Blutschwur der Schreiber der Großen Schriften:
„Ich wurde geboren um diese Zeiten und Taten zu belegen,
geboren, um Helden- und Fehltaten meines Zeitalters zu belegen,
damit unsere Nachkommen daraus lernen und nichts vergessen wird.
Frei von eigenen Ansichten und Eindrücken und Meinungen
soll diese Ära niedergeschrieben werden.
Im Blute derer, die vergangene Zeitalter geprägt haben,
im Blute derer, die vergangene Zeitalter geschrieben haben,
im Blute derer, die dieses Zeitalter prägen werden,
in meinem Blute, der dieses Zeitalter niederschreibt.
Es bindet mich an die Wahrheit,
ob gut oder schlecht,
ob gramvoll oder freudenreich.
Und so gelobe ich bei meinem Geburtsrecht,
mich der Verantwortung anzunehmen und zu schreiben;
ein neues Kapitel im großen Leben unserer dreier großen Völker.
Denn ich bin ihr Bibliothekar.“
Eintrag in die Bücher der Großen Schriften:
„Die Unruhen nehmen zu, die Toten auch. Es herrscht ein Krieg, den kaum einer sieht und doch ist er da. Bald wird etwas unternommen werden müssen, um es zu beenden. Bald wird die Entscheidung fallen, was getan wird.
Ich wurde geboren, um von diesem Krieg zu schreiben, von diesem Krieg mit dem alles weitere seinen Anfang nahm und mit dem alles Folgende fort schritt. Bei meinem Schwur als Schreiber der Großen Schriften so hat es sich zugetragen, so wurde es mir zugetragen, nichts ist verändert.
Das hier ist mein Bericht.
Das Zeitalter der Königswölfe wird wieder beginnen.“
Er hob das Gesicht in den lauen Wind und atmete tief den Geruch ein, der von der Stadt zu ihm herüber wehte. Er roch alten toten Fisch, der langsam im warmen Wasser vor sich hin faulte, roch frisch zerlegten Fisch, dessen Blut noch über den Boden troff, den Schweiß der Männer, sauer von der harten Arbeit und bitter vom Alkohol, der in einigen Blutbahnen floss. Er roch das Benzin der Motoren, den Rauch der Schornsteine und schwach, einem Hauch gleich, den Geruch der weiten See. Ein Schiffshorn stieß seinen klagenden Laut aus, bevor es den Hafen verließ und in für ihn unbekannte Gestade fuhr. Er seufzte leise und gönnte sich einen kurzen Moment der Illusion, an Deck eines Schiffes zu stehen, eines stolzen großen Dreimasters, das Steuerrad fest in der Hand, den Wind in seinem Haar, die Freiheit auf der Zunge schmeckend. Das Schiff in seiner alten Erinnerung lag tief im Wasser, der Rupf gefüllt mit kostbaren Handelswaren. Seine Mannschaft hisste die Segel, sie blähten sich im Wind, ein Ruck ließ das stolze Gefährt erzittern und schob es unaufhaltsam mit sich, tief in die Weiten der See, zu fernen Ufern …
Er seufzte erneut, riss sich von seinen Gedanken los und bohrte seinen Zeh tief in den weichen, warmen Sand. Hier, wo er stand konnte ihn niemand sehen oder hören, er war allein mit sich und seinen trüben Gedanken. Ein Flugzeug ließ ihn den Kopf heben. Er blickte den blinkenden Lichtern hoch am Himmel nach, bis sie die Dunkelheit der Nacht verschluckt hatte. Theoretisch könnte er in dreißig Minuten den Flughafen erreichen, sich ein Ticket kaufen und in ein Flugzeug steigen. Praktisch würde er beim Sicherheitscheck höflich aber bestimmt abgeführt und in einen Raum gebracht werden, wo sie ihn lange festhalten würden. Sehr lange. Und es würde kein schöner Aufenthalt für ihn werden. Er knirschte leise mit den Zähnen.
Ich vermisse das Meer, dachte er wehmütig und kickte Sand in die sanfte Brandung. Die hohen wilden Wellen, die kalte Gischt, das grüne Wasser.
Das hier war ein besserer Pool, lau, träge und nur wild, wenn Hurrikane über es hinwegfegten. Das Meer, das sein Herz so sehr liebte, war rau und wild, kalt und grausam. Ein dritter Seufzer stahl sich aus seiner Brust nach oben.
Es würde bald dämmern, er sollte wieder zurückgehen.
Seine Füße verwandelten sich in weiche Pfoten und er trottete zurück in den Sumpf. Nicht einmal richtig rennen konnte er hier an diesem lächerlichen Scherz von einem Meer, das nahtlos in ewigen Matsch überging. Er sprang über eine Wassertiefe, landete im Morast und sank bis zu den Knien ein. Er hasste es hier, es war ständig feucht und schwül, Moskitos und andere schwirrende Insekten waren hartnäckige Begleiter und sein Fell fühlte sich immerzu feucht und klamm an. Er kämpfte sich aus dem Morast, trat auf festen Boden und schüttelte sich.
Gott, ich will einen Wald.
Er knurrte drohend die Dunkelheit an, bevor er im wilden Dickicht der Zypressen und Mangroven verschwand.
Phelan öffnete die Tür des alten Hauses und trat in die Eingangshalle. Ein Knurren entwich seiner Kehle. Raghnall war hier. Was wollte er jetzt schon wieder von ihm? Missmutig stapfte er zum Salon und trat ein.
„Was willst du hier?“, grüßte er schlecht gelaunt, seine Finger krampften sich um den Türknauf, um die Wut, die ihn ihm aufkeimte vor seinem ungebetenen Besucher zu verbergen. Raghnall O’Braeden drehte sich zu ihm, sein Gesicht eine kühle, erhabene Maske. Er hob seine linke, buschige Augenbraue und musterte seinen Enkelsohn von Kopf bis Fuß.
„Du könntest ein Bad gebrauchen. - Und eine Rasur“, erwiderte er kühl. Phelan blitzte Raghnall wütend an und unterdrückte ein warnendes Knurren. Er war nicht so verrückt; Raghnall O’Braeden anzuknurren, wer Raghnall O’Braeden anknurrte, überstand das selten unbeschadet. Raghnall O’Braeden war einer der ältesten des Rates, der ihre Völker zusammenhielt und dafür sorgte, dass sie alle auch noch in diesen Zeiten der Technologie und der akribischen Volkszählungen in Ruhe und unerkannt unter den Menschlingen leben konnten. -Es sei denn, man war ein Verbannter und Ausgestoßener, so wie Phelan. Dann musste man sich selbst darum kümmern, zur rechten Zeit die richtigen Papiere in der Hand zu halten. Phelan schloss die Augen, holte tief Luft, rang um seine Beherrschung und zwang seinen Wolf zu schweigen.
„Ich wünsche dir einen wunderschönen Abend, Raghnall. -Was führt dich in mein bescheidenes Heim?“, fragte er und seine Stimme troff vor Sarkasmus. Jetzt war es an Raghnall, ein Knurren zu unterdrücken. Er richtete sich auf und seine imposante Gestalt schien um einige Zentimeter zu wachsen. Phelan blinzelte nicht einmal. Als kleiner Welpe hatten ihn die Droh- und Warngebärden seines Großvaters Angst gemacht, aber seit seinem zwölften Lebensjahr brachten sie ihn nur noch zur Raserei.
„Ich habe einen Gast. -Er wird für einige Zeit bei euch wohnen. Du wirst ihm ein annehmliches Leben bescheren und dich um ihn kümmern, ihn disziplinieren und Gehorsam lehren. Er wurde vorübergehend von allen Annehmlichkeiten des Rates verbannt. Ihm ist verboten, mit Ratsmitgliedern oder Mitgliedern von Rudeln und Clanen, die dem Rat angehören zu reden. Ihr werdet diese Stadtgrenzen nicht überschreiten, sonst drohen euch entsprechende Zwangsmaßnahmen. Sollte er sich in der Zeit in der er bei euch weilt, erneut die Aufmerksamkeit der Menschlinge zuziehen, werdet ihr beide dafür zur Rechenschaft gezogen“, erklärte Raghnall bestimmt. Phelan bleckte die Zähne zu einem stummen Knurren. Ein gemeiner Druck breitete sich hinter seiner Stirn aus.
„Was hat er getan?“, presste er mühsam hervor. Kindermädchen, sein Großvater degradierte ihn mal wieder zu einem Kindermädchen. Er war es so langsam satt, die Amme von irgendwelchen verzogenen Rotzlöffeln von hohen Ratsmitgliedern zu spielen, nur weil diese ihre verhätschelte Brut nicht in den Griff bekamen und ihnen die Hosenböden stramm zogen. Und er war es satt, dass er nichts dagegen tun konnte, außer es zu akzeptieren.
„Er hat die Aufmerksamkeit der Menschlinge mit äußerst exzessiven Festivitäten auf sich gezogen.“
Phelans Finger verkrampften so fest um den Türknauf, dass das Metall sich verbog. Es wurde wohl immer besser. Ein feierwütiger, verzogener Rotzlöffel. Mühsam ließ er den Knauf los.
„Und für wie lange soll ich ihn hierbehalten?“, wollte er wissen.
„So lange es dauert ihn zu disziplinieren oder wir es für lange genug empfinden“, antwortete Raghnall, drehte sich um und schritt durch den großen Raum.
„Er wartet in der Bibliothek auf dich.“
Julien Delano war nervös. Er hockte schon die ganze Nacht allein in dieser Bibliothek und wartete auf den Bewohner dieses Hauses. Raghnall hatte ihn kurz nach ihrer Ankunft zurückgelassen und war irgendwo hin verschwunden, wohin genau, hatte er ihm nicht gesagt, nur, dass er in diesem Zimmer zu bleiben hatte oder er würde es bereuen. Julien wanderte von einem großen Fenster zum nächsten und starrte trübsinnig in den dunklen Sumpf. Dieses Mal hatte er richtigen Mist gebaut. Sie hatten ihn verbannt. Er hatte kein Geld mehr, kein Auto, keinen Status, er war nur noch Julien Delano, der Niemand. Sein Vater war kurz davor gewesen, ihn windelweich zu prügeln, nur seiner Mutter war zu verdanken, dass er es nicht getan hatte. Und dabei war sie es immer gewesen, die schneller mit der Hand als mit Worten gewesen war.
Er seufzte herzhaft. Verbannung, das war hart. Und diese Verbannung hier zu verbringen, war noch härter. Er hatte keine Ahnung, wer genau in diesem Haus hier wohnte, aber es kursierten Gerüchte über die alte Villa im Sumpf, die an der äußersten Grenze im Nord-Osten von New Orleans lag. Gerüchte über seltsame Bewohner hier, die seltsamen Neigungen nachgingen, von unheimlichen Geräuschen, die Nachts aus der Villa hallten, und über die Sümpfe waberten, wie die klagenden Schreie der irischen Todesfeen. Vor bizarren und obskuren Ritualen, Wodu oder schlimmeres wurde gemunkelt und keiner wusste, wer in diesem Anwesen eigentlich hauste. Das einzige, was er genau wusste war, dass der oder die Bewohner Wölfe waren. Das hatte er sofort beim Betreten der großen Eingangshalle gespürt. Und dass er jetzt hier wohnen würde, um von diesem grusligen Wer-auch-immer Disziplin und Gehorsam zu lernen.
Julien seufzte erneut. Die letzte Party hatte schlichtweg zu früh nach der letzten stattgefunden; er hätte doch noch ein oder zwei Monate länger warten sollen, aber die Nachfrage war so groß gewesen. Und der Reiz ebenso. Seine Stirn sank gegen das kühle Glas der Fensterscheibe. Es war so peinlich, so erniedrigend gewesen, als mit einem Mal sein Vater vor ihm gestanden hatte, mit einer Miene aus Eis und einem Blick der Stahl zum Schmelzen bringen konnte und dann hatte er ihm eine Ohrfeige gegeben, die ihn quer durch den Raum hatte fliegen lassen, bis die Wand seinen Flug unsanft beendet hatte. Zwei der Leibwächter seines Vaters hatten ihn auf die Beine gezerrt und ihn dann wie einen Häftling durch die Menge seiner Gäste nach draußen geführt, in eine Limousine gepackt und waren mit ihm zu einer Versammlung des Rates gefahren. Er musste sich Vorwürfe anhören, Beschuldigungen, er durfte sich verteidigen -was gab es da groß zu verteidigen? Er hatte eine verbotene Feier veranstaltet und war dabei erwischt worden- und dann wurde das Urteil verhängt.
Verbannung.
Verlust des Ranges, Verlust des Ansehens, Verlust aller materiellen Dinge, die man besaß, Verlust des Schutzes des Clans. Ab sofort war er mittellos völlig auf sich allein gestellt. Und dann hatte seine Mutter beschlossen, dass er hier her an den grusligsten und abgedrehtesten Ort in ganz New Orleans, ach, wahrscheinlich auf der ganzen Welt!, gebracht werden sollte, um Disziplin und alles, was ein erwachsener, verantwortungsvoller Mann an Charaktereigenschaften in sich tragen sollte, zu lernen.
Er schlug leicht mit der Stirn gegen das Fensterglas.
Fuck, fuck, fuck, fuck, fuck!
Er war verantwortungsvoll, er war diszipliniert, er war ein Mann voll guter Charaktereigenschaften, ihm war nur so verdammt langweilig! Ein von Selbstmitleid zerfressener Klagelaut entwich seinen Lippen. Er durfte ja nichts anderes tun, als zu feiern! Oh, und hübsch zu sein, und dekorativ zu sein und nett zu sein …
Die Tür der Bibliothek öffnete sich und Raghnalls Silhouette erschien im Türrahmen. Der Mann war beängstigend. Er war ein Hüne, maß fast zwei Meter, mit breiten starken Schultern und noch stärkeren Armen, sein blondes Haar trug er kurz, seinen dichten Vollbart akkurat geschoren. Die blaugrauen Augen schienen einen bis aufs Mark durchdringen zu können. Er war ein mächtiger, alter Wolf und er strahlte diese Macht mit jeder Pore seines Körpers aus.
„Er ist jetzt da“, sagte Raghnall und trat beiseite. Eine kleinere Silhouette erschien, eindeutig ein Mann, von athletischem Körperbau, wildem Haar und noch wilderem Bart.
Julien öffnete den Mund zu einem Gruß und schloss ihn wieder. Sein Herz schlug schneller. Das war nicht möglich!
Phelans Herzschlag setzte für zwei lange Schläge aus, sein Körper verkrampfte sich und seine Gesichtszüge froren ein.
„Nein“, stammelte er und trat einen Schritt zurück.
„Nein.“
Phelan floh regelrecht zurück in die Eingangshalle. Raghnall war ihm wie ein Blitz auf den Fersen.
„Nein!“ Phelan wirbelte zu seinem Großvater herum.
„Nein! Er wird nicht hierbleiben! Das kannst du nicht tun!“ Er streckte Raghnall den Finger entgegen, teils anklagend, teils um ihn sich vom Leib zu halten.
„Nimm ihn wieder mit, hörst du! Du nimmst ihn sofort wieder mit! Warum tust du das? Warum tut ihr das? Ihr habt mich in der Hand und dann macht ihr das? Nimm ihn mit, macht was ihr wollt, aber nimm ihn wieder mit!“, flehte er und er klang verzweifelt.
Raghnall musterte seinen Enkel mit einem unergründlichen Blick.
„Du hast in der Sache nicht zu bestimmen“, entgegnete er kalt. „Du wirst tun, was wir dir aufgetragen haben. Der Himmel allein mag wissen, was im Kopf dieses Weibes vor sich ging, als sie es beschossen hat, aber du wirst tun, was wir dir auftragen.“
Phelan öffnete den Mund zu einem wilden Protest, doch ein Blick aus Raghnalls kalten Augen ließ ihn verstummen.
„Hast du vergessen, dass ich über dich gebiete?“
Phelans Schultern sackten nach unten.
„Nein.“
„Dann hör auf, wie ein jämmerliches Waschweib zu greinen und erledige deine Aufgabe. Ich werde die Tage wieder nach euch sehen. -Meine Empfehlung an Amy, richte ihr Grüße aus, ich hoffe, sie wird noch hier sein, wenn ich euch wieder besuchen komme, ich freue mich jedes Mal, mich auf ein Pläuschchen mit ihr zu treffen. -Phelan.“ Raghnall deutete ein knappes Nicken an, dann ging er um seinen Enkelsohn herum und öffnete die Tür.
„Denk an deine Aufgabe, Phelan. Nicht mehr und nicht weniger.“
Hinter ihm fiel die schwere Holztür ins Schloss. Phelan hörte, wie Schritte die geschotterte Einfahrt hinunter gingen, dann vernahm er einen sich nähernden Motor, eine Autotür wurde geöffnet und wieder geschlossen und das Fahrzeug fuhr davon. Keine fünf Minuten später setzte das Heulen an den Grundstücksmauern ein. Phelan schloss die Augen. Raghnall hatte das Tor offen gelassen. Mit einem genervten Aufschrei riss er die Haustür wieder auf und sprang mit einem Satz in die Nacht.
Julien schluckte hart. Er hatte sich geirrt, er musste sich einfach geirrt haben. Es konnte nicht sein, dass sie ihn zu Phelan steckten! Es konnte nicht sein, dass es Phelan war, der hier hauste, über den in New Orleans diese Gerüchte kursierten. Er ließ sich auf einen der weichen Ohrensessel sinken. Was für ein Spiel spielten sie mit ihnen?
Ein wütender Aufschrei ließ ihn aus seinem Sitz hochfahren und zum Eingang rennen. Besorgnis schwappte in einer riesigen Welle über ihn hinweg und ließ ihn keuchen. Etwas war geschehen! Die offene Haustür bestätigte seinen Verdacht. Julien holte tief Luft, sprang zurück in den Salon, schnappte sich den Schürhaken vom Kamin und trat an die Haustür. Wölfe. Überall im Vorgarten waren Wölfe. Er sah graues Fell, braunes, blondes, schwarzes und sie waren alle in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt. Julien packte seinen Schürhaken fester und verfluchte, dass er nur diese jämmerliche Waffe zur Hand hatte. Wenn er jetzt seinen Bogen hätte …
„Links!“, brüllte er und ein schwarzer Schatten flog nach links. Ein Todesschrei hallte durch die Nacht. Sie waren zu viele, viel zu viele und er war allein. Sie hatten ihre aufrechte Form angenommen, sie kämpften als Zweibeiner, mit langen, der Menschenform ähnlichen Gliedmaßen mit mörderischen Krallen. Große Wolfsschnauzen mit scharfen Zähnen die im Mondlicht aufblitzten. Wölfischer Raubtierinstinkt mit klarem Menschenverstand gepaart, bereit zu töten und er konnte nichts tun. Viel schlimmer; er durfte nichts unternehmen. Sie würden ihn binnen Sekunden zerfleischen, sie waren Wölfe in ihrer Kriegsform und er war ohne Waffen dieser Form nicht gewachsen. Nicht einmal der mächtigste Vampir auf dieser Welt war einem Werwolf in dieser Form ohne eine Waffe in der Hand gewachsen und Julien war weit davon entfernt, einer der mächtigen zu sein. Und ein Schürhaken war keine wirkliche Waffe gegen so ein Ungetüm.
Er ließ den Schürhaken sinken, verdammt, zu zusehen und sah zu.
Mit einem Schlag war alles vorbei.
Zwei flüchteten auf allen Vieren, humpelnd, blutend, verletzt. Vier lagen tot auf der langen Auffahrt. Mitten unter ihnen stand ein großer schwarzer Werwolf, aufrecht, die lange Schnauze schimmerte schwarz vom Blut, an den langen Klauen tropfte es auf den Boden. Julien erbebte in Ehrfurcht und Stolz. Er war so schön. Sein aufrechter Wolfskörper hatte die perfekten Proportionen, die Arme waren fellbedeckte Muskelstränge, die langen Beine die in großen Wolfspfoten endeten besaßen kräftige Schenkel und schlanke Waden, das Fell bedeckte seinen Körper mit gleichmäßig dichtem langem Haar, so schwarz wie die Nacht. Anmutig schritt er zurück zum Haus, auf Julien zu. Die Luft vibrierte, ein nackter Mann kam ihm entgegen, blutüberströmt, verletzt, aber lebend und aufrecht.
„Jetzt brauchst du wirklich ein Bad“, krächzte Julien, als Phelan vor ihm stand und sein Herz hämmerte.
„Ja“, antwortete Phelan, die Stimme kaum mehr als ein Hauch. Er drückte auf einen Knopf neben der Eingangstür und Julien konnte hören, wie sich das Tor weit unten an der Straße schloss.
„Ich warte hier auf dich“, wisperte Julien und sah Phelan nach, als der die Treppe nach oben erklomm. Sein Gang war schleppend wie der eines alten Greises.
„Ja.“
Der Blick in seinen Augen ließ Juliens Herz schmerzen. Phelan war nicht glücklich darüber, ihn zu sehen.
Der Wolf war riesig, blond und er raste in einem halsbrecherischen Tempo an Julien vorbei, die Treppe nach oben, dahin, wo Phelan verschwunden war. Julien erstarrte. Es war einer im Haus! Er riss sich aus seiner Erstarrung, packte seinen Schürhaken noch einmal fester und rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend dem Wolf hinter her nach oben. Gegen ein Zweibein, keine Chance; gegen einen Wolf, eine reelle Siegeschance. Das Mistvieh war weg. Julien fauchte leise. Sollte es sich verstecken, er würde es finden. Lautlos schlich er den dunklen Flur entlang, bereit den Eindringling in den endgültigen Tod zu schicken. Julien spähte um eine Ecke. Dort stand er, schnüffelte, hob die Nase, nahm Witterung auf und drehte sich zu ihm um. Julien ging in die Hocke, hielt den Schürhaken locker in der Hand, sagte sich, dass er nicht so viel anders war, als eines seiner Kurzschwerter. Ein richtig platzierter Stoß genügte. Und er wusste, wohin er zu stoßen hatte. Der Wolf kläffte jaulend, dann schoss er blitzschnell auf Julien zu, sprang ab und flog ihm entgegen. Bevor Julien reagieren konnte, prallte der Wolf hart mit ihm zusammen und riss ihn von den Beinen. Der Schürhaken entglitt aus Juliens Fingern und rollte unter eine Kommode. Julien grunzte als er und der Wolf über den Boden rollten. Er grub seine Finger in das dichte weiche Fell, roch den schrecklichen Hundeatem, als das riesige Maul vor seinem Gesicht auftauchte und dann schob ihm der Wolf seine Zunge erst einmal, dann noch ein zweites Mal quer über das Gesicht.
Julien schrie auf.
„Verdammt noch mal, geh von ihm runter!“
Kräftige Hände gruben sich in Fell und Haut und zerrten den Wolf von Julien. Das Tier jaulte vor Schmerz auf, schnappte nach Phelans Händen und er knurrte.
„Er erkennt dich nicht! Großer Gott, er hat Angst vor Hunden, du Idiot!“
Julien rappelte sich in eine sitzende Haltung auf. Phelan stand mit nassem Haar vor dem Wolf und zwang das Tier, ihm in die Augen zu sehen.
„Ich hätte dich eben gebraucht“, knurrte Phelan und ließ den Wolf los. Er sah zu Julien.
„Alles in Ordnung mit dir?“, wollte er wissen. Julien nickte nur und erhob sich mit zittrigen Beinen. Oh, fein. der Wolf gehörte hier her. Schön, dass ihm das mal einer vorher gesagt hatte. Er lehnte sich an die Wand, schloss die Augen und atmete drei Mal tief aus und ein.
„Okay, nett, dass man mich über die Bewohner hier informiert. Ich hätte ihn beinahe abgestochen“, klagte er an.
Phelan hob eine Augenbraue.
„Und womit? Mit gutem Willen und Mordlust?“
Julien schnaubte.
„Mit einem verfickten Schürhaken, du arrogantes Arschloch!“, fauchte er, beugte sich unter die Kommode und angelte seinen Schürhaken darunter hervor.
Der Wolf hockte wie ein blöder Haushund neben Phelans Füßen und grinste ihn hechelnd an.
„Wer ist er?“, fragte Julien mit harschem Ton und deutete mit dem Haken auf den Wolf.
„Conor“, antwortete Phelan und ein leichtes Grinsen stahl sich in sein Gesicht.
„Conor“, wiederholte Julien leicht gereizt. Natürlich. Conor O’Braeden, Phelans älterer Bruder, wer auch sonst. Er hätte es wissen müssen. Julien spürte Zorn auf sich und den blöden Wolf in sich aufsteigen.
„Verdammt noch mal! Ich hab dich für einen von denen da draußen gehalten, ich hätte … beinahe hätte ich …“ Er beugte sich vor, stützte seine Hände auf den Knien ab und atmete mehrmals tief ein und aus.
„So eine verdammte Scheiße aber auch“, knurrte er missmutig.
Conor der Wolf kläffte.
„Einzelgänger. Das übliche. Julien hat es gesehen. Er muss gedacht haben, du wärst hinter mir her, als du hier hochgegangen bist“, erklärte Phelan geduldig.
„Gegangen? GEGANGEN? Der ist die Treppe hochgejagt, als ob er auf Mord aus wäre!“, brauste Julien auf. Am liebsten hätte er mit dem verfluchten Schürhaken auf Conor eingedroschen. Teils über den Schrecken, den er ihm verursacht hatte, teils wegen seiner eigenen Vergesslichkeit. Conor, der Wolf war Conor. Phelans älterer Bruder. Er kannte ihn sein ganzes Leben lang. Julien zwang sich, ruhig zu werden. Conor O’Braeden, verbannt in der Gestalt eines Wolfes. Für immer. Sein Freund und Waffenbruder. Und er hätte ihn beinahe mit einem Schürhaken erschlagen.
Julien ging vor dem Wolf langsam in die Hocke.
„Conor. Schön, dich wieder zu sehen. Tut mir leid, dass ich dich nicht erkannt habe und dass ich dich fast … naja … mit dem Schürhaken …“ Er streckte seine Hand zu der großen Schnauze aus. Conor leckte ihm darüber und wedelte mit dem Schwanz.
„Er freut sich auch, dich wieder zusehen. Und er sagt, er verzeiht dir deinen Mordanschlag und dieses Mal hast du wohl richtig Scheiße gebaut.“
Julien zuckte mit den Schultern.
„Hab ein paar Blutparties geschmissen. Mit großen Blutpool und Blutregen und so. Sah in dem einen Vampirfilm cool aus und da dachte ich, das kann ich auch und drum hab ich’s gemacht“, nuschelte er unbehaglich.
„Wieso?“
Julien hob den Kopf.
„Mir war langweilig“, antwortete er ehrlich. Phelan nickte.
„Ich soll dich disziplinieren“, sagte er.
„Ich weiß.“
„Und dir Gehorsam lehren.“
Conor schnaubte.
„Ich weiß. Damit ich mich wie ein ordentlicher, erwachsener Mann benehme“, Conor kläffte ein Lachen und Julien warf ihm einen düsteren Blick zu, „auf den man stolz sein kann.“
Phelan schnalzte mit der Zunge.
„Ich bin ein Verbannter“, sagte er nur.
„Ich auch“, erwiderte Julien säuerlich.
Der Wolf bellte wieder sein kläffendes Lachen.
„Er nervt“, bemerkte Julien.
„Das tut er doch dauernd“, entgegnete Phelan.
„Was hat er zu lachen?“, wollte Julien wissen.
„Er meint, das kann nur in einer Katastrophe enden und er freut sich darauf, endlich mal wieder etwas Abwechslung zu haben.“
Julien bedachte den Wolf mit einem pikierten Blick.
„Leck mich, du Streber.“
Der Wolf grinste sein Hundegrinsen und wedelte mit dem Schwanz.
„Er steht nicht auf Männerärsche, sagt er.“
„Er hat mir nicht gefehlt“, behauptete Julien eingeschnappt.
„Du ihm schon.“
„Was habt ihr eigentlich angestellt?“, wechselte Julien das Thema.
Phelans Blick verdüsterte sich.
„Frag nicht, ich darf es dir nicht sagen“, knurrte er.
„Warum nicht?“
„Ratsbeschluss“, wiederholte Phelan und er klang dabei leicht trotzig. Julien verfluchte im Stillen den Großen Rat und ihre dämlichen Beschlüsse.
„Oh. Aber ich darf dich um was bitten, oder?“, hakte Julien nach. Phelan dachte angestrengt über die Frage nach, bevor er seufzend antwortete:
„Ich werd‘s bereuen, aber meinetwegen. Schieß los.“
„Rasier dir den scheiß Bart ab. Er ist hässlich“, verlangte Julien mit Nachdruck. Der Wolf kläffte lautstark. Phelan riss ihm unsanft ein Büschel Fell aus und Conor schrie markerschütternd auf.
„In Ordnung.“ Phelan drehte auf dem Absatz um, legte das ausgerissene Fellbüschel auf einen Beistelltisch und ging zurück ins Bad.
Julien saß auf einem Barhocker in der Küche und nippte an seinem Kaffee, unter dem starren Blick von Conor, der sich, seit Julien sich gesetzt hatte nicht von der Stelle gerührt hatte.
„Warum glotzt er mich so an?“ Julien hätte ihn am liebsten weggetreten, er hasste es, wenn man ihn anstarrte.
„Er versucht, mit dir zu reden“, antwortete Phelan und kam mit einer kleinen Schüssel dampfendem Kaffee zu ihm. Er hatte sich tatsächlich den Bart abrasiert. Noch war seine untere Hälfte heller als der Rest seines Gesichtes, aber trotzdem gefiel er Julien rasiert besser. Julien verbiss sich ein leises Seufzen und beobachtete Phelan, wie der die Schüssel vor Conor auf den Boden stellte.
„Tritt nicht wieder rein“, mahnte Phelan sanft, dann schwang er sich neben Julien auf den freien Platz.
„Und deshalb glotzt er mich an wie ein Schaf?“ Julien warf Conor einen kurzen Blick zu. Der Wolf hatte sich immer noch nicht bewegt.
„Er meint, so kann er sich besser konzentrieren.“ Phelan zuckte mit den Schultern und nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse.
„Mal was anderes: was waren das für Wölfe vorhin?“, wollte Julien wissen. Phelan zuckte erschrocken zusammen und sprang von seinem Hocker.
„Scheiße! Verflucht, ich muss sie noch entsorgen!“ Er hastete wie von Furien gehetzt aus der Küche. Julien seufzte.
„Immer noch der alte, was!?“, meinte er zu dem Wolf, der ihn immer noch zu hypnotisieren versuchte.
„Einmal Bellen, ja, zweimal Bellen, nein. Okay?“, schlug er vor. Conor bellte einmal.
„Fein. Und jetzt hör auf, mich anzuglotzen, das nervt.“
Conor schwieg.
„Wohnt ihr hier schon lange?“, wollte Julien wissen.
Conor bellte einmal.
„Läger als … hmmm … zwanzig Jahre?“
Wieder bellte Conor einmal.
„Dreißig Jahre?“
Conor bellte zweimal.
„Noch keine dreißig Jahre?“
Conor bellte wieder zweimal.
„Dann also länger als dreißig Jahre?“
Ein Bellen.
„Vierzig Jahre?“
Conor bellte einmal, zögerte und bellte dann zweimal.
Julien runzelte die Stirn. Das war anstrengend.
„Mehr als vierzig Jahre?“
Ein Bellen.
„Aber noch keine fünfzig Jahre.“
Wieder ein Bellen.
„Okay, das reicht. Zwischen vierzig und fünfzig Jahren also. Puh, das ist lang.“
Conor bellte wieder einmal.
„Könnt ihr nicht weg?“
Zweimal Bellen.
„Fuck“, fluchte Julien herzhaft. „Das ist scheiße.“
Conors Bellen war voller Inbrunst.
Julien kratzte nervös mit seinem Fingernagel an der Tasse herum.
„Hat … äh … hat Phelan gerade …“, er räusperte sich verlegen, „hat Phelan gerade jemanden?“, fragte er und sein Herz begann in der Brust vor Anspannung zu hämmern.
Conor bellte einmal. Juliens Herz sank. Und dann noch einmal.
„Heißt das nein?“
Conor bellte einmal und grinste dabei über das ganze Wolfsgesicht. Ein erleichtertes Lächeln legte sich auf Juliens Gesicht.
„Sag ihm aber nicht dass ich dich das gefragt habe, hörst du?“, fuhr er den Wolf an.
Conors Blick wurde unter dem breiten Grinsen treu und er bellte zwei Mal schnell hintereinander.
„Danke.“
Conor bellte einmal.
„Ich hab ihn vermisst“, gestand Julien leise.
Conor fiepte mitfühlend, legte seinen Kopf auf Juliens Oberschenkel und quiekte leise auf.
„Bist du in deinen Kaffee getreten?“
Conor gab zwei maunzende Töne von sich.
„Heißt das nein?“, hakte Julien nach.
Conor maunzte wieder zweimal. Julien beugte sich nach unten. Der Kaffee in der Schüssel zog kleine Kreise. Darüber schwebte Conors nasse Pfote. Mit einem gespielt genervten Seufzer rutschte Julien von seinem Barhocker, holte ein Küchentuch und tupfte die verbrühte Pfote ab.
„Lass es heilen“, wisperte er leise, legte seine Stirn gegen Conors und hielt die Pfote mit seinen Händen fest. Wellenartige Vibrationen glitten durch Juliens Finger als der Wolf seine Verbrennung heilen ließ.
„Dussel“, neckte er liebevoll und küsste ihm die Schnauze. Es fühlte sich seltsam an, nach so langer Zeit wieder eine Fellnase zu küssen. Conor winselte jämmerlich.
„Lass mich raten; er ist rein getreten“, stellte Phelan an der Küchentür fest. Julien sah auf und zog eine Grimasse.
„Er tritt immer rein. Ich habe keine Ahnung warum und wieso, aber er tritt jedes Mal in seinen Kaffee.“ Phelan seufzte leise und setzte sich wieder.
„Wo hast du die Toten hingetan?“, wollte Julien wissen, ließ Conors Pfote los und setzte sich ebenfalls wieder hin.
„In den Sumpf geschmissen. Die Alligatoren kümmern sich um den Rest“, antwortete Phelan und nahm einen Schluck Kaffee.
„Wer waren sie und was wollten sie auf dem Grundstück?“, nahm Julien seine Frage von vorhin wieder auf. Phelan schnitt eine Grimasse.
„Sie waren Einzelgänger und wohinter sie her waren, wissen sie selber nicht, sie glauben nur, dass es hier etwas Wertvolles zu holen gibt, wenn so einer wie ich das Haus hütet.“
„Und, gibt es das?“, hakte Julien nach. Phelan nickte in dem Moment, in dem Conor einmal bellte.
„Ja. Die Bibliothek.“
Julien schnappte nach Luft.
„Die Bibliothek? Die große Bibliothek, die eine Bibliothek? Die, in der alles geschrieben steht? Sie ist hier?“, japste er. Phelan nickte wieder und nahm einen weiteren Schluck Kaffee.
„Ja. Und ich bin ihr neuer Bibliothekar.“
Julien musste diese Information erst einmal sacken lassen. Die große Bibliothek ihrer Völker war hier direkt in seiner Nähe, wurde in diesem Gruselhaus verwahrt. Sein Herz schlug vor Aufregung schneller. In dieser Bibliothek stand alles geschrieben, vom Anbeginn der Zeit, alles, was sich bei den Wermenschen, den Vampiren und den Weisen ereignet und zugetragen hatte. Dort waren die Geschichten ihrer größten Helden und ärgsten Feinden archiviert, dort wurden die Zaubersprüche der Weisen verwahrt, die guten wie die schlechten; Julien musste wieder laut nach Luft schnappen. Die großen Schriften der Menschlingsschreiber waren dort gelagert, die Originalschriften von Ovid, Dante, Darwin, erste Manuskripte der Bibel, wertvolle und wichtige Dokumente wie die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten oder das kostbare Book of Kells, während die Menschlinge ihren weit weniger wertvollen Kopien huldigten. Julien schwindelte. Vielleicht durfte er sie betreten, in ihr stöbern, ihre alten Geschichten lesen … Er sah Sterne vor Aufregung.
„Hey, kipp mir hier nicht vor lauter Freude aus den Latschen!“ Phelan gab ihm einen kräftigen Schlag auf den Oberarm, der Julien wieder in die Realität zurückholte.
„Mein Gott, dir geht ja gleich einer ab. Ihr Gelehrten seit vielleicht schräge Vögel. Kriegen Orgasmen, nur weil sie den Namen dieser scheiß Mottenkiste voller Papier hören.“
Julien zwinkerte zweimal, dann blitzte er Phelan böse an.
„Ich krieg keine Orgasmen nur wegen dieser blöden Bibliothek, ist das klar?“, schnauzte er ihn an. Manchmal konnte er aber auch wirklich ein dämliches Arschloch sein. Phelan grinste nur leicht boshaft.
„Sah mir aber ganz danach aus. Zumindest hast du so einen ähnlichen Blick drauf, wenn du beim Sex kommst“, spottete er. Der Treffer saß. Julien holte zu einer gemeinen Antwort Luft und schloss den Mund wieder.
„Scheinst mich ja ziemlich genau dabei beobachtet zu haben, wenn ich gekommen bin“, schnappte er nur. Phelans Gesicht verschloss sich zu einer undurchschaubaren Miene.
„Ich geb dir den Code, damit du reinkommst. -Wenn du willst“, sagte er nur. Julien durchfuhr ein Stich. Er hatte gehofft, mit seiner Antwort eine andere Reaktion zu erhalten. Er nickte nur. War es also vorbei zwischen ihnen? All die langen Jahre und jetzt? Alles vorbei? Er leerte seine Tasse und schob sie von sich.
„Es dämmert bald. Wo ist mein Zimmer?“, fragte er und erhob sich.
„Komm mit. Es lässt sich nicht mit deinen sonstigen Unterkünften vergleichen, aber das Bett ist bequem und die Vorhänge lichtundurchlässig. -Ich richte dir für morgen ein besseres her.“
Phelan verließ die Küche und Julien folgte ihm, mit Conor im Schlepptau.
Das Bett war weich und bequem, Julien kuschelte sich tief in die Laken und blinzelte träge. Die Sonne ging hinter den schweren Vorhängen auf, sehen konnte er es nicht, aber er spürte es mit jeder Faser seines Körpers. Er seufzte sehnsüchtig. Die Sonne. Wie gerne hätte er mit Phelan einen Sonnenaufgang angesehen. Julien drehte sich auf die Seite und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Im Heer, damals, da hatte Phelan ihm einmal einen Sonnenaufgang erzählt. Phelan war zwar kein begnadeter Redner -das war er noch nie gewesen- aber Juliens Herz war aufgegangen vor Freude. Danach hatte er sich zu Julien ins Lager gelegt …
Und jetzt war er so abweisend. Hatte wieder eine Mauer um sich herum errichtet und keiner drang zu ihm vor. Was war mit seinem Freund geschehen? Die ganze Zeit ihrer Verbannung über war Julien ihnen nachgereist, hatte sie gesucht und meistens auch gefunden und auch wenn sie nicht miteinander reden durften, er hatte sie gesehen und sie ihn. Er hatte Phelan gesehen. Und der hatte nie so düster und bitter gewirkt wie jetzt. Julien seufzte wieder herzhaft und wälzte sich auf den Rücken. Das Bett roch leicht muffig und nach einem Duft, den er nicht einordnen konnte. Julien schnupperte an seiner Bettdecke. Er roch ein paar Kräuter, Lavendel und vielleicht Minze und noch andere Dinge, die an seiner Erinnerung kratzten, sich ihm aber nicht offenbarten. Im Großen und Ganzen roch die Decke, abgesehen von dem leichten Muff, nach daheim. Nach einem Zuhause in dem man sich wohlfühlen würde. Würde er das? Wenn Phelan wieder so ein verschlossener, verbitterter Grießgram war wie ganz früher als sie noch halbstarke Welpen waren? Julien wusste es nicht.
Mit einem letzten mitleiderregenden Seufzer drehte er sich wieder auf die Seite, grub sein Gesicht in das Kopfkissen und wartete auf den Schlaf.
Das hat ihn verletzt, sagte der große Wolf und rollte sich auf Phelans Bett zu einem Fellball zusammen. Phelan entledigte sich seiner Kleidung und kam nackt auf ihn zu.
„Rutsch, das ist mein Bett“, scheuchte er seinen Bruder beiseite und gab seinen Worten Nachdruck, indem er Conor seine Bettdecke unter dem Hintern wegzog.
Hörst du mir zu? Ich sagte, das hat ihn verletzt, wiederholte Conor, wechselte den Schlafplatz und starrte Phelan fest in die Augen.
„Was soll ihn verletzt haben?“ Phelan glitt anmutig unter seine Decke und drehte seinem Bruder den Rücken zu.
Dein blöder Spruch darüber, wie Julien beim Sex aussah.
„Blödsinn“, knurrte Phelan mürrisch.
Kein Blödsinn. Was ist los mit dir? Freust du dich nicht? Dreihundertsiebenundfünfzig Jahre und endlich darfst du wieder mit ihm reden! Und was machst du!? Stößt ihm gleich am ersten Abend vor den Kopf. Das ist nicht nett, Phelan. Wirklich nicht.
„Conor? Ganz ehrlich: du nervst. Dreihundertfünfzig …“
DreihundertSIEBENundfünfzig, korrigierte Conor erhaben.
Phelan schnaubte entnervt.
„DreihundertSIEBENundfünfzig Jahre sind eine lange Zeit. Man lebt sich auseinander, man verändert sich. Er ist nicht mehr derselbe, der er damals war und ich bin es auch nicht mehr.“ Seine Stimme klang bitter. Conor verdrehte hinter Phelans Rücken die Augen.
Oh, BITTE!, fauchte er. Weißt du, was du bist?! Du bist wieder genauso verbohrt, wie damals, als wir auf Reisen waren. Buhuhu, ich bin der arme, arme Phelan und keiner hat mich lieb, alle schubsen sie mich heru…, Conor verstummte abrupt, als Phelan herum schnellte und seine Finger in Conors Kehle bohrte.
„Hör auf damit“, zischte er leise. „Hör-auf-damit!“
Conor winselte.
„Geh raus. Ich will dich nicht bei mir haben.“ Phelan stieß Conor von sich und drehte sich wieder auf die Seite. Der Wolf sprang augenblicklich vom Bett und stürmte zur Tür.
Du bist ein Arschloch, weißt du das? Ein dummes, verbittertes, sich selbstbemitleidendes Arschloch! Er öffnete mit einer Pfote die Tür und schob sie mit der Nase auf.
Keiner hat dich gezwungen, mitzumachen. Keiner! Niemand! Also lass deinen scheiß Frust über deine eigene Blödheit nicht an mir aus!
Phelan schnellte in die Höhe.
„RAUS!“, brüllte er und schleuderte sein Kopfkissen nach Conor.
Hättest mich einfach sterben lassen, dann könntest du immer noch dein ach-so-wundervolles Leben leben! Conor flüchtete vor der zuknallenden Tür den Flur entlang.
Ich habe dich nie darum gebeten, von dir gerettet zu werden, oh, du mächtiger und edler Held, du!
Phelan stieß einen Frustschrei aus, warf sich zurück auf die Matratze und schlug die Hände vors Gesicht. Die Hölle. Er saß mitten in seiner ganz persönlichen Hölle.
Mach es wie früher. Zieh es durch, lass dich durch nichts ablenken und es ist schnell vorbei und er geht wieder. Und dann ist alles wieder wie zuvor.
Es klappte nicht. So sehr er es auch versuchte, sich einzureden, Phelan wusste, selbst wenn Julien wieder aus diesem Haus verschwunden wäre, würde es nicht mehr so sein, wie davor.
Phelan erwachte am späten Nachmittag, weil er eine fremde Präsenz im Haus spürte. Er schlug die Decke beiseite, seufzte leise und tapste ins Bad, um sich zu duschen.
„Das wird aber auch Zeit, junger Mann, ich bin schon seit Stunden hier.“
Phelan lächelte milde, breitete die Arme aus und drückte die kleine zierliche Gestalt, die sich hineinwarf, fest an sich.
„Ames…“ raunte er zärtlich und küsste das wilde lockige Haar.
„Phelan. Schön, dich wieder zu sehen.“ Amy O’Néall hob ihr Gesicht an und musterte Phelan eindringlich. Ihre grasgrünen Augen leuchteten.
„Hm“, machte sie, löste sich aus der Umarmung,ließ ihren Blick über Phelan gleitenund betrachtete eingehend sein Gesicht. Er hatte schwarze, schmale Augen mit langen, dichten Wimpern, die im Moment leuchteten wie tausend Sterne, eine scharf geschnittene gerade Nase und, wie Amy sofort bemerkte, ein frisch rasiertes markantes Kinn. Seine vollen Lippen umspielten ein leichtes Lächeln. Amy legte ihre Zungenspitze an ihre Oberlippe.
„Der grässliche Bart ist ab … du bist an den Rippen verletzt und das ziemlich schwer …“, grübelte sie laut. Dann lachte sie und schnippte mit den Fingern.
„Also auf deine Verletzung hab ich die Antwort; du hast dich gestern wieder mit Einzelgängern geschlagen“, kombinierte sie. Gespielt nachdenklich tippte sie mit ihrem Zeigefinger gegen ihre von Sommersprossen übersäte Stupsnase.
„Watson“, sagte sie in bester Sherlock-Holmes-Manier zu Conor, der neben ihr hockte und Phelan bisher gekonnt ignoriert hatte. Conor hob den Kopf und hechelte.
„Watson, ich kombiniere: Jemand war heute Nacht hier und hat das Tor unten aufgelassen, weil er dort von seinem Wagen abgeholt wurde. Deshalb kamen die Einzelgänger auf das Grundstück und der gute alte Phelan musste sie aus dem Weg räumen und hat sich dabei verletzt. Und jetzt kommt der Clou: Es muss eine weitere Person mit im Spiel sein, eine, die ihm wichtig ist, eine, die vielleicht sogar noch hier im Haus ist, weil … Exakt, Watson, Sie sagen es; weil er sich seinen hässlichen Bart abrasiert hat!“ Sie wirbelte auf dem Absatz herum und deutete anklagend auf Phelan. Der hob mit einer Mischung aus Überraschung und Belustigung die Augenbrauen.
„Raghnall war zu Besuch, denn er ist der einzige, der sich unten abholen lässt. Wie ich darauf komme? -Gute Frage, Watson“, lobte sie Conor, der zwar keine Frage gestellt hatte, dafür weiter begeistert hechelte.
„Ich komme zu diesem Schluss, weil ich auf der ganzen Einfahrt keine Autospuren gefunden habe, außer denen meines Taxis. Und dass er das Tor aufgelassen haben muss und Einzelgänger hereinkamen, habe ich an den Blutspritzern erkannt, die sich überall vor dem Haus finden. -Du wirst schlampig, Fáelán vom Braeden. Du hinterlässt Spuren. Und daran erkenne ich, dass sich bei Raghnall noch eine Person befunden hat, eine, die dich ziemlich aus dem Konzept gebracht hat. Und zwar so sehr, dass du dir sogar deinen Bart abrasiert hast, den du mittlerweile schon seit 15 Jahren trägst. Habe ich recht, oder habe ich recht?“, wollte sie wissen und stemmte ihre Hände in die Hüften. Phelan lächelte sie weiterhin zärtlich an.
„Amy O’Néall“, sagte er voller Wärme. Sie war nur knapp einen Meter sechzig groß, hatte feuerrote Locken und flammengrüne Augen die voller Lebenslust leuchteten. Der Innbegriff aller Iren. Wild, stolz, ungezügelt und rothaarig. Seine Amy O’Néall. Sein Mädchen, sein Welpe. Sein Lächeln wurde um eine Spur inniger. Er hatte sie vermisst.
„Schmachte mich nicht an, alter Wolf, ich weiß, dass ich ein heißer Feger bin! -Hab ich jetzt recht?“, hakte sie nach. Phelan gluckste.
„Ja. Hast du. Und die Person ist sogar noch hier und wird es eine lange, lange Zeit auch noch sein.“ Er nahm sich eine Tasse aus dem Schrank und goss sich Kaffee ein, bevor er sich auf einen Barhocker schwang. Amy hüpfte auf den Hocker gegenüber, stützte den Kopf in ihre Hände und blinzelte ihn voll unverhohlener Neugier an.
„Es ist Julien Delano und er wurde verbannt, weil er was ausgefressen hat und ich soll ihn disziplinieren“, fasste Phelan zusammen und nippte an seinem Kaffee. Amys Augen wurden groß.
„OH! Wirklich? Julien Delano ist hier? Der Julien Delano? Dein Julien Delano? Oh, WOW!“ Sie klatschte aufgeregt in die Hände. Phelans Blick wurde tadelnd.
„Hör auf, dich wie ein pubertierender Backfisch zu verhalten und benimm dich wie eine Frau deines Alters“, tadelte er mild. Amy verdrehte ihre Augen.
„Und wie verhält sich eine Frau meines Alters? Und welchen Alters überhaupt? Mein Lebensjahre-Alter oder mein Aussehen-Alter? Weil, da komme ich nämlich voll in die Zwickmühle, weißt du mein Lieber, denn ich glaube nicht, dass mir Dutt und Faltenrock stehen.“
Phelan lachte leise auf. Er liebte sie so sehr, dass es manchmal wehtat. Er hatte Amys Eltern nur zwei Wochen gekannt, bevor sie bei einem Auftrag des Rates ums Leben kamen. Es hatte ihn schwer getroffen, auch wenn sie kaum mehr als flüchtige Bekannte waren, aber Phelan kannte ihre Vorfahren, denn die O’Néalls waren seit Anbeginn der Zeit treue Begleiter der Braeden-Wölfe gewesen. Die Männer wählten ausnahmslos alle den Beruf des Schmieds und als er noch ein Heer geführt hatte, war immer einer von ihnen mit ihnen gezogen und hatte die Waffen und Rüstungen seines Heeres gefertigt. Und dann hatte Raghnall ihn das erste Mal seit knapp dreihundert Jahren nach Irland gerufen. Und als Phelan vier Tage später die Insel wieder verlassen musste, trug er in seinem Arm ein kleines Bündel Mensch, für dessen Leben er nun Sorge zu tragen hatte. So hatten es Amy O’Néalls Eltern festlegen lassen. Und das, obwohl sie ihn nicht kannten und obwohl er ein Ausgestoßener aus ihrer Gesellschaft war.
Phelan legte den Kopf leicht schief. Amy O’Néall war im Jahr neunzehnhundertsechsundvierzig geboren und sie war ein Mensch. Menschen alterten nur halb so schnell wie Menschlinge und Menschenkinder aus alten, starken Familienclanen wie die O’Néalls alterten fast dreimal so langsam. Sämtliche irre Nazis, die Zeit ihrer Existenz und Herrschaft immer auf der Suche nach dem perfekten Menschen gewesen waren, würden sich vor Wut in ihren Gräbern umdrehen, wenn sie gewusst hätten, dass die Perfektion, nach der sie vergeblich gestrebt hatten, schon seit Beginn der Menschheit existierte. Die O’Néalls wussten um ihre Stärke und hüteten sie wie den Heiligen Gral; sie ließen immer nur so viel fremdes Blut in ihren Linien zu, um Inzucht zu vermeiden. Amy wirkte auf jeden wie eine junge Frau in der Mitte ihrer Zwanziger, war in Wahrheit allerdings fünfundsechzig Jahre alt. Sie entsprang aus einem starken Zweig der O’Néalls, also würde sie ungefähr dreihundert Jahre lang leben, ein langes Leben, selbst für die O’Néalls.
Phelan schnalzte leise mit der Zunge. Es war schon für seine Art schwer, sich zu vermehren und Kinder zu zeugen, denn die Natur sieht es vor, dass es nie zu viele Räuber gab, aber meist mehr als genug Beute, und so konnte er heimlich, nur für sich behaupten, dass Amy eine wahre Gebärmaschine war, immerhin hatte sie es geschafft, drei Kinder auf die Welt zu bringen, was für die Menschen, die oft genug kinderlos blieben oder wenn, dass meist nur ein Kind hatten, wirklich unverschämt viel war. Wenn man das mit den Menschlingen verglich, die die Welt zu überfluten schienen …
Phelan schnalzte erneut mit der Zunge. Es gab einfach viel zu viele von ihnen, und dann waren die meisten von ihnen auch noch krank oder schwächlich. Sie hätten nie damit aufhören sollen, sie zu jagen, stellte Phelan kritisch fest. Menschlinge waren ihre natürliche Beute, schon immer gewesen, aber irgendwann hatten die Großen Alten beschlossen, dass Menschlinge nicht mehr gefressen werden, vielmehr nicht mehr als tägliche Hauptspeise angesehen werden dürfen.
Wahrscheinlich war das der Moment gewesen, in dem sich die Menschlingspopulation so explosionsartig erhöht hatte, mutmaßte er und nippte erneut von seinem Kaffee.
„Hallo-hallo! Erde an Phelan!“ Amy schnippte ungeduldig mit ihren Fingern vor Phelans Nase herum und riss ihn aus seinen Gedanken. Er blinzelte verwirrt und glotzte sie leicht dümmlich an.
„Wo warst denn du gerade wieder mit deinen Gedanken, alter Wolf?“, neckte sie ihn gutmütig.
„Wir hätten nicht aufhören sollen, Menschlinge zu essen“, sagte er, immer noch halb in seinen Gedanken versunken. Amy lachte auf.
„Ach, Gottchen, wo hat sich dein Verstand denn rumgetrieben?“, scherzte sie, drehte sich zu Conor und schüttelte übertrieben den Kopf.
„Versteh einer deinen Bruder“, tadelte sie spielerisch und der Wolf gab ein knurrendes Kläffen von sich.
„Ich hab an Menschen und Menschlinge gedacht“, gestand Phelan trocken und leerte seine Tasse.
„Vergleichst du etwa wieder Ratten mit Mäusen? -Lass es, die Mäuse können uns nicht das Wasser reichen“, wehrte sie schnippisch ab.
„Aber es gibt weitaus mehr Mäuse auf diesem Planeten als Ratten“, erwiderte Phelan, während er aufstand, um sich noch eine Tasse Kaffee einzuschenken. Er zog eine Zigarette aus einer Schachtel, die auf der Arbeitsfläche lag, und zündete sie sich an. Rauchend kam er wieder zu Amy zurück an die Theke und setzte sich.
„Ja, aber hast du schon einmal gesehen, dass eine Maus einer Ratte befiehlt? -Ich nicht.“
„Also ich hab allerdings auch noch nie gesehen, dass eine Ratte das mit einer Maus macht“, entgegnete Phelan während er an seiner Zigarette zog. Conor schnaubte zustimmend. Auch wenn er immer noch wütend auf seinen Bruder war, mit dieser Aussage hatte Phelan Recht.
Amy machte eine abwertende Handbewegung.
„Weil sie das uns nicht sehen lässt, mein Herz. Oder sehen die Menschlinge, was wir in Wirklichkeit mit ihnen machen? -Nehmen ihnen ihre kostbaren Ikonen weg und ersetzen sie durch billige Kopien und sie durchschauen es nicht einmal“, erwiderte sie abfällig.
„Also billig würde ich die Kopien nicht gerade nennen“, warf Phelan spottend ein. Immerhin gaben sich die Restauratoren die größte Mühe, die Duplikate echter als die Originale aussehen zu lassen. Amy gab ihm einen kräftigen Schlag auf den Oberarm, der ihm sogar Schmerzen zufügte - wenn auch nur kurz.
„Geh mir nicht auf den Keks, du irischer Scheißkerl. Zeig mir lieber deine Rippen, damit ich sie ordentlich versorgen kann. Denn das hast du garantiert nicht gemacht.“ Sie sprang von ihrem Hocker, holte aus dem Schrank neben der Spüle einen Verbandskasten und knallte ihn vor Phelan auf den Tisch. Der schnitt nur eine Grimasse und zog sein T-Shirt nach oben. Die Krallenspuren an seiner linken Seite hatten sich geschlossen und waren dabei, langsam zu heilen. Sie waren tief gewesen und die Krallen voller Schmutz, in der Nacht war übel riechender Eiter aus ihnen ausgelaufen. Phelan hatte sie nach dem Aufstehen noch einmal geöffnet und oberflächlich ausgewaschen.
Er knurrte unterdrückt, als Amy den frischen Schorf ziemlich grob wieder abriss und rümpfte die Nase, als er frischen Eiter roch. Er hatte wohl nicht halb so gut ausgespült, wie er gedacht hatte.
„Grundgüter, Phelan!“, fuhr Amy ihn an und begann, die Wunden auszudrücken, bis nur noch frisches hellrotes Blut aus ihnen herauslief. Phelan biss die Zähne zusammen.
„Du kannst von Glück reden, dass dich nichts so schnell umbringt! Allerdings habe ich manchmal das Gefühl, als ob du es mit aller Gewalt versuchen würdest!“ Sie spülte die blutenden Wunden so lange mit Alkohol aus, bis Phelan sich mit der Hand an die Theke krallte. Es brannte wie flüssiges Feuer und seine angekratzten Innereien rebellierten vor Schmerz. Amy stellte die leere Alkoholflasche auf den Tisch und begann, die nasse Haut um die Risse trocken zu tupfen.
„Was hat er eigentlich angestellt? Julien, meine ich“, fragte sie beiläufig und begann, Phelans Wunde zu verbinden. Auf ihrer Stirn erschien eine steile Falte. Normalerweise hätte diese Wunde schon fast verheilt sein müssen.
„Du hast sie wieder nicht heilen lassen, du alter Scheißkerl“, fauchte sie ihn vorwurfsvoll an.
„Das soll er dir selber erzählen“, meinte Phelan hinter zusammengepressten Zähnen und holte zischend Luft, als Amy ihre flache Hand fest auf seine Wunde presste.
„Manchmal habe ich Angst, dass du es doch noch schaffst, dich umzubringen, wenn ich weg bin.“ Sie schnippte ihm gegen die Nase und machte sich daran, das Verbandszeug wieder aufzuräumen.
„Sollte es dir einmal gelingen, dann schwöre ich bei allem was mir heilig ist; ich bringe dich wieder her und schicke dich auf direktem Weg wieder in die Hölle zurück aus der ich dich geholt habe!“, drohte sie und knallte den Schrank mit mehr Wucht als nötig zu. Phelans Blick war unergründlich.
„Wann kommt er runter?“, wechselte sie erneut das Thema.
„Wenn es dämmert“, antwortete Phelan und sah zur Uhr.
„Du musst dich also noch etwas gedulden.“
Julien folgte den leisen Stimmen zur Küche und öffnete die Tür einen Spalt weit. Er sah Conor, der sich auf dem Boden zusammengerollt hatte und döste, Phelan, der auf einem Barhocker saß und Kaffee trank und dann sah er die zierliche Frau, die gegenüber von Phelan saß und das flammend rote Haar der O’Néalls hatte. Sie drehte den Kopf in seine Richtung und Julien erkannte sie augenblicklich als eine O’Néall. Sie hatte das typische O’Néall-Gesicht.
„Oh, hallo, da bist du ja“, grüßte sie ihn mit einer warmen weichen Stimme und rutschte von ihrem Hocker.
„Ich bin Amy O’Néall und du musst Julien Delano sein. Ich habe schon so viel von dir gehört …“ Sie strahlte ihn an, riss ihn in an sich und umarmte ihn herzlich.
„Hallo …?“, stammelte er nur und erwiderte kurz und verwirrt die Umarmung, bevor er Amy von sich schob. Sie lächelte ihn weiter an.
„Setz dich.-Kaffee? Phelan hat gerade wieder welchen aufgesetzt. -Meine Güte, du bist wirklich ein schöner Kerl.“ Sie zwinkerte Julien verschwörerisch zu und schob ihn dabei zur Theke. Julien warf Phelan einen verwirrt-fragenden Blick zu, den der nur mit einem Schulterzucken abtat. Von ihm konnte er also keine Hilfe erwarten. Julien setzte sich.
„So. Hier ist dein Kaffee, nimm einen Schluck und dann erzählst du mir, was du ausgefressen hast“, schlug sie freundlich vor. Juliens Blick wanderte erneut zu Phelan, der wieder nur mir den Schultern zuckte.
„Ich … ähm … also ich … ich hab Blutparties geschmissen“, gestand er leise. Amys Blick wurde tadelnd.
„Weil … also … weil … naja … weil ... weil mir langweilig … tja, weil eben.“ Er wand sich unter den stechen grünen Augen wie ein Aal. Julien musste den absurden Drang unterdrücken, vor dieser zierlichen Person auf die Knie zu gehen und um Verzeihung zu betteln. Und dabei kannte er diese Frau gar nicht!
„Glückwunsch. Jetzt kennst du Amy O’Néall“, meinte Phelan nur und schenke Julien ein schiefes Grinsen.
„Das macht sie mit jedem“, fügte er noch hinzu und im ersten Moment begriff Julien nicht so recht, was Phelan meinte, bis dieser hinzufügte:
„Das mit dem schlechten Gewissen. So hat sie Raghnall rumgekriegt, dass sie mich weiterhin besuchen darf, auch wenn ich verbannt bin.“
Julien nickte und warf Amy einen bewundernden Blick zu. Dieses zartes Wesen hatte Raghnall O’Braeden in die Knie gezwungen. Das verdiente Respekt. Er betrachtete Amy nachdenklich, nickte schließlich leicht und kam zum Ergebnis, dass er Amy O’Néall mochte. Er grinste.
„Respekt und meine Hochachtung für diesen Erfolg. Ich kenne keinen, der so was schafft. -Außer meiner Mutter, aber die ist auch etwas … speziell“, wandte er immer noch grinsend ein. Amy seufzte.
„In was bin ich da nur hineingeraten?“, jammerte sie theatralisch.
„Einen gelangweilten Vampir-Tunichtgut und einen suizidgefährdeten Wolf! Herrje…“ Sie schüttelte übertrieben den Kopf und sah Conor an.
„Und, hast du auch irgendwelche Psychoprobleme? Oder Yuri? - À propos. Wo ist der eigentlich?“ Sie sah sich fragend um und blickte schließlich zu Phelan, der wieder mit den Schultern zuckte.
„Keine Ahnung. Stellt vielleicht einem netten Rabenmann nach oder jagt Mäuse? Er ist immer mal wieder für ein-zwei Tage verschwunden. Meist hat er sich im Sumpf verflogen. -Er kommt schon noch wieder“, erklärte er desinteressiert. Amy verdrehte die Augen.
„Und warum rufst du ihn nicht einfach, damit er den Weg schneller wieder zurück findet?“, hakte sie nach. Phelan schnitt eine Grimasse.
„Vielleicht will ich das ja gar nicht“, wandte er ein. Amy wirkte, als ob sie Phelan am liebsten eine Ohrfeige verpassen würde.
„Du wirst ihn morgen früh gleich nach Anbruch des Tages als allererstes Herrufen, hast du mich verstanden, mein Lieber?“, fuhr sie ihn an. Phelan holte tief Luft und setzte zu einer Antwort an, die sie mit einer energischen Handbewegung abschnitt.
„Kein Wenn und kein Aber! Morgen früh, gleich nach Sonnenaufgang!“, wiederholte sie nachdrücklich. Dann wandte sie sich Julien zu, der am liebsten unter die Theke zu Conor gekrochen wäre um sich vor ihr zu verstecken.
„Dieser Blödsinn, von wegen Blutparties und so ein Mist, so etwas gibt es in diesem Haus nicht, verstanden!? -Dieses Haus ist ein anständiges Haus, egal, was in der Stadt geredet wird. Hier gibt es Regeln und an diese Regel wird sich gehalten!“
Julien nickte hastig und schluckte ein Jawohl, Ma’am herunter.
„Fein. Dann ist das soweit erst einmal geklärt. -Ich mache jetzt Essen. Raus aus meiner Küche, ihr seid mir eh nur im Weg“, herrschte sie Phelan und Julien an und machte wegscheuchende Gesten.
„Das gilt auch für dich, Conor O’Braeden. Raus hier! -Ihr könnt allerdings den Tisch decken. Ich bin hier nicht eure Dienstmagd.“
„Darf ich dich was fragen, Phelan?“, wollte Julien wissen, als sie im Esszimmer den großen Tisch deckten. Phelan gab einen grummelnden Ton von sich, der alles bedeuten konnte. Julien beschloss, dieses Grummeln als Ja zu bewerten.
„Wieso darf Amy dich besuchen? Ich meine, sie ist eine O’Néall und die gehören dem Rat an und du darfst dich doch mit keinem Ratsmitglied unterhalten. -Oder ist sie auch eine Verbannte?“ Julien sah Phelan neugierig an. Dieser seufzte übertrieben, legte das Messer fein säuberlich neben den Platzteller und sah hoch.
„Ihre Eltern haben mich vor ihrem Tod zu Amys Vormund bestimmt. Ich hab sie aufgezogen. Und sie lässt sich von Raghnall nicht vorschreiben, ob sie mich besuchen darf oder nicht“, antwortete er und fuhr fort, den Tisch zu decken. Julien nickte nachdenklich.
„War es eine schöne Zeit mit ihr?“, hakte er nach.
„Ja. Ich hab ihr die Welt gezeigt, sie in allem unterrichtet, was ich weiß. Ich habe ihr ein Abschlusszeugnis besorgt und dann ist sie nach Irland zurück und hat dort studiert und ihren Mann kennengelernt. Sie besucht mich immer mal wieder, vor allem seit ich hier… lebe“, fuhr Phelan fort.
„Wie lange ist das her? Dass du sie aufgenommen hast.“
„Amy war drei Wochen alt, als ich sie mitnahm. Das war im Sommer sechsundvierzig. Ich bin mit ihr quer durch Europa gereist, nach Asien und in die Vereinigten Staaten. Wir hatten viel Spaß mit einander -und ich hatte viel Ärger mit ihr. Sie war ein stures, unnachgiebiges kleines Ding.“ Phelan lachte heiser auf.
„Als sie dann achtzehn wurde, kam Raghnall und wollte sie mitnehmen. Du hättest sie hören sollen, sie hat ihn in Grund und Boden argumentiert. Letztendlich ist sie doch mit ihm mit nach Irland geflogen, allerdings erst nachdem sie ihm erklärt hat, dass sie mich jederzeit besuchen wird, wann immer sie will.“
Julien nickte wieder nachdenklich.
„Sie ist eben eine O’Néall“, stellte er fest.
„Sie ist eine O’Néall“, stimmte Phelan ihm zu.
„Du hast sie sehr gern, nicht wahr?“, hakte Julien vorsichtig nach. Phelans Blick wurde weich.
„Sie ist meine Tochter. Ich liebe sie.“
Julien wäre am liebsten um den Tisch herum zu Phelan gegangen und hätte ihn in den Arm genommen, aber er wagte nicht, sich von der Stelle zu rühren. Immerhin war es offensichtlich, dass Phelan über seine Anwesenheit nicht glücklich war, da wäre es kaum ratsam gewesen, ihn zu umarmen. So blieb er stehen, wo er war und sah Phelan mitfühlend an. Es tat ihm weh, seinen alten Freund so zu sehen. Er wirkte so traurig, so lebensmüde.
„Du bist nicht wirklich suizidgefährdet, wie Amy behauptet, oder?“, fragte er erschrocken. Phelan lachte auf.
„Nein. Ich denke nicht. Mach dir darüber keine Gedanken, sie übertreibt eben gern etwas. Du weißt ja, wie Frauen so sind“, wehrte er lässig ab. Julien machte ein ungläubiges „hm“ und beließ es vorläufig bei dieser Aussage, auch wenn er gerne noch weiter darauf eingegangen wäre, denn in diesem Moment rauschte Amy ins Zimmer. Sie trug einen großen Topf aus dem ein köstlicher Geruch in Juliens Nase wehte.
„Es ist nur etwas Schnelles und auch nichts Besonderes, ich muss morgen erst einmal einkaufen gehen, in diesem Kühlschrank findet sich ja nichts, womit sich was anfangen ließe“, behauptete sie und stellte den Topf schwungvoll auf den Tisch.
„Für dich habe ich auch etwas, Julien. Es ist zwar auch nicht so ganz frisch, aber für heute reicht es. Wie gesagt, ich muss morgen erst einmal einkaufen.“ Sie rauschte wieder aus dem Zimmer und kam nach wenigen Minuten wieder zurück, in der Hand hielt sie eine Glasschüssel, in der sich eine rote gallertartige Masse befand. Julien erhaschte den Geruch von Blut und betrachtete den Inhalt der Schüssel interessiert.
„Du müsstest es eigentlich noch kennen. -Das ist der berühmte O’Néall’sche Blutpudding. -Nur etwas verfeinert und viel schmackhafter. Ich werde morgen sehr viel zu erklären haben, wenn ich zu meiner alten Freundin ohne den versprochenen Pudding komme, aber ich denke, sie wird es überleben“, erzählte sie gutgelaunt und nahm am Kopf des Tisches Platz. Conor sprang auf den Stuhl links von ihr und kläffte erfreut.
„Setzt euch, oder wollt ihr etwa im Stehen essen?“, forderte Amy Julien und Phelan auf. Phelan bot Julien den Platz neben Amy auf der rechten Seite an und nahm dann selbst neben ihm Platz.
„Ich wünsche euch einen guten Appetit.“ Sie gab eine große Kelle des Eintopfs in Conors Teller. Mit einem leicht unwirschen Winken gab sie Phelan zu verstehen, ihr seinen Teller zu reichen. Phelan sah Julien übertrieben leidend an, reichte ihr den Teller und ließ sich Essen darauf schöpfen.
Julien nahm sich Pudding und probierte einen Löffel davon. Genussvoll schloss er die Augen. Es schmeckte köstlich. Er brummte zufrieden. Seine Geschmacksnerven waren leicht überfordert. Das Blut war zwar kalt, aber es schmeckte, als würde er es direkt aus der Ader trinken. Das kannte er noch von früher. Aber diese ganzen anderen Geschmacksrichtungen, die sich in seiner Mundhöhle ausbreiteten, den Blutgeschmack abrundeten und ihn hervorhoben, die waren neu. Er hatte keine Ahnung, was Amy dort hineingemengt hatte und er sparte sich, danach zu fragen, sie würde ihm nicht antworten. Als er seine Augen wieder öffnete, huschte ein gelber Schimmer über seine Iriden.
„Das ist wundervoll“, schwärmte er und strahlte Amy an. Sie lächelte glücklich.
„Das freut mich. Warte, bis du ihn frisch serviert bekommst“, versprach sie. Julien gestand sich ein, dass er das kaum erwarten konnte. Die nächsten Minuten aßen sie schweigend.
„Also gut“, unterbrach Amy die Stille, legte den Löffel weg und sah in die Runde. Julien ahnte, dass jetzt ein ernstes Thema kommen würde und hörte mit Essen auf.
„Ich weiß ja nicht, was du in den letzten Monaten gemacht hast, Fáelán vom Braeden, aber sich um das Haus kümmern war es nicht“, fuhr sie fort. Phelan schob sich einen Löffel Eintopf in den Mund, verdrehte die Augen und wedelte mit dem leeren Löffel in der Luft.
„Es muss hier als allererstes dringend gelüftet werden, hier drin hängt ein Mief, der ist unerträglich“, begann Amy energisch.
„Das ganze scheiß Haus ist unerträglich“, knurrte Phelan griesgrämig. Amys Blick wurde unheilvoll.
„Wenn ich am Tisch noch ein einziges Mal so ein Schimpfwort höre, Fáelán vom Braeden, dann kannst du dir sicher sein, dass du mich die nächsten zehn Jahre nicht mehr sehen wirst!“, tobte sie los. Phelan presste die Lippen zusammen und blitzte sie warnend an. Julien hob leicht belustigt die Augenbrauen. Er mochte Amy O’Néall von Minute zu Minute mehr.
„Fein. Dann hätten wir das zumindest geklärt“, beschloss sie.
„Nach dem Essen werden wir hier die Fenster öffnen und frische Luft hier hereinlassen. Dann muss hier dringend durch geputzt werden; die Fenster sind ja schon fast Milchglas“, behauptete sie und zeigte anklagend auf eines der hohen Fenster. Julien folgte pflichtbewusst ihrem Zeigefinger mit den Augen und betrachtete eingehend die Scheiben. Milchglas war weit übertrieben, aber sauber konnten man sie auch nicht mehr nennen. Es lag eine leichte Patina auf ihnen. Julien sah sich um und betrachtete eingehend die Möbel im Raum. Von der interessanten Mischung aus Kolonialstil gepaart mit Jugendstil, der Julien schon im ganzen Haus aufgefallen war, abgesehen, musste er feststellen, dass überall in diesem Raum eine leichte Staubschicht lag. In den anderen würde es wohl nicht viel anders aussehen. Seltsam, dass ihm das nicht aufgefallen war. Und dabei war er was Sauberkeit und Ordnung anbelangte, regelrecht pingelig.
Phelan legte mit einer bedächtigen Bewegung seinen Löffel akkurat neben seinem Teller auf den Tisch. Er schluckte, holte tief Luft und sah dann zu Amy.
„Ruf eine Reinigungsfirma an. Ich werde hier nicht auch noch die Putzfrau für Raghnall spielen“, erwiderte er ruhig. Amy biss sich auf die Innenseiten ihrer Backen.
„Was zum Teufel hat das jetzt mit deinem Großvater zu tun, Phelan? Du lebst hier, nicht er!“
„Ich lebe hier nicht, ich werde hier fest… ich muss hier sein!“, zischte er. Julien senkte den Blick. Er wäre jetzt unheimlich gerne wo anders gewesen.
„Das heißt noch lange nicht, dass du hier verkommen musst. Du beherbergst in diesem Gebäude die Bibliothek. Du wirst ja wohl kaum angesehene Gäste in einer Bruchbude willkommen heißen wollen.“
Phelan lachte hart auf.
„Angesehene Gäste? Weißt du, wie viele angesehene Gäste ich in den letzten siebenundvierzig Jahren hier willkommen heißen durfte? -Von dir einmal abgesehen. -Keinen. Ich bekomme sie nicht zu Gesicht. Ich darf sie nicht zu Gesicht bekommen, ich bin verbannt. Schon vergessen?“, fauchte er. Er schloss kurz die Augen und versuchte sich zu sammeln. Er wollte sich jetzt nicht mit Amy streiten, er wollte sich überhaupt nicht mit Amy streiten, aber irgendwie wurde es ihm im Moment alles ein wenig zu viel. Er schob seinen Stuhl zurück und erhob sich.
„Entschuldigt mich, bitte. Ich … ich muss mich kurz … ich … entschuldigt mich.“ Er floh regelrecht aus dem Zimmer und kurz darauf hörten sie, wie die Haustür ins Schloss fiel. Amy seufzte herzhaft, sah erst Conor, dann Julien an und zuckte schließlich mit den Schultern.
„Lassen wir ihn einfach“, meinte sie und fuhr fort, zu essen.
„Was anderes, Julien. Wie kommt es, dass du ausgerechnet zu Phelan gehen musstest? Ich meine, er ist verbannt und verstoßen“, wechselte sie das Thema. Julien nahm erst noch einen Löffel Pudding, bevor er antwortete.
„Naja, es war die Idee von meiner Mutter. Sie meinte, Phelan hätte es ja schon einmal geschafft, mir Disziplin und Ordnung beizubringen - im Heer damals - und da meinte sie, dass er das bestimmt auch noch ein zweites Mal hinkriegt.“
Amy nickte zustimmend.
„Ihr kennt euch schon euer ganzes Leben und seit auch schon so lange Freunde, nicht wahr?“, hakte sie nach. Julien nickte zustimmend.
„Ja. Das sind wir“, entgegnete er leise und senkte den Blick. Zumindest für ihn galt das noch, ob das allerdings auch für Phelan zutraf, wusste er nicht.
„Er … er hat sich sehr … verändert“, fügte er hinzu und stocherte in seinem Pudding herum. Amy seufzte leise.
„Er darf New Orleans nicht verlassen. Raghnall hat verfügt, dass, nachdem sein Bruder bei der Verteidigung der Bibliothek von Einzelgängern getötet wurde, Phelan ab sofort für den Schutz der Schriften zuständig sei. Er hat ihm nicht gesagt, wie lange er hier bleiben muss. Phelan treibt das langsam aber sicher in den Wahnsinn.“
Conor gab leidende Fieptöne von sich. Julien blickte ihm in die bernsteinfarbenen Augen.
„Du kannst nichts dafür, Con“, tröstete er den Wolf. Conor schnaubte leise.
„Haben sie dir gesagt, wie lange du hier bleiben wirst?“, wollte Amy wissen. Julien schüttelte verneinend den Kopf.
„Nein. Onkel Raghnall meinte nur, solange es nötig sei oder bis sie beschließen würden, dass es lange genug sein würde. Er freut sich nicht wirklich, dass ich da bin.“
„Ach, natürlich tut er das. Er kann es einfach nur nicht so zeigen. Du kennst ihn doch“, beteuerte sie und legte ihre Hand auf Juliens.
„Tut er das?“, zweifelte er tonlos. Amy nickte nachdrücklich.
„Ja, das tut er. Er ist froh, seinen Freund wieder um sich zu haben.“
Julien schnitt eine zweifelnde Grimasse.
„Ich hoffe, du hast Recht, Amy.“ Er zwang sich zu einem Grinsen. „Ich freue mich, ihn wieder zu sehen und mit ihm reden zu dürfen. Ich hab ihn vermisst. Wir waren noch nie so lange voneinander getrennt, weißt du? Der längste Zeitraum, in dem wir uns einmal nicht gesehen hatten, war fünf Jahre am Stück. Damals, als Phelan auf Reisen war. Und dann hatte ich ihn vor hundert Jahren gänzlich aus den Augen verloren. Ich konnte ihm nicht mehr nachreisen. Mein Vater war der Meinung, dass ich schon viel zu lange dem Familienclan fern geblieben bin und hat mich dazu verdonnert, mit den Clan zusammen zu leben, auf Clanfeiern zu gehen, heile Familienwelt zu spielen …“ Er schüttelte sich leicht angewidert. „… und jetzt sitze ich auf einmal hier …“
Julien blickte wehmütig ins Nichts.
„Es ist hart, mit einem Mal sein Leben ganz allein zu leben. So ganz ohne ihn.“ Er stach ein Stück Pudding heraus und schob sich den Löffel nachdenklich in seinen Mund.
„Du bringst ihn schon wieder zum Lachen. -Als ich noch klein war hat er mir viel von dir erzählt. Von dem klugen Julien Delano.“ Sie lachte heiser auf. „Und wenn er das getan hat, dann hat er dabei gelächelt. Und seine Augen hatten einen ganz besonderen Glanz dabei.“ Sie legte ein kokettes Lächeln auf.
„Ungefähr so ein Lächeln, wie mein ältester, als er mir das erste Mal von seiner jetzigen Frau erzählte.“ Aus dem Lächeln wurde ein Schmunzeln und aus dem Schmunzeln ein ahnendes Grinsen. Julien schüttelte verneinend den Kopf.
„Ich hätte jetzt Lust auf einen Wein. -Meinst du, hier in diesem Haus gibt es eine halbwegs trinkbare Weinauswahl?“, wechselte er das Thema und überging ihr Grinsen. Amy lachte.
„In der Vorratskammer in der Küche ist eine Tür. Da ist der Weinschrank“, sagte sie. Julien zwinkerte ihr zu und verließ das Esszimmer, um Wein zu holen.
Amy beugte sich zu Conor.
„Unter uns; waren sie zusammen?“, fragte sie verschwörerisch. Der Wolf sah ihr treu in die Augen und schwieg. Amy zog einen Schmollmund.
„Scheißkerle“, knurrte sie eingeschnappt und zog Conor leicht an seinem Fellkragen. Der ertrug es weiterhin stoisch, ohne sich zu rühren.
Julien betrat die Vorratskammer, die vollgefüllt mit Lebensmitteln war, durchquerte das für eine Vorratskammer unverschämt große Zimmer und öffnete die kleine Tür am anderen Ende. Und stieß einen überraschten Ton aus. Die Kammer war einem kleinen Weinkeller nachempfunden und in diesem Weinkeller lagen, wohltemperiert und nach Jahrgängen geordert, teure und edle Weine -primär von Juliens eigenen Weingütern aus Frankreich. Bedächtig strich er mit den Fingerspitzen über die Flaschenhälse. Nach einigen Minuten hatte er sich für einen Wein entschieden, nahm die Flasche aus dem Regal und strich die dicke Staubschicht vom Etikett. Er war teuer, ein guter Jahrgang. Den hatte er sich verdient. Julien lachte leise auf. Phelan kaufte seinen Wein. Fáelán vom Braeden, der Whiskeytrinker trank Julien-Delano-Weine. Es machte ihn stolz. Unheimlich stolz sogar. Phelan trank seinen Wein. Versonnen lächelnd verließ er den Weinschrank und die Vorratskammer, holte zwei Weingläser aus dem Schrank und ging zurück zu Amy.
Julien lag wach in seinem Bett, draußen hörte er Vögel singen, und starrte in die lichtlose Dunkelheit seines Zimmers. Phelan war nicht wieder aufgetaucht, aber Julien hatte sich ausgiebig mit Amy unterhalten und sie hatten sich richtig gut miteinander amüsiert. Amy hatte einen scharfen Verstand, eine noch schärfere Zunge und einen herrlichen Sinn für Humor. Trotzdem hatte er Phelan irgendwie vermisst. Julien seufzte herzhaft und drehte sich auf die Seite. Er hatte sich verändert. Er war so… dunkel, so hart. Nicht die Härte, die er als Kriegsherr gehabt hatte, die war selbst-verständlich auch noch da, aber zu ihr war eine bittere Härte gekommen, eine die Julien nicht wirklich mochte. Und neben seiner Härte hatte Phelans sowieso schon große innere Stärke noch mehr an Kraft dazu gewonnen, was ihn als ein noch größerer Mann erscheinen ließ, der er eh schon war.
Ja, Phelan war ein großer Mann im Rat gewesen.
„Ich bin Fáelán vom Braeden, Heerführer der Wölfe vom Braeden. Und ihr werdet mir zuhören“, murmelte Julien leise und rief sich einige Begegnungen die er im Laufe seines Lebens mit Phelan gehabt hatte in Erinnerung.
Julien lächelte leicht und grübelte weiter. Als Kind war Phelan stürmisch und wild gewesen stellenweise regelrecht todesmutig. Auf den Schlachtfeldern allerdings war er nicht nur todesmutig, sondern tödlich, er hatte etwas an sich gehabt, was jeden Mann und jede Frau dazu gezwungen hatte, bis zum Äußersten zu kämpfen. Charisma, dachte Julien. Phelan hatte kriegerisches und tödliches Charisma besessen.
Er driftete wieder zurück in seine Kindheit. Julien erinnerte sich, wie er und Phelan zusammen durch das nächtliche Rom gezogen waren und heimlich durch die Fenster in Bordelle geschaut und geheime und dunkle Winkel ausgekundschaftet hatten, in Irland hatten sie zusammen im Wald nach dem Alten Volk gesucht und die Höhlen der Klippen erforscht. Schon als Kinder waren er und Phelan dicke Freunde gewesen, nein, nicht dicke, sie waren die allerbesten Freunde gewesen. Phelan hatte immer bitterlich geweint, wenn die Zeit des Abschiedes genaht hatte.
Hat er wohl damals auch geweint, als er mich nach so vielen gemeinsamen Jahrhunderten verlassen musste? Oder weinen Heerführer nicht?, fragte Julien sich nachdenklich. Und haben wir eigentlich wirklich dieses sagenumwobene Alte Volk gesehen, damals im Wald?
Julien drehte sich auf den Bauch, zog die Decke bis über seinen Nacken und grübelte sich über diese Fragen in den Schlaf.
Conor saß im Salon in seinem Lieblingssessel vor dem großen Kamin als Phelan kurz nach der Morgendämmerung wieder zurückkam. Er gab einen leisen Bellton von sich, in der Hoffnung, sein Bruder würde ihm nachgehen und zu ihm kommen. Phelan tat ihm den Gefallen und trat ein. Er wirkte müde und abgespannt. Phelan setzte sich neben ihm auf den Boden, zog ein Knie an seine Brust und starrte in die kalte graue Asche.
Du kriegst es nicht hin, was?
Phelan sah zu seinem Bruder hoch.
„Was kriege ich nicht hin?“, fragte er und stützte sein Kinn auf sein Knie.
Du schaffst es nicht, ihn nicht in dein Herz zu schließen. Du hast dir überlegt, es nicht zu tun, ihn einfach anzuekeln und abzuweisen und mit dir hier im Haus leben zu lassen, bis er wieder geht, aber das funktioniert nicht, habe ich recht!? Conors Blick war bohrend. Phelan schnaubte leise, griff nach dem Schürhaken, mit dem Julien am Abend zuvor versucht hatte, Conor zu erschlagen und stocherte damit in der Asche herum, als ob er dort auf eine Antwort hoffte.
Redest du auch mal mit mir?, hakte Conor nach.
„Das ist doch Blödsinn“, sagte Phelan lahm. Conor prustete.
Wen willst du hier verarschen? Dich oder mich? Wir reden hier von Julien. Muss ich dich noch mal daran erinnern, welchen Stellenwert er in deinem Leben hat? Freund, Vertrauter …
„Ich habe nicht vergessen, welchen Stellenwert er in meinem Leben hatte!“, fuhr Phelan dazwischen.
Wie könnte ich auch …, dachte er wehmütig. Julien und er hatten alles miteinander geteilt, begonnen von ihren Wiegen bis hin zu … Er riss sich aus seinen Gedanken.
„Es ist anders dieses Mal, das weißt du“, stellte Phelan leise fest. Conor legte den Kopf schief und sah ihn wartend an.
„Wenn es dieses Mal so weit ist, dann werde ich ihm nachsehen. Dieses Mal werde ich derjenige sein, der zurückgelassen wird und nicht der, der zurücklässt. Und ich kann nicht aufbrechen und weiterziehen. Mich hält er hier in diesem verdammten Sumpfloch gefangen.“ Phelan hieb in den kleinen Aschehaufen.
Nicht für ewig, tröstete Conor mitfühlend. Nichts ist ewig.
„Ja“, raunte Phelan, „Nichts ist ewig. Ich weiß.“
Gib ihm doch eine Chance. Gib euch doch eine Chance. Er hat es verdient, du hast es verdient. Er kann dich glücklich machen, das weißt du. Und wenn es nur von kurzer Dauer ist. Du hast Glück verdient. Du bist schon so lange so unglücklich, dass ich mir Sorgen mache, gestand Conor ernst. Phelan hob den Kopf und sah seinem Bruder fest in die Augen.
„Übertreib nicht. Du klingst ja schon wie Amy“, neckte er humorlos. Conor stieß ein Grunzen aus.
Ich sehe keinen Grund, zu übertreiben. Lass dich auf ihn ein. Du brauchst ihn, drängte er sanft. Phelan zuckte nur mit den Schultern und wandte sich wieder seiner Asche zu.
„Ich bin müde, Con. Einfach nur müde“, gestand er fast lautlos. Conors Herz begann zu rasen.
„Ich kann viel ertragen, das weißt du. Ich habe nie geklagt, wenn er gekommen ist und von mir forderte. Ich habe nie geklagt, wenn er euch mir weggenommen hat um weiß Gott was zu tun, um euren Verstand zu erhalten. Ich habe nie geklagt, wenn er mich aus Armen gerissen hatte, in denen ich Zuflucht gefunden habe.“ Phelans Stimme versagte. Er räusperte sich bevor er heiser fortfuhr:„Aber das hier …“ Er verstummte wieder. Conor winselte, sprang vom Sessel und schmiegte sich an seinen kleinen Bruder. Phelan schlang die Arme um ihn. Er vergrub sein Gesicht im dichten langen Fell und atmete tief den Geruch seines Bruders ein. Er war ein Wolf, von der Nasenspitze bis zur Kralle und doch roch er nach seinem Bruder.
„Du fehlst mir“, wisperte Phelan kraftlos. Conors Antwort war ein erneutes, gequältes Winseln. Er wollte so gerne seine Arme um ihn schlingen und ihn fest halten. Ihn trösten, ihm Geborgenheit schenken, doch das einzige, was er tun konnte, war neben seinem Bruder sitzen und ihm den Kopf auf die Schultern legen. Es brach Conor fast das Herz. Es waren Momente wie dieser, in denen er an Selbstvorwürfen fast zugrunde ging. Wenn er und Yuri damals nur nicht zugelassen hätten, dass Phelan sich ihnen anschloss, wenn sie ihn damals nur weggeschickt hätten, wenn Phelan doch einfach nur getan hätte, was der Rat von ihm verlangt hatte … Der Schrei, der in seiner Brust aufstieg, verhallte ungehört.
Antworten auf seine Fragen hatte Julien nicht gefunden, allerdings hatte er eine Idee, als er bei der nächsten Abenddämmerung erwachte. Er hatte keine Ahnung, ob sie funktionieren würde, aber er würde nicht locker lassen. Julien verließ das Bett, stellte sein Outfit zusammen und schlenderte ins Bad um zu duschen.
Eine Stunde später trat Julien in seinem besten Ausgeh-Outfit zu Phelan ins Wohnzimmer. Er sah zum Anbeißen aus, in seiner schwarzen Anzughose und einem anthrazitfarbenen, langärmligen Hemd, von dem er die beiden obersten Knöpfe leger offen gelassen hatte und Julien wusste, dass er zum Anbeißen aussah, aus diesem Grund trug er es. Er mochte es, wenn die Frauen und Männer, denen er begegnete, ihm schmachtende, sehnsüchtige Blicke zuwarfen.
Phelan, der auf der Couch lümmelte und in einem dicken, alten Buch las, sah hoch als er Julien witterte und musterte diesen kritisch. Julien war ein junger Mann dessen schwarzes, lockiges Haar zu einem modischen Kurzhaarschnitt geschnitten und frisiert war. Er hatte aufmerksame graue Augen und ein leicht römisch anmutendes Gesicht. Phelans Herz schlug unweigerlich ein paar Takte schneller. Julien war schön. Nein, korrigierte sich Phelan in Gedanken, Julien war nicht nur schön, er war makellos. Seine leicht mandelförmigen Augen mit den langen, geschwungenen Wimpern und den großen hellgrauen Iriden, seine sinnlichen, vollen Lippen, selbst der kleine Höcker auf Juliens feiner Nase war perfekt. Seine blasse Haut wirkte wie Porzellan und fühlte sich an wie Samt. Phelan kannte keinen Mann, den er als wunderschön bezeichnen würde, außer Julien. Er räusperte sich, um seine Gleichgültigkeit zurück zu erlangen und konzentrierte sich auf Juliens schwarzen Armani-Anzug, der ihm wahrhaftig auf den Leib geschneidert worden war.
„Brauchst du noch Manschettenknöpfe zu deinem Fummel?“, fragte er in gespieltem Desinteresse. Für das, das Julien so etwas wie Hausarrest hatte, hatte er sich ganz schön in Schale geschmissen. Julien grinste breit.
„Nein, danke, wir wollen ja nicht gleich übertreiben. Weißt du, alter Wolf, ich habe nachgedacht und weißt du, zu welchem Ergebnis ich gekommen bin?“, fragte er gutgelaunt und warf sich lässig auf die zweite Couch. Phelan legte sein Buch auf seinen Schoß.
„Ich übe mich erst noch in Gedankenlesen“, erwiderte er trocken. Julien schnitt ihm eine Grimasse und schlug die Beine übereinander. Seine Hände waren feucht und er war trotz seines lockeren Auftretens nervös. Phelans Laune war offensichtlich nicht wirklich besser geworden. Er holte tief Luft, beschloss, einfach weiter zu machen und ließ sein Grinsen breiter werden.
„Ich habe nachgedacht und zwar ausgiebig. Mein Vater hat mit keinem Wort erwähnt, dass ich nicht aus dem Haus gehen darf, er hat mich nur aus dem Clan ausgestoßen und zu einem armen geld- und autolosen Mann gemacht, aber er hat mir nicht verboten, auszugehen. Und du bist auch nur hier in New Orleans gefangen und nicht in diesem Haus hier, also dachte ich so, ich dachte, Julien alter Knabe, zieh dich schick an und geh mal runter zu deinem alten Kumpel Phelan und erinnere ihn daran, dass es mal eine Zeit gab, in der ihr beide euch um den Verstand gesoffen habt. Und das tu ich jetzt auch: Erinnerst du dich noch daran, als wir uns früher ab und zu mal um den Verstand gesoffen haben?“
Phelan nickte zögernd. Das Julien etwas vor hatte, stand für ihn völlig außer Frage, er wusste nur noch nicht was. Und er wusste nicht, ob ihm gefallen würde, was Julien erzählen wollte.
„Und weiter?“, drängelte er nun doch neugierig geworden. Julien aalte sich ausgiebig in Phelans Neugier, wechselte seine Sitzposition von lässig lümmelnd zu aufrecht sitzend und beugte sich vor.
„Wir beide, du und ich, wir gehen Gassi“, sagte er.
„Ach, tun wir?“, hakte Phelan spöttisch nach. Julien nickte.
„Ja. Tun wir. Also schwing deinen Arsch vom Sofa, zieh dich um und ab geht's. -Allerdings musst du fahren, mir haben sie mein Auto weggenommen.“
Phelan sah ihn einige Sekunden lang mit steinerner Miene an, dann seufzte er.
„Fein. Meinetwegen. -Ist eine bestimmte Garderobe Pflicht?“, wollte er wissen.
„Was ordentliches“, antwortete Julien nur und faltete die Hände in seinem Schoß.
„Gib mir zehn Minuten“, sagte Phelan, erhob sich von der Couch und ging an Julien vorbei zur Treppe. Conor, der dem Gespräch auf seinem Sessel vor dem Kamin gelauscht hatte, gab ein seltsames Grunzen von sich. Julien drehte sich verwirrt zu ihm um.
„Geht es dir gut?“, fragte er besorgt. Conor bellte einmal.
„Meinst du, es war ein gute Idee?“, hakte Julien nach. Conor bellte wieder einmal.
„Ich bin gespannt, was er dann anhat“, grübelte Julien laut. Conor gab sein drittes Bellen von sich.
„Er war noch nie so der Modecrack.“ Julien schnalzte mit der Zunge und malte sich die grässlichsten Modedesaster aus, die er sich an Phelan vorstellen konnte. Vom Mittelalterstil mit Lederhose und Wams bis hin zu einer alten, versifften Jeans mit ebenso versifftem Oberteil.
Zehn Minuten verstrichen, ohne dass Phelan auftauchte. Nach weiteren zehn Minuten erhob sich Julien vom Sessel um nach oben zu gehen, und nach ihm zusehen. In diesem Moment hörte er, wie Phelan die Treppe herunter kam und setzte sich hastig wieder.
„Ist das so ordentlich genug für dich?“, fragte Phelan, als er ins Wohnzimmer trat. Julien drehte sich zu ihm und sein Herz machte einen Hüpfer. Phelan trug eine schlichte schwarze Anzughose und ein schwarzes Hemd, dazu frisch polierte teuer aussehende Halbschuhe. Er strich sich seinen zu langen Pony nach hinten, was ihm einen leicht verwegenen Ausdruck schenkte. Mit dieser Frisur wirkte er wie ein Dandy aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Dazu müsste er seine Haare nur noch nach hinten gelen und sich eine Zigarette in den Mundwinkel hängen, dann wäre er eine moderne Version der großen Filmstars aus den neunzehnvierziger und -fünfziger. Leider fehlte es dem Wolf an der lässigen Leichtigkeit dieser Womanizer. Dafür war Phelan zu ernst und zu düster.
Und eben dieser Phelan schenkte Julien ein unsicheres Lächeln und brachte damit Juliens Blut in Wallung. Julien räusperte sich energisch und stand auf.
„Passt“, krächzte er und strich seine Hose glatt, nur um wo anders hinzusehen, als zu Phelan. Es war weder ein auffälliges noch ein besonders hochwertiges Outfit, aber er kannte Phelan gut genug um zu wissen, dass das, was sein Freund hier trug, für ihn als elegante Bekleidung galt. Und sie stand ihm. Das Hemd lag eng an seinem muskulösen Körper und betonte die kräftige Brust und die starken Arme. Die Anzughose saß eng und Julien musste es nicht sehen, um zu wissen, dass diese Hose Phelans Hintern äußerst vorteilhaft hervorheben würde.
„Naja, dann wollen wir mal.“ Phelan klatschte in die Hände und riss Julien aus seinen Schwärmereien. Er hob ruckartig den Kopf und lächelte.
„Gehen wir. -Kannst du fahren? Wie schon mal erwähnt; ich habe kein Auto mehr.“ Julien schenkte Phelan ein schiefes Grinsen. Phelan lachte heiser auf.
„Meinetwegen. Wenn du mir sagst, wohin ich fahren soll.“ Er drehte sich zur Tür und lieferte Julien damit den Beweis zu dessen Knackarsch-Theorie. Julien unterdrückte ein wehmütiges Seufzen und folgte Phelan in die Garage.
Hinter ihnen, auf seinem Sessel lachte Conor lautlos vor sich hin.
Phelans Garage beinhaltete eine Sammlung an Automobilen, die manchen Liebhaber dieser Gefährte in Freudentränen ausbrechen ließe, würde er sie je zu Gesicht bekommen und diese Halle voller Kostbarkeiten eine Garage zu nennen, war die Untertreibung des Jahres. Von einem Exemplar des ersten Automobils bis hin zu einer Luxusausstattung eines nachtschwarzen Hummers, standen hier die teuersten und wertvollsten Fahrzeuge, die je den Namen Automobil verdient hatten in Reih und Glied unter einem Dach vereint. Phelan ging zum Hummer, öffnete die Fahrertür und stieg ein. Julien schwang sich elegant auf den Beifahrersitz.
„Wenn du mal ein Auto brauchst, bedien dich. Die Schlüssel stecken“, bot Phelan an, startete den Motor und ließ das riesige Gefährt losrollen. Lautlos glitt das Tor vor ihnen nach oben. Julien registrierte eine Lichtschranke, die den Mechanismus betätigte.
„Ist es nicht leichtsinnig, die Schlüssel stecken zu lassen? -Es sind immerhin sehr teure Autos“, gab Julien zu bedenken, als Phelan den Hummer in Richtung des nächtlichen New Orleans lenkte.
„Ist es nicht leichtsinnig, in das Haus von einem Wolf einzubrechen?“, gab Phelan zurück und Julien sah leichte Belustigung in seinem Blick. Er lachte leise auf.
„In der Tat, das ist es“, gestand er ein und sie verfielen in angenehmes Schweigen. Julien war erleichtert, dass es ihm mit Phelan immer noch so leicht fiel, auch zu Schweigen ohne dass sich das Schweigen um eine peinliche oder verlegene Situation handelte, weil einem kein Gesprächsthema mehr einfiel. Julien unterbrach ungern die angenehme die Stille, aber er musste Phelan den Weg zu seinem Lieblings-Club sagen.
„Fahr dahinten hin, da ist mein Parkplatz ... gewesen“, orderte er an und Phelan lenkte das wuchtige Fahrzeug elegant durch die schmale Gasse zwischen dem Club und einem Nachbarhaus in den Hinterhof und parkte.
„Oh lala, der J1, dein Flaggschiff unter deinen Clubs“, bemerkte Phelan, als er ausstieg und darauf wartete, dass Julien ebenfalls das Auto verließ. Julien nickte stolz.
„Ja. Mein Baby“, antwortete er und seufzte wehmütig. Zumindest bis vor ein paar Wochen war das sein Baby gewesen, bevor man ihm alles weggenommen hatte. Jetzt gehörte alles, was einmal sein gewesen war, Raghnall und zwar so lange, bis dieser und sein Vater Dashiell der Meinung waren, Julien durfte mehr besitzen als nur hundertfünfzig Dollar pro Tag und einigen spärlichen Dingen, die er in zwei Koffer und eine Reistasche hatte hineinpacken dürfen. Phelan klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern.
„Falls du hier nicht anschreiben lassen darfst, geht es auf meine Rechnung“, bot er an und Julien suchte vergeblich nach Spott oder Hohn in seiner Stimme.
„Danke“, sagte er genauso ehrlich und raffte sich auf.
„Bisher konnte ich es noch, ich hoffe, dass das dein Großvater gnädigerweise auch noch weiterhin duldet“, spottete er bitter. Phelan zuckte nur mit den Schultern.
„Wie gesagt. Mein Angebot steht. -Lass uns reingehen.“
In den Nachtclub J1 bekamen nur Personen Eintritt, die auf einer von Julien selbst erstellten Gästeliste standen. Es handelte sich dabei um die im Moment angesagtesten und hippsten Persönlichkeiten von New Orleans und es spielte dabei keine Rolle, ob es sich nun um Vampire, Wermenschen oder Menschlinge drehte, obwohl der weitaus größere Teil der Gäste aus den beiden ersten Rassen bestand. Menschlinge waren in Vampir- und Weraugen nun mal selten so angesagt und hip - ganz zu schweigen von betucht - wie die erstgenannten Rassen.
Als Julien mit Phelan an seiner Seite den Clubraum betrat, zogen sie unwillkürlich sämtliche Aufmerksamkeit auf sich.
Julien betrat seinen Club mit einer selbst für seine Art extrem ausgeprägten Eleganz und graziler Geschmeidigkeit; er schien fast zu schweben, anstatt zu gehen, alles an diesem kühlen, blassen Mann war voll fast göttlicher Anmut. Sein Lächeln schien den gesamten Raum zu vereinnahmen, seine grauen Augen blickten offen und freundlich in die Runde und alle hätten beschworen, dass jeder einzelne von ihnen von diesem Blick erfasst und begrüßt wurde.
Phelan, dicht an seiner Seite, strahlte Kraft aus, körperliche wie geistige Stärke und Mut und dennoch waren seine Bewegungen nicht von weniger Anmut und Geschmeidigkeit und Eleganz wie die seines Nebenmannes, wenn auch erdbezogener, männlicher und auf eine erotisch animalische Art. Auch wenn die Menschlinge und die meisten Vampire und Wermenschen es nicht bewusst erfassten, ahnten sie tief in sich, dass dort vor ihnen ein großer Mann stand und sie unterdrückten den Drang, sich vor diesem zu verneigen.
Julien, sich seiner Schönheit und Anziehungskraft völlig bewusst, aalte sich genüsslich unter den bewundernden Blicken, während er den Weg zur Bar einschlug. Phelan, seines Äußeren wie seiner Anziehungskraft gänzlich unbewusst, folgte ihm und bemerkte nicht einmal, dass sich wie auf magische Weise eine Schneise für ihn in der Menge auftat. Man rempelte einen Mann wie Fáelán vom Braeden nicht an, man berührte ihn nicht einmal ohne Erlaubnis, denn dieser Mann war so völlig anders als sie alle hier.
„Hi, Frank. Darf ich hier noch anschreiben oder muss ich bezahlen?“, begrüßte Julien den Barkeeper und reichte ihm über die Theke die Hand zum Gruß. Der Barkeeper, ein Vampir, wie Phelan sofort witterte, grinste seinen Chef breit an und schlug seine Hand in Juliens.
„In meinem Vertrag stehst immer noch du als mein Boss drin und der darf jederzeit anschreiben“, erwiderte der Mann lachend, dann fiel sein Blick auf Phelan.
„Oh, ein Reißer; hast du dir ein Haustier zugelegt?“, scherzte er spöttisch, deutete mit dem Kopf auf Phelan und erstarrte unter dessen durchdringenden Blick. Julien holte Luft, um seinen Angestellten zurechtzuweisen, doch Phelan schob sich langsam vor ihn und schenkte Frank ein eisiges Lächeln.
„Vorsicht, Beißer. Du willst dir doch keine Flöhe von mir holen. Die könnten nämlich ziemlich wehtun“, warnte er und aus seinem Lächeln wurde ein hartes Grinsen. Frank hob abwehrend die Hände.
„Hey, Alter. Kein Stress, war nur ein Scherz. -Julien, wo kommt der Kerl her, dass er so was gleich ernst nimmt?“, fragte er Julien und versuchte, nicht ganz so panisch zu klingen, wie er sich in diesem Moment fühlte. Julien zwängte sich zwischen Phelan und die Bar und lächelte angespannt.
„Lass es gut sein. -Phelan, was willst du trinken?“
„Absinth“, antwortete Phelan, ohne den Blick von Frank zu nehmen. Julien runzelte kurz die Stirn, dann aber dachte er, dass dieses alte, wenn nicht sogar altmodische Getränk eigentlich zu Phelan passte. Obwohl, korrigierte er sich selbst, war es nicht wieder in Mode gekommen? Er unterbrach seinen Gedanken und wandte sich an seinen Angestellten.
„Du hast meinen Gast gehört, Frank. -Eine Flasche Absinth und Laudanum für ihn und ich bekomme das Übliche“, bestellte er. Frank nickte hastig und machte sich daran, Juliens Cocktail zu mixen. Julien drehte sich zu Phelan und legte ihm beruhigend die Hand auf die Brust.
„Komm wieder runter, Faol. Du kennst doch die Witzeleien unter unsereinen. -Lass uns das Zeug an den Tisch bringen, Frank“, orderte Julien und schob Phelan von der Bar weg. Phelan bleckte als leise Warnung die Zähne bevor er sich umdrehte und Julien zu dessen Stammplatz folgte. Sie durchquerten den Club und Phelan nutzte die Gelegenheit, sich dieses Etablissement genauer anzusehen. Der Raum wurde flankiert von den beiden großen Bar-Theken, die aus Glasbausteinen und dunklem Holz bestanden, welche mit indirektem Licht in einem kalten Blau beleuchtet wurden. Zwischen den Theken und der riesigen Tanzfläche, die der zentrale Mittelpunkt des Clubs war, standen Bistrotische aus glänzendem Chrom als Treffpunkte zum Reden, Flirten und Durstlöschen. Am anderen Ende der Bars, direkt gegenüber vom Eingang befanden sich hinter logenartigen Sitzgruppen diskrete Türen, Phelan wusste, was sich dahinter befand. Menschlinge, die als Imbiss für zwischendurch für die Vampire herhielten.
Genau dorthin führte ihn Julien, vorbei an einer glänzenden Stahltreppe, die nach oben zu einer Tür führte, auf der Privat stand und deren Front ein riesiger, leicht braun getönter Spiegel war. Juliens Büro schlussfolgerte Phelan, denn in seinen Clubs befanden sich seine Büro- und Privaträume meist an ähnlichen Stellen, zumindest meistens an Enden von Treppen. Phelan sah sich weiter um, mit dem Blick eines Mannes, der darauf geschult war, alles sofort zu erkennen, zu sondieren und zu speichern. Dunkler Holzboden, glänzende Chromverkleidungen, beleuchteter Glasbaustein, hinten rechts die Toiletten, Vampire, die diskret hinter den leicht versteckten Türen verschwanden oder heraustraten, die tanzenden Leute, die im hämmernden Technobeat ihre Leiber zuckend bewegten; binnen Sekunden wusste er, wie viele der Gäste Vampire, wie viele welche Rasse von Wermenschen waren und wie viele Menschlinge. Die Logenecke befand sich links unter Juliens Büro, erhöhter als die anderen Logen und größer. Clevere Platzwahl. Man hatte den Überblick über den ganzen Club, ohne dass es auffiel und man erreichte als erster die Notausgangtür, wenn Not bestand.
„Setz dich“, bot Julien ihm einen Platz an. Phelan glitt in die weichen Polster.
„Was war denn das mit Frank gerade eben?“, fragte Julien vorwurfsvoll als er sich neben ihn setzte. Phelan lehnte sich zurück, warf noch einen kurzen Blick zur Bar und sah dann zu Julien.
„Ich kann den Kerl nicht leiden“, sagte er nur. Eine bildschöne Kellnerin mit tiefem Ausschnitt brachte die georderten Getränke. Julien bedankte sich abwesend ohne den Blick von Phelan zu nehmen.
„Du kannst was?“, hakte er ungläubig nach. Phelan wandte ihm den Kopf zu.
„Ich kann den Kerl nicht ausstehen. Sein Witz war kein Witz. Er hat es ernst gemeint. Dein Barkeeper ist ein Rassist“, stellte Phelan gelassen fest und beugte sich zum Tisch vor. Auf dem runden Tisch mit einer indirekt beleuchteten Glasplatte standen Juliens Cocktail und eine Flasche Absinth. Neben der Absinthflasche standen auf einem kleinen Silbertablett mit gehämmertem Rand eine kleine etikettlose Flasche mit Laudanum, eine Silberschale mit Würfelzucker, ein schon gefülltes Glas mit einem Absinthlöffel aus Silber, der quer über dem Rand des Glases lag und auf dem schon ein Zuckerstück thronte und ein Feuerzeug, ebenfalls aus Silber. Phelan grinste kurz.
„Also bitte. Was wird er ein Rassist sein. Nur weil er so einen Witz gerissen hat. Wir reißen alle solche Witze“, widersprach Julien ungläubig. Herablassende, leicht rassistische Scherze über die jeweilig andere Rasse waren völlig normal und typisch für die Vampire und Wermenschen, Julien war in Phelans Heer mehr als nur einmal Opfer dieser Spötteleien gewesen und hatte selbst genügend solche Zoten über die Wermenschen dort gerissen. Selbst Phelan, der sich über Franks Spruch echauffierte, hatte genügend bissige Kommentare zu Vampiren abgegeben. Julien begriff nicht wirklich, was für ein Problem Phelan jetzt hatte. Dieser beträufelte den Zucker großzügig mit Laudanum und zündete die Mischung mit dem Feuerzeug an.
„Er hat es ernst gemeint. Er mag keine Wölfe“, beharrt Phelan stur, während er den Zucker beim Schmelzen zusah. Julien griff nach seinem Glas und schnupperte daran. Der Drink war perfekt. Er war eine gefährliche Mischung diverser hochprozentiger Alkoholika, deren Genuss jeden Menschling sofort an Alkoholvergiftung sterben ließe, sollte er davon trinken. Für Vampire wie Julien verhieß es einen angenehmen Rausch, wenn sie mehrere Gläser davon tranken. Er nahm einen großen Schluck und ließ den Alkohol in seinem Mund wirken bevor er schluckte.
„Oder es liegt schlichtweg nur an mir“, fuhr Phelan fort, verrührte den geschmolzenen Zucker in seinem Absinth und kippte den Inhalt des Glases in einem Zug hinunter. Julien hob überrascht die Augenbrauen.
„Das könnte es auch sein“, mutmaßte Phelan und warf noch einen nachdenklichen Blick in Richtung Bar.
„Vielleicht steht er ja auf dich und denkt, ich sei Konkurrenz“, spann er seinen Gedanken weiter. Phelan schürzte die Lippen, schnalzte leise mit der Zunge und wandte sich dann wieder seinem Absinth zu. Julien starrte Phelan regelrecht entgeistert an.
„Er hat eine Frau“, warf er ein. Phelans Blick wurde tadelnd.
„Du hattest auch eine Frau“, erwiderte er schulmeisterlich und zündete einen neuen Würfel Zucker an. Julien verdrehte die Augen und beschloss, sich jetzt nicht auf eine Diskussion mit Phelan einzulassen, bei der es sich um die Herzensangelegenheiten seines besten Barkeepers drehte.
„Ich mein ja nur“, murmelte Phelan bevor er auch dieses Glas in sich hinein kippte.
„Hör auf damit, du warst noch nie gut in solchen Angelegenheiten. Überlass Beziehungen den Profis“, knurrte Julien in sein Glas. Phelan zuckte mit den Schultern.
„Ich such nur einen Grund, warum er mich nicht mag. Er kennt mich ja nicht einmal und schon war er unhöflich zu mir.“ Er schürzte die Lippen. Julien schloss die Augen und holte tief Luft.
„Phelan. Lass es gut sein. Ich bin der festen Überzeugung, das ist alles nur ein blödes Missverständnis gewesen. Frank ist einer meiner besten Leute hier und es gab noch nie Beschwerden von irgendwelchen Werleuten über ihn“, beschwichtige er und leerte leicht frustriert sein Glas.
„Dann liegt es also doch an mir“, stellte Phelan fest und trank sein drittes Glas.
„Meinetwegen. Wenn du das sagst“, knurrte Julien und bestellte einen neuen Drink. Phelan sinnierte noch ein Weilchen über seinem vierten Absinth, dann hob er den Kopf und betrachtete Julien eingehend.
„Was?“, fauchte Julien ungehalten. Phelan schüttelte den Kopf.
„Nichts.“ Er sah wieder auf sein Getränk.
„Gutes Laudanum“, sagte er schließlich und kippte das vierte Glas in seinen Rachen.
„Danke. Nur das Beste für meine Gäste“, bedankte sich Julien leicht irritiert.
„Es hieß in den Dreißigern, dass man davon verrückt wird“, bemerkte Phelan und deutete auf das Laudanum. Julien hob die Augenbrauen an, unsicher, was Phelan ihm jetzt erzählen wollte.
„Das heißt, entweder es ist eine glatte Lüge, um etwas zu verbieten, was Spaß macht, oder ich bin schon so verrückt davon, dass ich es nicht bemerke, verrückt zu sein“, fuhr Phelan fort und in seinen Augen war ein Leuchten, das Julien besorgte. Er konnte es nicht genau benennen, aber im ersten Moment wirkte es tatsächlich leicht verrückt.
„Welche Option ist dir denn lieber?“, wollte er wissen und fragte sich im nächsten Moment, ob er es wirklich wissen wollte.
„Die zweite“, antwortete Phelan prompt und goss sich wieder Absinth nach. „Die bürgt für mehr Spaß.“
Jetzt leuchteten seine Augen definitiv verrückt. Allerdings war es ein fröhlich-verrücktes Leuchten und um seine Mundwinkel lag ein wildes Grinsen. Julien lachte leise auf. Phelan warf ihm aus den Augenwinkeln einen herausfordernden Blick zu, bevor er seinen Zucker mit der beinahe dreifachen Menge Laudanum ertränkte.
„Willst du dich vergiften?“ Die Frage war nur halb im Scherz gemeint. Phelan grinste ihn diabolisch an und entzündete den Zuckerwürfel.
„Es braucht vierzig Flaschen Absinth und die doppelte Dosis Laudanum als man üblich unter-mischt, um meinen Körper dazu zu bringen, kurzzeitig an Atemstillstand und Alkoholvergiftung zu sterben“, erklärte Phelan, während er seinen Zucker verrührte. Julien stieß einen ungläubigen Ton aus.
„So was testest du?“, fragte er leicht irritiert. Phelan zuckte mit den Schultern.
„Man testet viel, wenn man in diesem Haus lebt“, gab er als Antwort. Da war wieder dieses besorgniserregende verrückte Leuchten in Phelans Augen. Julien erschauderte.
„Und wie ist es, als Einzelgänger zu leben?“, wechselte er hastig das Thema, bevor es noch merkwürdiger werden würde und er vielleicht Dinge hörte, die er lieber nicht hören wollte.
„Frag nicht“, gab Phelan als Antwort.
„So schlimm?“, hakte Julien nach.
„Frag nicht“, wiederholte Phelan stur. Julien nickte leicht.
„Vielleicht ein anderes Mal“, schlug er vor und ergriff sein Glas.
„Vielleicht“, sagte Phelan nur, prostete Julien zu und leerte sein fünftes Glas erneut mit einem Zug. Sie verfielen in Schweigen, Julien wusste mit einem Mal nicht, was er sagen könnte, seine Gedanken kreisten nur noch um Phelans Aussage, wie er sich mit Absinth und Laudanum getötet hatte. Dann, nachdem sie schweigend noch eine weitere Flasche Absinth und zwei Gläser Cocktail getrunken hatten, ergriff Phelan das Wort.
„Du hast kleine Kabinen für Vampire da hinten. Hast du auch was für Wermenschen?“ Seine Stimme klang völlig unbekümmert, als hätte er seinen Alkohol- und Opiumselbstmord Julien gegenüber nie erwähnt. Julien schluckte seinen Drink hinunter und nickte.
„Dort hinten ist eine Snackbar. Mit Sandwiches, verschiedenem Fleisch und vielen verschiedenen Desserts“, erklärte er und zeigte auf einen Durchgang in einer Wand. Und ehe er es sich versah, befand er sich mit Phelan in einer angeregten Unterhaltung über den Preis der Clubeinrichtung, des abendlichen Durchschnittsumsatzes und der dringenden Notwendigkeit, nicht nur Snacks für Beißer, sondern vor allem große, energiehaltige Snacks für Reißer dazuhaben und wozu es führen konnte, wenn man eben dieses nicht zur Verfügung stehen hatte.
Nachdem sich Phelan seine dritte Flasche Absinth und Julien seinen fünften Cocktail bestellt hatte, ging Julien auf die Tanzfläche, während Phelan sich eben einen dieser großen und energiereichen Snacks einverleibte. Als hätten sie sich abgesprochen, kamen sie zur gleichen Zeit zurück in die Loge, leerten Flasche und Glas und bekamen nach einem Wink Phelans binnen Sekunden volle Varianten auf den Tisch gestellt.
„Hast du vor, mich betrunken zu machen, oder deinen Großvater mit diesen ausgefallenen Einnahmen wütend zu machen?“, scherzte Julien gutgelaunt. Phelan, der sich sofort wieder einen Drink zubereitet hatte, sah ihn über den Rand seines Glases herausfordernd an.
„Beides“, antwortete er verschlagen und dann brachen sie in schallendes Gelächter aus, das sehr schnell unkontrolliert wurde, denn drei Flaschen Absinth mit Laudanum und fünf Gläser hochprozentiger Alkohol-Cocktail machten sich irgendwann einmal auch bei Vampiren und Wölfen bemerkbar. Als sie schließlich die fünfte Flasche und den siebten Cocktail vor sich stehen hatten, gestand sich Julien ein, dass er nicht gedacht hätte, dass der Abend mit Phelan noch so lustig werden könnte. Und er hatte entschieden zu viel getrunken; er war mehr als nur angeheitert. Phelan lümmelte auf den Polstern, breitbeinig, die Arme auf der Lehne ausgestreckt und grinste ihn an. Seine Augen glänzten vom Alkohol und dem Opiat.
„Du hast es fast geschafft“, bemerkte Julien und stellte verwundert fest, wie schwer es ihm doch fiel, diese Worte klar zu sprechen. Phelan hob fragend die Augenbrauen.
„Ich bin fast betrunken“, gestand Julien grinsend. Phelan lachte ein kehliges Lachen, welches Julien bei ihm noch nie gehört hatte, aber es gefiel ihm. Es ließ ihn leichte Schauer den Rücken hinunter rieseln.
„Trink ruhig weiter, es stört mich nicht“, scherzte er und nur dank Juliens feinem Gehör erkannte dieser, dass der Alkohol und die Droge auch bei dem Wolf Wirkung zeigten.
„Und was machst du in der Zeit? Däumchen drehen?“, hakte Julien nach und nahm tatsächlich noch einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Phelan warf seinen Kopf in den Nacken und lachte wieder sein kehliges Lachen.
„Nein, ich mache diese herrliche Flasche vor mir leer und dann werde ich ein-zwei Kaffee trinken, damit ich nachher wieder nüchtern genug bin und eventuellen Einzelgängern den bepelzten Arsch zu versohlen.“Er sank in die weichen Polster der Bank; auf seinen Lippen lag ein träges Lächeln. Julien schluckte hart. Phelan sah unheimlich verführerisch aus, so wie er gerade da saß, weit an die Kante der Sitzfläche vorgerutscht, mit gespreizten ausgestreckten Beinen. Seine Arme lagen auf der Rückenlehne und spannten das Hemd an der Brust und unterstrichen die definierten Brustmuskeln. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sah Julien durch halb geschlossene Augen an, das träge Lächeln auf seinem Gesicht.
„Du siehst, ich kann mich nicht einmal mehr richtig um den Verstand trinken, weil ich dieses verfickte Haus bewachen muss“, schnaubte er schwerfällig und leckte sich mit der Zunge über die Unterlippe. Julien nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas.
„Dann ist das hier auch mein Letzter“, beschloss er. Phelan öffnete seine Augen.
„Aber wieso denn? Du kannst ruhig weitertrinken. Außerdem muss irgendwer den Hummer nach Hause bringen“, erwiderte er und richtete sich auf. Konzentriert mischte er sich noch einen weiteren Absinth mit Laudanum, wobei er dieses Mal auf den Zucker verzichtete und das Opiat direkt in die Spirituose goss. Julien stieß einen Protestlaut aus.
„Das ist genug Phelan. Das reicht.“ Er griff in dem Moment nach Phelans Hand, als dieser die Flasche Laudanum wieder absetzte. Seine Finger schlossen sich um Phelans Handgelenk.
„Wenn du dich so zu dröhnst, glaubst du, dann reichen zwei Kaffee um den Hummer wieder nach Hause zu bringen?“, fragte er vorwurfsvoll. Phelan grinste wieder, dieses Mal war es leicht spöttisch.
„Oh, um den Hummer nicht mehr fahren zu können, bedarf es schon etwas mehr, als ein wenig Alkohol und Opium“, beteuerte er, schwenkte das Glas ein wenig, um die beiden Flüssigkeiten zu vermischen, dann kippte er es erneut in einem einzigen tiefen Zug hinunter.
„Auch wenn du jedes Glas auf Ex runter ziehst, als ob es dir jemand wegtrinken wollte?“, neckte er freundlich. Phelan schnitt ihm eine kurze Grimasse.
„So wirkt es am Besten. Wenn man es schnell trinkt“, behauptete er, gab wieder einen schnalzenden Laut von sich und bereitete schon seinen nächsten Drink zu.
„Außerdem werd ich den Teufel tun, und eine angebrochene Flasche zurückgeben und je schneller ich es trinke, umso schneller bin ich betrunken und umso schneller …“ Phelan verstummte kurz um das Laudanum ins Glas zu gießen, „… und umso schneller … kann ich dann meine zwei Kaffee trinken, um den Hummer nach Hause zu fahren. -Cheers“, wünschte er und stürzte den Drink weg.
„Außerdem trinke ich gern“, beendete er seine kleine Rede.
„Gut, dass du das sagst, da wäre ich von allein nie drauf gekommen“, scherzte Julien und leerte sein Glas. Phelan zuckte mit den Schultern. Als er den Blick hob, huschte ein grüner Schimmer durch seine Iris, kaum wahrnehmbar selbst für Julien. Spätestens jetzt wäre Julien klargeworden, dass Phelan mit seiner Aussage, gerne zu trinken die Wahrheit gesagt hatte, denn nichts mehr galt als ein Zeichen für absoluten Wohlwollens und Zustimmung eines Wermenschens, als das sirrende Aufleuchten ihrer Augen.
„Sag mal, warum leuchten Wolfsaugen grün, wenn doch grün die Farbe der Katzenaugen ist, und die der Felidae, die doch die Werkatzen sind, blau?“, fiel Julien aus heiterem Himmel ein. Eigentlich hatte es ihn noch nie beschäftigt, weshalb Werwölfe grün leuchtende Augen hatten und Werkatzen blaue. Warum es ihn jetzt auf einmal interessierte wusste er selbst nicht, es lag wohl am Alkohol. Phelan, in dessen Achtung die Felidae-Werkatzen durch einen höchst persönlichen Vorfall tief gesunken waren, grinste boshaft, während er sich schon seinen nächsten Drink einschenkte.
„Vielleicht war die erste ihrer Art eine fette, verwöhnte Haus-Siam“, schlussfolgerte er bissig. Julien, für den die Werkatzen die unangenehmsten Wermenschen überhaupt waren, nicht durch einen höchst persönlichen Vorfall wie bei Phelan, sondern allein wegen ihres überheblichen und gönnerhaften Auftretens, lachte nicht weniger gehässig.
„Aber warum grün?“, hakte er nach.
„Weil grün nahe an gelb liegt“, antwortete Phelan geduldig, da er spürte, dass Juliens Neugier wie Unwissenheit echt waren.
„Aber warum dann nicht gleich gelb?“, bohrte Julien weiter. Phelan beugte sich vor, als ob er Julien in ein unglaubliches Geheimnis einweihen wollte.
„Wenn gelb, wie das Bernstein unserer Artgenossen …“, begann er und Julien schlussfolgerte, dass Phelan die normalen Tier-Wölfe mit Artgenossen meinte, „woran erkenne man den Unterschied zwischen uns?“, endete Phelan mit einem breiten Grinsen.
„Du hast keine Ahnung warum“, bemerkte Julien amüsiert. Phelan lachte.
„Nein, woher auch? Ich bin ein Krieger und kein Gelehrter. Und selbst die dürften es nicht wissen. Wen interessiert das auch schon?“ Phelan kippte sich auch dieses Glas auf einmal in den Rachen. Er schluckte, grinste Julien breit an und rülpste verhalten. Die ganze Zeit über war dieses breite Grinsen, welches schon fast ein Zähneblecken war, nicht aus seinem Gesicht gewichen.
Mit einem Mal schoss Julien eine Erinnerung aus seiner Kindheit in den Kopf. Dieses breite Grinsen, welches Phelan ihm entgegen grinste, war dasselbe Grinsen, das Phelans und Conors Vater, der große Conlaoch vom Braeden, immer gegrinst hatte, wenn sie ihn als junge Welpen mit Fragen gelöchert hatten und er ihnen dann irgendein Märchen erzählte, damit er seine Ruhe vor ihnen hatte. Es war auch das Grinsen mit dem Phelan ihm als Kind von den geheimnisvollen Höhlen unter der Braeden-Festung erzählt hatte, das selbe Grinsen, dass früher Abenteuer und Zusammengehörigkeit verheißen hatte, das selbe Grinsen, wenn sie in eine gute Schlacht gezogen waren, und Julien wusste, dass er diesem alten Phelan gegenübersaß und dessen Zurückhaltung nur eine Abwehr gewesen war. Eine Abwehr die ein Umstand verursacht hatte den Julien nicht erkennen konnte.
„Ich danke dir“, bedankte Julien sich für die offenen, wenn auch sinnlosen Antworten und deutete ein Nicken an. Es mochte eine altmodische Art sein, sich zu bedanken, aber auch eine sehr respektvolle und Julien war der Überzeugung, dass Phelans irrsinniger Versuch, ihm zu antworten, diese Art von Dank verdient hatte. Und weil er wusste, dass Phelan den Spott hinter dieser Geste erkannte. Phelan reagierte weitaus weniger altmodisch und höflich, indem er eine lässige Handbewegung machte - eine Lässigkeit, die ihm sehr gut zu Gesicht stand, fand Julien - und ein ebenso lässiges:
„Keine Ursache. Frag ruhig, wenn du was wissen willst, ich geb dir gerne meine allwissende Weisheit weiter“, anbot. Julien lachte auf.
„Ich werde mich hüten! Von dir bekommt man ja offensichtlich alles, nur keine anständigen Antworten“, wehrte er ab. Phelan sah ihn in gespielter Entrüstung an.
„Na, was war denn an dieser Antwort gerade unanständig?“, empörte er sich unter nicht enden wollendem Gekicher. Julien verdrehte die Augen und riss in einer gespielt hilflosen Geste die Arme in die Luft.
„Womit habe ich das verdient? Was habe ich nur getan, dass mir das wiederfahren muss?“, lamentierte er theatralisch. Phelans Gekicher wurde zu einem herzhaften Lachen.
„Ich werd hier jetzt nicht anfangen, aufzuzählen …“, entgegnete er großspurig. Julien konnte nicht anders, er musste Phelan einen kräftigen Schlag auf den Oberarm geben.
„Hüte deine Zunge, Fáelán vom Braeden, ich warn dich. Ich kenne immer noch ein paar ganz gemeine Tricks, weißt du!“, drohte er ihm lachend. Phelan kicherte und hielt sich die schmerzende Stelle.
„Bevor du mich zum Krüppel schlägst …“, erwiderte er glucksend. Julien strahlte ihn an. Es war schon lange her, dass er Phelans Gesicht gesehen hatte und nach dem völlig missglückten Wiedersehen war er sich nicht sicher gewesen, Phelan so bald schon zum Lachen zu bringen zu können.
Phelan erwachte mit unglaublichen Kopfschmerzen und einem Gefühl, als hätte er gammlige Watte im Mund. Er würgte leise, kämpfte sich aus dem Bett und schlich dann ins Bad, um zu duschen. Er hatte entschieden zu viel getrunken in der letzten Nacht. Phelan drehte den Wasserhahn auf und schnappte japsend nach Luft, als eiskaltes Wasser über seinen Körper lief. Entschieden zu viel getrunken. Phelan hob den Kopf, öffnete den Mund und ließ sich Wasser hineinlaufen. Er spülte sich den Mund aus, griff nach seiner Zahnbürste und schrubbte sich ausgiebig die Zähne. Er wurde zu alt für diesen Scheiß. Phelan spuckte Zahnpasta in den Abfluss der Duschwanne und stieß einen leidenden Ton aus.
Er hatte nach seiner fünften Flasche nicht aufgehört zu trinken, ganz im Gegenteil, er hatte sich noch zwei genehmigt und drei Gläser von Juliens verfluchtem Cocktail. Danach hatte er zwar Mühe gehabt, der Hummer unbeschadet nach Hause zu bringen, aber er hatte ihn nach Hause gefahren, und das auch noch, ohne der Polizei aufzufallen. Wenigstens hatten keine Einzelgänger vor der Mauer auf ihn gewartet. Die hätten gestern leichtes Spiel mit ihm gehabt. Phelan beendete seine Morgendusche und schlang sich ein Handtuch um die Hüften. Naja, vielleicht nicht wirklich ein leichtes Spiel, aber er hätte sehr, sehr große Probleme gehabt, gegen sie anzugehen. Er ließ achtlos das Handtuch fallen und holte eine ausgeblichene Jeans aus dem Kleiderschrank. Kurz wägte er ab, ob er nicht doch lieber wieder zurück ins Bett sollte, dann erinnerte er sich, dass Amy hier war. Und die würde den Teufel tun, und ihn schlafen lassen, nur weil er einen Kater hatte.
Nur mit Jeans bekleidet verließ er sein Schlafzimmer und machte sich auf den Weg nach unten in die Küche.
„Guten Morgen mein Lieber.“ Amy rauschte gutgelaunt auf ihn zu und küsste ihn auf seine stoppelige Wange.
„Setz dich, ich mach dir Frühstück. So wie du aussiehst, hast du ein üppiges nötig“, scherzte sie mit einem verschmitzten Grinsen. Phelan schnitt ihr eine Grimasse und schwang sich auf einen Barhocker.
„Ist Julien schon wach?“, fragte er statt eines Grußes. Conor, der auf dem Boden lag und Amy nicht aus den Augen gelassen hatte, hob den Kopf und sah seinen Bruder an.
Ich hab ihn vorhin rumoren hören, als ich runtergekommen bin, antwortete er und gähnte herzhaft. Außerdem hab ich Yuri im Sumpf aufgesammelt und mitgebracht. Er badet sich gerade den Schlamm und den Alligatorrotz aus den Federn.
„Alligatorrotz? Was zum Teufel hat der Idiot jetzt schon wieder angestellt?“, knurrte Phelan ungläubig.
„Welcher Idiot hat was angestellt? -Guten Morgen!“ Julien kam schwungvoll in die Küche, gab Amy einen Kuss auf die Wange, kraulte Conor am Kopf und hüpfte neben Phelan auf den Barhocker.
„Oh!“, sagte er, schnippte mit den Fingern und rutschte wieder vom Stuhl. Er holte sich eine Tasse aus dem Schrank, schlenderte zur antik anmutenden Kaffeemaschine und legte den Kopf schief.
„Wie krieg ich Kaffee aus dem Ding?“ Er drückte auf verschiedene Knöpfe ohne eine Reaktion aus der Maschine zu erhalten. Phelan stieß einen theatralischen Seufzer aus, erhob sich von seinem Hocker und stellte sich neben Julien.
„Lass mich.“ Er schob Julien mit den Hüften beiseite und begann, an der alten Siebträgermaschine herumzuhantieren. Julien verdrehte die Augen und ließ sich von Phelan einen Kaffee brühen. Er begriff dieses Fossil einfach nicht. Oder er wollte es nicht begreifen. Er würde morgen eine moderne kaufen. Für sich. Eine, die jeder verstand, auch jemand, der keine jahrhundertelange Erfahrung als Barista hatte.
„Also, welcher Idiot hat nun was angestellt?“, wiederholte er, nahm seine mit frisch gebrühten Kaffee gefüllte Tasse und setzte sich wieder auf seinen Hocker. Phelan nahm neben ihm Platz.
„Yuri“, antwortete er, dankte Amy, als diese ihm einen völlig überladenen Teller auf den Tresen stellte und begann zu essen.
„Er hat sich im Sumpf verirrt und wohl Innereienringen mit einem Alligator gespielt. Jetzt duscht er sich gerade. Conor hat ihn heute Nacht gefunden“, erklärte Phelan kauend. Julien schüttelte ungläubig den Kopf und nippte an seiner Tasse. Zugegeben, der Kaffee aus dieser furchtbaren Maschine schmeckte besser als der beste Wiener Kaffee der Welt. Aber das lag wohl eher an den Bohnen, vermutete er. Er würde sich trotzdem eine neue Kaffeemaschine kaufen. Er konnte ja nicht immer darauf hoffen, dass Amy oder Phelan da waren, um ihm Kaffee machen zu können. Außerdem war er erwachsen und das hieß ja wohl, dass er sich zumindest seinen eigenen Kaffee kochen können sollte.
„Ich freu mich, ihn zu sehen“, meinte er versunken. Phelan prustete leise.
„Ich hoffe, du hast keine Allergie gegen Rabenscheiße“, frotzelte er boshaft. Amy warf ihm einen tadelnden Blick zu.
„Er ist ein Vogel und kann nicht wirklich kontrollieren, wann und wo er kotet“, verteidigte sie den Raben. Phelan verdrehte essend die Augen.
„Das ist seine liebste Ausrede, wenn er dir auf den Kopf kackt“, behauptete er leicht bissig. Julien lachte auf. Phelan deutete mit dem Kopf zur Küchentür.
„Da kommt er übrigens“, bemerkte er und spießte Speckstreifen auf seine Gabel. Julien wandte sich zur Tür und wartete darauf, dass ein Rabe hereingeflogen kam. Stattdessen hörte er, wie Krallen über die Fliesen kratzten, als Yuri Borondin herein gehüpft kam. Aus seinen Federn tropfte noch Wasser. Er schüttelte sich ausgiebig, verteilte Wassertropfen auf dem Boden und kam hüpfend näher.
„Hi, Yuri. Siehst gut aus, glaube ich“, grüßte Julien lächelnd.
Grins nicht so dämlich, sondern hilf mir hoch, ich kann mit nassen Federn nicht fliegen, herrschte ihn eine wohlbekannte Stimme in seinem Kopf an und der Rabe krächzte. Julien lachte auf, bückte sich und hob den Vogel auf die Theke.
Ich danke dir. Der Rabe verneigte sich höflich dann legte er den Kopf schief und betrachtete Julien mit seinen Knopfaugen.
Hm, meinte er schließlich. Siehst gut aus. Schade, dass ich zu viel Gefieder und zu wenig Mann bin, sonst würde ich glatt über dich herfallen und dich rammeln bis du nicht mehr laufen könntest. Er krächzte laut.
Aber du stehst ja leider mehr auf Wölfe als auf deinesgleichen, n’est pas!?, fügte er verschwörerisch hinzu. Julien lachte und beugte sich zu Yuri vor.
„Es ist mir egal ob Wolf oder Vampir, Yuri, du bist nun mal einfach nicht mein Typ“, erwiderte er gutgelaunt. Der Rabe verdrehte seine Augen und flatterte mit den Flügeln.
Nicht dein Typ? Schätzchen, wenn ich könnte, wie ich wollte, wäre ich nach nur zwei Runden auf dieser Theke aber so was von dein Typ!, behauptete er großspurig. Aber um dich mit diesem Körper zu befriedigen, müsste ich in dich hineinkriechen und das ist abartig.
Julien stieß einen angeekelten Ton aus.
„Yuri!“, mahnte er angewidert. Der zuckte nur mit den Schultern.
Ich sagte doch, das ist abartig, tat er nur ab, hüpfte zu Phelans Teller und stibitzte ihm einen Streifen Speck. Phelans Blick war tödlich.
„Fang dir dein eigenes Essen“, knurrte er drohend. Julien gluckste leise. Phelan war, was seine Essmanieren anbelangte, einer der wohlerzogensten und diszipliniertesten Wermenschen, die er kannte, und dennoch, nur wer Todessehnsucht hatte, klaute vom Teller eines hungrigen Wolfes, das galt auch für Phelan.
Was glaubst du, hatte ich vor, als ich mich erst im Sumpf verirrt habe und dann von einem Alligator mit seinem Zwischensnack verwechselt wurde!?, entrüstete er sich. Und dabei war die Maus so schön saftig und fett und gesund …
„Du isst Mäuse?“, fragte Julien erstaunt. Yuri drehte sich hüpfend zu ihm um.
Natürlich, was sollte ich sonst essen? Schafe?, höhnte bissig. Julien verdrehte entnervt die Augen.
„Blut, du hässliche Kröte, immer hin bist du ein Vampir???“, äffte er den Vogel an.
„Im Moment ist er eher Rabe als Vampir. Deshalb hat er seinen Speiseplan etwas umstellen müssen“, klärte Phelan Julien auf und schlug dem Raben, der sich schon wieder an seinem Speck vergreifen wollte, unsanft auf den Schnabel. Der Vogel hüpfte hastig von Phelan weg und krähte ihn empört an.
„Dann lern es endlich mal, das Jagen“, fauchte Phelan unwirsch.
„Und wie bist du in den Alligatormagen gekommen?“, wollte Julien wissen und unterdrückte ein Grinsen. Wäre Yuri noch der Mann, den Julien als Heiler und Krieger aus dem Heer der Wölfe kannte, hätte der jetzt dramatisch die Augen verdreht und höchstwahrscheinlich noch irgendeine nicht weniger dramatische Geste mit der Hand gemacht. So plusterte er sich nur auf, schlug wild mit den Flügeln und krähte lautstark.
Das scheiß Vieh kam aus dem Nichts aus dem Wasser hochgeschossen, als ich mich auf einen Ast gesetzt hatte. Ich sitz da ahnungslos und ärgere mich über die verloren gegangene Maus und auf einmal macht es „HAPP“ und es ist dunkel um mich und es stinkt erbärmlich!, erzählte er voller Entrüstung.
„Und dann?“, hakte Julien neugierig nach.
Jetzt taugt es nicht einmal mehr was zum Gürtel. Ich hab ihm das gierige Maul zerfetzt, endete Yuri kalt, hob eines seiner Beine und wackelte mit den mit langen Krallen besetzten Zehen. Julien schreckte zurück und holte zischend Luft.
„Du hast ihm das Maul zerkratzt?“, fragte er ungläubig. Yuri nickte stolz.
Ich bin vielleicht kein Mann mehr, aber meine Hände sind immer noch tödlich. