählen“, hatte Jack gesagt, „und so die Tage zählen, dann die Wochen, Monate und Jahre.“
„Wozu sollten wir so etwas tun?“ hatte Rachel geantwortet, „ich bin in dem Jahr geboren, als es kein Wasser im Fluss gab und das hat es erst fünfmal gegeben. Es ist fünf Zeiten her. Warum sollte ich zählen, wie oft es hell wird?“
Auf dem Weg nach Hause, in der Vollmondnacht, die fast vorüber war, schlich Jack an dem Teil des Waldes vorbei, den Rachel den Geisterwald nannte und in den sie sich manchmal zurückzog, um allein zu sein. Der Teil des Waldes unterschied sich nicht im Geringsten von dem Rest der bewaldeten Hügel und Ebenen, aber Rachel sagte, dort wohnten die Geister und manchmal bekamen sie Nachrichten von dort. Meist von direkten Verwandten, um von kommenden oder geschehenen Ereignissen zu berichten. Jack war überzeugt, dass das etwas war, was die Vorfahren aus den Minen von ihren ursprünglichen Heimatplaneten mitgebracht hatten. Er selbst glaubte nicht daran und nahm diesen Teil des Waldes gar nicht wahr, wenn er durch ihn hindurch ging.
Als er Rachels Stimme auf seiner rechten Seite hörte, zuckte er zusammen und blieb stehen. Ihre Stimme sagte, untermalt vom Rauschen des Waldes und dem Wispern der Zweige: Sie wird dich nicht im Stich lassen.


Das war alles. Jack wartete auf mehr, starrte in die Dunkelheit und rief: „Rachel? Wovon redest du? Rachel?“ Dann begriff er, dass dort niemand war, nur er und der Wald und die leisen Stimmen des Waldes.
Ich habe vor mich hingeträumt, dachte er, nicht mehr.
Er hatte diese wispernde Stimme schon vergessen, als er die ersten Behausungen vor sich sah. Die Sonne ging gerade auf.

Rachel war im Garten und schnitt Kräuter, als er das Haus betrat. Die Ponys waren bereits bei ihr, tranken aus der Schwämme und schlugen mit den rötlich schimmernden Schweifen nach den dicken Fliegen. Sie hörten ihn, hoben die Köpfe und Rachel drehte sich zu Jack herum, hob die Hand und fuhr fort, einzelne Halme und Blätter sorgfältig auszuwählen. Das waren die Ciudad – immer auf das konzentriert, was sie gerade taten und dann wieder planlos in den Tag hinein lebend. Hudd schmiedete Werkzeuge, Reifenbänder, Messer, Gürtelschnallen, alle Arten von Behältnissen, er tauschte diese Sachen gegen Gemüse und Fisch, gegen ein Kaninchen, was jemand gefangen hatte oder gegen ein neues Kleidungsstück. Aber die meiste Zeit saß er vor seiner Hütte, rauchte das fürchterliche Kraut, das Frauen wie Rachel sammelten, trockneten und dann eintauschten, und kraulte seinen Hund.
Jack machte sich Frühstück, verscheuchte die Maus, die aus dem Mauerwerk zwischen Wand und Fenster hereingekommen war und überlegte, ob er sich an der Schwämme oder im Fluss waschen sollte. Er könnte versuchen, ein paar Fische zu fangen und etwas zum gemeinsamen Essen beitragen.

Das Flusswasser war im seichten Teil angenehm kühl, um so kälter, wenn man in der Mitte in die Strömung geriet. Jack wusch und rasierte sich, zog am Ufer seine Hose wieder an und stapfte mit ihr in die Mitte des Flusses, wo er einen großen grobmaschigen Korb an einer Leine auswarf. Es war eine reichlich primitive Art und Weise des Fischens, aber jede andere Methode hätte Rachel (und hätten auch die anderen Ciudad) als lästerlich verurteilt. Niemand sollte andere Methoden benutzten als alle anderen, niemand sollte einen Vorteil haben, und wenn es nur darum ging, mehr Fische zu fangen. Allerdings sträubten sie sich nicht gegen jede Art von Fortschritt. Als Jack angefangen hatte, Hudd zur Hand zu gehen bei seiner Arbeit, hatte er sich ein Messer geschmiedet, das dem ungefähr gleich kam, mit dem er in seinem alten Leben gearbeitet hatte und kaum hatten es die anderen zu Gesicht bekommen, war jeder wild darauf gewesen, auch so eines zu besitzen. Es ließ sich besser handhaben, die Kaninchen und Fische ließen sich besser ausnehmen und man konnte sogar den Ponys die Hufe damit schneiden, wenn es sein musste, die Männer konnten sich damit rasieren. Mit diesem Messer hatte Jack es geschafft, nicht mehr misstrauisch angesehen zu werden, wenn er vor der halb zerfallenen Hütte gesessen hatte, und sie hatten ihn mit allen Dingen versorgt, die er brauchte und um die er sich nicht selbst hatte kümmern können, solange sein Bein noch gebrochen gewesen war. Rachels Vater hatte behauptet, er sei vom Himmel gefallen. Er war es, der ihn gefunden hatte.
Er stand mitten im Fluss, hielt den Korb gegen die Strömung und war froh, dass er sich wenigstens die Hosen wieder angezogen hatte, denn die Kinder des Dorfes hatten sich diesen Morgen ausgesucht, um ebenfalls baden zu gehen. Es waren um die zehn Kinder, einige in dem Alter, in dem sie gerade krabbeln konnten und diese wurden von den älteren getragen. Sie kümmerten sich den ganzen Tag um sich selbst, liefen frei herum wie die Ponys und fanden sich erst wieder ein, wenn sie Hunger bekamen. Sie lachten und kicherten, planschten im Wasser, säuberten den ganz Kleinen die dreckigen Gesichter und Rotznasen und einer der Jungs pinkelte von einem dicken überhängenden Ast hinunter ins Wasser.
Jack zog den leeren Korb heran, warf ihn erneut aus. Vermutlich vertrieben die Kinder alle Fische, und er würde mit leeren Händen nach Hause kommen.
Als die Kinder eine Gruppe Ponys entdeckten, folgten sie den Tieren und versuchten sie einzufangen, ihre Rufe waren durch den Wald und felsige Schluchten noch lange zu hören. Die Fische fanden sich wieder ein, zwei große fanden den Weg in Jacks Korb und er zog sie an Land. Er säuberte sie mit dem Messer, das er immer bei sich trug, legte sie in den Korb, den er zum Kühlen wieder in den Fluss stellte. Sein Rücken tat weh, die Nacht war lang gewesen, sie hatten Feuer geschürt, Metall gehämmert und in der Gluthitze gearbeitet und Jack legte sich auf dem Waldboden zum schlafen, abseits des schmalen Trampelpfades unter einen Baum. Seine Hosenbeine waren noch immer nass. In der Ferne hörte er das schnelle Dröhnen der Ponyhufe und das begeisterte Schreien der Kinder. Wie es schien, hatte einer der mutigen Jungs es geschafft, auf eines der Ponys zu klettern und galoppierte mit ihm über die Wiesen, die das Dorf umgaben. Die Berge warfen die Geräusche des Waldes, die Geräusche aus dem Dorf und der Umgebung hin und her, man konnte sich nie sicher sein, wo es herkam, wenn man sich nicht auskannte.
Jack schlief schnell ein und träumte von den Dingen, von denen er meistens träumte, und von denen er Rachel nie etwas erzählt hatte. Wo er hergekommen war und was er früher gemacht hatte, hatte sie nie interessiert, ebenso wenig wie die Dinge funktionierten, die er mitgebracht hatte, oder wie man die Jahreszeit bestimmen konnte.
Als er aufwachte, saß sie neben ihm, summte eines der textlosen Lieder, die die Ciudad kannten. Wie die meisten Einwohner aus dieser Gegend war auch sie hellhäutig und hatte rotblondes Haar, was sie meist offen trug, es häufig wusch aber selten kämmte.
„Wir können die Fische braten“, sagte sie, „und dazu Kartoffeln essen. Mauri ist zurückgekommen und er hat mir welche mitgebracht. Er hat keine guten Nachrichten.“
Nachrichten von außen waren nie gut. Es ging um die Neuigkeiten von Ciuadas aus den anderen Siedlungen, wer gestorben oder weitergezogen war, was sich in den fernen Minen tat und ob es wieder Angriffe der Tusk gegeben hatte.
„Er will davon heute Abend erzählen.“
Rachel legte sich neben ihn, drehte sich auf den Rücken und hielt eine Strähne ihres Haares gegen das trübe Sonnenlicht.
„Wenn wir angegriffen werden“, flüsterte sie, „dann müssen wir noch tiefer in den Wald und unsere Häuser noch kleiner bauen.“
„Sie werden nicht angreifen“, sagte Jack.
Aber eine Versammlung am üblichen Ort, unterhalb der Kuppel, die niemand betrat, würde die Ängste der Ciudad wieder heraufbeschwören. Noch ein Messpunkt ihrer Zeit; die Angriffe der Tusk, die aus ihren Flugmaschinen in die Wälder schossen, wo sie Menschen vermuteten.
„Halt mich fest“, sagte Rachel.
Sie war sensibel und leicht erregbar, für gewöhnlich genügte eine Berührung oder ein Kuss in den Nacken. Beim Sex kannte sie keine Hemmungen und ihr war es auch egal, wenn die Kinder sie dabei erwischten. Die Ciudad waren die Nachkommen von Minenarbeitern, die in die Wälder gezogen waren, keine religiöse Glaubensgemeinschaft. Brachte einer der Männer, die von Siedlung zu Siedlung zogen, Alkohol mit, besoffen sie sich ebenso hemmungslos.
Rachel zog Jack auf sich, lenkte ihn in sich hinein und klammerte sich an ihn, flüsternd keuchend, ungeachtet der Tatsache, dass sie an einem Teil des Flusses lagen, der weder versteckt noch einsam lag. Sie hätten jederzeit dabei erwischt werden können, aber selbst das wäre keine große Sache gewesen. Sie biss ihm in die Schulter, als sie kam.
„Mein Dad ist mit mir geflüchtet, als ich noch ganz klein war“, sagte sie, „weil die Tusk das Dorf beschossen haben. So viele sind dabei gestorben. Irgendwann können wir nicht noch tiefer in die Wälder, wo sollen wir dann hin?“
„Darauf hab ich keine Antwort.“ Jack hätte sie gehabt, aber darüber wollte er nicht sprechen, so kurz nachdem sie miteinander geschlafen hatten. Er kannte Rachel, sie war hart im nehmen, wenn es sein musste. Eines ihrer Ponys war vor Monaten in einem Schlammloch versunken und sie hatte fünf Stunden lang mit den Händen um ihn herum gegraben, an seinem Halfter gezogen und gezerrt, bis sie es wieder hatte befreien können. Sie war schmal und dünn, aber sie hatte unglaubliche Willenskraft.
„Lass uns was essen“, sagte er. Sie zogen sich an, holten die Fische, sammelten unterwegs noch ein paar Früchte und gingen nach Hause.

Nach Einbruch der Dunkelheit marschierte die Dorfgemeinschaft zum Platz unter der Kuppel. Mauri war ein Mann, der seine besten Zeiten bereits hinter sich hatte, er war ohne ein besonderes Talent. Er zog von Siedlung zu Siedlung, handelte ein wenig mit den Dingen, die jeder brauchte, wie Salz, Tabak, Alkohol und Nachrichten. Er kannte Schleichwege, die anderen verborgen blieben und war zu Fuß durch die Täler und Berge schneller unterwegs als die anderen auf ihren Ponys. Er hatte immer viel zu erzählen, wenn er wieder im Dorf war, aber zu seiner Schande war er kein guter Erzähler. Er verlor schnell den Faden, verstrickte sich in nebensächlichen Kleinigkeiten und fand selten den wichtigen Punkt einer Geschichte. Es lag dann an den Dorfbewohnern, seine Berichte richtig zu deuten und dann für sich zu entscheiden, ob es gute oder schlechte Nachrichten waren. Jack sagte, er würde nachkommen, weil er noch etwas zu erledigen habe, aber am liebsten wäre er nicht zu dieser Versammlung gegangen. Er gehörte nicht wirklich in die Dorfgemeinschaft, aber Rachel zuliebe würde er sich anschließen und sich die endlosen Diskussionen anhören.
Zuvor überprüfte er seine alte Ausrüstung, wie er es fast jeden Tag machte, hoffte, dass der alte Mauri die Batterien für ihn hatte besorgen können. Rachel hatte davon nichts erwähnt, weil sie davon nichts wusste. Einige Teile seiner Ausrüstung hatte er reparieren können, aber die Akkus waren nach so langer Zeit runter und Batterien würden ihre Aufgabe übernehmen. Wenn er es denn hinbekam.
Unter dem dichten Laub der Bäume war der Platz mit Fackeln und Lagerfeuern beleuchtet, über ihnen ließ sich die große stählerne Kuppel nur erahnen, aber sie war da. Die Tusks mussten sie bei jedem ihrer Flüge durch das Grün des Waldes sehen, aber vermutlich taten sie es als eine stillgelegte Anlage ab. Sich dort niederzulassen, war vermutlich keine schlechte Idee der Ciudads gewesen. Die Kuppel behandelten sie mit Ehrfurcht, weil sie nichts mehr mit dieser Technik und den Funktionen anfangen konnten und es war tabu, sie zu betreten. Selbst davon zu sprechen, galt als schlechtes Benehmen. Jack hatte nach der Kuppel gefragt, als er sie bei seinen Erkundungstouren entdeckt hatte, aber er hatte von niemandem eine klare Auskunft bekommen, nur die Anweisung, nicht weiter danach zu fragen und sich von diesem Ort fernzuhalten.
Sie versammelten sich unterhalb des Berges, auf dem die Kuppel errichtet worden war, weil es ein passender Ort für wichtige Gespräche war, aber die Kuppel war etwas aus der Zeit, als ihre Vorväter noch in den Minen geschuftet hatten. Sie hatten für einen Hungerlohn in den Minen gearbeitet, waren teilweise dort gestorben und nur die, die mit den Maschinen und der Technik hatten umgehen können, waren mit ein wenig Respekt behandelt worden.
„Wir haben die Minen und die Technik verlassen“, hatte Rachels Vater ihm erklärt, „wir sind in die Wälder gegangen, haben unsere Frauen mitgenommen und ein paar Ponys gestohlen. Wir wollten ein anderes Leben als das, was sie uns in der alten Heimat versprochen hatten, und was wir dann in den Minen hatten. Sie haben uns immer alle belogen. Seitdem leben wir in den Wäldern und niemand lügt uns mehr an. Wir leben in einer engen Gemeinschaft. Wir wünschen uns den Segen auf allen Wegen. Und es geht uns gut.“
Bless me on my way

, sagten sie, wenn sie sich verabschiedeten, das sagten sie, wenn sie etwas heikles vorhatten, wenn etwas bevorstand.
Jack lebte seit Jahren bei ihnen, aber er wusste, dass das Leben in diesen Wäldern nicht das Paradies war. Sie lebten größtenteils zufrieden, in einer festen Gemeinschaft, aber ab und zu gab es Streit und ab und zu wurde jemand aus der Gemeinschaft entfernt. Sie schreckten vor Totschlag nicht zurück. Das feuchte Klima verursachte Krankheiten, an denen sie im Alter besonders litten. Viele Kinder starben, bevor sie richtig laufen konnten. Sie hatten keinen Arzt, nur ein paar alte Frauen, die ein wenig von Heilkunde verstanden, aber das nützte nichts, wenn ein Mann von einem Baum fiel, sich die Rippen brach und diese durch die Lunge stachen, oder wenn eine Frau bei der Geburt starb, weil die Blutung nicht zu stoppen war.
Bless me on my way, war das einzige, was ihnen half. Die Gemeinschaft, der Zusammenhalt in der Not und kein Gott. Erst recht kein Gott, der aus dem Himmel kam, wo doch die Tusk aus dem Himmel angriffen, wenn sie mal wieder ein paar der Erdkriecher jagen wollten.
Jack ging zur Versammlung, begleitet von einem der Dorfhunde, der sich ihm wie selbstverständlich anschloss und auf Jacks gemurmelte Fragen, wie es ihm ginge und was er noch vorhabe, mit einem Schwanzwedeln reagierte. Er sah Rachel bei den anderen Frauen, setzte sich abseits des beleuchteten Platzes auf einen Findling. Noch palaverten die älteren Herren des Dorfes miteinander, Kinder liefen umher und Mauri, wieder angetan mit einem furchtbar auffallenden Mantel, kam kurz zu ihm, begrüßte ihn mit einem Nicken und zeigte ihm den gen Himmel gewandten Daumen. Jack dachte an die Batterien und nickte zurück. Er würde ein paar seiner gut gelungenen Messer loswerden, die er in der Vollmondnacht hergestellt hatte.
Mauri setzte sich auf den Felsvorsprung, auf dem ihn jeder der Dorfbewohner sehen konnte, und endlich trat Stille ein. Er würde mit seinen Nebensächlichkeiten beginnen, mit dem Journal, wer wen geheiratet hatte, wer Kinder bekommen hatte, wie es dem einen oder anderen jungen Mann ergangen war, der das Dorf verlassen hatte, um sein Glück zu suchen. Er war lange in den Siedlungen der Erzabbaugesellschaft gewesen, hatte Handel getrieben und sich umgehört.
„Die Tusk waren schon sehr lange still“, sagte er, „vielleicht haben sie sich zurückgezogen, weil ihnen die Lust an den Angriffen vergangen sind. Die Minen fördern auf Hochtouren und wie es aussieht, sind sie noch immer nicht ausgeschöpft. Ich habe große Transportschiffe starten sehen, und diese haben die noch größeren Transportschiffe im Orbit beladen. Ich habe viele Dinge mitgebracht, die ich gegen eure Waren eintauschen kann. Aber ich habe auch schlechte Nachrichten.“
Er hatte einige dieser schlechten Nachrichten bereits verbreitet, aber Jack vermutete, dass er sie ein wenig zu sehr ausschmückte, um mehr Waren eintauschen zu können. Wenn die Ciudad in Panik gerieten, horteten sie alles mögliche, falls die Transportwege abgeschnitten werden würden. Er kalkulierte damit. Jack lehnte sich zurück und beobachtete die Gesichter der Dorfbewohner. Sie waren gefasst darauf, die Nachrichten zu hören und vor der Entscheidung zu stehen, ihr Dorf verlassen zu müssen. Selbst die Kinder waren still.
Mauri erzählte, dass die Siedlungen auf der anderen Seite der Minen angegriffen und zerstört worden waren, allerdings musste er zugeben, dass er nicht wusste, ob es die Tusks gewesen waren. Er habe einige der entkommenen Männer gesprochen und sie hatten ihm erzählt, dass nur Asche von ihren Häusern und von allem anderen übrig geblieben war.
„Feuer aus dem Himmel“, sagte Mauri, „es hat ihnen fast die Augen verbrannt, so hell ist es gewesen. Sie haben alles vernichtet und nur die, die sich gerade nicht im Dorf befunden haben, haben überlebt. Dann haben sie damit begonnen, große Teile des Waldes abzubrennen, um die Überlebenden zu finden und zu vernichten.“
„Was ist aus den Männern geworden?“ fragte einer der Alten.
„Sie sind in die Minen gegangen, weil sie sonst keinen Ort mehr hatten, zu dem sie gehen konnten“, sagte Mauri düster, „sie haben alles verloren.“
„Vielleicht haben sie den Zorn auf sich gezogen.“
„Den Zorn der Tusk.“
„Sie waren unvorsichtig. Das sind wir nicht. Wir sind immer vorsichtig und bleiben in den Wäldern.“
Jack lag es auf der Zunge, einige passende Worte einzuwerfen, aber es würde nichts ändern an der Diskussion, die gerade entbrannte. Er ahnte, dass es nicht die Tusk gewesen waren, sondern die Erzabbaugesellschaft, die den Wald verbrannt hatte. Sie brauchten neue Abbaugebiete und sie nahmen keine Rücksicht auf die Siedlungen und die Menschen, die dort lebten.
Die Tusk würden die Ciudad nicht angreifen und davon würde er Rachel überzeugen. Es gab keinen Grund für sie, ihre Sachen zu packen, alles auf die Ponys zu schnallen und sich noch tiefer im Wald ein Erdloch zu graben, in dem sie verschwinden konnte.
Noch während der Diskussionen wurde er schläfrig, schlief er ein, träumte, er würde wieder mit seinem Gleiter abstürzten. Aber diesmal blieb er nicht angeschnallt in dem Sitz, bis das verdammte Ding in die Bäume und dann auf den Erdboden aufschlug, er wurde herausgeschleudert und flog durch die Luft. Er sauste dem Erdboden entgegen und sah die Kuppel, hell erleuchtet unter sich und wie ein Diamant zwischen den dunklen Wäldern, immer näher kommen.
Bless you on your way

! hörte er, schreckte hoch und fand sich wieder in der Versammlung, die sich gerade auflöste. Mauri würde in den einzelnen Hütten noch die ganze Nacht zu tun haben und sein Pony wäre froh, mit weniger Last weiterziehen zu können.
Die Alten standen noch bei ihm, aber die meisten Bewohner hatten sich bereits zurückgezogen, diskutierten noch immer angeregt miteinander.
„Sie waren misstrauisch“, sagte Mauri, als sie endlich allein waren. Seine Stimme hatte den Jahrmarktcharakter verloren, jetzt zeigte er sich als das, was er in Wirklichkeit war; ein Geschäftsmann. „Sie wollten wissen, wozu ich die Batterien brauche und wollten es auch noch immer wissen, als ich mich dumm gestellt habe.“
„Was hast du ihnen gesagt?“
„Dass ein paar der dumpfen Waldbewohner den Vorteil einer elektrischen Beleuchtung wieder entdeckt hätten.“
„Haben sie es dir abgekauft?“
„Klar, es ist doch die Wahrheit, oder? Wozu solltest du sonst so einen Pack Batterien benötigen?“ Mauri grinste, weil er wusste, dass er von Jack nichts anderes hören würde.
Die Batterieblöcke waren schwer, hatten eine längliche quadratische Form. Er verhandelte mit Mauri, was er für die Batterieblocks haben wollte und sie einigten sich schließlich darauf, dass Jack ihm vier Messer überließ und Mauri sie sich selbst aussuchen durfte.
Als er endlich nach Hause kam, wartete Rachel in seinem Bett auf ihn. Sie schliefen getrennt, besuchten sich nur gegenseitig, wenn ihnen danach war. Jack hatte es mit seinen Albträumen begründet, aber es war für ihn einfacher, nachts das Haus zu verlassen, wenn Rachel nicht eng neben ihm lag.
„Mauri hat mir Angst gemacht“, sagte sie, „ich wünschte, mein Vater wäre noch hier.“
„Er würde dir das sagen, was ich dir jetzt sage. Es wird nichts passieren. Bald denkst du nicht mehr an Mauri und an seine Geschichten. Du wirst dich über die Ponys ärgern, die deinen Garten verwüsten und wir werden zusammen im Fluss baden.“
Sie weinte in dieser Nacht, aber am nächsten Morgen sprach sie nicht mehr über ihre Ängste. Und er behielt recht – nichts passierte.
Er grub die versteckten Batterien aus und brachte sie hoch in die Kuppel.
Der Eingang zur Kuppel lag auf der Rückseite des Berges, eine in den Stein geschlagene Stahltür, die unter Gestrüpp und Dornengebüsch verschwunden war und die Jack nur durch Zufall gefunden hatte. Die elektronische Verriegelung ließ sich leicht öffnen und im Gang, der stetig ansteigend zum Bauch der Kuppel führte, war es dunkel, kühl und windstill. Alles war noch intakt, keine Wassereinbrüche und keine Beschädigungen. Jack ahnte, was ihn in der Kuppel erwartete, aber mit der vorhandenen Ausstattung hatte er nicht gerechnet. Als er nachts das erste Mal dort gewesen war, hatte er kein Licht anmachen können, weil die Kuppel wie eine Glühbirne den ganzen Wald erleuchtet hätte, aber bei Tag konnte er durch die intakte Kuppel das helle Licht außerhalb des Waldes sehen, blinzelte nach oben und inspizierte dann die Einrichtungen, die Waffen und die stillgelegten Computer. Alles war hier zurückgelassen worden in der Absicht, nach kurzer Zeit zurückzukehren, aber niemand war zurückgekehrt. Es war eine Forschungsstation gewesen, eine gut bewaffnete Forschungsstation, die sich auf den Orbit konzentriert hatte. Die sich schnell bewegenden Lichter, die die Ciudad als Satelliten missgedeutet hätten, wenn sie sie jemals durch das Laubdach gesehen hätten, waren die Schiffe der Tusk und der Truppen, die zum Schutz der Erzförderungsanlagen eingesetzt wurden. Jack hatte an diesem Tag Stunden damit zugebracht, in den Himmel zu starren und sich zu fragen, ob sie noch da oben waren.

Nach seiner eigenen Zeitrechnung waren es drei Monate, in denen das Leben bei den Ciudad ruhig weiterging, und in denen niemand mehr davon sprach, vor den Tusk flüchten zu müssen. Jack hatte die Batterien angeschlossen, aber die Geräte nicht getestet, er hoffte nur, dass sie im Notfall funktionierten.
Bei der Arbeit war Hudd ein Metallsplitter ins Gesicht geflogen und obwohl er geblutet hatte wie ein Schwein, hatte er nur gesagt, dass er verdammtes Glück gehabt hatte, dass es nicht seine Augen getroffen hatte. Jack hatte den Splitter aus dem Fleisch gezogen und den Schnitt genäht.
„Woher kannst du das?“ hatte Hudd gefragt und er hatte nur geantwortet: „Ich hab mich auch schon selber wieder zusammengenäht.“
Zur Feier der Tatsache, dass es nicht eines seiner Augen erwischt hatte, tranken sie einen Schluck aus seinem heiligen Fuselvorrat und Jack blieb bei ihm und hörte sich die alten Geschichten an, bis es hell wurde.
Er träumte wieder, er würde auf die Kuppel stürzen und als er mühsam aufwachte, schmerzte die Bruchstelle in seinem Bein. Kein anderer Knochen, den er sich jemals gebrochen hatte, keine seiner alten Verletzungen meldete sich zu Wort, nur dieser verdammte Oberschenkelknochen.
Jack war seiner Eingebung gefolgt und hatte die Absturzstelle aufgesucht. Die Vegetation war sehr fleißig gewesen, hatte die Kerbe im Wald schon fast wieder geschlossen und selbst die auseinandergebrochenen Überreste des Gleiters ließen sich nur schwer ausmachen. Jack fand einen Teil des Cockpits, überwuchert von Farnen und Giftsumach.
Der Gleiter war mit seiner dreiköpfigen Besatzung über den Wäldern abgestürzt, Jack als Pilot hatte alles versucht, ihn noch abzufangen nach dem verheerenden Schuss in die Elektronik, aber sie waren zu stark unter Beschuss geraten. Er hatte den Hyänen zugebrüllt, sie sollten sich an etwas festhalten, aber nicht unbedingt an sich selbst und sie hatten schallend gelacht. Es war nicht das erste Mal, dass sie abgeschmiert waren, aber für die beiden Hyänen war es das letzte Mal gewesen. Er hatte gewusst, dass es schief gehen würde, als sie die ersten Baumwipfel streiften, die ersten Äste und Baumstämme an ihnen vorbeirasten, am Gleiter zersplitterten und er dann die Felsen auf sich zukommen sah. Durch die Bäume wären sie hindurch gekommen, aber nicht durch diese Felsen. Jack versuchte den Gleiter noch hochzuziehen, ließ ihn nach rechts abkippen und das einzige, an was er sich noch erinnern konnte, war ein unglaublicher Schlag, reißendes Metall und dann nur noch Wind, der ihm den Atem nahm. Der Gleiter war auseinandergerissen worden, Jack in dem kleinen engen Cockpit hatte nur überlebt, weil er den Felsen verfehlt hatte. Glück für ihn, Pech für die anderen. Die Hyänen fanden ein schnelles Ende an den Felsen und es blieb nicht viel von ihnen übrig, ebenso wenig von ihrer Ausrüstung. Jack erwachte nach dem Crash mit gebrochenem Bein, blutigem Schädel und kopfüber im Gurt seines Sitzes hängend. Er brach sich beinahe das Genick, als er den Gurt öffnete und nach unten auf den Waldboden schlug. Er trug seinen Kampfanzug, in dem ein paar seiner wichtigsten Utensilien steckten, und er überlegte ganze drei Atemzüge lang, bis er den Tracker an seinem Handgelenk ausschaltete. Er konnte vor seinem inneren Auge sehen, wie sein Signal in der verdammten Orbit-Station einfach verschwand. Sie würden keine Zeit verschwenden, um nach ihnen zu suchen und obwohl sie unablässig dort oben kreisten und immer mehr Überwachungssatelliten in die Umlaufbahnen der Planeten schossen, würde er einfach vor ihren Augen verschwinden. Er hatte geplant, in den Minen zu arbeiten, dann mit dem Geld diesen Planeten zu verlassen und neu anzufangen, aber sein gebrochenes Bein hätte ihn fast umgebracht. Sein Kampfanzug hatte eine Unterdruckfunktion, die er partiell steuern konnte und so versuchte er die gebrochenen Knochen zu stützen, dass er das Bein belasten konnte, aber der Schmerz blieb. Er machte sich auf den Weg, vom Gleiter wegzukommen, benutzte den Kompass, damit er nicht im Kreis lief, aber er hielt es nicht lange durch. Auf dem unebenen Waldboden blieb er an einer Wurzel hängen, stolperte und fiel auf das gebrochene Bein. Es blies ihm die Lichter aus. Als er aufwachte, war es stockdunkel und es regnete. Der erste Regen seit Jahren, nach so vielen Jahren auf irgendwelchen Schiffen und auf Raumstationen, und trotzdem verfluchte er ihn. Die Geräusche des Waldes und der nachtaktiven Tiere um ihn herum ließen ihn weiterkriechen, aber auch das gab er irgendwann auf. Er wartete darauf, dass die Sonne zurückkam und dass endlich der Schmerz nachlassen würde. Er war tagelang durch den Wald gekrochen, hatte Fieber und war trotzdem nicht gewillt, den Tracker wieder einzuschalten. Das tat er zwölf Stunden später, als ihm klar wurde, dass er sterben würde, wenn sie ihn nicht fanden.

Jack stand vor den gut erhaltenen Überresten des Gleiters. Es gab keine Spuren von Rost, nur das Unkraut, was hereingeweht war und die Spuren der Nagetiere, die sich in den Polsterungen des Sitzes ihre Kinderstuben eingerichtet hatten. Er bückte sich durch das zerrissene Heck hinein, entdeckte dicke Kabelstränge, die vom Cockpit durch den ganzen Gleiter gelaufen waren. Er zog sie meterweise aus ihren Kabelschächten, hörte einige protestierende Mäuse, die es sich dort gemütlich gemacht hatten, wickelte die isolierten Kabel in dicke Stränge zusammen und hängte sie sich wie einen Patronengürtel über die Schulter. Mit dem Rest konnte er nichts mehr anfangen, dachte nur kurz daran, das Heck des Gleiters zu suchen. Die Hyänen hatten den Absturz ganz sicher nicht überlebt und die kleinen fleißigen Raubtiere des Waldes hatten sie längst entsorgt. Wegen ihnen war er nicht hier. Er wollte sicher gehen, dass die Tusk, sollten sie über diesen Teil des Waldes fliegen, die alte Absturzschneise nicht sahen. Nichts sollte ihre Neugierde wecken. Die abgebrochenen Bäume waren längst von jungen schnell wachsenden Bäumen ersetzt worden, das Unterholz dichter als zuvor. Jack war zufrieden, machte sich auf den Rückweg. Er hatte Rachel versprochen, das Dach des Hauses zu reparieren, es regnete seit einigen Tagen hinein und er hatte das Loch noch immer nicht gefunden.

Außerdem hatten die Ciudad eines ihrer seltsamen Feste am nächsten Tag und dafür mussten die Männer noch eine Menge vorbereiten.
Das Fest bestand hauptsächlich aus dem Spiel „Fang das Schwein“, in dem es nur darum ging, ein verdammt flinkes Schwein in einem schlammigen Auslauf einzufangen und es seiner Angebeteten in den Arm zu drücken. Wenn die jungen Männer sich im Dreck wühlten, sich lächerlich machten, indem sie einem Schwein nachjagten, war das für die Mädchen eine Quelle der Belustigung. Dustin, einer der schüchternen Jungs, hatte während der Arbeit am Verschlag geflüstert: „Wie würdest du das Schwein am schnellsten fangen, Jack?“
„Ich würde es erschießen.“
„Weißt du, ich bin nicht sehr schnell zu Fuß.“
„In die Ecke drängeln und wirf dich auf die Sau“, sagte Jack, „das funktioniert immer.“
„Und dann geh ich zu Leyna und drücke ihr das Schwein in den Arm“, sagte Dustin. Vermutlich war es ganz einfach, wenn man es richtig anging. Jack starrte ihn gekonnt verständnislos an und sagte: „Wieso Schwein? Dustin, wenn du endlich beweisen willst, dass du harte Nüsse in der Hose hast, sollst du Leyna in die Ecke drängeln und dich auf sie schmeißen. Mach dich doch nicht lächerlich und kämpf mit einem Stück Schinken.“
Dustin stand der Mund offen und Jack musste ihn mit dem Ellebogen anstoßen, damit er endlich den Witz verstand.
Während des Festes aßen sie Unmengen von süßem Brot, die Kinder veranstalteten Ponyrennen und sie alle tranken den furchtbaren Apfelwein. In den Bergen hatte einer der Vorväter eine Apfelplantage angelegt und vorausgesetzt, die Bäume wurden weiter gepflegt und geschnitten, würden die Ciudad auch in Zukunft Apfelwein trinken. Dustin hatte allen Mut zusammengenommen, war in den eckigen Verschlag gestiegen und hatte sich unter dem Gejohle der anderen in den Dreck geworfen und es schnell geschafft, das Ferkel zu packen und festzuhalten. Leider musste Leyna geahnt haben, dass es um sie ging und sie flüchtete, obwohl ihre Freundinnen riefen, sie solle nicht albern sein und stehen bleiben. Sie verschwand mit fliegendem Rock zwischen zwei Hütten und Dustin rannte ihr nach, das hysterisch quiekende Ferkel unter dem Arm geklemmt. Jack verschluckte sich an seinem Apfelwein vor Lachen.
Rachel brachte ihm ein Stück Brot mit Honig und flüsterte ihm ins Ohr, ob er sich auch an eines der Ferkel wagte. Sie lächelte ihn auffordernd an, mit einem hellen strahlenden Gesicht, umrahmt von dem hellroten Haar, und obwohl Jack sich immer geweigert hatte, sich lächerlich zu machen, flüsterte er zurück: „Nur wenn du versprichst, dass wir hinterher zusammen im Fluss baden.“
„Ich werde nicht vor dir davonlaufen.“
Er zog den grauen grob gewobenen Pullover aus, legte den Gürtel ab. Einige der umherstehenden Männer, ein paar von ihnen waren selber schon in den Schweinering gestiegen, bemerkten, was er vorhatte und pfiffen begeistert. Am lautesten die, die ihn in den Jahren zuvor schon hatten dazu überreden wollen, es auch mal zu versuchen. Jack war sich nicht sicher, weshalb er es jetzt tat – zuvor hatte er sich davor gefürchtet, zu viel von sich preiszugeben, etwas zu offenbaren, was lieber sein Geheimnis blieb, aber dieses Mal stieg er in den Verschlag und jagte das Schwein.
Und was für ein Schwein. Die Jungs hatten die Ferkel bekommen, die man noch ein halbes Jahr mit Abfällen füttern musste, bevor sich das Schlachten überhaupt lohnte, aber für Jack ließen sie einen richtigen Brummer durch den Treibgang. Jedem seine Gewichtsklasse, schien Hudd zu sagen, der am Treibgang stand und grinste. Jack wusste, dass es auf seinem Mist gewachsen war. Sie erlaubten sich einen Spaß mit ihm.
Die Sau war fast ausgewachsen, schwer und dennoch hochbeinig, von der Sorte Schwein, die den ganzen Tag durch die Wälder streifte und nicht nur faul und fett im Dreck lag. Sie war ihrer Artgenossen beraubt worden und wusste ganz genau, wer dafür verantwortlich zu machen war – der Zweibeiner. Sie war stinkwütend.
Die Ferkel waren vor den Zweibeinern davongelaufen, aber diese Sau griff an. Jack lag schneller im Dreck als er es sich hatte träumen lassen, sah die aufgerissene Schnauze der Sau auf sich zukommen, rollte sich zur Seite und sprang wieder auf die Füße. Sie verfehlte ihn nur knapp, nachdem sie ihn umgerannt hatte. Er packte eines ihrer Ohren, als sie an ihm vorbeipreschte und sie riss ihn wieder mit sich. Diesmal allerdings ließ er sie nicht los, geriet kurz unter ihre Klauenhufe, aber er spürte die Tritte erst am nächsten Morgen. Er kämpfte mit dem Schwein, als hinge sein Leben davon ab und einigen der Männern verging das fröhliche hämische Lachen, als sie das sahen. Vermutet hatten sie es schon immer, aber jetzt bekamen sie den Beweis geliefert – sie sahen, dass Jack ein harter Brocken war und vermutlich noch etwas härteres durchgemacht hatte, als in den Minen zu arbeiten. So kämpfte nur jemand, der schon öfters vor der du-oder-ich-Entscheidung gestanden hatte. Und er schlug sich gut. Trotz des tiefen Schwerpunkt des Schweins, womit die Sau klar im Vorteil war, brachte er es zu Fall, ohne von diesem mörderischen Eckzähnen gebissen zu werden, warf sich auf das Tier. Die Sau versuchte sich hochzurollen, aber im Schlamm fand sie keinen Halt, schrie wütend und entrüstet. Das ganze hatte nur wenige Minuten gedauert, aber Jack war außer Atem, der Schlamm lief aus seinem Hemd und tropfte von seinem Kopf. Zum Hochheben war die Sau zu schwer, aber die Ciudad erklärten die Runde als erfolgreich beendet.
„Komm raus da“, rief Rachel ausgelassen, winkte auffordernd mit beiden Händen. Sie hatte offensichtlich kein schlechtes Gewissen deswegen, ihn zu dem Schweineringkampf überredet zu haben und Jack rief zurück: „Ich trau mich nicht, von der Sau aufzustehen.“

Jack ist ein harter Kerl, sagten die Männer später am Abend, als sie um eines der Lagerfeuer zusammenstanden, hast du die blauen Flecken an seinen Armen gesehen? Und die Klauenabdrücke an seinem Bauch? Hat sich diese wütende Sau gegriffen, als sei gar nichts dabei. Ich möchte nicht mit ihm in Streit geraten, bless me. Ich wünschte, wir hätten mehr von seiner Sorte, dann könnten wir uns gegen die Tusk wehren.
„Rachels Vater hat mir mal erzählt, wie er ihn gefunden hat“, sagte George. Er war einer der alten Männer der Siedlung. „Er könnte so ein Ding fliegen, mit denen wir angegriffen werden.“
Aber sie sprachen Jack nicht darauf an, denn sie fürchteten, ein Unheil heraufzubeschwören, wenn sie es taten. Sprich davon und du rufst es her.
Rachel erfüllte Jacks Bedingung und bis zum Sonnenuntergang schwammen sie im Fluss, tauchten sich gegenseitig unter, Rachel wusch ihm den Schlamm vom Kopf, sie ließen sich in der trägen Strömung des Flusses treiben und versuchten Fische mit den bloßen Händen zu fangen. Rachel zog sich an einem überhängenden Ast aus dem Wasser. Ihr Hemd klebte an ihrem Körper und Jack beobachtete fasziniert, wie sich ihre Haut unter dem dünnen Stoff abzeichnete.
„Komm wieder rein“, rief er, schwamm zu ihr hinüber. Sie ließ sich wieder ins Wasser fallen, tauchte ab und kam prustend wieder hoch – das Haar dunkel und glatt anliegend wie seidiges Fell.
„Tut mir leid, dass du Tritte abbekommen hast“, sagte sie.
„In ein paar Tagen sieht man nichts mehr davon.“
Sie verließen das tiefe Wasser, legten sich am Ufer an eine grün bewachsene Böschung. Sie hatten sich zum Baden das meiste bereits ausgezogen und sie entledigten sich der wenigen nassen Klamotten.
„Es sollte sich niemals ändern“, murmelte Rachel, führte seine Hand zwischen ihre Beine, „ich bin so glücklich, wenn du bei mir bist.“
Ihre Stimme ging in ein angespanntes Seufzen über, als Jack seine Finger dort zu bewegen begann, wo sie besonders empfindlich war. Es endete wie immer, wenn sie dieses Spiel einmal begonnen hatten.
„Was machen wir mit der Sau?“ fragte Rachel. In der Dunkelheit hatten sie sich nur das nötigste übergezogen, trugen den Rest der Kleidung um die Hälse und fanden ihren Weg nur durch die Fackeln, die noch überall im Boden steckten.
„Mit der Sau?“
„Du hast sie gewonnen.“
„Du willst sie hoffentlich nicht am Haus halten wollen. Sie sieht mich und wird mich umbringen.“
„Es ist dein Schwein.“
„Ich hätte sie nicht gewonnen, wenn du mich nicht überredet hättest.“
„Schweinebraten und Rippchen?“
„Gute Idee.“
Um die Häuser und Hütten herum steckten noch mehr Fackeln und ein paar Nachteulen waren auch noch auf und palaverten.
„Verzeihst du mir die Sache mit dem Schwein?“
Jack antwortete nicht sofort; er hatte sich zu den Fackeln umgedreht und sich seltsamerweise einen Moment lang Sorgen deswegen gemacht.
Wieso gehe ich Idiot nachsehen, ob man den Gleiter von oben sehen kann, wenn das ganze Dorf wie eine Geburtstagstorte aussieht?


Den Gedanken schob er wieder von sich. Sie feierten viele Feste mit Feuer, waren unvorsichtig und übermütig, aber es bestand auch kein Zweifel, dass die Tusk wussten, wo die Siedlungen waren – man durfte ihnen nur keinen Grund geben, anzugreifen. Dieses Gefühl der Unruhe ließ sich nur schwer unterdrücken, aber er schob es auf den ungewohnten Genuss des Apfelweins.
„Dir verzeihe ich“, sagte er, packte sie an der Hüfte und ließ sie einmal um sich herumwehen, wieder erstaunt darüber, wie stark sie sich anfühlte, obwohl sie klein und schmal war, „aber der Sau nicht.“

Er wachte auf, als Rachel draußen die Ponys fütterte, stöhnte auf, als er sich aus dem Bett quälte. Wie bei den meisten Trittverletzungen taten einem die Knochen erst am nächsten Morgen weh. Um seinen Rippenbogen zeigte sich bereits ein wunderschönes Hämatom, ganz zu schweigen von den Abschürfungen von den Schweinehufen.


Es regnete den ganzen Tag. Jack versuchte das Dach abzudichten, aber wenn er dachte, die undichte Stelle gefunden zu haben, rief Rachel zu ihm hinauf, dass die Tropfen an einer anderen Stelle durch die Balken schlugen. Er war nass bis auf die Knochen, wischte sich den Regen aus den Augen, legte das Werkzeug und die Holzschindeln beiseite und saß regungslos auf dem schrägen Dach. Es hatte keinen Sinn, was er hier versuchte. Es war seine Idee gewesen, nach oben zu klettern und das Loch zu finden, obwohl es schon seit Monaten reinregnete. Er würde Rachel sagen, dass sie ein paar Eimer und Schüsseln mehr aufstellen würden.
Auf dem Dach konnte er durch die Baumwipfel hindurch sehen, es war diesig durch den Regen und den Nebel und er konnte nicht viel erkennen, aber das kurze Aufblitzen am Horizont konnte er nicht ignorieren. Es sah aus wie das Verglühen eines Schrottteils in der Atmosphäre oder die Anzeichen eines heranziehenden Gewitters. Jack wusste, dass es keines von beidem war.
Ich sollte sie warnen

, dachte er.
Aber er saß weiter auf dem Dach, starrte in den Himmel und reagierte erst, als Rachel zu ihm hinaufrief, ob er da oben eingeschlafen sei.
Ich muss sie warnen, dachte er, sie müssen sich alle in Sicherheit bringen. Hoffentlich glauben sie nicht, ich würde mit ihnen unter einer Decke stecken.
Jack rutschte auf dem Hintern vom Dach herunter, landete mit beiden Füßen im schlammigen Boden.
Ich werd's ihr sagen

, dachte er, und dann soll sie entscheiden.


Er wusste, dass er diese Entscheidung nicht auf Rachel abwälzen durfte, aber er tat es trotzdem. Rachel reagierte verängstigt und unsicher.
„Ein Blitz am Himmel? Aber so was sehen wir immer wieder, wenn der Himmel mal klar ist.“
„Der Himmel ist nicht klar.“
„Aber...“ Er unterbrach sie. „Ich habe das Licht über den Bäumen gesehen. Nicht am Himmel. Das war kein Satellit. Was sollen wir tun?“
„Ich weiß nicht.“
Sie starrte ihn verängstigt an. Jack seufzte, warf alles über Bord, was ihm auf dem Dach durch den Kopf gegangen war. Es war unmöglich, eine Taube zu spielen, wenn man ein Falke war.
„Ich sag den anderen bescheid“, sagte er, „pack du ein paar Sachen zusammen, nur um sicher zu gehen. Soll jeder selber sehen, wie er es angehen will.“
Jack machte sich auf den Weg, die Ciudad über das Licht, was er gesehen hatte, zu informieren und machte es bei jedem so kurz wie möglich. Er ging bis hinauf zu Hudd, der Eisen- und Stahlreste sortierte und sagte, er habe kein Licht gesehen und glaube auch nicht, dass es etwas zu besagen habe. So hatten die meisten reagiert.
„Wenn etwas nicht in Ordnung ist, melden es die Hunde“, sagte er, „sie haben den großen Sturm angezeigt, der zwei Wochen lang gewütet hat und bis jetzt liegen sie noch immer faul auf ihren Plätzen und schnarchen. Mach dir also keine Gedanken, Jack.“
„Wenn die Hunde sich anders verhalten, dann mach, dass du wegkommst. Die anderen wissen bescheid.“
„Was ist los mit dir?“ Jack wusste, was er meinte, aber er stellte sich dumm.
„Was soll mit mir los sein, Hudd?“
„Du weißt doch nicht etwa mehr als du sagst, oder?“
„Ich weiß nur aus Erfahrung, dass das Licht nichts gutes bedeutet. Und Mauri hat euch von den letzten Angriffen erzählt. Ich bin nur vorsichtig.“
„Was hat Rachel dazu gesagt? Sie hat ihre Mutter bei einem Angriff verloren.“
„Deshalb wusste sie als erste bescheid. Ich passe auf sie auf.“
Als Jack sich auf den Rückweg machte, hörte endlich der Regen auf, die Erde dampfte und es roch nach Frühling, wie er auf der Erde in den guten Zeiten gerochen haben musste, nach frischen Trieben, fruchtbarer Erde und wiederkehrender Erneuerung. Hier gab es keinen Frühling, weil es keinen Winter gab, nur winzige Verschiebungen der Jahreszeiten auf diesem Planeten. Das hatte er schon gewusst, als er mit dem Gleiter abgeschmiert war. Immergrün, dicht bewachsen bis auf die Stellen, in denen das Erz abgebaut wurde. Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn sie den Wald zu dem Zeitpunkt dezimiert hätten, dann wäre er unter den Bäumen nicht fast gestorben, weil er sich dort verlaufen hatte. Als letzte Konsequenz hatte er seinen Tracker aktiviert und festgestellt, dass er nicht funktionierte. Er hätte ihn wegschmeißen können, aber er hatte ihn wieder eingesteckt und darauf gewartet, dass ihn irgendein Tier fand und fressen würde. Kurze Zeit in Freiheit, aber zumindest in Freiheit gestorben. Er hatte bereits damit abgeschlossen, als Rachels Vater ihn gefunden hatte. Eine weitaus bessere Alternative, als wenn der Tracker funktioniert und sie ihn wieder eingesammelt hätten. Zwar hätten sie oben in der Station sein Bein schneller wieder hingekriegt, aber sie hätten ihn sofort wieder zum nächsten Einsatz geschickt. Bei den Ciudad war er ein Mann ohne Vergangenheit und konnte von vorn anfangen, ohne darüber nachdenken zu müssen, welche Konsequenzen es haben könnte, wenn er nichts tat. Endlich konnte er alles einmal auf sich zukommen lassen, nichts verlangte schwerwiegende Entscheidungen von ihm, kein Commander schickte ihn zum Säubern in einen fremden Raumfrachter.
„Es ist in Ordnung“, sagte Rachel, als er endlich zurück war, „die anderen haben gesagt, es könnte ein Licht aus den Minen gewesen sein, oder etwas, was in der Atmosphäre eingetaucht ist. Sie wären längst hier, wenn sie uns angreifen wollten, oder? Du bist noch immer ganz nass. Zieh dich um, ich mache dir etwas heißes zu trinken.“
Ihre Gefasstheit war gespielt. Die Nachbarn mochten sie beruhigt haben, aber sie alle konnten kaum die Augen verschlossen haben. Rachel machte ihm Gemüsebrühe, fütterte die Hunde vor der Tür und dann verbrachten sie die restlichen Stunden des Nachmittages damit, den Nebel in dem Wald zu beobachten, der langsam immer weiter zurückwich. Sie merkten erst, dass etwas nicht stimmte, als die beiden Ponys, die auf der Wiese gegrast hatten, die Köpfe hoben, in eine Richtung horchten und dann in den Wald verschwanden. Sie nahmen nicht den üblichen Trampelpfad und sie trabten nicht einfach davon, sie stürmten durch das Unterholz davon. Rachel lief vor das Haus, horchte und zuckte zusammen, als die erste Explosion durch den Wald hallte.
„Jack?“ rief sie, „ich kann nicht hören, wo es herkommt. Wir können nicht in irgendeine Richtung flüchten. Wir könnten ihnen entgegen laufen.“
Jack holte sie ins Haus zurück, brachte sie dazu, ein paar Sachen zu packen und die Hunde an die Leine zu nehmen.
„Nimm sie mit“, sagte er, „sie werden dich von der Gefahr wegführen.“
„Ich weiß nicht.“
„Bleib in der Nähe des Flusses und folge den Hunden. Ich sage den anderen das gleiche.“
„Was ist mit dir? Kommst du sofort nach?“
„Ich hole dich ein, sobald ich kann.“
Sie wehrte sich, drückte die Tasche vor ihre Brust und sträubte sich, das Haus zu verlassen. Auch, als Jack sie bei den Oberarmen packte und vor die Tür zog, wollte sie nicht los laufen.
„Nein“, sagte sie, „lass mich nicht allein.“
„Du bist nicht allein.“
Er konnte auf ihre Verzweiflung keine Rücksicht nehmen, er wollte sein Handeln nicht erklären müssen, weil dafür keine Zeit war, aber Rachel verstand es nicht.
„Wenn wir angegriffen werden, Rachel, muss ich ein paar Sachen in Sicherheit bringen, das ist verdammt wichtig. Ich lasse dich nicht im Stich, ich will nur, dass du dich in Sicherheit bringst. Mit allen anderen. Je weiter du vom Dorf wegkommst, umso besser.“
„Was musst du in Sicherheit bringen?“
Eine zweite Explosion rollte durch den Wald und die beiden Hunde krochen winselnd umher, zogen an den Leinen. Rachel zuckte zusammen.
„Ich bin damals mit einem Gleiter abgestürzt, ich war der Pilot. Eigentlich wäre ich gar nicht bei euch geblieben, ich wollte den Planeten verlassen und dafür sorgen, dass mich niemand findet. Es ist anders gelaufen. Trotzdem habe ich einen Teil meiner technischen Ausrüstung behalten und versteckt, die muss ich holen.“
„Vor mir versteckt?“
„Das sind hochtechnische Geräte, und du hättest mir nur Fragen gestellt. Ich wollte bei euch untertauchen und ich wollte ganz normal behandelt werden.“
„Du hast Geräte vor uns versteckt, die uns vor den Tusk hätten warnen können?“
Sie bewegte sich ein Stück von ihm weg, ihre Augen weit aufgerissen vor Entsetzen und sie vergaß die augenblickliche Situation. Jack hätte ihr am liebsten ins Gesicht geklatscht.
„Ich hätte die Tusk oder alle anderen nicht orten und euch warnen können. Glaubst du, ich hätte den kompletten Gleiter wieder zusammengebaut und repariert? Alles, was ich noch habe, sind ein paar Bodenortungsgeräte, die im Arsch sind und den verdammten Kampfanzug. Was willst du von mir hören? Dass ich euch ans Messer liefern würde?“
„Mein Dad hat immer gesagt...“
„Er wusste eine Menge von mir und hat’s für sich behalten, weil er wusste, dass es besser so war. Rachel, wir haben jetzt nicht die Zeit, das alles zu diskutieren.“
Sie nahm endlich die verängstigten Hunde, lief aus dem Dorf. Andere Bewohner packten ebenfalls ihre Sachen, manche standen zögernd herum.
„Bringt euch in Sicherheit“, sagte Jack, „wenn sie schnell unterwegs sind, kann die nächste Explosion uns alle wegpusten.“
„George hat gesagt, wir sollen nur die Lichter löschen.“
„Er will das Dorf nicht verlassen. Manchmal täuschen Plünderer solche Angriffe vor und rauben dann alles Vieh und Vorräte.“
Jack sah in ihre Gesichter und erkannte darin die Züge, die ihm schon vor Jahren aufgefallen waren. Diese Leute waren manchmal so engstirnig und dumm, so unglaublich geistig begrenzt, dass es ihn wütend machte. Sollten sie ruhig in ihren Häusern sitzen bleiben und warten, dass der Spuk an ihnen vorbeizog.
„Los“, rief er, „runter zum Fluss.“
Er lief ein Stück hinter Rachel her, bis er auf den Weg zur Kuppel abbog. Sie zerrte die Hunde zu ihm zurück.
„Verdammt, Rachel, lauf endlich.“
„Die Kuppel? Könnten wir uns dort nicht verstecken?“
„Du kannst dich nicht unter einem Glasdach verstecken.“
Ihm kam ein anderer Gedanke.
„Wenn ich die Anlage einschalte, kann ich ihren Angriff auf die Kuppel lenken. Das gibt euch noch mehr Zeit zum verschwinden.“
„Es gibt keinen Eingang in die Kuppel.“
Jack sagte, dass er ihn längst gefunden habe und dass er hoffte, die Generatoren wieder in Gang bringen zu können.
„Wo wirst du sein, wenn sie auf die Kuppel schießen?“
Jack drückte ihr einen letzten Kuss auf den Mund und murmelte: „Ich werde mich schon verkrochen haben.“
Die Explosion und das Rauschen der herannahenden Gleiter erfüllte die Luft und endlich gehorchte Rachel, drehte sich um und rannte davon. Jack wartete, bis sie verschwunden war, suchte den Eingang zur Kuppel auf und dachte, dass er hier vermutlich alles gut überstehen könnte. Der Gang war tief in den Fels geschlagen und wenn er es schaffte, die Kuppel zu erleuchten und sich hier zu verstecken, konnte alles gut ausgehen. Aber die Sache hatte einen Haken. Die Kuppel wäre nur das erste Angriffsziel und nichts würde die Tusk daran hindern, den gesamten Wald abzubrennen und alles zu töten, was sich darin verbarg. Er musste es anders angehen.
Wenn mit den Blockbatterien alles in Ordnung war, würde es funktionieren, aber Jack hatte keine Zeit, es auszutesten. Der erste Versuch musste gelingen.
Licht an, dachte er, tastete sich durch den dunklen Gang, und dann starten wir das Feuerwerk.
Er wusste, was er tat, und er wusste, dass es vermutlich nicht gut ausgehen würde, aber das war in Ordnung. Er hatte über drei Jahre lang ein gutes Leben gehabt, und es tat ihm nicht leid, die Konsequenzen zu tragen.
Bless me on my way

, dachte er, ich kann nicht einfach zusehen, wie alles zerstört wird. Wenn ich auch nur einen von den Gleitern runterholen kann, hab ich schon gewonnen.


Er holte seinen alten Kampfanzug aus dem Versteck, packte die Waffen und den Tracker aus und war erstaunt darüber, dass er viel zu weit war, er versuchte ihn neu anzupassen, aber es gelang ihm nicht vollständig. Das dumme oder das intelligente an diesen Anzügen war, dass man sie täglich tragen musste, um die optimale Passform zu behalten. Sie glichen sich dem Körper an. Er hatte diesen seit über drei Jahren nicht getragen und er hatte bei der Wald-und Wiesendiät abgenommen.
Am Kontrollpult schaltete er die Generatoren ein, wartete mit angehaltenem Atem auf eine Reaktion und schlug triumphierend auf das Pult, als die Beleuchtung in dem großen Raum aufflammte. Sein Puls begann zu rasen. Er war die letzten Jahre tot gewesen und jetzt lebte er wieder. Der Tracker, den er an eine der Batterien angeschlossen und hoffentlich so wieder funktionstüchtig gemacht hatte, lag auf dem Boden hinter dem Kontrollpult. Von dem erhöhten Pult aus konnte Jack den gesamten Raum der Kuppel überblicken. Ihn interessierte es nicht, welche wissenschaftlichen Computerprogramme er laufen lassen konnte, er räumte die Waffenschränke aus, aktivierte die Außenkanone und legte den Tracker griffbereit auf die Konsole. Das elektrische Licht in der Kuppel summte, leuchtete weit sichtbar in dem Wald und Jack musste nicht lange auf die Gleiter warten. Er hatte die ganze Zeit gehofft, dass es die Tusk waren, nicht die Brandroder und die Schiffe bestätigten es. In der Konsole waren Bildschirme zur Navigation eingelassen, aber einer war ausgefallen. Er hatte nur kurz geflimmert und war dann mit einem Knistern erloschen.
Ich werds so schaffen müssen, dachte er.
Der erste Gleiter tauchte auf dem Bildschirm auf, Jack zog das blinkende Fadenkreuz über den Gleiter und löste die Zündung der Laserkanone aus. Der erste war kein Problem, weil sie nicht mit einem Angriff gerechnet hatten, der Gleiter wurde am Leitwerk getroffen, konnte nicht mehr navigieren und stürzte trudelnd in den Wald. Die Explosion erschütterte die Kuppel. Die beiden anderen Tuskgleiter drehten ab, griffen erneut an und brannten eine Schneise in den Wald, die sich in sekundenschnelle auf die Kuppel zu bewegte. Jack visierte den rechten der beiden an, holte auch ihn vom Himmel und sah fasziniert, wie sich der brennende Laser auf die Kuppel zu bewegte. Für eine Abwehr war es zu spät. Die Laserkanone war für unmittelbare Ziele nicht ausgerichtet und Jack brachte sich hinter der stabilen Konstruktion der Feuerwand in Sicherheit. Er aktivierte den Tracker. Durch die angeschlossene Batterie sprang er sofort an, gab sein Signal ab und Jack hoffte, dass im Orbit noch jemand war, der es empfangen konnte. Sie sollten nicht kommen, um ihn zu holen. Sie sollten die Tusk verscheuchen. Sobald das geschehen war, würde er ihn wieder abschalten und verschwinden, wenn er denn dazu noch in der Lage war. Über ihm explodierte die Kuppel, er warf sich auf den Boden und obwohl er sich die Hände auf die Ohren presste, die Stirn auf den Boden drückte, war die Explosion um ihn herum so heftig, dass es ihm ein Trommelfell zerriss. Hinter der Feuerwand war er vor dem Glas und den herumfliegenden Brocken geschützt, ebenso vor dem Feuer, aber die Wand konnte nicht vor dem schützen, was danach kam.

Rachel hatte eine kleine Gruppe aus dem Dorf getroffen und gab weiter, was Jack ihr gesagt hatte. Die meisten flüchteten weiter, tiefer in den Wald und in die schmalen Täler. Aber George hielt sie einen Moment zurück.
„Wie will er sie denn aufhalten?“
„Er wird sie zur Kuppel locken.“
„Es hat seine Gründe, weshalb die Kuppel für uns tabu ist“, sagte George, „dort drin sind Geräte und Apparaturen, die uns alle in die Luft jagen können, wenn man sie falsch bedient.“
„Jack kann damit umgehen.“
„Er wird dort nicht lebend rauskommen.“
George nahm Rachel einen der zerrenden Hunde ab, wollte sie weiterziehen, aber sie blieb plötzlich stehen.
„Ich kann ihn nicht allein lassen“, sagte sie, starrte George an, drehte sich um und sah selbst durch die dichten Bäume hindurch die Explosion, die den ersten Gleiter zerstörte.
„Ich muss zurück.“
Sie gab George die zweite Leine in die Hand, ignorierte seinen Versuch, sie zu überreden, mit ihm mitzukommen. Sie hatte abgeschaltet.
„Wenn ich ihn finde, komme ich mit ihm nach“, sagte sie, lief bereits zurück und roch bereits nach wenigen Metern verbranntes Holz, Kunststoff und glühendes Metall.
Er wird sich schon retten, dachte sie, das schafft er.
Sie war außer Atem, hatte sich die Arme an den Büschen zerkratzt und wurde von der Kuppelexplosion zu Boden gerissen. Sekundenlang konnte sie nicht atmen, befühlte die Schnittwunden in ihrem Gesicht und stellte erleichtert fest, dass ihre Augen unversehrt geblieben waren. Um sie herum waren kleine Feuer ausgebrochen, die Splitter steckten im Boden und in den Bäumen. Ihre kleinen Schnittwunden brannten, aber das schob sie schnell beiseite. Sie rannte, stolperte und fing sich wieder, fand den kürzesten Weg zur Kuppel und stoppte erst, als sie durch die Lichtung sah, was von ihr übrig geblieben war.
Bless me

, dachte sie, ich muss den Eingang finden.



Das Kuppeldach war zerstört, es brannte überall und von der Technik war nichts mehr übrig. Der Gleiter schwebte über den Resten der Kuppel und mehrere Scouts waren in den Trümmern gelandet. Die Tusk unterhielten sich über Intercom, durchsuchten die Überreste und waren nicht sonderlich überrascht, wieder angegriffen und beschossen zu werden. Einer von ihnen wurde getroffen und brach zusammen, die anderen verschanzten sich und nahmen Jack unter Beschuss, der sich hinter der zerstörten Feuermauer verbarrikadiert hatte. Sie ließen ihm keine Chance. Die Kugeln schlugen um ihn herum ein und Jack war so damit beschäftigt, seine Pumpgun nachzuladen und immer wieder blind auf die Angreifer zu ballern, dass er erst merkte, dass er getroffen war, als er das Blut auf dem Boden sah. Und es waren nicht nur vereinzelte Blutspritzer.
Ignorier es,

dachte er, solange du noch Gefühl in den Fingern hast, schieß zurück.


