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Der blutende Wald

 

 Die Hitze der Nacht schien unerträglich. Ion Petrescu lag in seinem Bett und träumte einen unruhigen Traum. Im Schlaf wälzte er sich von einer Seite auf die andere. Der Traum schien jedoch immer groteskere Formen anzunehmen. Fratzenhafte Dämonen formierten sich und stießen auf ihn nieder, bis er glaubte, der Himmel müsse jeden Moment über ihn zusammenbrechen und ihn für immer begraben. Mit einem Schrei erwachte er und fuhr schweißgebadet in seinem Bett auf. Die Hitze stand buchstäblich wie eine Wand in dem alten Forsthaus und ungeachtet dessen, dass in seinem Schlafzimmer die Fenster sperrangelweit geöffnet waren, schien sich in dieser Vollmondnacht kein einziges Lüftchen zu regen.

Ein Albtraum, dachte er, es kann sich nur um einen verdammten Albtraum gehandelt haben, denn in diesem Traum hatte man zu ihm gesprochen. Nein, man hatte ihn gerufen. Es war eigentlich mehr ein deutlicher Hilfeschrei, den er nunmehr glaubte vernommen zu haben. Oder hatte er während des Wachwerdens nur seinen eigenen Schrei gehört? Er wusste es nicht, jedenfalls war es ihm allein bei dem Gedanken daran fast schon unheimlich zumute. Dabei war er beileibe ganz gewiss kein ängstlicher Typ, oder gar ein feiger Schwächling. Nein ganz im Gegenteil, als Revierförster hatte er bislang immer seinen Mann gestanden und schon so manche Gefahr entschlossen von seinem Wald in den Karpaten abwenden können...

Elena.

Seine Hand griff jedoch ins Leere. Noch immer etwas benommen starrte er auf die freie Bettstatt neben sich, bevor er sich der Tatsache wieder bewusst wurde, dass seine hübsche Verlobte noch immer in der Hauptstadt weilte, um dort an ihrer Diplomarbeit zu schreiben. Sie hatte in Bukarest Botanik studiert und nach dem Abschluss würde sie zu ihm in das alte Forsthaus ziehen, welches Ion so liebevoll für sie beide wieder hergerichtet hatte. Elena sollte es schön haben, wenn sie ihm schon in die Einöde der unberührten Wildnis in die Karpaten folgte und es sollte ihr dabei trotz alledem an nichts mangeln.

Ion stand auf, trat an das weit geöffnete Fenster und atmete tief die warme Nachtluft ein, die jedoch wie immer nur nach Wald und Holz zu duften schien. Vielleicht eine winzige Nuance intensiver nach aromatischem Baumharz, aber das war ja bei dieser nächtlichen Hitze auch nicht weiter verwunderlich. Plötzlich jedoch erstarrte er für einen Moment zu einer Salzsäule, denn die Rezeptoren der Riechzellen seiner Nase hatten für die Winzigkeit eines Augenblicks lang, eine zutiefst beunruhigende Emotion in ihn ausgelöst, die ihn sofort hellwach werden ließ. Diese urplötzlich wahrgenommenen Moleküle, die konnte er mit einem Mal auch sofort knallhart zuordnen... Rauch… Feuer…

Dort draußen, da brannte sein Wald...!

Doch dann war dieser brandige Geruch wie von Zauberhand schlagartig wieder verschwunden und rein gar nichts deutete mehr auf irgendein nächtliches Feuer im Wald hin. Die Luft war zwar heiß, aber klar und es war wirklich auch nur diese eine Millisekunde, die ihm dieses Signal überhaupt hatte erkennen lassen. So sehr er die Luft jetzt auch noch so intensiv durch die Nase einatmete, jener alarmierende Geruch nach brennendem Holz blieb aus. Hatte er sich womöglich geirrt? Kaum, denn seit Wochen hatte es in der Region nicht mehr geregnet. Tagsüber hatte die gnadenlose Sonne ihre sengenden Strahlen wie flüssiges Feuer unablässig über den Jahrhundertealten Karpaten-Urwald ausgegossen. Ein Feuer in diesem knochetrockenen Forst war also gar nicht so weit hergeholt. Da genügte manchmal sogar nur ein einzelner Funke und das ganze Unterholz brannte sofort lichterloh wie Zunder.

Ion musste sich überzeugen und konnte es nicht dabei belassen, dass er plötzlich nichts mehr von einem Feuer roch. Er schlüpfte rasch in seine schwarze Arbeitskombi und griff nach seinem neuen Smartphone, einem noblen Gastgeschenk seiner deutschen Försterkollegen aus dem Saarland, wo er vor einem halben Jahr zu einem bedeutsamen Fortbildungslehrgang nach Deutschland eingeladen worden war.

Schon wollte er in den alten klapprigen Jeep einsteigen, als er plötzlich wieder diese wispernden Stimmen vernahm…

 ...das Gewehr...

Wozu sollte ich denn das Gewehr brauchen, wenn der Wald brennt, dachte Ion, besann sich aber eines Besseren und holte sein altes Jagdgewehr aus dem Blechschrank. Er kontrollierte, ob die Waffe geladen war. In der doppelläufigen Büchse steckten noch zwei Patronen Schrotmunition, die er sogleich entfernte. Schnell griff er nach der kleinen grauen Pappschachtel mit der schweren Jagdmunition, man konnte ja nie wissen. Vielleicht hatten ja Wilderer im Wald ein Feuer gemacht und mit denen war im Urwald erfahrungsgemäß auch nicht gerade gut Kirschen essen.

 Dann stieg er in den alten Jeep, den ihn die Forstbehörde zur Verfügung gestellte hatte und fuhr den schmalen Forstweg hinauf in den höher gelegenen Wald. Nach etwa fünfzehn Fahrminuten kam er an eine kleine Biegung, die in den uralten Buchenwald führte, in dem er gerade erst vor knapp zwei Wochen nach dem Rechten gesehen hatte. Seinem bevorzugten Lieblingswald. Die Bestände dieses etwa 300jährigen Rotbuchenwaldes waren soweit gesund. Den ausführlichen Bericht, sowie das Protokoll zu dieser Routineüberprüfung, hatte er der Vorschrift entsprechend an die Verwaltung der Forstbehörde geschickt. Nur einmal kurz nachschauen kann ja gewiss nichts schaden, dann war er wenigstes auf der sicheren Seite, dachte Ion und bog in den Seitenweg ab.

Bereits nach kurzer Fahrt trat er jedoch voll auf die Bremse und rieb sich die Augen. Was er dort sah, kam ihm so unglaublich vor, dass er es zunächst überhaupt nicht fassen konnte. Schnell sprang er aus dem Jeep, ergriff sein Gewehr und ging ein paar Schritte in den Wald hinein. Zirka zwanzig Meter von ihm entfernt stieg plötzlich eine kleine tanzende Feuersäule von etwa einem Meter Höhe mitten im Wald auf und zerplatzte kurz danach in einem roten Funkenregen. Die rotglühenden Funken fielen auf den völlig ausgetrockneten Waldboden und… verloschen jedoch, ohne einen Brand auszulösen. Einen Moment später stieg erneut eine ähnliche Flamme an derselben Stelle auf und wieder zerplatzte sie in einem harmlosen rotsprühenden Funkenregen...

Ion meinte zu träumen, als er die tanzende Flamme sah. Dann ging er vorsichtig zu der Stelle, um diese ungewöhnliche Erscheinung aus nächster Nähe zu betrachten. Als er bis auf drei Schritt an die tanzende Feuersäule herangekommen war und nachdem auch diese Flamme wieder so zerplatzte, war der Spuk vorbei. Nichts deutete mehr darauf hin, dass hier mitten im Wald in der Nacht eine dünne, knapp einen Meter hohe Flamme gestanden haben sollte und keinen Waldbrand ausgelöst hatte. Stattdessen entdeckte er in einer Entfernung von weiteren zwanzig Metern die nächste Flamme, die sich ebenso verhielt, wie jene, die er zuvor schon gesehen hatte. Er rieb sich erneut die Augen, als traute er ihnen nicht. Zweifellos war es ein Signal, nur wem galt es und wen sollte dieses Signal, vor was warnen? Oder auf was sollte es jemand hinweisen. Ion war noch ein wenig verwirrt, als er den Weg zur nächsten tanzenden Flamme antrat. Die Spur führte praktisch bergan auf die Hügelkette hinauf, direkt in seinen Rotbuchenwald, der etwa fünfhundert Meter entfernt an der Hügelkante begann. Alle zwanzig Meter erschienen nun wieder diese Flammen und wenn er sie passiert hatte, waren sie anschließend sofort wieder verloschen.

   »Ich soll auf den Hügel«, murmelte er zu sich selbst, »sie wollen, dass ich auf die Hügelkette kommen soll, um dort was zu sehen?« Doch das wusste er natürlich selbst auch nicht, was ihn dort oben erwarten würde. Er wusste nur, dass dort oben sein Rotbuchenwald begann. Als er fast schon den höchsten Punkt der Anhöhe erreicht hatte, stieg noch einmal eine Flamme auf, aber diesmal zerplatzte sie nicht, sondern sie formte sich zu einer abscheulichen Grimasse und nahm die Form einer furchterregenden Fratze an, was selbst Ion die Haare zu Berge steigen ließ, denn er hatte diese groteske Fratze selbstverständlich sofort wiedererkannt. Es war einer dieser gräßlichen Dämonen aus seinem nächtlichen Albtraum. Ion ging in die Hocke und im gleichen Moment verlosch diese ungewöhnliche Flamme auf der Stelle. Er knickte den Lauf seines Jagdgewehres, entnahm der Pappschachtel zwei Patronen scharfe Jagdmunition und schob sie in die beiden Läufe hinein. Ganz unvorbereitet wollte er dem Unbekannten da oben nicht gegenübertreten, so viel war schon mal sicher. Vorgewarnt ist vorbereitet, dachte er und schlich die letzten Meter in gebückter Haltung, wie ein Indianer auf dem Kriegspfad durch den Wald zu der Anhöhe hinauf.

Als er auf der Anhöhe stand, verbarg er sich hinter einer dicken Buche und blickte hinunter ins Tal. Als er das Geheimnis entdeckte, verschlug es ihm vor Überraschung förmlich die Sprache. Aus der Brusttasche seiner Kombi zog er ein kleines Fernglas heraus und blickte durch das Glas talabwärts auf das Geschehen unterhalb der Anhöhe, wo sich unmittelbar vor seinen Augen etwas schier Unglaubliches abzuspielen schien…

Dort, wo sich vor gut zwei Wochen noch ein gesunder 300jähriger Buchenwald befand, fand er nun eine gigantische Freifläche vor, auf der nur noch Baumstümpfe standen. Diese einst riesige Waldfläche war bereits zu zwei Dritteln illegal gerodet worden und nun war man eilends dabei, mittels schwerer Technik, die bereits entasteten Stämme auf zwei Langholzwagen aufzuladen. Mehrere Männer, alle mit Gewehren bewaffnet, liefen zwischen den Fahrzeugen umher und gaben mit ihren Funkgeräten Anweisungen wie diese Stämme verladen werden sollten. Der Ablauf der Organisation klappe wie am Schnürchen und mit exzellenter Präzision wurde eine Holzfuhre nach der anderen auf die beiden Langholzwagen aufgeladen.

Ion verspürte ein Würgen im Hals. Ihm war zumute, als würde ihm plötzlich die Luft abgedrückt. Gerade wollte er zum Telefon greifen, um die Polizeistation anzurufen, als er unten im Tal durch sein Fernglas einen Jeep der Polizei entdeckte, welcher neben einem Gebüsch und durch einen LKW halb verdeckt im Forstwald parkte. Also war auch die Polizei bereits schon involviert und sicherte diesen ganzen illegalen Raubzug sogar noch ab.

Ion war entsetzt, gehört hatte er zwar schon davon, dass die Holzmafia in den Karpaten im ganz großen Stile einen äußerst lukrativen Holzraub betreibt und dabei gnadenlos ganze Wälder abholzt, wobei Bestechung und Korruption zum unabdingbaren Handwerkszeug jener Organisation gehörten. Aber es zu wissen ist das eine, es jedoch mit eigenen Augen anzusehen und miterleben zu müssen, das war etwas ganz anderes. Nachdem er seinen ersten Schrecken überwunden hatte, wusste er plötzlich wen er anrufen musste. Er nahm sein Smartphone zur Hand und suchte im Verzeichnis nach einer bestimmten Telefonnummer. Als er den Kontakt hergestellt hatte, meldete sich kurz darauf eine verschlafen klingende Stimme,

   »Wer spricht dort?«

   »Bin ich richtig beim Kommandanten? Hier spricht Ion Petrescu, der Revierförster vom 6.Bezirk. In meinem Wald wird im großen Stil wildgerodet und nun ist man bereits dabei die Stämme aufzuladen und sie nach irgendwohin abzutransportieren…«

   »Wissen Sie wie spät es ist? Außerdem ist dafür die örtliche Polizei zuständig, rufen Sie die an», erklärte der Mann am anderen Ende mit erstaunlich ruhiger Stimme.

   »Das würde ich normalerweise auch tun, aber die Polizei ist bereits vor Ort, nur glaube ich kaum, dass die auch nur ein einziges Wort mit mir reden wollte.«

    »Wenn die Polizei mit dabei ist, dann wird es wohl auch seine Richtigkeit haben, ich kann nichts für Sie tun, es tut mir leid.«

   »…Jetzt, um zwei Uhr morgens ist die Polizei mit einen Streifenwagen bei einem illegalem Rodungseinsatz mit einem gigantischen Radlader und zwei Langholzwagen im Einsatz. Finden Sie das nicht auch etwas ziemlich merkwürdig, Herr Kommandant?«

Am anderen Ende herrschte Funkstille. Dann fielen Ion die Worte seines Vorgängers ein, als er ihm damals den Forstbezirk übergeben hatte und kurz darauf in Pension ging. Wenn du mal in großer Not mit deinem Wald bist, mein Lieber, dann rufe einfach diese Nummer hier an, es ist die Privatnummer des hiesigen Militärkommandanten und nenne ihn das Losungswort, dann wird er dir gewiss weiterhelfen können, mein Freund...

Daran erinnerte sich Ion gerade noch rechtzeitig und sprach jenen Satz ins Telefon.

Kurz darauf vernahm er am anderen Ende wieder die Stimme des Kommandanten.

   »Ich habe verstanden, warten Sie ab und unternehmen nichts, bis wir kommen. Ach, und schalten Sie bitte Ihr Mobiltelefon nicht ab, wir orten Sie und kommen umgehend zu Ihnen. Verhalten Sie sich still und achten Sie darauf, dass man Sie nicht entdeckt. Haben Sie mich verstanden, Herr Petrescu?«

    »Alles klar, bitte beeilen Sie sich. Ich allein kann diese Banditen nämlich nicht aufhalten, denn sie sind alle bis an die Zähne bewaffnet«, antwortete Ion etwas erleichtert.

     »Verstanden und Ende…«

Dann wurde das Gespräch unterbrochen.  

Während des Gesprächs war Ion unvorsichtigerweise einen Schritt zu weit aus dem Sichtschutz des Baumes herausgetreten, als er das Smartphone in der Dunkelheit benutzt hatte. Denn in diesem Augenblick brach ein Schuss in der Finsternis und Ion verspürte einen grässlichen Schmerz im Bauchbereich. Diese Mistkerle machen doch tatsächlich ernst, ich bin angeschossen worden, dachte er wütend und mit einem schmerzverzerrten Gesicht griff er sich automatisch an die verletzte Stelle. Als er die Hand zurückzog, war sie blutverschmiert. Dann sah er wie zwei Polizisten aus dem Jeep sprangen. Einer von ihnen hatte sich ein militärisches Nachtsichtgerät über den Kopf gestülpt und gab dem anderen mit der Hand eindeutige Zeichen, die hinauf auf den Hügel deuteten. Zugleich rannten die beiden Männer los, um ihn von zwei Seiten in die Zange zu nehmen. Ion hatte sich auf den Boden fallen lassen und robbte mühsam ein paar Meter weiter zu einem Gebüsch ins Unterholz, von wo aus er des Geschehen im Tal im Auge behielt. Dann brachte er sein Gewehr in Position. Kampflos würde er sein Leben jedenfalls nicht hergeben. Solange er noch konnte, wollte er sich und damit auch den Wald verteidigen. Dann zielte er auf den riesigen Radlader, dessen unglaublich große Reifen bis zur Mannshöhe reichten. Das sollte ich doch wohl packen, dachte Ion richtig angefressen und schon sein erster Schuss traf den vorderen  Reifen des gigantischen Titans. Der sackte sofort ein wenig nach rechts vorne in die Schräglage und die bereits aufgeladenen Stämme rutschten polternd von der riesigen stählernen Schaufel. Sofort warfen sich die beiden Polizisten zu Boden und eröffneten aus ihren Maschinenpistolen das Feuer auf die Hügelkuppe. Der zweite Schuss Ions traf den hinteren Reifen des Radladers, der daraufhin gänzlich in die Schieflage geriet und nun komplett fahruntauglich wurde. Laut fluchend sprang der Fahrer aus der Kabine des Radladers und rannte zu einem der beiden Langholztrucks.

Jetzt stürmten plötzlich auch die anderen Männer zu ihren Fahrzeugen und wollten in Windeseile völlig überstürzt das Tal verlassen. Autotüren klappten und die Motore der LKWs angelassen. Das Licht an den Fahrzeugen wurde hastig eingeschaltet und die Fahrer versuchten die beiden großen LKWs aus dem schmalen Tal heraus zu manövrieren. Sie behinderten sich bei ihrem unkoordinierten Fluchtversuch gegenseitig und schoben das Polizeiauto mit brachialer Gewalt in das Gebüsch, wobei der Jeep einen kleinen Hang hinabrutschte und gegen einen Baum prallte. Einen Schuss gab Ion dann noch auf einen der beiden Polizisten ab, bevor er endgültig das Bewusstsein verlor…

Während sich unten im Tal Hals über Kopf die beiden Langholzwagen in dem Chaos einer unorganisierten Flucht gegenseitig rammten und bedrängten, erreichten die beiden schwerbewaffneten Polizisten die Anhöhe und suchten mit dem Nachtsichtgerät zielgerichtet nach dem nächtlichen Schützen, der ihnen so viele Schwierigkeiten bereitet hatte.

Wie von Zauberhand gelenkt, bogen sich die Sträucher des Unterholzes jedoch über den schwer verwundeten Förster zusammen und tarnten die Stelle, an welcher er lag mit ihren Blättern und dem restlichen Gestrüpp ab. Drei Schritt von ihm entfernt, schritten die beiden Polizisten nacheinander an ihm vorbei, ohne ihn jedoch zu bemerken. Kurz darauf drang auf der Anhöhe ein markerschütternder Schrei durch die nächtliche Stille des Waldes…

 

Als Ion die Augen wieder aufschlug, musste er erst lange gegen die Sonne anblinzeln, ehe sich nach und nach alles wieder zu einem wahrnehmbaren Bild zu formen begann. Rings um ihn herum war jetzt alles in ein weißes Licht getaucht. Er lag in einem weißen Bett und vor ihm stand mit einem breit grinsenden Gesicht ein Offizier in einer khakifarbenen Militäruniform. Der Mann beugte sich zu ihm hinab und flüsterte dabei leise die Worte,

   »Der Wald blutet…« Ion nickte, ja das waren die Worte, der Wald blutet… er hatte es offensichtlich übermittelt.

Der Offizier reichte ihm die Hand zu einem festen Händedruck,

   »Radu Antonescu, ich bin der Kommandant des regionalen Militärbezirkes, wir beide hatten in der bewussten Nacht miteinander telefoniert.«

Ion erinnerte sich,

     »Der Wald…«, sagte er ganz leise.

Der Offizier nickte,

   »Ganz recht, der Wald. Das hast du wirklich gut gemacht, Revierförster. Aber du solltest doch nicht allein gegen sie kämpfen...«

    »Sie, sie haben mich entdeckt, ich wurde angeschossen…«, murmelte Ion.

    »Ich weiß, denn wir haben dich nämlich schwerverwundet und bewusstlos in diesem Gebüsch auf der Anhöhe gefunden und dich gleich ins Militärkrankenhaus gebracht. Zum Glück konnten wir alle beteiligten Banditen festnehmen, bis auf die beiden Polizisten und den Fahrer des ersten Langholzwagens, denn die waren schon tot, als wir eintrafen. Und nein, du hast sie nicht erschossen. Der Wald… er muss sie getötet haben. Als die beiden Polizisten auf dieser Anhöhe nach dir suchten, gerieten sie in ein dichtes, extrem widerstandsfähiges Dornengestrüpp. Die beiden wurden durch die Dornenzweige festgehalten und ihnen wurde auf brutalste Weise die Kehle regelrecht herausgefetzt. Eine unglaubliche Sache und auch kein schöner Anblick. Ebenso, als der erste Langholzwagen losfuhr, musste der Fahrer offensichtlich gegen den starken Ast einer Buche gefahren sein, denn der durchschlug sofort die Frontscheibe und zermalmte ihm mit einem einzigen Hieb regelrecht seinen Kopf. Der Kerl ist bis heute noch nicht identifiziert. Hatte keinerlei Papiere bei sich und nun hat er sogar nicht einmal mehr ein Gesicht…« 

Antonescu schüttelte ungläubig den Kopf,

   »So etwas habe ich allerdings auch noch nie gesehen…Dabei kann er ja gar nicht so schnell gefahren sein, in diesem engen Tal. Na egal, wie dem auch sei, die aus der Hauptstadt werden es gewiss schon herausbekommen, sie haben ihre besten Ermittler geschickt, um diese äußerst mysteriöse Sache aufzuklären. Wie hast du überhaupt davon erfahren, mein Junge, ich meine das mit der Rodung dieses uralten Buchenwaldes?«

Ion schüttelte den Kopf,

   »Keine Ahnung, ich hatte einem Albtraum, der dann urplötzlich lebendig wurde…«

Das Lächeln wich langsam aus dem Gesicht des Offiziers, dann drückte er Ion erneut fest die Hand,

   »Willkommen im Club, mein Freund. Denn ab jetzt gehörst du zu den Beschützern des Waldes. Der Wald, er ruft seine Helfer, wenn er in Gefahr ist. Und ich glaube sogar, er hat dich beschützt, als die beiden Polizisten nach dir suchten… Der Wald ist viel mehr, als wir glauben von ihm zu wissen. Er ist ein äußerst komplexes Lebewesen, welches aus vielen Individuen besteht, die sich untereinander verständigen und sich sogar gegenseitig helfen können. Die Bäume, mein Lieber, sie kommunizieren miteinander und informieren sich über eine herannahende Gefahr. Dein Vorgänger wusste es auch, er gehörte ebenfalls zu den Beschützern. Nun hast du sein Erbe angetreten und glaube nicht, man kann da so einfach Mitglied werden. Dem ist mitnichten so, denn es ist ein exklusiver Club und die Bäume, respektive der Wald sucht sich seine Partner allein aus. Bei mir war es… Ach, das erzähl' ich dir ein andermal… Aber schau doch nur, wen ich dir mitgebracht habe«, sagte er und öffnete die Zimmertür.

Ein Lächeln glitt über Ions Gesicht,

     »…Elena...«

 

 

 

***

 

 

 

 

 

Impressum

Cover: selfARTwork

Text: Bleistift

© by Louis 2016/2      Update: 2021/5

Imprint

Text: © by Louis 2016/2 last Update: 2021/5
Cover: selfARTwork, 2021/5
Publication Date: 05-03-2021

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