Langsam verschwand London im Morgendunst. Arthur Clennam fröstelte und wandte seinen Blick bedächtig vom Land auf die Schiffsplanken des Klippers Pride of the Seas. Er wusste nicht, ob er froh oder traurig über seine Abreise sein sollte.
Es war sicher eine Mixtur aus beiden Gefühlen. Froh war er, einer freudlosen Kindheit und Jugend, einer Mutter, die kalt wie Eis war, und einem Elternhaus, das kaum etwas anderes als Geschäft, Geschäft und nochmals Geschäft kannte, entkommen zu sein.
Traurig, weil er ahnte, dass er London auf sehr lange Zeit nicht wieder sehen würde und weil man ihn fast gewaltsam von seiner großen Liebe Flora Casby getrennt hatte. Er hatte der gesamten Situation fast ohnmächtig gegenüber gestanden und fassungslos mit angesehen, wie seine Mutter und Mr. Casby einen Keil zwischen Flora und ihn getrieben hatten. Flora war leicht zu beeinflussen gewesen, sie war sehr jung, naiv und unerfahren, und war schnell eingeknickt, wenn auch unter reichlich Tränen, als ihr Vater und Mrs. Clennam auf sie eingeredet hatten.
Er hatte nie genau erfahren, was sie Flora alles für Geschichten aufgetischt hatten, aber er schätzte, dass ein Großteil dessen, was sie ihr erzählt hatten, gewaltig gelogen gewesen sein musste. Sie selbst hatte ihn danach nur noch einmal kurz für fünf Minuten sehen wollen und hatte dabei lediglich weinend auf einem Stuhl gehockt, während er versucht hatte, etwas aus ihr herauszubringen. Ihm war nur klar geworden, dass seine Reise in den fernen Osten eine nicht unerhebliche Rolle dabei gespielt haben musste und Flora nicht mehr bereit war, in London auf ihn zu warten.
Zornig stampfte er mit dem Fuß auf den Schiffsbrettern auf und biss sich verärgert auf die Unterlippe in Gedanken an diese unschönen Vorkommnisse. Verdammt, verdammt! Er hatte sich im Geiste schon mit Flora an Weihnachten verlobt gesehen und nun das! Jetzt war er allein auf der langen Reise nach China, um dort in Shanghai das Familienunternehmen gemeinsam mit seinem Vater zu leiten. Es war viel besser direkt in China zu arbeiten, da man die dortigen Kontakte ständig pflegen musste und auch die Verarbeitung der Stoffe, vor allem die der wertvollen Seide, und deren Verschiffung nach England viel besser überwachen konnte.
Etwa neun Monate Schiffsreise, das war sehr beschwerlich. Auch wenn immer schnellere und leichtere Klipper gebaut wurden, um die geschätzten gut sechzehntausend Seemeilen zwischen England und China zu überwinden, so war man doch weiterhin Wind, Wetter und Naturgewalten ausgesetzt, ganz zu schweigen von sonstigem Unbill wie Krankheiten oder gar Piratenüberfällen.
Der gerade erst dreiundzwanzigjährige Arthur Clennam seufzte schwer, er war auf einem Weg ins Ungewisse. Ob die Reise ein angenehmes Erlebnis, ein schönes Abenteuer, oder ein Horrortrip in die Hölle werden würde, konnte man nun, etwa eine Stunde nach Ablegen von den Docks in London, noch nicht sagen. Die Pride of the Seas
steuerte jetzt das offene Meer an und damit begann endgültig Arthurs lange Abwesenheit von der Heimat.
Er würde seiner Mutter beweisen, was in ihm steckte! Er würde sich als würdiger Erbe des Unternehmens Clennam & Sons
erweisen, das hatte er sich geschworen, vor allem auch seinem verstorbenen Großvater, außer seinem Vater der einzige freundliche Verwandte. Und wenn seine Mutter ihn auch ablehnte, mit seinem Vater kam er recht gut aus und er würde gemeinsam mit ihm auf alle Fälle ein besseres, lebenswerteres Leben führen als mit seiner Mama in England.
Die Schulzeit, zuerst bei einem strengen Hauslehrer, später in einem Internat, hatte er gut hinter sich gebracht, ebenso war er umfangreich in Buchführung und Ökonomie unterwiesen worden. Das Internat war kaum besser als das lieblose Elternhaus gewesen, er hatte dort wenig Gutes erfahren, kaum Zuneigung, meist hatte man die Jungs dort nur mit düsteren Drohungen, drakonischen Strafen und eiserner Disziplin erzogen. Von daher war er eigentlich vom Regen in die Traufe gekommen. Nur ein Lehrer auf der Royal Alexandra School in Reigate war dem insgesamt strengen Regiment nicht so ganz gefolgt und hatte sich auch ab und zu mal privat um die Belange der Jungs gekümmert. Das hatte Arthur sehr gut getan und ihm geholfen, seine Persönlichkeit trotz emotionaler Vernachlässigung herauszubilden. Wäre sein Großvater, Gilbert Clennam, nicht gewesen, hätte Arthur auch zu Hause nie erfahren, was Zuneigung und Liebe bedeuteten, da sein Vater zu oft abwesend gewesen war.