Die Munition für die Pumpgun ging ihm aus, er steckte die letzten beiden Kartuschen in die Waffe, ließ sie einrasten und sah im Augenwinkel eine Bewegung, auf die er einfach nur reagierte, ohne zu überlegen. Der Tusk, der sich an ihn herangepirscht hatte, bekam die volle Ladung ab, wurde zurückgeworfen und verschwand aus Jacks Blick. Der andere Tusk, der den Vorstoß gewagt hatte, sprang von oben von den Trümmern herunter und stand wenige Meter vor Jack. Er hätte unter normalen Umständen schneller reagiert, aber er rutschte in seinem Blut aus, als er nach der Waffe neben sich griff und hinter einen Vorsprung hechten wollte. Die Ladung erwischte ihn in der Bewegung und nagelte ihn gegen die zerstörte Wand. Es passierte unmittelbar, dass er keine Luft mehr bekam und wusste, dass er sich nicht mehr bewegen konnte.
Es ist vorbei, dachte er, aber das war die Sache wert, wenn die anderen davongekommen sind.
Er blinzelte mühsam nach oben und sah den Tusk in seiner Kampfmaske und Ausrüstung näher kommen. Es schien alles um sie herum zu erstarren. Jack zog mühsam pfeifend ein wenig Luft ein, atmete durch hellrote Blutblasen hindurch. Der Tusk kniete neben ihm, beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte: „Wer bist du? Wo sind die anderen?“
Jack konnte nicht antworten. Die Schmerzen wurden mit jedem schwachen Atemzug stärker und er hätte dem Tusk gesagt, er solle es zu Ende bringen, wenn er gekonnt hätte.
„Du hast uns doch nicht allein in den Hintern getreten. Wo seid ihr hergekommen? Seid ihr vom Himmel gefallen?“
Er schlug Jack auf den Bauch, zufrieden darüber, kaum noch eine Reaktion zu erhalten. Er würde es beenden.

Rachel fand den Eingang zur Kuppel, weil Jack die Metalltür hatte offen stehen lassen und sich auch nicht die Mühe gemacht hatte, diese wieder mit heruntergerissenem Grün zu verbergen. Sie entwickelte in der engen und dunklen Röhre einen akuten Anflug von Platzangst, einem Gefühl, das vollkommen neu für sie war, weil es in ihrem bisherigen Leben so etwas wie enge dunkle Räume nicht gegeben hatte. Mit rasendem Herzen und weit aufgerissenen Augen tastete sie sich durch den Gang, dann auf das flackernde Feuer zu, nachdem der Gang einer Biegung folgte. Es war so viel Rauch in der Luft, dass ihr die Augen tränten und sie sich die Handfläche auf den Mund drückte, versuchte, durch ihren Ärmel zu atmen.
Ich werde doch nicht ohnmächtig

, dachte sie, ging auf die Knie und kroch durch die verstreuten Trümmer, schob Glas- und Metallsplitter vor sich her, um sich nicht die Hände aufzuschneiden. Sie sah nicht nach oben, ignorierte den Tusk-Gleiter und suchte nach Jack. Sie schrie auf, als die Schießerei begann und nur durch das ohrenbetäubende Krachen der Einschläge hatte niemand ihren Schrei gehört, sie kroch in einen umgestürzten Computerschrank, in dem runde und eckige Datenträger gelagert gewesen waren, mit denen niemand mehr etwas anfangen konnte. In dem Schrank zog sie die schiefhängende Tür zu, bis sie nur noch durch einen Spalt sehen konnte. Sie sah, aus welcher Ecke des Raumes geschossen wurde, bis der Scout in den Trümmern landete und die Tusk heraussprangen und zurückfeuerten.
Warum habe ich keine Waffe?

dachte Rachel, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, hätte ich eine Waffe, könnte ich ihm helfen

.
Es dauerte kaum zehn Minuten, bis das Gefecht eingestellt wurde und Rachel unter dem monotonen Zischen des Scouts den Tusk hörte, wie er Jack die Fragen stellte und keine Antworten bekam. Sie schob die Tür ein Stück zur Seite, drehte den Kopf nach oben und sah ein neues Licht über dem Gleiter, der diese Zerstörung angerichtet hatte. Es kam Bewegung in das Chaos aus Feuer, Zerstörung und Qualm, die Tusk rannten zu ihrem Scout und verschwanden und endlich kroch Rachel aus dem Versteck und auf die Stelle hinter der umgestürzten Feuermauer zu. Sie erwartete, dass Jack dort war, aber sie rechnete nicht damit, ihn so zu finden. Überall war Blut, verschmiert, in Spritzern und Lachen verteilt, und an einem herausgebrochenen Steinblock lag Jack, halb auf die Seite gedreht, die eine Hand noch immer am Tracker, der unentwegt sein Signal abgab. Sein Kampfanzug verhinderte, dass das Blut direkt aus den Schusswunden strömte, weil sich das Material bei Perforation wieder zusammenzog, das Blut lief aus dem Halsausschnitt, und als Rachel ihn mühsam ein Stück hochzog, fühlte sie entsetzt, dass innen alles voller Blut sein musste. Jack reagierte nicht, als sie auf ihn einflüsterte, es würde schon alles gut werden, sie hielt seinen Kopf und versuchte zu sehen, ob er noch atmete.
„Du wirst nicht sterben“, sagte sie, „ich bringe dich von hier weg.“
Ganz langsam öffnete er die Augen, sah ins nichts und Rachel drückte ihre Hände an sein Gesicht und drückte einen Kuss auf seine Stirn.
„Ich bleibe bei dir“, sagte sie, schluchzte zitternd auf, als sie glaubte, dass er sie ansah und sich sein schmerzverzerrtes Gesicht etwas entspannte. Sie wehrte sich heftig, als Hände nach ihr griffen und sie auf die Füße zogen, und sah, was sie taten, ohne es zu verstehen. Die Gestalten, ebenso unkenntlich in ihren Anzügen wie die Tusk, nahmen Jack den Tracker aus der Hand und schalteten ihn aus. Sie legten ihn flach auf den Boden und schoben etwas über sein Gesicht. Als sie den Anzug an den Seiten öffneten und ihn herunterzogen, sah Rachel die Schussverletzungen und wandte sich abrupt ab.
Das ist ein Albtraum

, dachte sie, ich wache auf und alles ist wieder in Ordnung. Jack ist in Ordnung. Das ist nicht sein Blut und mit solchen Wunden würde er gar nicht mehr leben.


Sie hörte die an sie gerichtete Frage, aber sie konnte nicht antworten. Als sie wiederholt wurde, sagte sie: „Wie kann er noch atmen?“
„Wir kümmern uns um ihn. Ich will jetzt von dir wissen, wer du bist und was Jack hier gemacht hat.“
Rachel starrte die Frau an, die ihren Helm abnahm und sich durch das furchtbar kurze Haar strich. Sie zog Rachel mit sich, damit sie sich verdammt nochmal endlich auf sie konzentrierte.
„Beantworte meine Fragen.“
Rachel stotterte, wusste nicht, wo sie anfangen sollte und brachte schließlich so viel hervor, dass sie verstanden wurde.
„Du sagst mir also, dass Jack bei euch Ciudad gelebt hat in den letzten Jahren?“
Rachel nickte. Darauf ließ es sich reduzieren.
„Ich bin Bessinger“, sagte sie, „wir haben Jacks Signal aufgefangen. Normalerweise mischen wir uns nicht in die Angelegenheiten ein, aber diesmal war es was anderes. Wir bringen ihn in das Schiff.“
Rachel nickte, entdeckte bei der Betrachtung ihrer Hände, dass sie aufgeschnitten und zerschrammt waren und wunderte sich, dass es nicht weh tat.
„Sie haben unser Dorf angegriffen“, sagte sie, „und wenn sie das tun, flüchten wir in den Wald. Wir suchen uns einen neuen Platz für die Siedlung.“
„Ihr flüchtet“, sagte Bessinger abfällig, „das war mir klar.“
Sie kontrollierte auf ihrem tragbaren Überwachungsmonitor das Umfeld und rief in den Intercom, dass sie weiterhin das Gebiet beobachten sollten, bis sie mit Jack oben waren.
„Könnt ihr mich mitnehmen?“ fragte sie.
Bessinger drehte sich zu ihr herum, musterte sie misstrauisch.
„Wozu sollen wir dich mitnehmen?“
Rachel bemühte sich, das Gefühl, das hier alles sei nur ein Albtraum, beiseite zu schieben und sich darauf zu konzentrieren, was sie als nächstes tun sollte. Auf keinen Fall wollte sie allein zu den anderen Ciudad zurück, wieder von vorn anfangen und dann ohne Jack auf den nächsten Angriff warten. Das konnte sie nicht.
„Ich will bei Jack bleiben.“
„Das geht nicht.“
Rachel wusste, welchen Eindruck sie auf die Soldaten machen musste, wenn ihr Aufzug für sie auch ganz normal war, das graue Kleid aus grobem Stoff, das von den Schultern herabhing und die schwarzen festen Schuhe ohne Strümpfe, ihr Haar nur mit einem Band zusammengebunden. Sie war weder groß noch kräftig, fand sich weder besonders hübsch noch weiblich. Was konnte sie nur tun, um von den Soldaten mitgenommen zu werden. Sie musste Bessinger davon überzeugen, dass sie bei Jack bleiben musste. Inzwischen hatten die Soldaten Jack in eine Trage gehoben und brachten ihn zum Scout hinüber.
„Was muss ich tun, um bei Jack bleiben zu können?“
In ihren Ohren klang ihre Stimme klein und unsicher, und Bessinger machte zur Antwort ein Gesicht, als könne sie es nicht glauben, es mit einem jammernden Kind zu tun zu haben.
„Wie heißt du noch?“
„Rachel.“
„Rachel, es gibt keine Möglichkeit, dass du bei ihm bleibst. Er ist Soldat und hat sich eine Weile bei euch verkrochen. Das ist alles. Du gehst in deinen Wald zurück und wir bringen Jack dahin, wo er hingehört.“
Bessingers Stimme war noch immer laut und hart, aber Rachel erkannte an ihrer Art, wie der Hase lief. Sie verstand es plötzlich.
„Es muss etwas geben, was ich tun kann, damit ihr mich mitnehmt. Ich werde alles tun, weil ich mich nicht damit abfinden werde, dass ich nicht bei ihm bleiben kann.“
Bessinger schlug sie. Sie schlug ihr mit der flachen Hand, die in einem Handschuh steckte, ins Gesicht, brachte sie zum wanken und das Auge auf der getroffenen Seite tränte. Rachel war noch nie geschlagen worden und es erschütterte sie. Nicht so sehr der Schmerz, der betäubte Druck auf ihrem Gesicht, sondern die Tatsache, dass eine andere Frau ihr einfach ins Gesicht schlug, ohne einen Grund dafür zu haben.
„Sie können mich schlagen, wenn sie wollen“, sagte sie, wischte die Tränen weg und zog die Nase hoch, „trotzdem werde ich Jack nicht allein lassen.“
Bessinger empfing ein elektronisches Signal, reagierte hektisch darauf und setzte ihren Helm wieder auf. Sie hätte Rachel niederschlagen und verschwinden können, aber sie tat es nicht.
„Wenn wir dich jetzt mitnehmen“, sagte sie und ihre Stimme klang durch den Helm hohl und fremdartig, „dann gibt es für dich kein Zurück. Du hast keine Zeit, es dir zu überlegen. Du steigst in den Scout und wirst niemals wieder in deinen Wald zurückkehren. Entscheide dich.“
Sie marschierte auf den Scout zu, einem heruntergekommenen runden Transporter, in dem ein halbes Dutzend Männer Platz fanden. Rachel stieg ohne zu zögern hinein, fand einen Sitzplatz und sah sich nicht einmal um. Sie war nicht neugierig auf die Technologie, die sie umgab, sie starrte nur auf Jack, der in der Trage hing, umgeben von lebenserhaltenden Geräten. Sie hatte so etwas noch nie gesehen, aber sie ahnte, dass alles noch in Ordnung war, solange die Geräte Geräusche von sich gaben. Ihr wurde schwindelig, als der Scout von der zerstörten Kuppel abhob und sie schluckte die Übelkeit herunter, die sie plötzlich überfiel. Sie hätte gern einen letzten Blick auf den Wald, auf ihre Heimat geworfen, aber es gab keine Fenster in dem hinteren Teil des Scouts. Niemand sprach mit ihr und niemand erklärte ihr, was als nächstes passieren würde.

„Rachel“, sagte Bessinger, als sie im Inneren des Schiffes aus dem Scout stiegen, das Schiff so groß war, dass Rachel es überhaupt nicht als solches wahrnahm, „was ich dir jetzt sage, werde ich nicht wiederholen und ich werde dieses Angebot nur einmal aussprechen. Es gibt nichts zu verhandeln zwischen uns. Ich bin der Commander der Station und was ich sage, zählt. Wenn du an Bord bleiben willst, gibt es nur eine Möglichkeit. Wenn du diese ausschlägst, werde ich dich mit einem Scout runterbringen lassen und das war’s. Ich habe zwar gesagt, dass du den Wald nicht wieder sehen wirst, aber da wollte ich nur wissen, wie weit du gehen würdest. Du kannst nur hier an Bord bleiben, wenn du der Flotte beitrittst. Als Soldat kannst du bleiben, als Zivilist nicht.“
Rachel weinte. Sie wusste, welche Konsequenzen ihre Entscheidung haben würde, nachdem sie ein paar Stunden Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken. Sie nickte, hob abwehrend die bandagierten Hände, als Bessinger ihr näheres erklären wollte.
„Ich will nicht wissen, was mich erwartet“, sagte sie, „das erfahre ich noch früh genug. Ich kann mich nicht darauf vorbereiten. Und ich werde jeder Bedingung zustimmen.“
Bessinger steckte sie in eine Kabine, ließ ihr einen Overall bringen und sagte ihr, sie solle sich umziehen und bereit halten. Rachel sah sich um, fühlte wieder die Beklemmung des kleinen Raumes und dachte: Gewöhn dich dran. Du bist in einem Raumschiff.
Sie zog sich schnell um, legte ihre Kleidung ordentlich auf dem Bett zusammen. An der Kabinentür ertönte ein hässliches Geräusch (sie war die elektronischen Geräusche nicht gewöhnt) und die Tür öffnete sich. Einer der Soldaten holte sie zur Untersuchung ab.
„Wenn ich mich hier verlaufe“, sagte Rachel, „gibt es einen Trick, wie ich michzurechtfinden kann?“
„Du wirst dich nicht verlaufen, weil du nicht allein herumlaufen wirst. Was glaubst du, wo du bist? Auf einem Vergnügungsdampfer?“
Sie beschloss, keine Fragen mehr zu stellen.
Nach der Untersuchung und weiteren langen Prozeduren traf sie auf Roger, der als erstes sagte, dass es um ihr langes Haar schade sei. Sie hatten ihr den Kopf rasiert und sie von Kopf bis Fuß mit einer Desinfektionsflüssigkeit besprüht, von der ihr so schlecht geworden war, dass sie sich hatte übergeben müssen. Dafür hatte sie sich nicht entschuldigt.
Roger war der erste an Bord, der sie menschlich behandelte, er bot ihr einen Becher Tee an und fragte: „Warst du schon bei ihm?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich habe nicht mehr danach gefragt, ihn sehen zu dürfen. Bei allem, was ich gefragt habe, habe ich zur Antwort bekommen, dass ich jetzt keine Fragen mehr stelle dürfe als Private. Ich weiß noch nicht einmal wirklich, was ein Private ist und was ich da zu tun habe.“
„Trink den Tee und dann bringe ich dich zu ihm.“
In dem Tee waren ein wenig Zucker und viel Bitterstoffe und Rachel schmeckte trotzdem nur den Styroporbecher.
Wenn hier alles so schmeckt, werde ich verhungern

, dachte sie.
Die Krankenstation lag auf einer anderen Ebene, die sie über die automatischen Aufzüge erreichten. Roger erklärte ihr einiges über das Schiff und weshalb sie im Orbit herumschwebten anstatt nach schönen neuen Welten zu suchen. Jack war nicht der einzige Patient auf der Station, aber er war der einzige, der unter einer Sauerstoffröhre lag, wieder umgeben von Apparaten und Geräten. In dem Neonlicht sah er totenbleich aus, die Wunden waren behandelt und verklebt und er schlief wie betäubt.
„Wir haben uns gut um ihn gekümmert“, sagte Roger, „und wir hoffen, dass er es packt. Ich hätte nicht gedacht, dass wir ihn überhaupt wieder sehen würden, nachdem er so lange verschwunden war.“
„Kann ich einen Moment bei ihm bleiben?“
Sie hatte das Gefühl, ihn schon monatelang nicht mehr gesehen zu haben und fühlte bei seinem Anblick wieder die Tränen hochsteigen. Sie schluckte ein paar Mal und war dankbar berührt, als Roger sagte: „Darf ich dir Gesellschaft leisten?“
Roger zog zwei Klappstühle heran und sie setzten sich, in direkter Nähe zu Jack.
„Kann er uns hören?“
„Vermutlich nicht“, sagte Roger, „aber sobald der Doc ihn aufwachen lässt, kannst du ihm erzählen, dass du bei ihm gewesen bist.“
„Hast du mit dem Arzt gesprochen?“
Roger grinste und machte eine Kopfbewegung.
„Der Doc ist ein Computer“, sagte er, „er überwacht ihn Tag und Nacht und wird ihn aufwachen lassen, wenn es ihm besser geht.“
„Eine Maschine?“
Rachel hätte fast den Vorschlag gemacht, sie könne ebenso bei Jack bleiben und auf ihn aufpassen, aber sie verstand den Vorteil einer Maschine.
„Erzähl mir, wie Jack zu euch gekommen ist“, sagte Roger.
Sie machte nicht viel Worte darüber, erzählte, dass er bei dem Schmied gearbeitet hatte und dass er manchmal schlechte Träume gehabt hatte.
„Wir haben nie gefragt, wo er herkam“, sagte sie, „das ist bei uns nicht üblich. Es kommen immer wieder Männer aus den Minen zu uns. Wenn sie sich anpassen, bleiben sie.“ Sie starrte zu Jack hinüber. „Er ist bei dem Angriff der Tusk in die Kuppel gegangen und hat den Angriff auf sich gelenkt. Das hat er für uns getan. Warum lasst ihr uns nicht wieder zurück, sobald er wieder gesund ist?“
Roger behauptete, das verstoße gegen irgendwelche Regeln. Der Computer, der Jacks Zustand überwachte, änderte den Rhythmus der Beatmungsmaschine und variierte die Zufuhr der Medikamente. Roger hielt einen Moment inne. Er konnte Rachel nichts von Jacks Vergangenheit erzählen, wenn er es nicht selbst getan hatte, das wäre gegen seine Ehre gewesen. Sie stammten beide von einem Planeten, von dem Rachel vermutlich noch nie etwas gehört hatte. Die Kinder, die dort geboren wurden, wuchsen in einer überstaatlichen Einrichtung auf, weil sie keine Eltern hatten, die sich um sie kümmerten. Es war einer der Kategorie fünf Planeten, wo man den Teil der Bevölkerung unterbrachte, die man loswerden wollte. Die Kinder bezahlten für die Taten ihrer Eltern und die Einrichtung, aus der sie stammten, war dem Militär angeschlossen. Das einzige Sinnvolle, was man aus solchen Kindern machen konnte, waren Soldaten. Jack war einer von denen, die alles sofort begriffen und mit allen Situationen zurechtkamen, aber jede Situation nutzte, um sein eigenes Ding zu drehen. Manchmal hatte er versucht zu flüchten, manchmal hatte er heimliche Geschäfte betrieben, die ihn fast um Kopf und Kragen brachten. Aber als Co-Commander war er unschlagbar. Er wurde überall eingesetzt und brachte seine Jungs jedes Mal wieder zurück, egal, wie kritisch die Situation war. Er war geboren für den Kampf. Für ihn würde es nie etwas anderes geben, bis zu dem Tag, an dem es ihn erwischte.
„Er hätte wissen müssen, dass sie ihn töten in der Kuppel, oder? Weshalb hat er sich nicht schnell gerettet?“
„Er ist darauf trainiert, andere zu retten“, sagte Roger, „und in Extremsituationen schließt das ihn selbst mitunter aus.“

Rachel wurde in dem Schiff bereits nach Tagen hart rangenommen und zur Ausbildung Roger unterstellt, der sie als erstes zum Fitnesstraining mit den Hyänen abkommandierte.
Der rasierte Schädel war erst der Anfang.
„Das wird sie nicht durchstehen“, sagte Bessinger, „sie wird spätestens in zwei Tagen umkippen und mich auf Knien bitten, sie in den Wald zurückzubringen.“
„Sie wird es durchstehen. Schließlich weiß sie, dass sie nur dann hierbleiben kann.“
„Herrgott“, fluchte Bessinger, „selbst die Toilette musste ich ihr erklären. Sie bekommt Panikattacken, wenn sie in einem Raum ist, wo sie zu beiden Seiten die Wände sehen kann, was bedeutet, dass sie von einer Panikattacke in die nächste wechselt. Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll.“
Roger hatte Geduld mit ihr, weil er wusste, dass alles neu und fremd für sie war. Er sah es als Chance, einen Rekruten so zu formen, wie er ihn haben wollte. Rachel war das perfekte Rohmaterial und er formte sie. Innerhalb von zwei Monaten funktionierte sie, wie er sie haben wollte. Sie beherrschte die Waffen, ihre Ausrüstung, sie hatte sich von einem panischen Mädchen in eine Maschine verwandelt.
„Ich bekomme meine Tage nicht mehr“, sagte sie während der kurzen Essenspause.
„Das liegt an den Medikamenten, das hat dir Bessinger erklärt. Das ist schon in Ordnung.“
„Sie hat gesagt, dass die Frauen keine Kinder bekommen sollen. Ich hätte gerne ein Kind gehabt, unten in unserem Wald.“
„Weshalb hat es nicht geklappt?“
„Das kommt vor bei uns“, sagte sie knapp.
„Frauen sind in den Stationen auch nur Soldaten, deshalb wird es so geregelt. Es macht euch stärker.“
Rachel überlegte, trank den Rest ihres Kaffees und sagte: „Ich würde besser kämpfen, wenn ich wüsste, dass ich ein Kind beschützen muss auf der Station.“

Sie fragte ab und zu nach Jack. Roger wusste, dass Jack der einzige Antrieb für sie war, das alles durchzustehen und nicht aufzugeben. Sie hatte die Hoffnung, ihn wiederzusehen, mit ihm zusammen zu arbeiten. Er hatte ihr nicht gesagt, dass das niemals passieren würde. Seit drei Wochen war Jack wieder soweit hergestellt, dass sie ihn wieder als Piloten einsetzten. Er war noch nicht ganz wieder der Alte, aber auf dem besten Weg dort hin. Dass Rachel an Bord der Station war, wusste er nicht. Er hatte nicht einmal gefragt, was aus den Ciudads oder aus Rachel geworden war.
Roger hatte ein spezielles Interesse an ihr entwickelt und obwohl er wusste, dass es dem Kodex widersprach, nutzte er sie für seine Zwecke aus. Während den Übungen, die teilweise in den Räumen stattfanden, die nicht überwacht wurden, flüsterte er ihr zu: „Wenn du willst, werde ich Jack Nachrichten von dir bringen. Er ist noch in der Station, es geht ihm immer besser. Ich kann ihm sagen, dass du hier bist.“
Sie lief auf einem Trainingslaufband ihr Tagespensum, Roger überwachte dabei ihre Blutwerte und ihr Kreislaufsystem. Er stand neben dem Band, hatte die Hände auf die Anzeige gelegt, dass Rachel diese nicht ablesen konnte. Sie starrte geradeaus, lief kontrolliert und in einem perfekten Rhythmus. Ihre Augen zuckten nur einmal in seine Richtung, als er das sagte. Erst, als ihre Übung beendet war, sie zusammen auf der Bank saßen und ihre Werte auf dem Monitor in der gegenüberliegenden Wand kontrollierten, sagte sie: „Ich habe ihn so lange nicht mehr gesehen. Würdest du ihm sagen, dass ich jeden Tag an ihn denke?“
„Das kann ich tun, aber dafür musst du auch was für mich tun.“ Er sah sie an. Ihre weibliche Figur war durch das Training und die Medikamente fast verschwunden, ihr Gesicht hatte die weichen Züge verloren, aber noch immer strahlte sie etwas aus, was alle Frauen an Bord längst verloren hatten.
„Ich hab gehört, dass die Ciudads alle untereinander Sex haben, egal, ob sie mit jemandem zusammen sind. Stimmt das?“
Rachel zögerte mit der Antwort. An ihre Heimat zu denken tat noch immer weh, verloren für immer.
„Wir haben Sex mit dem Partner, den wir uns aussuchen“, sagte sie, „aber wenn wir noch keinen gefunden haben, haben wir Sex zum Spaß. Ein paar von den Männern, die aus den Minen zu uns gekommen sind, meinten, das sei Sünde, aber ich habe nie verstanden, was sie damit meinten. Sex sei nur dazu da, um Kinder zu bekommen. So, wie wir nur essen, um uns satt zu machen, damit wir arbeiten können. Aber wenn die Äpfel reif sind, essen wir alle gebratene Äpfel und machen Apfelwein, bis uns schlecht wird davon. Wenn zwei Lust aufeinander haben, was soll daran Sünde sein? Es ist falsch, wenn der eine den anderen dazu zwingt. Das ist ein paar Mal passiert bei uns. Jeder hat das Recht, nein zu sagen und es ist falsch, das zu übergehen. Wie ist das hier auf der Station?“
„Wir haben selten Sex, weil wir jederzeit einsatzbereit sein müssen. Es gibt einige Bereiche, in denen man sich dazu treffen kann, aber meist wird der Drang danach durch die Medikamente unterdrückt, die wir nehmen.“
„Ich habe keine Lust mehr, seit ich meine Tage nicht mehr bekomme.“
„Zieh dich aus“, sagte Roger, „ich will dich mal ansehen.“
Sie gehorchte sofort und ohne zu zögern. Sie drehte ihm den Rücken zu, beugte sich herunter, drehte sich wieder um, als er sie dazu aufforderte.
„Was soll ich tun, damit du mit Jack sprichst?“ fragte sie und Roger winkte sie an sich heran, ließ sie sich zwischen seine gespreizten Beine knien.
Rachel tat das, was Roger verlangte, wie sie alle anderen Übungen und Lektionen durchführte, ohne zu fragen, weil sie wusste, dass es Jack Schritt für Schritt näher an sie heranbringen würde. Es machte ihr nichts aus, sie empfand nichts dabei, aber sie war froh, als es vorüber war. Roger wiederholte diese Dinge mit ihr, in Variationen und Spielarten und jedesmal brachte er Nachrichten von Jack.

Rachel begriff nicht, dass sie von Roger genau das hörte, was sie hören wollte. Jack ging es gut, alle Verletzungen waren gut verheilt und sobald es die Aufgaben zuließen, würde Roger ein Treffen arrangieren. Rachel hatte keinen Überblick, wie groß die Station war, wo genau sie sich befand und wo sie während ihrer Ausbildung noch landen würde. Sie teilte ihr Quartier mit fünf anderen Frauen, die ebenfalls privates waren, unter dem Drill litten und es sich selbst nicht eingestehen wollten. Sie konnten nur überleben, wenn sie hart waren, noch härter als ihre männlichen Kollegen. Sie jammerten weder über ihre wund gelaufenen Füße noch über ihre blauen Flecken und Platzwunden, sie schwiegen wie ein Grab bei sexuellen Übergriffen. Sie hätten eine Schwesternschaft bilden können, aber die Frauen fanden keine Gemeinsamkeiten und sie misstrauten sich gegenseitig. Sie strebten einem Team entgegen, aber dieses Team bildete sich aus den Einsatzkommandos. Pilot, Hyänen, Mechaniker. Das war die einzige Verbindung, die sie brauchten.
Roger setzte einiges aufs Spiel, als er mit einer der Kommunikatorcams Jack heimlich filmte, wie er den Antrieb eines Gleiters durchcheckte und die Aufnahmen Rachel zeigte. Sie weinte, als sie die gestochen scharfen Aufnahmen sah und wollte sie immer wieder sehen.
„Er sieht so fremd aus“, sagte sie, „aber es geht ihm gut, bless him. Es geht ihm gut.“

Jack hatte nach der Krankenstation nur zwei Wochen in der Reha verbracht, um wieder in Form zu kommen, nahm durchgehend Schmerzmittel und meldete sich wieder zum Dienst. Bessinger bestand auf ein Tribunal, um ihn für seine Flucht zu bestrafen, aber niemand in den höheren Rängen, weitab in anderen Umlaufbahnen, hatte ein Interesse daran.
Piloten und Kämpfer wie Jack gab es viele. Er hatte keine Revolution angezettelt, er war einfach nur abgestürzt und hatte es versäumt, Kontakt mit der Station aufzunehmen. So sah es der General, mit dem Bessinger über Intercom sprach.
„Bei allem Respekt, Sir“, sagte sie, „er wird es wieder versuchen. Irgendwann wird ihm die Flucht gelingen.“
„Wenn er zu fliehen versucht, knallen sie ihn ab, Chief Commander. Das ist der Spielraum, den sie haben. Kürzen sie meinetwegen seinen Sold und seine Ruhephasen, wenn sie ihn bestrafen wollen.“
Das tat Bessinger nicht, denn sie wusste, dass Jack es vollkommen egal war, wie viel Geld er bekam oder wie viel Stunden Freizeit er hatte. Jack kämpfte, weil es das einzige war, was er tun konnte, solange er auf der Station oder in einem Flieger war.
Vor seinem ersten Einsatz ließ sie ihn antanzen. Er hatte fast sein ursprüngliches Kampfgewicht zurück, aber seine Körperhaltung und seine Bewegungen zeigten, dass er noch nicht wieder hergestellt war. Sie hatte die Narben gesehen und wusste, dass das Fleisch noch monatelang schmerzen würde.
Sie faltete ihn prophylaktisch zusammen, um ihn daran zu erinnern, was seine Aufgaben waren. Wie schon in den alten Zeiten, ließ Jack in keiner Weise seine Stimmung erkennen, stand stoisch vor Bessinger, die in ihrer üblichen Art vor ihm hin- und herstapfte während sie sprach. Jack erwiderte nichts. Es wurde nicht erwartet.
„Du befolgst die Anweisungen. Meine Anweisungen. Ich werde dich überwachen während des Einsatzes und wenn nötig, werde ich eingreifen, aber damit rechne ich nicht. Du weißt, was zu tun ist und dass du dir keinen Fehler erlauben darfst. Du bist nur der Pilot, Jack, du redest kein Wort mit den Hyänen. Ich will nicht, dass dich einer der Jungs ablenkt mit dummen Fragen. Wir haben nur die Aufgabe, auf dem alten Transporter nach Frachtgut zu suchen und das Logbuch zu sichern. Wir vermuten, dass der Transporter von Piraten aufgebracht worden ist, aber trotzdem sollten wir vorsichtig sein. Für die ganze Aktion sind nicht mehr als sieben Stunden geplant. Sieh zu, dass du es einhältst.“
„Kein Problem“, sagte Jack. Er rührte sich nicht, denn Bessinger marschierte noch immer auf und ab, sie war noch nicht fertig mit ihm.
„Als wir dich gefunden haben“, sagte sie, „da war ein Mädchen bei dir. Du hast nie über sie gesprochen.“
„Wozu auch?“
„War sie wichtig für dich?“
„Bessinger, das spielt keine Rolle mehr.“

Kaum dass er in dem Pilotensitz angeschnallt war und die Triebwerke startete, schmerzten seine Narben. Er konnte sich nur mit Mühe auf den Flug konzentrieren, schwitzte und zitterte gleichzeitig. Den Einsatz brachte er ohne Pannen hinter sich, allerdings schaltete er die Funkverbindung zur Station ab und brachte damit Bessinger zum Verstummen. Er konnte ihre Stimme nicht ertragen, besonders nicht, wenn sie ihn zu kontrollieren versuchte. Er kannte keinen einzigen der Hyänen, aber er sorgte dafür, dass sie alle wohlbehalten zurück auf die Station kamen, inklusive des elektronischen Logbuchs, was aus unerfindlichen Gründen der Rettung wert gewesen war.
Der Zusammenstoß kam später, als Jack auf dem Weg durch die Quarantänestation war. Einige unangenehme Dinge hatte er tatsächlich vergessen, als er bei den Ciudads gelebt hatte. Die Quarantäne und die Säuberung gehörten dazu.
Nach jedem Aufenthalt außerhalb der Station wurden Schiff und Besatzung einer besonderen Säuberung unterzogen, denn es hatte sich gezeigt, dass Kontakte zu fremden Lebensformen nicht immer ungefährlich waren, selbst wenn es kein feindlicher Kontakt gewesen war. In früheren Jahrzehnten hatten sich viele Hyänen und Cleaner mit Krankheiten angesteckt, die teilweise nicht mal als solche erkannt worden waren. Die Position des Hygienebeauftragten war ebenso lebensnotwendig wie verhasst auf der Station. Jack zog sich aus, warf die Klamotten in den Bodenschacht und trat in den Zylinder. Es führte kein Weg daran vorbei, aber er hasste diese Prozedur. Während der Säuberung dachte er an Rachel und an ihre gemeinsamen Stunden in den seichten Ufergewässern, er rief sich ihr Gesicht und ihre Stimme ins Gedächtnis zurück, vertiefte sich darin und blockte danach jeden Gedanken, was aus ihr geworden sein mochte, ab. Darüber wollte er nicht nachdenken. Wenn seine wahnwitzige Aktion nicht wenigstens Rachel das Leben gerettet hatte, dann hatte alles, was er jetzt noch tat, ebenfalls keinen Sinn mehr. Er hatte nicht die Absicht gehabt, lebend davonzukommen.
Bless me on my way, war sein Gedanke gewesen, aber Bessinger hatte etwas anderes für ihn entschieden. Er war ein Rädchen im System, ein wichtiges Rädchen, denn von seiner Sorte gab es nicht mehr viele.
Rachel, dachte er, während die stinkenden Chemikalien von allen Seiten auf ihn gesprüht wurden, er sie keuchend einatmete, sie in seinen Augen brannten, ich hätte versuchen können, mit euch in den Wald zu fliehen, aber wie lange wäre das gut gegangen. Am liebsten hätte ich sie alle abgeschossen, damit sie euch endlich in Ruhe leben lassen.
Ihm fiel ein, dass Bessinger etwas über Rachel gesagt hatte. Sie sei bei ihm gewesen, als sie ihn gefunden hatten.
Darüber dachte er nach, als er dem Zylinder entstieg, gegen die übliche Übelkeit ankämpfte, obwohl er wusste, dass es zum guten Ton gehörte, sich nach der Säuberung die Seele aus dem Leib zu kotzen. Er kleidete sich neu ein und landete mit finsterem Gesicht im Aufenthaltsraum. Dort hockten die Hyänen gelangweilt herum, diskutierten darüber, auf welche Art und Weise sie ihren Sold verprassen würden, dass sie seit Monaten keinen aufregenden Einsatz mehr geflogen waren und ließen die sonst üblichen Sprüche hören.
Jack hockte sich an die Wand, grübelte die Übelkeit und den Gestank der Chemikalien davon und alles wäre gut gelaufen, wenn nicht Morgan, dessen Mundwerk ebenso groß und anmaßend war wie seine äußerliche Gestalt, dumme Fragen gestellt hätte.
„Jack“, rief er durch den Raum, „du hast doch bestimmt Einsätze geflogen, die was besonderes waren. Die Jungs hier sind erst seit einem Jahr dabei, erzähl doch mal was von den Begegnungen.“
„Von welchen Begegnungen?“
„Hab gehört, dass es Einsätze gab, wo nur die Hälfte der Männer lebend zurückgekommen ist und niemand wollte erzählen, was mit den anderen passiert ist.“
„An sowas kann ich mich nicht erinnern.“
Jack sah niemanden direkt an und allein seine Stimme ließ wissen, dass Morgan besser keine weiteren Fragen stellte und ihn in Ruhe ließ.
„Komm schon, Mann. Als wenn du dich an sowas nicht erinnern würdest. Ich weiß, dass du lange weg warst vom Fenster, aber erzähl mir nicht, dass dein Hirn darunter gelitten hätte. Dann würdest du nicht mehr fliegen.“
Morgan kicherte glucksend und fügte hinzu: „Du warst jahrelang weg und alle haben gedacht, du wärst bei dem Absturz krepiert, aber du hast bei diesem Völkchen gelebt. Bist bei ihnen gut untergekommen, wie ich gehört habe.“
Als Jack nichts erwiderte, warf Morgan einen gespielt vielsagenden Blick in die Runde.
„Wenn ich es richtig verstanden habe, hast du dir eines dieser Waldmädchen geschnappt, die es dir ordentlich besorgt hat. Hab gehört, dass die jeden drüberrutschen lassen, vor allem, wenn sie aus den Minen kommen. Hast du ihr auch erzählt, dass du aus den Minen abgehauen bist, damit sie dich ranlässt?“
Morgan erwartete keinen körperlichen Angriff von Jack, deshalb ignorierte er die offensichtlichen Anzeichen, auch angespornt von den herumstehenden Hyänen. Was Jack explodieren ließ und Morgan fast das Leben kostete, war die Tatsache, dass Jack eine Ahnung hatte, dass Bessinger genau gewusst hatte, dass so etwas passieren würde und es nur während des Einsatzes verhindert hatte.
Von wem hatte die Besatzung erfahren, wo er gewesen war? Bessinger hatte ihr Schandmaul nicht halten können, obwohl sie in keinster Weise wusste, was überhaupt dort passiert war. Jack hatte nichts erzählt.
Er stürzte sich auf Morgan, brachte ihn zu Boden und obwohl Morgan kein Leichtgewicht war, hielt er ihn dort und schlug auf ihn ein. Er dachte nicht darüber nach, was er tat, es war ihm gleich, was mit ihm und mit Morgan passierte. Hätte er eine Waffe greifbar gehabt, hätte er sie benutzt.
So überlebte Morgan die Attacke, Jack kniete auf seiner Brust, knallte seine Fäuste in das Gesicht, dann schlug er Morgans Kopf auf den Boden, so lange, bis die Sicherheitskräfte ihn außer Gefecht setzten.
Sie benutzten ihre Elektroschocker ohne Vorwarnung und auf der höchsten Stufe. Es dauerte fast zwanzig Stunden, bis Jack sich wieder bewegen und sprechen konnte. Er saß in der Arrestzelle und wartete darauf, dass Bessinger auftauchte, aber sie kam nicht.
Es war Roger, der sich zu ihm wagte.
„Hast du den Verstand verloren, Jack?“
Er reichte ihm einen Plastikbecher mit trübbraunem Inhalt. Weder an der Farbe noch am Geschmack konnte Jack erkennen, ob es Kaffee oder Tee war, es war das übliche Getränk, was aus der Instantmaschine floss und mal mehr oder weniger gut schmeckte.
„Was meinst du?“ erwiderte Jack.
Er betrachtete innerlich grinsend seine zerschlagenen Knöchel, als er nach dem Becher griff. Seine Hände zitterten, die Wirkung des Schockers hatte noch nicht ganz nachgelassen.
„Nur, weil Morgan irgendetwas von den Ciudads gefaselt hat, schlägst du ihm das Gesicht zu Brei? Bessinger würde dich am liebsten aus der Station schmeißen.“
„Weshalb ist sie nicht hier?“
„Hmh?“
„Weshalb hat sie’s dir aufgebrummt, mit mir zu sprechen? Ist sie beschäftigt?“
Jack schlürfte das Getränk, hob dazu den Kopf an, denn auch sein Gesicht und seine Lippen waren noch halb taub.
„Sie ist beschäftigt und außerdem war sie der Meinung, diese Sache könnten wir besser von Mann zu Mann klären. Wir haben uns beide die Aufzeichnungen aus der Q-Station angesehen und uns war klar, dass du wegen Rachel so explodiert bist…“
Jack versuchte es erneut, aber seine Reaktionen waren so langsam und seine Bewegungen unsicher, dass er Roger in die Arme fiel, sie gemeinsam zu Boden gingen und Roger ihn mit wenigen Handgriffen auf die Seite legte und ihm einen Arm auf den Rücken hebelte. Jack hielt still, um Roger keinen Anlass zu geben, ihm den Arm zu brechen. Er stützte die Stirn auf den Boden, die Augen halb geschlossen und murmelte: „Ich hab euch nie von ihr erzählt und ich hab euch auch ihren Namen nicht gesagt. Was wird hier gespielt?“
„Ich sag’s dir. Darf ich dich dazu los lassen?“
„Das solltest du dir überlegen.“
Roger wusste, dass Bessinger am Monitor alles überwachte. Vermutlich wusste Jack es auch oder er vermutete es, aber er ließ sich nicht in die Karten gucken. Mit einem Blick in das tote Kameraauge unter der Decke ließ Roger Jack aus dem Griff los.
„Wenn du mich umhaust, Jack, kann ich dir nicht sagen, was du wissen willst.“
„Ich kann dir so eine verpassen, dass du Sternchen siehst du mir trotzdem alles erzählen wirst.“
„Du kannst dich ja nicht mal auf den Beinen halten.“
Im exakten Winkel des Überwachungsauges saßen sie zusammen, taxierten sich und Jack blieb friedlich.
„Wir haben dich aus den Resten der Anlage rausgeholt, nachdem wir dein Trackersignal empfangen hatten und dass du halb tot warst, war nur das eine Problem. Rachel hockte neben dir und wollte dich nicht allein lassen und vermutlich hat sie bei Bessinger einen weichen Punkt getroffen, obwohl sie das natürlich niemals zugeben würde. Sie hat zu Rachel gesagt, dass es nur einen Weg gäbe, sie auf die Station mitzunehmen.“
Jack schloss die Augen und blendete Rogers Stimme aus. Er wusste, was geschehen war und wollte nichts mehr darüber hören. Wenn er geahnt hatte, dass etwas faul war, hatte er mit einer solchen Erklärung nicht gerechnet. Das war grauenhafter, als wenn Bessinger sie in der Anlage erschossen hätte, weil sie sich weigerte, von ihm wegzugehen. Gegen seinen Willen hörte er Rogers Erklärung wie ein metallisches Kreischen.
„… sie macht sich sehr gut, obwohl wir am Anfang dachten, sie würde es nicht durchstehen, aber sie ist aus einem harten Holz geschnitzt, und sie hat…“
Jack beugte sich so weit herunter, wie es sein verletzter Körper zuließ, die Narben protestierten und ließen Rogers Stimme erneut verstummen. Er dachte an Rachel, wie sie in dem See schwamm, das Glitzern des Wassers um ihre Schultern herum, dieses Glitzern in ihrem Gesicht und auf ihrer Haut. Ihr Haar wie feuerroter Seetang. Rachel, wie sie die Ponys und Hunde fütterte, dabei über die fressgierigen Eskapaden der Viecher lachte, Rachel, die ihm zujubelte, als er sich von der Sau in den Dreck stampfen ließ. Diese guten Erinnerungen würden verschwinden, denn jetzt wusste er sie hier auf der Station, umgeben von gut funktionierendem Weltraumschrott, künstlicher Nahrung, künstlicher Luft, künstlichem Schlaf. Ihr Haar war verschwunden, denn sie rasierten sich alle die Schädel, ihre fröhliche Natur war verschwunden, denn für so etwas war kein Platz auf der Station und in diesem Leben. Die Rachel, die er gekannt und geliebt hatte, war verschwunden.
Sie weiß, dass sie nie wieder zurück kann

, dachte Jack, das hat sie in Kauf genommen, nur um irgendwann wieder bei mir zu sein. Sie weiß nicht, was sie sich damit angetan hat. Der Jack, den sie kannte, ist ebenfalls tot, genauso wie sie selbst.


Roger beobachtete Jack, wagte sich nicht vorzustellen, was in dessen Kopf gerade vor sich ging. Er bedauerte fast, dass Rachels kleine Gefälligkeiten nun ein Ende hatten. Er musste Rachel noch daran erinnern, dass diese Dinge unbedingt ein Geheimnis zwischen ihnen bleiben mussten.

Bessinger saß in der Zentrale, kontrollierte ein paar Einträge in die Logbücher, Berichte der Hyänen und ankommende Neuigkeiten aus den umliegenden Stationen. Sie versuchte sich abzulenken, gab vor, nicht an das Problem mit Jack zu denken, aber es ging ihr nicht aus dem Kopf, egal, womit sie sich auch beschäftigte.

Er wird verlangen, dass wir sie zurückbringen in ihren Wald

, dachte sie, selbst, wenn dort alle aus ihrem Clan tot oder verschwunden sind. Und bei seinem nächsten Einsatz wird er dafür sorgen, dass sein Flieger abstürzt. Eine hirnrissige Idee, aber er wird sie durchziehen. Er weiß, dass wir ihn selbst auf diesem relativ kleinen Planeten nicht suchen können. Ich werde ihm irgendeine selbstauslösende Körpermine verpassen müssen, damit er mit dem nächsten Flieger keine Bruchlandung macht. Anders werde ich ihn nicht wieder in die Spur bringen können.


Sie arbeitete zwei Schichten durch, traf sich mit Roger und ließ sich ihren Eindruck bestätigen. Roger war einsilbig, hing noch dem Zusammenstoß mit Jack nach, aber auch er war der Meinung, dass Jack irgendetwas planen würde.
„Wir können Rachel nicht ewig vor ihm geheim halten“, sagte er, „es sei denn, wir hätten es geschafft, sie auf eine andere Station zu versetzen. Bevor er begreift, was los ist.“
„Hast du ein schlechtes Gewissen, Roger?“
Er sah Bessinger stirnrunzelnd an. Möglicherweise war sie hinter seine heimlichen Aktionen gekommen, mit denen er Rachel in der Spur gehalten hatte. Wenn es so war, sagte sie jedenfalls nichts.
„Es war von Anfang an keine gute Idee, Rachel überhaupt an Bord zu holen“, sagte er, „deshalb habe ich schon ein schlechtes Gewissen. Sie schlägt sich tapfer, aber sie wird es nicht ewig durchhalten. Ihre Ambitionen sind nur darauf ausgerichtet, Jack möglichst nahe zu sein, und das wird sie irgendwann umbringen.“
„Du stellst meine Entscheidung in Frage.“
Zum Teufel – ja

, dachte Roger.
Er räusperte sich und sagte: „Ich kann deine Entscheidung nicht nachvollziehen, aber ich stelle sie nicht in Frage. Du bist hier der Boss.“
Sie entschieden gemeinsam, Jack für einige Zeit von den Einsätzen abzuziehen, mit der Erklärung, ihn von den Medikamenten und Schmerzmitteln abzusetzen) und zeitgleich Rachel auf ihren ersten Einsatz zu schicken. Wie erwartete, machte Rachel ihre Sache gut, sie passte sich dem Team an, zeigte ihre antrainierte Routine und selbst von der Raumkrankheit blieb sie verschont.
Ihr Auftrag war einfach gewesen, auf einem weitgehend toten Planeten zu landen, dort ein paar Proben einzusammeln, diese sorgfältig einzupacken und wieder zur Station zurückzufliegen. Manchmal bekamen sie den Auftrag, Gesteinsproben an Firmen mit Schürfrechten zu liefern, in der Hoffnung, noch wertvolle Gesteine oder Erze abbauen zu können. In diesem Sektor gab es viele tote Planeten und auf denen, die noch Leben beherbergten, gab es weder Recht noch Ordnung, dort herrschten Chaos und Anarchie, weil dort viele verschiedene Lebensformen trafen und oft nicht friedlich miteinander auskamen. Sie alle taten das, wofür sie bezahlt wurden, sie waren Söldner. Und den Frieden und Gerechtigkeit bringen gehörte einfach nicht dazu.
Rachel tat, was von ihr verlangt wurde und sie stellte keine Fragen über die Hintergründe, denn alle Erklärungen waren viel zu abstrakt für sie. Sie wusste nichts von den politischen Verhältnissen, korrupte Absprachen und Absichten der Großkonzerne. Bei einigen Dingen wusste sie nicht einmal, dass diese existierten. Sie funktionierte gut in ihrem Rahmen, aber sie würde schneller als alle anderen an ihre Grenzen stoßen.

Es vergingen zwei Monate nach dem Vorfall in der Quarantänestation und es schien, als sei Jack wieder der Alte. Er erwähnte Rachel nicht einmal, setzte mühevoll seine Medikamente ab und bereitete sich auf seinen nächsten Einsatz vor.
Bessinger bekam einen heiklen Auftrag und wusste, dass sie nur Jack und eine handvoll der besten Hyänen schicken konnte. Es würde einer dieser Einsätze unter fremder Flagge werden, bei dem, wenn die Jungs erwischt wurden, Bessinger als Commander jede Verantwortung abstreiten würde. Jack hatte in der Vergangenheit viele solcher Einsätze durchgezogen und war fast immer heil herausgekommen. Während Bessinger den Einsatzplan durchging und überlegte, wen sie noch in die Truppe packen konnte, quäkte die Intercomanlage und Roger meldete sich. Er musste in einem der Freizeitquartiere sein, denn die Verbindung von dort war hundsmiserabel. Seine Stimme kam zerhackt und rauschend aus dem Lautsprecher.
„Bessinger? Ich brauche hier deine Hilfe.“
Sie warf einen kurzen Blick auf die Kennung der Intercom. Roger war in dem Raum der Mannschaftsquartiere, den sie den Schallkarton nannten. Er war klein und schalldicht und mit dem Computer verbunden, um Songs aus dem endlosen Musikarchiv abspielen zu können. Viele aus der Besatzung nutzten den Raum, um dröhnend laute Musik zu hören, abzuschalten oder um ihre Aggressionen herauszulassen. Wie in allen gemeinschaftlich genutzten Räumen war in die Tür ein Glasfenster in Augenhöhe eingelassen und Bessinger warf einen Blick hindurch, bevor sie den Sensor zum Öffnen der Tür betätigte. Roger und Jack erschienen ihr beide gelassen und ruhig und sie fragte sich, weshalb Roger so alarmiert geklungen hatte.
„Was ist los?“ fragte sie. Roger machte eine Geste in Bessingers Richtung, war dabei an Jack gewandt und er schien erleichtert darüber zu sein, nichts sagen zu müssen.
„Ich weiß, dass wir einen dieser Scheiß-Aufträge vor uns haben“, begann Jack. Er hatte hart trainiert, um sich das Absetzen der Medikamente zu erleichtern, hatte an Gewicht zugelegt, wieder Muskelmasse aufgebaut.
„Ich gehe mal davon aus, dass ich als Pilot eingesetzt werde und bevor es los geht, will ich Rachel sehen. Und zwar sofort. Ich weiß, dass sie in der Station ist. Roger bringt sie hier und ihr lasst uns eine Stunde.“
„Weshalb sollte ich dem zustimmen?“ fragte Bessinger.
„Weil du dann sicher sein kannst, dass ich alle Jungs heil zurückbringe.“
Roger hob die Schultern und signalisierte, dass das Ganze nicht auf seinem Mist gewachsen war. Er hatte sich mit Jack im Schallkarton nur getroffen, weil er ihm auf den Zahn fühlen wollte, weshalb er Rachel so augenscheinlich ignorierte. Sehr schnell war ihm klar geworden, dass Jack nur auf den richtigen Zeitpunkt wartete.
„Okay“, sagte Bessinger, „dein Versprechen, nicht aus der Reihe zu tanzen, genügt mir.“
Sie wussten alle drei, dass das eine Lüge war. Jack würde es über kurz oder lang wieder versuchen, sich abzusetzen und Bessinger war sich dessen bewusst.
„Weshalb gerade jetzt, Jack? Du hättest sie sehen können, nachdem du erfahren hast, dass sie auf der Station ist.“
„Ich will sie vor dem Einsatz sehen, falls ich nicht zurückkomme.“
Roger verschwand. Jack setzte sich auf die in die Wand eingelassene Pritsche, streckte sein pochendes Bein aus und starrte an die Tür. Jetzt, wo der Zeitpunkt gekommen war, kam seine innere Ruhe zurück und er hoffte nur noch, dass alles so laufen würde, wie er es geplant hatte seit dem Tag, an dem er erfahren hatte, dass Rachel auf der Station war. Er hatte lange darüber nachgedacht und sich immer und immer wieder gefragt, was er tun sollte. Wenn er eine Möglichkeit gesehen hätte, Rachel und sich selbst auf irgendeiner Handelsstation oder in einer Stadt untertauchen und verschwinden zu lassen, hätte er alles auf sich genommen, um es durchzuziehen. Aber es war nahezu unmöglich, von dieser Station zu verschwinden und irgendwo neu anzufangen. In den Städten brauchte man Papiere und die hatten sie als Angehörige der Stationstruppen nicht. Das Kommen und Gehen auf den Handelsstationen wurde lückenlos überwacht und dort kam keine Maus an Bord, die nicht zuvor durchleuchtet worden war. Eine wirkliche Chance hätten sie nur bei den Ciudads oder auf einem der ähnlichen Planeten, aber welche Überlebenschancen hatten sie dort. Allein konnte Jack es auf sich nehmen, sich unter schlechten Bedingungen durchzuschlagen, aber das konnte er Rachel nicht antun. Was war von Rachel übrig geblieben nach den Monaten an Bord der Station?

Wie oft war er dem Tod schon von der Schippe gesprungen? Wie oft war er nach einem Blackout auf der Krankenstation aufgewacht, angeschlossen an die Geräte und mit Schmerzen, die ihn hätten schreien lassen, wenn seine Stimmbänder ihm gehorcht hätten. Wie oft hatte er sich klaffende Wunden selbst geklammert, war nach einer missglückten Aktion neben verletzten und toten Hyänen wachgeworden. Das alles würde auch auf Rachel zukommen, ganz egal, ob sie es ertragen konnte oder nicht. Jack dachte an das kleine ebenerdige Häuschen mit dem undichten Dach, an den planlos verwilderten Garten, an den dichten Wald und an die Geräusche, die Tag und Nacht um sie herum gewesen waren. Bessinger konnte nicht verstehen, weshalb er dort untergetaucht und geblieben war, weshalb er nicht den Sprung zurück in die Zivilisation gewagt hatte.
Er tauchte mühsam aus seinen Gedanken auf, sein Schädel pochte und er hatte einen Augenblick den Geruch frisch geschlagener Bäume, heißen Metalls und schmorender Kabel in der Nase, den durchdringenden Geruch seines Absturzes in den Wald der Ciudads. Er erhob sich von der Bank, entlastete sein schmerzendes Bein, starrte auf den Private, der stocksteif vor ihm stand, ein kleiner schmaler Kerl, dessen Gesicht nur aus großen Augen zu bestehen schien. Erst, als sich der Private bewegte, erkannte er Rachel, eine Rachel mit rasiertem Schädel, einem Gesicht, das gelernt hatte, unbeweglich und starr zu sein und keine Gefühlsregung mehr zuzulassen. Sie flüsterte etwas, aber das konnte Jack nicht verstehen, denn sein Schädel pochte noch immer, und sie wusste sofort, dass er sie nicht verstand und endlich ließ sie die antrainierte Disziplin fallen und war wieder Rachel. Sie nannte seinen Namen, umarmte ihn, drückte ihn an sich, zunächst vorsichtig, dann immer fester, mit jedem Atemzug. Sie zitterte am ganzen Körper, aber sie weinte nicht. Jack legte seine Arme um sie, hob den Kopf und sah Bessinger geduldig an. Sie stand noch immer neben der Schaltanlage des Raumes, die Arme vor der Brust verschränkt, das Gesicht der pure Ausdruck ihrer Missbilligung.
„Eine Stunde“, sagte sie und verließ den Raum.
Roger stand vor der Tür, machte einen Schritt zur Seite und sah weiter durch das eingelassene Fenster. Aus irgendeinem Grund hatte er ein ungutes Gefühl und wollte Jack und Rachel weiter beobachten, aber Bessinger zischte ihn an: „Was soll das? Geh von der verdammten Tür weg.“
„Ich trau dem Frieden da drin nicht.“
„Er will eine Stunde mit ihr und vielleicht wird er mich danach bitten, sie nach Hause zu schicken. Das wird er ihr sagen.“
„Das ist das, was du denkst, was er vorhat.“
„Und was denkst du, was er vor hat?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Das weiß man bei Jack nie.“
Bessinger zog es zurück in die Zentrale, wo sie sich trotz allem nicht auf ihre Arbeit konzentrieren konnte. Sie hatte Roger weiter auf seiner Überprüfungsrunde geschickt, aber sie wusste, dass er sich wieder vor der Tür des Schallkartons einfinden würde, sobald er dachte, sie sei beschäftigt. Sie war nicht wütend auf ihn, aber bei nächster Gelegenheit würde sie ihm ein paar unangenehme Aufgaben zuschieben. Rogers ungutes Gefühl war auf sie übergesprungen und ließ sich nicht mehr abschalten.
Was soll’s, dachte sie, es wird nichts passieren. Es ist unmöglich, dass Jack einen Weg mit Rachel aus der Station findet.

Zunächst sprach Rachel nicht, sie hielt Jack nur umklammert und es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis sie sich von ihm löste, ihn anstarrte und zu flüstern begann. Sie flüsterte in ihrem Dialekt, sie flüsterte, weshalb sie auf der Station war, dass sie ihm gefolgt war und ihn hatte retten wollen, dass sie die Ausbildung zum private auf sich genommen hatte, nur, um in seiner Nähe zu sein. Sie erzählte ihm von den Dingen, die sie noch immer nicht verstand, was sie noch immer nur schwer ertragen konnte und dass die anderen privates ihr das Weinen verboten hatten.
„Keine Tränen“, flüsterte sie, „sie haben gesagt, ich würde die Instrumente zum Verstimmen bringen. Niemand von ihnen weint. Sie haben Wutausbrüche und schreien, aber sie weinen nicht. Manchmal lachen sie, aber dann klingt es wie ein Weinen ohne Tränen. Das verstehe ich nicht.“
„Rachel“, sagte Jack und der Klang ihres Namens im Schallkarton klang hohl und falsch. Sie hätte im Wald bleiben sollen, um dort zu leben und zu überleben, selbst wenn es nur noch für Wochen oder Monate gewesen wäre, das wäre besser gewesen als ein ewig verlängertes Leben als private, als Hyäne. Aber das konnte er ihr nicht ins Gesicht sagen.
„Du bist ein zähes kleines Tier, aber du weißt nicht, auf was du dich eingelassen hast. Ich will nicht, dass du unglücklich bist.“
„Ich bin in deiner Nähe und das genügt.“
„Es genügt nicht.“
Sie starrte ihn noch immer an, aber sie war ahnungslos. Jack musste sein Gewicht verlagern, denn sein Bein pochte an der alten gebrochenen Stelle und er musste es entlasten. Er machte eine halbe Drehung zur Seite und sah im Augenwinkel Rogers Gesicht hinter dem Sichtfenster. Es tauchte sofort weg, als sich ihre Blicke sekundenlang trafen.
„Dein Vater hat mir erzählt, dass du schon immer so gewesen bist, schon als kleines Mädchen. Er wusste nicht, wo du diesen Willen hergenommen hast.“
„Den hatte ich von ihm.“
„Weißt du noch, als er mich angeschleppt hat?“
Rachel schloss die Augen und lächelte. Jack hatte gewusst, dass sie auf diese heraufbeschworene Erinnerung so reagieren würde und stach zu. Sie wusste nicht einmal, was passiert war, sie zuckte zusammen, sog den Atem ein und wurde schwer in seinem Griff. Ganz langsam ließ er sie zu Boden gleiten.

Roger hatte es in dem Augenblick gewusst, als er gleichzeitig Jacks Gesichtsausdruck und die Bewegung seiner rechten Hand, in den Fingern das Messer, gesehen hatte. Es dauerte nur einen Herzschlag und er wusste, was passieren würde und trotzdem konnte er es nicht verhindern. Er war zu langsam. Er schrie, Jack solle es nicht tun, aber der Schallkarton war schalldicht – in beide Richtungen, und er bekam die Sicherung der Tür nicht schnell genug auf. Stolpernd rannte er in den Raum, fiel neben Jack und Rachel auf die Knie und erstarrte. Ihr Gesicht war blass und still, ihre Augen halb geöffnet, unter einem Auge noch die Spuren des letzten tätlichen Angriffs ihrer Kolleginnen. Ihr schlecht rasierter Schädel, ihr ruhig daliegender Körper in der Uniform. Jack saß neben ihr, hielt ihre linke Hand, tastete ihre Finger entlang, ihren Handrücken, ihre Handfläche.
„Du hast sie umgebracht“, sagte Roger. Jack sah nicht einmal auf, berührte unablässig ihre Hand und murmelte: „Sie war schon tot, als ihr sie in die Station geholt habt. Wie konntet ihr ihr das antun?“
Roger hatte dafür weder eine Entschuldigung noch Erklärung parat, denn Jack hätte nichts davon gelten lassen.
„Gib mir das Messer“, sagte Roger, „bevor es noch mehr Unglück bringt.“
„Sie wusste nicht, was passiert und sie konnte nicht abschätzen, dass sie dieses Leben umbringen würde. So langsam, dass sie es nicht einmal bemerkt hätte. Wir sind alle schon seit Jahrzehnten tot, Roger. Nur die Gewohnheit hält unsere Knochen aufrecht und weil wir vergessen haben, dass es noch etwas anderes gibt. Das konnte ich ihr nicht antun. Irgendwann hätte sie mich dafür gehasst und sich selbst auch. Jetzt“, er ließ ihre Hand los, legte sie sanft neben sich auf den Boden, „ist sie in ihrer Heimat.“
„Du weißt, was jetzt auf dich zukommt.“

Rachel verschwand nie wirklich aus seinen Gedanken, es gab kurze Augenblicke, in denen er sie hören oder riechen konnte, in denen er meinte, sie im Augenwinkel zu sehen und wenn er den Kopf drehte, war sie verschwunden. Er war für ihren Tod verantwortlich gemacht worden, aber da die Herren der Handels- und Militärkartelle ganz andere Probleme hatten, wurde die Entscheidung über sein Schicksal immer weiter nach unten durchgereicht, bis diese bei Bessinger landete. Die Tusk griffen im großen Format die Transportschiffe an, kaperten eines nach dem anderen und es interessierte niemanden, dass ein Pilot einen private getötet hatte. Das passierte häufig während der Grundausbildung. Schwimmen lernte man nicht, in dem man am Beckenrand saß und die großen Zehen ins Wasser hielt – und manche ertranken eben.
Jack trat seinen Job wieder an, flog Einsätze, die alles von ihm und seiner Besatzung abverlangten und schien wieder ganz der Alte zu sein. Es waren die Gedanken an Rachel, die ihn weitermachen ließen, das Wissen, dass sie sein Schicksal nicht teilen würde. Sie war als Waldbewohnerin geboren worden und hatte als Private eine harte Zeit durchgemacht, aber ihr Geist hatte darunter nicht gelitten. Er war in den Wald der Ciudads zurückgekehrt, zu ihrem Vater und ihrer Mutter, in den Teil des Waldes, den nur die Geister betreten konnten und den die Erzfirmen niemals finden würden. Jack glaubte ganz fest daran, denn es war das Einzige, woran er noch glauben konnte.
Rachels Vater hatte ihm sehr viel von dieser Geistergegend erzählt, während er nichts anderes hatte tun können, als darauf zu warten, dass sein gebrochenes Bein heilte. Am Anfang hatte er wegen des fremden Dialekts kaum etwas verstanden, dann hatte er es als überflüssigen Aberglauben abgetan und nur zugehört, weil es nichts anderes zu tun gab. Der Geisterwald war nur ein Ort des Übergangs für die Geister der Verstorbenen. Rachels Vater hatte gesagt, dass jeder Geist auf die Verstorbenen seiner Familie wartete und irgendwann würden sie gemeinsam in die nächste Ebene wechseln. In welche Ebene? Das wussten die Ciudads nicht, denn aus dieser Ebene bekamen sie keine Nachrichten.

Jack dachte an die Stimme, die er aus dem Geisterwald gehört hatte.
Sie wird dich nicht im Stich lassen.

Lange danach, zurück auf der Station, erfüllte er die Voraussage der Geisterstimme und Jack wusste, dass er vollendet hatte, was diese Stimme nicht verraten wollte.
Lass du sie auch nicht im Stich.


Er hatte sie nicht getötet, er hatte sie heim geschickt.



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Text: Fotovorlagen: Eigenes Foto / The US-Army @ www.flickr.com
Publication Date: 07-15-2010

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