Ein grüner Blitz schoss über den Innenhof, laute Schritte hallten von den Wänden wider und ein blonder Haarschopf hüpfte fröhlich auf und ab. Der junge Lehrling hatte ein weiteres Mal verschlafen und beeilte sich nun, in den Unterricht zu kommen. Wut brodelte in ihm hoch. Keiner seiner Kameraden hatte die Muße besessen und ihn geweckt. Seine drei in Leder geschlagene Bücher klemmten unter seinem Arm und er presste sie eng an den Körper.
Es war ein warmer Morgen. Die Hitze trieb ihn die Schweiß auf die Stirn und die körperliche Betätigung gab ihm den Rest. Seine grüne Lehrlingskutte klebte ihm am Körper und färbte sich bereits unter der Achseln dunkel.
Endlich erreichte er die steinerne Treppe und sprintete nach oben. Sein Atem ging stoßweise und er hörte sein eigenes Blut in den Ohren rauschen. Oben angekommen lief er den langen Flur entlang. Seine blonden Locken flatterten ihm hinterher und kitzelten ihn am Nacken. Die kühle Luft küsste seine feuchte Haut und ließ ihn einen Moment frösteln. Die Tür zum Studierzimmer tauchte vor ihm auf, in dem er und neun weitere Jungen unterrichtet wurden.
Schwungvoll riss er am Türgriff und platzte mitten in den Unterricht. Sein Lehrmeister, ein alter Mann mit ergrautem Haar und strengen Gesichtszügen, sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
„Ah, der Langschläfer Lewin gesellt sich auch endlich zu uns", sprach der erfahrene Maegister.
Die anderen Jungen im Raum begannen zu kichern und tuschelten miteinander.
„Es. Tut. Mir. Leid", stieß Lewin keuchend hervor.
Seine Lunge brannte und seine Brust hob und senkte sich hektisch. Ein Schweißtropfen rann ihm die Stirn hinab und blieb an seinem Mundwinkel hängen. Er leckte sich einmal über die Lippen und schmeckte Salz.
„Setz dich, junger Schüler. Und verhalte dich still", befahl der Maegister ihm mit strengem Ton.
Mit einem Nicken dankte Lewin seinem Meister, eilte schnell zum hintersten Tisch und ließ sich auf seinem Platz nieder. Sein Lernpartner Fynn bedachte ihn mit einem genervten Seitenblick und konzentrierte sich danach wieder auf den Maegister, der mit seinem Unterricht fortsetzte.
„Wenn ihr alles richtig gemacht habt, könnt ihr jetzt das Bauchfell erkennen. Es ist sehr dünn und mit Adern durchzogen."
Lewin brauchte einen Moment, um zu verstehen, was der Maegister meinte. Erst jetzt fiel ihm der tote Frosch in der Hand des Meisters auf. Außerdem war die lilafarbene Robe des Maegisters mit kleinen, roten Blutspritzern befleckt. Anscheinend wurde heute die Kunde des Körpers unterrichtet.
„Könnt ihr sehen, wie die Gedärme des Frosches durch die Haut schimmern?"
Lewin schaute sich weiter um. Jeder der anderen Lehrlinge hatte vor sich einen Frosch liegen, der an seinen vier Extremitäten mit Nägeln an ein Brett genagelt worden war. Auch vor Fynn lag einer. Nur Lewin war der Einzige, der keinen hatte. Seine Hand schnellte nach oben und er erntete einen weiteren missbilligenden Blick von seinem Maegister.
„Was ist, Lewin?", blaffte ihn sein Meister an.
„Verzeiht, Maegister Alwin. Doch ich habe keinen solchen Frosch zum Sezieren erhalten."
„Das passiert, wenn man zu spät kommt", lautete die Antwort.
„Du kannst bei deinem Kameraden Fynn zusehen. Er war wenigstens pünktlich."
Das betrübte Lewin sehr. Die Körperkunde war sein liebstes Fach. Er fand es faszinierend, Lebewesen aufzuschneiden, um zu sehen, was darin steckte. Schon als Kind hatte er liebend gerne die Hasen und Rehe mit seinem Vater ausgeweidet, wenn dieser von der Jagd zurückgekehrt war.
Todtraurig folgte er den Erklärungen des Meisters und sah neidisch Fynn dabei zu, wie er nach und nach seinen Frosch sezierte.
„Heilige Iyona, ist das langweilig", wisperte Lewin seinem Stück Pargament zu.
Ein warnendes Zischen ließ ihn aufblicken. Großmaegister Eugene sah ihn scharf an. Seine herablassenden Gesichtszügen zeigten Lewin, dass der Großmaegister keine weiteren Störungen tolerierte. Seine rote Robe umfloss seinen fülligen Körper, wodurch er den Eindruck einer roten Tomate hinterließ.
Ein Schmunzeln huschte über Lewins Lippen. Schnell senkte er sein Haupt, bevor der Großmaegister etwas bemerkte. Mit schwungvollen Bewegungen schrieb er die Worte der ‚Heiligen Schrift' ab. Die heutige Aufgabe der zehn Lehrlinge war es, Kopien eben dieses Folianten anzufertigen. Lewin war schon bei der hundertsten Seite angelangt und seine Hand begann langsam zu schmerzen.
Verzweifelt versuchte er durch eine andere Haltung des Gelenkes, die Schmerzen zu vermeiden, doch vergebens. Angestrengt streckte er die Zunge heraus und konzentrierte sich auf die nächsten Worte:
Mehrere hundert Jahre dauerte der Krieg zwischen Iyona und ihrem Bruder Krosus an. Ein Kampf zwischen schwarz und weiß, hell und dunkel, gut und böse. Abertausende Halbgötter und Menschen verloren in den Schlachten ihr Leben. Doch am Ende obsiegte das Licht. Die Schöpferin selbst verbannte ihren Bruder ins Exil, auf dass er nie wieder seine alte Macht erlangen würde. Auf ihren Befehl hin wurden alle Götzenbilder von Krosus zerstört und sie sprach das Verbot aus, neue anzufertigen. Das war der Tag, an dem sie entschied, sich aus der Menschenwelt zurückzuziehen. Seitdem hatte kein lebendes Geschöpf sie je wieder zu Gesicht bekommen.
Beim letzten Wort schoss es ihm heiß in die Hand und er verriss die Feder. Seine Finger verkrampften sich und er keuchte. Ein fingerlanger Strich zog sich über die Seite und er fluchte leise. Verzweifelt streute er etwas Sand auf das Pergament, um die Tinte abzulöschen und die Schrift damit vielleicht noch zu retten. Nachdem er die Körner zurück in ihr Gefäß gekippt hatte, begutachtete er den Schaden. Mit Bedauern musste er feststellen, dass die Seite ruiniert war. Frustriert seufzte er.
Etwas sauste an seinem Ohr vorbei und ein plötzlicher Schmerz breitete sich an seiner Hand aus. Erschrocken schrie er auf und zog die pochende Hand reflexartig an seine Brust. Mit Tränen in den Augen blickte er auf.
Ohne dass er es bemerkt hatte, war der Großmaegister an ihn herangetreten und stand hinter ihm. Seine weißen Augenbrauen waren streng zusammengezogen und er funkelte Lewin böse an.
„Erst den Namen unserer Schöpferin zu beschmutzen und nun auch noch ihre heilige Schrift zu verunstalten. Ihr solltet Euch schämen. Lehrling Lewin, ich bin bitter enttäuscht von Euch. Als Bestrafung werdet Ihr heute Maegister Bethlo mit den Krähen helfen!", sprach der Großmaegister mit bedrohlichem Unterton.
Eingeschüchtert von der Autorität seines Meisters zog Lewin den Kopf ein. Es war nicht mit Absicht gewesen. Er fühlte sich ungerecht behandelt. Sein einziger Trost war, dass die Arbeit im Rabenschlag für ihn keine Bestrafung bedeutete. Ganz im Gegenteil, er liebte diese Geschöpfte.
„Kra, kra, kra."
Eine große, schwarze Krähe flatterte aufgeregt mit den Flügeln und ein Schwall weißen Kots schoss auf die Erde. Die anderen Tiere im Rabenschlag stimmten mit ein und ein ohrenbetäubender Lärm erklang. Schwarze Federn flogen durch die Luft und segelten sanft zur Erde.
Vergnügt schwang Lewin den Besen und fegte den Unrat zusammen. Trotz des Lärms und der ungnädigen Tätigkeit machte ihm die Arbeit Spaß. Hier fühlte er sich nicht allein. Er sprach gerne mit den Vögeln, da sie ihm nie Widerworte gaben - nicht so wie die Menschen. Besonders gerne hatte er die Nebelkrähen, die im Norden Akazias heimisch waren. Sie waren etwas kleiner als ein Wüstengeier, aber doppelt so groß wie ein Falke. Die Nebelkrähen waren die einzigen Krähen Akazias, die ihre nahen Verwandten die Raben in Große übertrafen. Und weil sie so selten waren, lebten nur eine Handvoll von ihnen in der Zitadelle. Die größte von ihnen hatte er liebevoll Maxim getauft. Er hatte ein prachtvolles Gefieder und war Lewin gegenüber sehr zutraulich.
Drei weitere Jungen waren mit ihm hier oben und durften den Rabenschlag mit Besen und Lappen sauber halten. Diese Aufgabe war eine der Erniedrigsten der Zitadelle, da die Tiere ihre Notdurft auch gerne mal auf den Lehrlingen verrichteten. Daher beschimpften die älteren Jungen sie gerne als ‚Rabenschiss' oder ‚Kotling' und lachten schrecklich. Oder sie scherzten: ‚Was glaubt ihr wohl, wieso eure Roben grau sind? Damit man die Vogelscheiße nicht sieht!'
Doch Lewin machte das nichts aus. Er ließ sie scherzen und rufen und ignorierte die Worte einfach.
„Wieso müssen wir immer den Dreck weg machen? Das ist unfair", schimpfte Fynn und
ließ wütend seinen Besen auf die Erde sausen.
Die Zwillinge Jess uns Jack stimmten grimmig zu und traten missmutig gegen ihre Besenstiele. Dabei stieb eine Krähe auf und flatterte verärgert um die zwei Rotschöpfe. Sie schrien panisch auf und schützten ihre Köpfe mit den Händen. Der Vogel stach mit seinem Schnabel zu und rotes Blut flammte auf. Schmerzhaft brüllte Jess, nein Jack Flüche in den Raum. Lewin konnte die beiden so schlecht auseinanderhalten.
Amüsiert lachte er auf und kam ihnen zu Hilfe. Einen Arm streckte er in die Luft und schnalzte mit der Zunge. Mit der anderen Hand fischte er aus seinem Lederbeutel ein paar Körner. Sofort reagierte die Krähe und fixierte ihn mit ihren klugen, schwarzen Augen.
„Na komm her, Maxim", lockte er ihn und präsentierte die Körner.
Sofort hörte der Vogel auf zu kreischen und ließ sich nach wenigen Flügelschlägen auf dem Arm des Lehrlings ab. Hungrig pickte er die Körner auf und verletzte Lewin dabei nicht ein einziges Mal.
Die zwei Jungen funkelten ihn und den Vogel böse an. Der Zwilling mit der blutenden Hand packte den Stiel fester, hob den Besen an und zielte damit auf den Vogel.
„Wirst du dich wohl unterstehen, ein unschuldiges Tier anzugreifen!", fuhr Lewin ihn wütend an.
Erschrocken ließ der Lehrling den Arm in der Luft stehen und sah ihn irritiert an.
„Das Biest hat mich angegriffen", verteidigte sich Jess.
Jetzt war sich Lewin sicher, dass er es war. Denn seine Stimme schoss am Ende eines Satzes immer eine Oktave höher. Verächtlich lachte Lewin.
„Du hast also Angst vor einem kleinen Vogel? Was könnte er dir denn schon tun?"
Mit diesen Worten drehte er sich herum und ging ans andere Ende des Rabenschlages. Dort setzte er Maxim ab und verstreute noch einige Körner vor ihm.
„Braver Vogel", flüsterte er ihm mit einem Grinsen zu.
Ein fürchterlicher Gestank lag in der Luft. Lewin zog angeekelt die Nase kraus und musste sich zusammenreißen, um nicht schwallartig zu erbrechen. Die Räder des Holzwagens, den er gerade schob, quietschten lautstark und das Geräusch mischte sich unter das Stöhnen der anwesenden Kranken.
Mit spitzen Fingern sammelte er die Nachttöpfe unter den Pritschen der Erkrankten ein. Darin schwammen übelriechende Körperflüssigkeiten und bescherten ihm noch Übelkeit. Etwas schwappte über den Rand und lief ihm den Handrücken hinunter. Angewidert würgte er und musste sich konzentrieren, um sein Frühstück drinnen zu behalten.
Ohne weitere Zwischenfälle konnte er den Topf auf seinen Wagen abstellen, auf dem sich schon ein halbes Dutzend weiterer gefüllter Nachttöpfe befanden. Widerwillig wischte er sich die braune Flüssigkeit an seiner noch sauberen, blauen Robe ab und bereute es gleich im nächsten Moment wieder.
Nicht einmal vor einer Woche war er in den Stand eines Novizen erhoben worden und war damit einem einfachen Lehrling übergestellt. Er trug die blaue Robe mit Stolz. Daher schämte er sich dafür, sie mit Exkrementen beschmutzt zu haben. Er nahm sich vor, sie so schnell wie möglich zu reinigen, damit der schöne volle Blauton nicht durch dunkle Flecken geschmälert wurde.
Endlich erreichte er das Ende der Krankenstation und begab sich auf direktem Wege zum Abort. Dort sollte er die Nachttöpfe entleeren, um sie danach am Brunnen im Innenhof auszuspülen und zu schrubben.
An dem Tag, als er seine blaue Novizenrobe erhalten hatte, hatte er nicht erwartet, dass es noch schlimmere Aufgaben, als Stroh zusammenfegen und den Maegister hinterherräumen, gab. Doch hier stand er nun mit einer Bürste in der Hand und rubbelte einen hartnäckigen Kotfleck aus der Pfanne weg. Seine Hände waren schon ganz schrumpelig und fühlten sich aufgeweicht an.
„Lewin", rief jemand zum Hof hinaus.
Dere Novize drehte sich zu der Stimme um und verlor vor Schreck die Bürste. Klappernd viel sie zur Erde und er sah Maegister Eugene entschuldigend an.
„Beeil dich, Novize. Wir brauchen die Schüssel! Sieh zu."
„Sehr wohl, Maegister", erwiderte Lewin und schnappte sich das entflohene Werkzeug.
Mit neuem Tatendrang und mehr Gewalt schaffte er es, alle Flecken zu entfernen. Zufrieden mit seiner Arbeit sammelte er alle Nachttöpfe ein und stapelte sie auf seinem Holzwagen. Dabei wanderte sein Blick an seine Robe hinunter, die nun voller brauner und dunkler Flecken war. Traurig atmete Lewin aus. Es würde lange dauern, all den Schmutz zu entfernen.
Er schob den Gedanken beiseite und kehrte mit dem Wagen zur Krankenstation zurück. Dort wurde er schon sehnlichst erwartet und die Nachttöpfe wurden ihm förmlich aus den Händen gerissen. Danach hatte er etwas Ruhe vor der Arbeit und er nutzte die Möglichkeit, um den Maegistern bei ihrer Tätigkeit zuzusehen. Doch es blieb ihm nicht lange vergönnt. Schon nach kurzer Zeit riefen die Maegister ihn zurück und schickten ihn erneut die Töpfe schrubben.
Lewin hasste es.
Warmes Blut floss über geschulte Hände. Lautstark tropfte die rote Flüssigkeit in eine Schüssel und erfüllte den Raum mit dem Geruch von Eisen. Der Novize Lewin saß gebeugt über dem Arm einer fieberkranken Frau. Kleine Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet und liefen ihm an den Schläfen hinab. Seine Hände waren blutverschmiert und glitschig. Immer wieder rutschten sie von der weichen Haut seiner Patientin ab. Neben ihm stand ein junger Mann, dessen Gesicht von tiefen Furchen gezeichnet war. Seine Arme hielt er vor dem Körper verschränkt und wirkte sehr angespannt. Lewin dagegen war hoch vergnügt.
Dies war sein erster Aderlass und er genoss ihn aus vollen Zügen. Das Blut fühlte sich angenehm an und es roch scharf nach Eisen. Er liebte diesen Geruch. Er hatte etwas Beißendes an sich, schmeckte aber auf der Zunge auf eine Art süß. Es war das Leben und der Tod in einem. Nur wenn die Körpersäfte im Einklang zueinander standen, konnte der Mensch genesen. Daher hatte er sich bei der jungen Frau für diese Heilmethode entschieden.
„Wird sie wieder gesund?", fragte der Ehemann zögerlich, fast schon ängstlich.
Lewin überlegte sich seine Antwort gründlich. Er wollte bei seiner ersten Patientin nichts falsch machen. Nach kurzer Bedenkzeit sprach er: „Sie braucht jetzt viel Flüssigkeit. Weckt sie regelmäßig, damit sie etwas trinkt. Am besten wäre Tee aus Lindenblüten, der senkt das Fieber. Ruft mich in ein paar Tagen erneut, falls sich keine Besserung einstellen sollte."
Die Schultern des Ehegatten fielen schlagartig nach vorne, als wäre eine große Last von ihnen gefallen. Die Falten in seinem Gesicht glätteten sich und er wirkte um mehrere Jahre verjüngt.
„Ich danke Euch, Maegister", wisperte er mit weinerlicher Stimme.
Ein Schmunzeln stahl sich auf Lewins Lippen. Er wurde von diesem Mann für einen ausgebildeten Maegister gehalten. Das machte ihn stolz und in seinem Bauch begannen es zu kribbeln.
Die Blutstropfen perlten nur noch einzeln aus dem Schnitt hervor. Die Schüssel war bis zur Hälfte gefüllt und Lewin entschied, dass es nun genug war und drückte mit einem noch weißen Leinentuch auf die Wunde. Sofort färbte es sich tiefrot. Die Frau zuckte kurz zusammen und stöhnte leise. Ihr Ehemann eilte zu ihr und hielt ihr aufmunternd die andere Hand.
„Du wirst wieder gesund, mein Liebling", flüsterte er unter Tränen in zu.
Sie reagierte nicht auf die Worte ihres Mannes. Sie starrte einfach weiter die Decke an. Er fing urplötzlich an, bitterlich zu weinen und seine Schultern bebten. Lewin wand sich angewidert von ihm ab. Geschäftig packte er seine Utensilien ein, die verstreut auf einem kleinen Tischchen lagen.
„Ich werde Euch somit verlassen. Hört auf meine Worte. Viel Flüssigkeit!", um seine Aussage zu unterstützen, hob er den Zeigefinger.
„Ja, Maegister. Genau wie Ihr gesagt habt", sprach der Mann leise, ohne die Augen von seiner Frau abzuwenden.
Mit diesen Worten schnappte sich Lewin die Ledertasche mit seinen Werkzeugen, drehte sich um und verließ das stickige Zimmer. Als er aus der Tür trat, kam ihm die kühle Nachtluft entgegen. Der Herbst stand vor der Tür und schickte seine ersten Vorboten - Kalte Winde. Zufrieden atmete er einmal tief durch und begab sich auf den direkten Weg zurück in die Zitadelle.
Ein gellender Schrei hallte durch den Saal. Großmaegister Gerald hielt die Hand einer hochschwangeren Frau, die sich qualvoll wand. Wieder packte sie eine Wehe und sie bäumte sich schmerzhaft auf. Erneut stieß sie einen verzweifelten Aufschrei aus.
Lewins Blick war verzückt auf ihren bebenden Körper gerichtet. Er und ein Dutzend anderer Novizen durften zu Schulungszwecken den Großmaegistern bei der Geburt zusehen. Das war der Höhepunkt seines Tages.
Zwei Hebammen wuselten um die Schwangere herum und wechselten die schmutzigen Tücher und das Wasser gegen frisches aus.
„Atmet ruhig, meine Dame", bat Großmaegister Gerald. Er machte es ihr vor und sie passte ihre Atmung der seinen an. Ihr Blick war flehentlich auf seine kantigen Gesichtszüge gerichtet. Da packte sie die nächste Wehe. Sie schrie sich die Seele aus dem Leib.
„Ihr habt es bald geschafft, ich kann schon das Köpfchen sehen", munterte Maegister Eugene sie auf.
Bei der Dame handelte es sich um eine Hure aus dem Hafenviertel, die ihren ersten Bastard zur Welt brachte. Gegen eine geringe Menge Münzen hatte sie sich gerne in die Obhut der Maegister begeben, um als Forschungsobjekt zu dienen.
Die Dirne begann wieder regelmäßig zu hecheln und starrte den Großmaegister mit geweiteten Augen an. Als sie die nächste Welle packte, konnte Lewin ein schmatzendes Geräusch vernehmen und er sah gespannt hin. Der Säugling wurde von Maegister Eugene elegant aufgefangen. Dieses rosafarbene fleischige Würmchen regte sich nicht und Lewin fürchtete, es wäre tot.
Der Maegister drehte das Neugeborene auf den Rücken und verkündete stolz, als wäre er selbst der Vater: „Ich gratuliere, es ist ein Junge."
Begeistert applaudierten die Hebammen und freuten sich mehr als die Mutter, die erschöpft auf der Liege zusammengesackt war. Noch hatte sich das Baby nicht bewegt und Lewin fragte sich, warum alle so gelassen waren. Es starb, sah es denn keiner außer ihm?
Eine Hebamme klemmte die Nabelschnur ab und durchtrennte sie einen Moment später. Die andere wickelte den Säugling in Handtücher und strich ihm grob das Blut und Fruchtwasser aus dem Gesicht. Das Gesicht des kleinen Bubens färbte sich immer dunkler und Lewin wollte aufspringen und helfen. Es bekam keine Luft und würde elendig ersticken, wenn keiner einschritt. Doch die Furcht hielt ihn zurück. Die letzte Tracht Prügel, die er hatte einstecken müssen, hatte ihm das Bewusstsein gekostet. Er war erst auf der Krankenstation wieder zu sich gekommen.
Er fixierte den Säugling mit seinen grünen Augen, während eine Hebamme ihn den anwesenden Novizen präsentierte. Noch immer rührte er sich nicht. Lewin ballte seine Hände zu Fäusten und spannte jeden Muskel seines Körpers an. Er stellte sich vor, wie er über das Geländer sprang und das Neugeborene rettete. Noch einen Augenblick würde er verstreichen lassen, doch dann müsste er handeln.
Plötzlich regte sich der Bube und gab einen gellenden Schrei von sich. Lewin hatte nicht bemerkt, dass er die Luft angehalten hatte. Doch jetzt gab er sie mit einem langen Seufzen frei und seine Hände entspannten sich.
Überwältigt klatschte er in die Hände und die anderen Novizen stimmten verhalten mit ein. Er wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Diese Szenerie nahm ihn mehr mit, als er gedacht hätte. Nach diesem Erlebnis freute er sich auf seine erste Geburt. Es würde zwar nicht sein Kind sein, das er auf die Welt holte, da es Maegistern verboten war, sich fortzupflanzen, doch es kam dem Gefühl nahe.
Ein Schnitt. Dunkles Blut quoll hervor. Das Messer zeichnete eine Halbmondform auf die schneeweiße Haut. Es malte wie rote Tinte auf Pergament. Eine stinkende Brise strömte aus der Öffnung - modrig, schwer, beißend.
Angeekelt rümpfte Lewin die Nase. Der Gestank war das Schlimmste an seiner Arbeit.. Er hatte nichts mehr von dem süßen Duft frischen Blutes. Es roch nach Tod, Fäulnis und Zersetzung.
Angewidert drehte er sich weg und zog den brennenden Salbei näher zu sich. Kräftig pustete er auf das glimmende Ende. Augenblicklich glühte er auf und kleine Rauchschwaden zogen zur Kellerdecke. Der wohltuende Geruch des Krauts verteilte sich in der Leichenhalle und beruhigte seine Nerven.
Es war ein Fehler gewesen, vorher etwas zu essen. Nun hatte er Magenkrämpfe und das unbändige Bedürfnis, sich übergeben zu müssen. Mit einer Hand hielt er sich den Mund zu und schmeckte Galle. Das war wirklich zu viel für ihn. Er schluckte schwer und versuchte das Gefühl zu verdrängen.
Etwas gefasster drehte er sich wieder dem Leichnam zu. Es handelte sich dabei um die junge Frau, die er vor fast einem Jahr behandelt hatte. Das Fieber hatte sie, dank seiner Behandlung, überstanden, jedoch nicht die darauffolgende Krankheit. Nun lag sie hier friedlich ruhend mit offenem Bauch.
Sie war zu einem Forschungsobjekt geworden. Ihr Mann hatte eine gewisse Menge Münzen als Bezahlung erhalten. Er sah noch abgemagerter als früher aus und hatte einen Säugling auf dem Arm gehalten. Er hatte das Geld sichtlich nötig gehabt. Daher war es kein Wunder gewesen, dass er den Handel so schnell eingegangen war.
Mit einer Hand griff Lewin in den Spalt im Bauch und zog kräftig an der Haut. Mit viel Kraft riss er daran und hörte das Fleisch reißen. Wie die Seite eines Buches schlug er den Hautlappen um und legte die tieferen Körperschichten frei. Dunkles, fast schwarzes Blut benetzte die Oberfläche.
Er griff nach einer großen Kristallkaraffe und hinterließ rote Spuren auf dem Glas. Er goß etwas Alkohol auf einen sauberen Lappen und wischte damit die schwarze Masse weg. Zum Vorschein kamen die inneren Organe. Im Schein der Fackel leuchteten sie dunkelrot, fast braun auf. Benebelt von den Alkoholdämpfen starrte er sie fasziniert an. Ein Schauer lief Lewin über den Rücken. Dieser Anblick war immer etwas Besonderes für ihn und er freute sich ganz außerordentlich darauf.
Sanft strich er über den Darm und konnte jede Erhebung spüren. Es fühlte sich wie normale Haut an, nur glitschiger. Er genoss noch für einen Moment den Anblick, bis er wieder zum Messer griff und die einzelnen Organe aus dem Gewebe schnitt.
nacheinander holte er jedes heraus und wog es auf seiner Waage ab, die neben ihm auf einem kleinen Tischchen stand. Zum Schluss nahm er das Herz heraus und betrachtete es im schummrigen Licht. Es strahlte ein kräftiges Rot aus, hatte eine symmetrische Form und wirkte sehr kräftig. Mit dem Zeigefinger entfernte er die Brocken geronnen Blutes und platzierte es auch auf der Waage.
Wie konnte bloß ein so kleiner Hohlkörper so essentiell für den Körper sein? Es wirkte klein und zerbrechlich in seinen groben Händen. Er könnte es einfach zerquetschen, das wäre für ihn ein Leichtes. Wie es wohl aussah, wenn es schlug?
„Ihr guten Leute, habt Erbarmen mit einem alten Mann", flehte ein Bettler die vorbeilaufenden Menschen an.
Sein Bart war grau mit weißen Strähnen durchzogen. Die Haare auf seinem Kopf lichteten sich und gaben den Schädel darunter preis. Angestrengt hielt er die Arme erhoben und die Hände zu einer Schale geformt. Ab und an warf eine gute Seele ihm eine Münze zu, die er dankend aufsammelte.
Interessiert beobachtete Lewin ihn. Statt seiner lilafarbenen Kutte, die förmlich nach Maegister schrie, trug er ein unauffälliges Bauerngewand. Es war schon zu häufig vorgekommen, dass er in der Maegisterrobe belästigt oder an ihm gezogen und gezerrt worden war. Als normaler Bürger gekleidet, kam dies nicht vor.
Seit etwa einem Mond beobachtete er diesen Bettler schon. Er schien für seine Zwecke perfekt. Trotz seiner offensichtlichen Unterernährung wirkte er kräftig und gesund. Er hatte keine Familie, keine Freunde, niemanden, der ihn vermissen würde. Manchmal ging er ins Armenhaus, um wenigstens eine warme Mahlzeit und ein sauberes Bett zu bekommen. Doch die meiste Zeit nächtigte er, wie viele andere Bettler auch, unter einer Brücke. Daher musste Lewin den Moment zwischen Abendröte und Nacht abpassen, um ihn unbemerkt mit sich nehmen können.
Lange hatte er an diesem Plan gesessen, den er heute in die Tat umsetzten würde. Die Sonne stand schon tief und die meisten Bürger und Händler von Bormiost verließen die Straßen, um nach Hause zu gehen. Noch einen kurzen Moment würde er warten, bis er aus dem Schatten der Rattengasse hinaustreten und sich dem Bettler offenbaren würde. Nichts dürfte heute misslingen, es musste alles perfekt sein.
Er lugte leicht um die Ecke und schaute nach links und rechts. Keine Menschenseele war zu erkennen, bloß der Bettler, der auf den Knien an einer Hauswand saß. Es war soweit. Leise löste er sich aus dem Schatten der Steinmauer, an der er noch vor Kurzem gelehnt hatte, und trat auf die Straße. Mit bedächtigen Schritten hielt er auf den Bettler zu. Der schien ihn von Weitem zu hören und hob seinen Kopf. Aus traurigen Augen starrte er zu ihm auf und erhob die Stimme: „Guter Herr, habt Ihr etwas zu essen oder ein paar Münzen für einen alten und hungrigen Mann über?"
Lewins Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen und pochte heftig in seiner Brust. Aus einer Hosentasche zauberte er eine Golddukate hervor und ließen sie zwischen seinen Fingern hin und her gleiten.
Die Augen des Alten weiteten sich und er leckte sich über seine trockenen Lippen. Überraschung und Gier huschte über sein Gesicht. In Lewins Nacken prickelte es.
„Es soll dir gehören. Doch dafür musst du etwas für mich tun."
Er versuchte die Worte selbstbewusst herauszubringen, doch ein leichtes Zittern der Stimme konnte er nicht verhindern.
Der Bettler schluckte einmal und schien zu überlegen. Ob er etwas ahnte? Nach wenigen Augenblicke nickte der Alte und wollte wissen, was er dafür tun müsse.
„Begleite mich und ich werde es dir erklären."
Unsicher huschten die Augen des Greises zwischen dem Geld und Lewin hin und her. Nach kurzer Bedenkzeit erhob er sich endlich und kehrte zusammen mit Lewin in die Zitadelle zurück.
Lewin stand inmitten seiner Leichenhalle. Vor ihm lag der Bettler auf einem Untersuchungstisch.
„Mmh, mmpf, mmh." Verzweifelt versuchte er, etwas zu sagen, konnte aber dank des Knebels in seinem Mund kein verständliches Wort herausbringen. Die nackte Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Schweiß stand auf seiner Stirn und rann ihm am Hals hinab.
„Shh, shh", versuchte Lewin ihn zu beruhigen, „bald ist es vorbei."
Jedoch verursachten seine Worte das Gegenteil und der Bettler bäumte sich in seinen Fesseln auf. Die Geräusche hallte im Keller weit, doch keiner würde es hören.
Viel zu leicht war der Bettler ihm in die Falle gegangen. Spätestens jetzt würde er es wohl bereuen. Doch nun lag sein Leben in Lewins Händen.
Der Maegister hatte sich seine Ordensrobe wieder übergestreift. Außerdem trug er noch eine Lederschürze, um sich vor Blut zu schützen. Lewin stellte sich ganz nah an den Tisch heran und hatte den Brustkorb des Alten genau unter sich. Dieser hob und senkte sich rasend schnell. Bevor er mit seinem Experiment beginnen würde, sah er den Alten noch ein letztes Mal in die Augen.
„Das wird jetzt weh tun", warnte er ihn unnötigerweise. Doch er fühlte sich dazu verpflichtet, noch etwas zu sagen.
Der Bettler versuchte wieder, gegen seine Fesseln anzukämpfen und schrie Lewin an. Doch dieser setzte unbeirrt das Messer am Brustbein an und zog es eine Handbreit nach unten. Der Aufschrei wurde schriller und sofort quoll Blut aus der Wunde.
Tränen rannen dem Greis über die Wangen und er schluchzte laut auf. Lewin störte sich daran nicht, seine Konzentration war auf den Schnitt gerichtet. Die dunkle Flüssigkeit glänzte im Schein der Fackeln und dicke Perlen flossen aus dem Schnitt. Der süße Duft des Blutes lag in der Luft und Lewin sog ihn genüsslich ein.
Mit beiden Händen griff er in den Spalt. Wärme umfing seine kalten Finger und ein wohliger Schauer lief über seinen Rücken. Mit einem Ruck erweiterte er die Wunde. Der Alte verkrampfte sich, seine Atmung verdoppelte sich und er ließ ein Wimmern erklingen.
Noch mehr Blut begrüßte Lewin und strömte nun in Bächen aus dem Körper. Mit einem befeuchteten Tuch wischte er es ungeduldig weg. Nun musste er schnell sein. Lewin nahm sich eine Knochensäge zur Hand und drang durch Muskeln und Knochen, stets darauf bedacht, den Gegenstand seines Begehrens nicht zu verletzen. Der Greis hatte endlich aufgehört, sich zu wehren.
Nach quälenden Sekunden voller Anstrengung hatte Lewin es endlich geschafft. Mit einem Kribbeln im Bauch zog er seine rechte Hand zurück. Vor Staunen stand sein Mund offen. Es sah noch viel schöner aus, als in seiner Vorstellung. Das Herz des Alten war feuerrot, die Adern hoben sich vom restlichen Muskelgewebe ab und es spritzte wild den Lebenssaft in alle Himmelsrichtungen. Fasziniert beobachtete er, wie es in seiner Hand weiterhin schlug. So etwas Magisches hatte er noch nie gesehen. Vor Freude begann er zu zittern.
Die Kontraktion wurde immer schwächer und schwächer. Erschrecken machte sich breit. „Nein! Nein, hör nicht auf", flehte Lewin laut. Doch es nützte nichts.
Noch einmal schlug das Herz, doch dann stand es still. Das heiße Blut rann über seine Hand und hinterließ dunkle Rinnsale. Enttäuscht ließ er es sinken und sah das erste Mal seit langem den Bettler an. Aus seinem Gesicht war die Farbe gewichen und seine Augen waren vorwurfsvoll auf Lewin gerichtet. Ein eiskalter Schauer packte ihn und bereitete Lewin eine Gänsehaut.
„Möge Torem deiner Seele gnädig sein und dich in die heiligen Hallen der Ahnen führen. Ich danke dir”, sprach er ein Gebet und schloss die Lider des Bettlers.
Zitternd zog Lewin seinen Mantel enger. An Bord der Catherine zog der Wind stark an seinen Kleidern und ließ ihn frösteln. Mit einem Kloß im Hals sah er dabei zu, wie sich Bormiost immer weiter entfernte. Eine Träne bildete sich in seinem Augenwinkel und er wischte sie schnell weg.
Wie sehr er seine Arbeit in der Zitadelle geliebt hatte, manche sagten zu sehr. Er hatte gegen die Gesetze des Ordens verstoßen und Experimente am lebenden Menschen durchgeführt. Auch seine umfangreichen Erkenntnisse daraus konnten ihn nicht vor den drohenden Konsequenzen schützen.
Der einzige Grund, wieso er hier an der Reling lehnte und sich dem offenen Meer näherte, und nicht tot an einem Strick baumelte, war sein alter und einziger Freund Fynn. Er hatte Lewin mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und ihn aus der Kerkerzelle geschmuggelt. Inbrünstig hoffte Lewin, dass keiner Fynn verdächtigen und ihn am Ende bestrafen würde.
Nun brach er auf zu neuen Ufern. Sein erstes Ziel war Thali. Doch ohne seine Ordensrobe war er nichts. Trotzdem hoffte er, dass er sich als Heiler durchschlagen könne. Wer wusste schon, was ihm die Zukunft brachte? Seine Forschungen hatten ihm neue grundlegende Erkenntnisse gebracht. Dadurch verstand er den menschlichen Körper viel besser und würde ihn auch leichter heilen können. Die vielen Frauen und Männer, die er auf dem Gewissen hatte, waren es wert gewesen. Er trauerte keinen Moment um eines ihrer Leben.
Bei seinem letzten Experiment war er unglücklicherweise überrascht worden. Ein Großmaegister war die vielen Stufen in den Keller hinabgestiegen, um Lewin von dem Ableben des Erzmaegisters Isamels zu berichten. Jedoch steckte Lewin in diesem Moment mit beiden Armen tief in dem Körper einer jungen Frau und seine gestotterten Erklärversuche trugen keine Früchte.
Sofort wurde der Rat der Großmaegister einberufen. Er hatte Glück gehabt, dass der Erzmaegister verstorben war. Dadurch hatte er eine Gnadenfrist, bis ein neuer gewählt werden konnte.
Doch er wäre lieber tot, als sein Leben im Exil fristen zu müssen. Er hatte das vierunddreißigste Lebensjahr bereits hinter sich gelassen und war damit zu alt, um eine neue Lehre zu beginnen.
Ärger breitete sich in seinem Bauch aus. Es brodelte schon lange unter der Oberfläche und schürte das Feuer in seinem Herzen. Er war unzufrieden mit den Abläufen im Orden und fühlte sich ungerecht behandelt. Er hatte doch alles nur im Namen der Wissenschaft getan und sollte für seine Forschungsergebnisse gelobt werden. Sie würden die Heilkunst um Jahrhunderte vorantreiben. Doch stattdessen floh er wie ein Ausgestoßener.
Frustriert schlug er mit einer Hand auf die Reling und Schmerz breitete sich wellenförmig in seinem Arm aus.
„Wir sind noch nicht fertig!", rief er der Hafenstadt zu, „Ich komme wieder, du wirst schon sehen!"
Orden der Maegister - Männer der Wissenschaft
Um ein ehrwürdiger Maegister zu werden, ist ein jahrelanges hartes Studium von Nöten. Dabei durchläuft der zukünftige Maegister verschiedene Stufen und muss zwei große Prüfungen ablegen. Bei nicht Bestehen kann der Anwärter verlängern, bis er sie gemeistert hat. Es werden im Genaueren die einzelnen Lehrstufen erläutert.
Kammerdiener:
Hierbei handelt es sich um Jungen im Alter von fünf bis zehn Namenstage, die in der Küche helfen, Botengänge erledigen, die Wäsche waschen und die persönlichen Nachttöpfe der Maegister entleeren. Viele Edelhäuser geben ihre zweit oder drittgeborenen Söhne gerne in die Obhut des Orden. Diese wachsen dann in der Umgebung der Zitadelle auf und lernen von klein auf den Umgang mit Büchern, Pergamenten und lernen, sich zu benehmen. An ihrem zehnten Namenstages werden sie direkt als Lehrling übernommen. Als ehemalige Kammerdiener genießen diese Schüler ein besonderes Ansehen im Orden. Meist unterstützt ihre Familie die Zitadelle finanziell ein Leben lang.
Sie sind an ihrer blütenweißen Robe zu erkennen, die ihre Unschuld widerspiegeln soll.
Lehrling:
Um als Lehrling an der Zitadelle angenommen zu werden, müssen die Jungen ein Lehrgeld von zwei Silbermünzen aufbringen. Können sie dies nicht, werden die Jungen zusätzlich zu ihrem Studium noch in die Küche geschickt und müssen ihren Soll ableisten. Zu ihren Aufgaben gehört das Waschen der Toten, Wasser aus dem Brunnen schöpfen, Kopien von Schriften anfertigen, Säuberung des Rabenschlags und des Stalls, außerdem das Studium selbst. Dabei wird die Körperkunde, Sternenkunde, Kartenkunde, das Rechenwesen, die Kunst der Sprache und des Wortes, Glaubenskunde und Aufzucht der Raben und Krähen unterrichtet. Die reine Lehrzeit beläuft sich auf vier Kalenderjahre. Am Ende der Lehrlingszeit müssen die Schüler vier Prüfungen absolvieren. Davon zwei in den praktischen und zwei in den sprachlichen Wissenschaften. Bei Bestehen dieser Prüfungen steigt der Lehrling in den Rang eines Novizen auf. Ansonsten hat er die Möglichkeit, die Prüfungen ein Jahr später zu wiederholen.
Sie sind an einer moosgrünen Robe zu erkenne, die ihren Wissensdurst widerspiegeln soll.
Novize:
Sobald der Lehrling in den Rang eines Novizen erhoben wurde, braucht er die niederen Aufgaben nicht mehr zu erfüllen. Stattdessen hilft er auf der Krankenstation aus, kümmert sich dort um die Nachttöpfe, füttert die Alten und die Kranken, wäscht ihre schmutzigen Körper und geht den Maegistern bei ihrer Arbeit zur Hand. Außerdem dürfen sie bei Interesse in die Sternwarte und die Sternbilder studieren. Zusätzlich arbeiten sie in der Bibliothek, sortieren Bücher, suchen für die Maegister spezielle Exemplare heraus und pflegen die Bände. Sie dürfen am praktischen Unterricht am Menschen teilnehmen. Dafür ist der Sektionssaal gedacht, wo sich eine Empore findet, auf der die Novizen sitzen und den Maegistern bei ihren Tätigkeiten zuschauen. Dazu gehört die Geburt, Zähne ziehen, Aderlass, Amputationen, Wunden nähen und Organe aus dem toten Leib entnehmen. Ab diesem Moment dürfen sie auch die ersten Aufträge übernehmen und selber am lebenden Objekt üben, z.B einen Aderlass durchführen. Da sie noch nicht das Amt eines Maegisters kleiden, dürfen sie nur ein geringes Honorar verlangen. Daher kommen meist arme Bauern oder Bürger zu ihnen und bitten sie um Hilfe. Die reine Lehrzeit beläuft sich auf drei Jahre.
Bis zum Ende der Novizenzeit müssen die Schüler fünf Prüfungen abgelegt haben. Sie müssen in Anwesenheit eines Maegisters eine Geburt durchgeführt, einen Arm oder ein Bein amputiert und der Mensch muss überlebt haben, dreißig Zähne insgesamt gezogen, alle menschlichen Organe und Gewebearten nennen können und ihr Lage kennen und an einem Leichnam eine Wunde genäht haben. Bei den Novizen, die in der Sternwarte gelernt haben, findet eine zusätzliche mündliche Prüfung statt, in der sie alle Sternbilder nennen müssen. Bei Bestehen dieser Prüfungen steigt der Novize in den Rang eines Maegisters auf. Ansonsten hat er die Möglichkeit, die Prüfungen ein Jahr später zu wiederholen.
Sie sind an einer tiefblauen Robe zu erkennen, die ihre Treue zum Orden widerspiegeln soll.
Maegister:
Ein Maegister ist Medikusse, Heiler, Kartograph, Gelehrter, Lehrer, Hebamme, Seelsorger, Philosoph und Mann des Glaubens in einer Person. Sie haben ein hohes Ansehen im Volk und werden gerne zu Rate gezogen. Jeder Lord, jede Lady oder sonstiger Adelsstand und der König selbst bekommen einen Maegister als Ratgeber zur Seite gestellt. Ihre Meinung wird gerne eingeholt und sehr geschätzt. Sie verfügen über ein umfangreiches Wissen und besitzen die größte Ansammlung an Büchern, Schriften und Pergamentrollen in ganz Akazia.
Sie forschen aktiv an neuen Heilmethoden, an den wichtigen Fragen des Lebens und bringen die Weltgeschichte auf Papier. Ihre Aufzeichnungen reichen bis ins früheste Zeitalter zurück, als Iyona noch auf Erden wandelte und sich Krosus an ihrer Seite befand. Meist verweilen die jungen Maegister ein Jahrzehnt an der Zitadelle, bevor sie in den Dienst eines Lords gerufen werden. Dadurch können sie sich noch mehr Wissen aneignen, um ausführliche Ratschläge erteilen zu können. Nach zwanzig Wintern als Maegister in der Zitadelle ist es möglich, sich im Rat der Großmaegister als Anwärter zu bewerben. Diese entscheiden dann demokratisch, welche Anwärter in den Stand eines Großmaegisters erhoben werden. Ihre Erfolge und Tätigkeiten werden dort offengelegt und anhand dessen entschieden, wer würdig ist.
Sie sind an einer fliederfarbenen Robe zu erkennen, die die Weisheit und Stärke widerspiegeln soll.
Großmaegister:
Sie sind das Rückgrat und der Grundbaustein des Ordens. Sie entscheiden über alle Belange des Ordens, welcher Maegister zu welchem Lord geschickt wird und wählen ihre Mitglieder selbst. Es gibt immer nur fünfzehn Großmaegister zurzeit, genauso viele wie es Monate im Jahr gibt. Wenn ein Großmaegister verstirbt, wird sein Platz frei und ein Anwärter kann nachrücken. Sie verweilen einzig und allein in der Zitadelle. Falls ihr Rat gewünscht ist, müssen sie dort aufgesucht werden. Sie verlassen die Mauern der Zitadelle erst, wenn sie mit den Füßen voran über die Schwelle getragen werden. Ihnen übergestellt ist der Erzmaegister, der der Anführer des Ordens ist. Er schaut über alle Handlungen drüber und kann gegebenenfalls sein Veto einreichen. Beim Ableben des Erzmaegisters, wird ein neuer aus den Reihen der Großmaegister gewählt.
Sie sind an einer blutroten Robe zu erkennen, die ihre außerordentliche Weisheit widerspiegeln soll.
Erzmaegister:
Der Erzmaegister kümmert sich um die Finanzen und Aufträge des Ordens. Seine Lebensaufgabe ist es, dem Orden zu dienen und alles für seine Erhaltung zu tun. Ihm werden alle Entscheidungen und Handlungen offengelegt, zu denen er auch sein Veto einlegen kann. Bei Fehlern muss ihm Rechenschaft abgelegt werden. Ihm obliegt das Recht, Mitglieder des Ordens der Zitadelle zu verweisen und ihnen Titel und die Robe zu entziehen. Bei seinem Ableben wird aus den Reihen der Großmaegister ein neuer gewählt. Er lebt und stirbt hinter den Mauern der Zitadelle.
Er ist an einer weinroten Robe zu erkennen, die seine Autorität untermalen und widerspiegeln soll.
Die Zitadelle:
Der Standort der Zitadelle liegt zentral in Bormiost, der größten östliche Hafenstadt in Akazia. Dort landen an und legen ab bis zu hundert Schiffe am Tag. Die Vielfalt an Menschen und Sprachen ist einmalig. Im Herzen der Stadt liegt die Zitadelle hinter ihrem festen Mauerwerk. Das Tor steht in Friedenszeiten allen Bürgerinnen und Bürgern immer offen. Eintritt in die große Bibliothek für Ordensfremde ist mit der Erlaubnis des Erzmaegisters und der Anwesenheit eines Maegisters möglich. Die Mauern stehen schon seit dem frühesten Zeitalter und sind von Iyona selbst gesegnet.
Der höchste Turm von Bormiost gehört zu der Zitadelle und gibt den Blick zum Meer frei. Dort befindet sich die Glocke des Garwins. Er hatte sie war zwei Jahrhunderten der Zitadelle geschenkt, um bei drohender Gefahr vom Meer oder Land aus die Bewohner der Stadt zu warnen. Ihr Schall erklang seit drei Generationen nicht mehr. Der zweithöchste Turm beinhaltet den Rabenschlag. Im Keller befindet sich die Leichenhalle, in die alle Toten der Stadt gebracht werden, um dort gewaschen und für die letzte Reihe vorbereitet zu werden. Im Innenhof befindet sich ein großer Gemüse- und Kräutergarten, den die Maegister liebevoll pflegen. Dort befindet sich auch der ordenseigene Brunnen, der zu jeder Zeit Frischwasser enthält. Ein kleiner Stall mit einer Handvoll Pferden befindet sich in einem kleinen Holzverschlag neben dem Haupttor.
Es leben in etwa fünfundzwanzig Kammerdiener, dreiundfünfzig Lehrlinge, fünfzig Novizen, zweihundert Maegister, fünfzehn Großmaegister und ein Erzmaegister in der Zitadelle. Sie teilen sich auf die sechs Schlafsäle und zweihundertfünfzig Gemächer auf.
Karte von Akazia:
Text: J. M. Weimer
Cover: J. M. Weimer
Publication Date: 03-07-2020
All Rights Reserved
Dedication:
Dieses Buch ist im Rahmen einer Challenge entstanden. Die Aufgabe war es, eine Kurzgeschichte zu schreiben, die 5.000 + 50 Wörter nicht überschreitet. Es war möglich, in einem Hintergrundinfokapitel noch mehr Input zu seiner Geschichte zu geben. Meine Kurzgeschichte beläuft sich auf 5.021 Wörter.