Fast drei Jahre lang hatte er nun im Geschäft der Clennam’schen Tuchwaren-Handlung gearbeitet und dabei viel über die Stoffe, deren Herkunft und Verarbeitung gelernt, so dass er nun endlich genug Wissen angesammelt hatte, um seinem Vater in China unmittelbar zur Seite zu stehen. Außerdem hatte es sehr den Anschein gehabt, als wäre seine Mutter regelrecht froh, ihn nicht mehr im Hause zu haben und als würde sie ihn mit tausend Freuden nach Übersee schicken. Und das wohl nicht nur wegen Flora Casby.
Die Tuchhandlung war schon immer ein florierendes Geschäft gewesen, die Clennams waren hoch angesehen und nicht gerade arm. Man konnte sich Dienstboten leisten, darunter das Faktotum Jeremiah Flintwinch und die Magd Affrey Weston. Stoffe wurden immer und überall gebraucht, vom Fluss-Schiffer bis hinauf zum königlichen Hof hatten Clennam & Sons
Kunden.
Zu Affrey hatte Arthur ein besonderes Verhältnis, da sie die einzige Person im Hause Clennam war, die ihm gegenüber zuvorkommend und liebenswürdig gewesen war, und so war ihr gegenseitiger Umgangston lockerer und vertrauensseliger gewesen als gegenüber allen anderen Personen, seine Mutter eingeschlossen.
Affrey hatte bitterlich geweint, als er sich an diesem Morgen von ihr verabschiedet hatte. Sie hatte ein letztes Mal sein Bettzeug glatt gestrichen und war dann aufgelöst in Tränen weggerannt, weil sie der Abschiedsschmerz übermannt hatte.
Über den Abschied von seiner Mutter wollte Arthur lieber nicht nachdenken. Er verstand ganz und gar nicht, warum sie ihn so furchtbar abweisend behandelte. Früher, als Kind, hatte er gedacht, dass sie einfach nur streng mit ihm war und ihm eine ordentliche Erziehung zugute kommen ließ, doch nun, da er es besser wusste, trieb ihn die Frage nach dem Grund ihrer Herzenskälte stets weiter um. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, vor allem, da er sich selbst kaum einer Schuld bewusst war.
Die Pride of the Seas
kam gut voran, bis sie Vigo in Spanien anlief. Dort wurde angelegt und neuer Proviant an Bord genommen. Für die wenigen Passagiere des Klippers, der fast nur unnützen Ballast geladen hatte, da die Hauptfracht ja von China nach England transportiert wurde, nämlich Seide, Tee und Gewürze, gab es daher einen Tag lang Landgang.
Arthur schaute sich neugierig in der spanischen Stadt um. Die Sprache konnte er nicht, er hatte nur ein wenig Chinesisch gelernt, und das war ein recht kompliziertes Unterfangen gewesen, da es nur wenige Chinesen in London gab, vor allem kaum welche, die befähigt waren, ihre Sprache weiterzuvermitteln.
Also wanderte er nur auf den Straßen und Plätzen der kleinen Stadt entlang und schaute sich die schönen Häuser mit den hölzernen Balkonen und hölzernen Klappläden genauer an. Es war sehr warm hier unten im Süden Europas, das Wetter war während der Reise immer besser und schöner geworden und nun war es in der Tat so heiß in der Sonne, dass man den Rock ausziehen und in Hemd und Weste herumbummeln konnte.
An einem Marktstand kaufte Arthur einer Spanierin einiges Obst ab, sie verständigten sich mit Zeichensprache und Arthur lächelte breit, als er die Orangen, Pfirsiche und Mirabellen entgegennahm. Bedächtig kaute er einige der Mirabellen und spuckte diskret die Kerne hinter große Büsche. Solches Obst bekam man in London nicht oft zu kaufen, auch nicht wenn man gut betucht war und keine finanziellen Sorgen hatte.
Er blickte ein paar sehr rassigen Mädchen nach, die ihre dunklen, fast schwarzen Haare in strenge Knoten gefasst hatten und in bunten, lebensfrohen Gewändern schnatternd durch die Stadt gingen. Als sie den großen Fremden erblickten, blieben sie kurz stehen, stießen sich gegenseitig an und brachen in albernes Gekichere aus. Dann stiebten sie davon, als wäre er der Leibhaftige selbst direkt hinter ihnen her.
Arthur betrat am Abend mit dem Rest seines Obstes in der Hand das Schiff und nahm ein bescheidenes Abendessen ein. Die Verpflegung an Bord war weniger auf die Bedürfnisse der Handvoll Passagiere ausgerichtet, als auf kräftige, aber eintönige Seemannskost und das hing allen bereits jetzt, wo man sich noch immer in Europa befand, zum Hals heraus. Daher hütete Arthur sein Obst wie einen Schatz, auch wenn man die Mirabellen und Pfirsiche bald würde essen müssen. Die Orangen würden zum Glück etwas länger haltbar sein.
Der Klipper legte am nächsten Morgen von dem malerischen spanischen Hafen ab und von da an verlief die Reise nur noch selten in geregelten Bahnen!
Publication Date: 10-27-2011
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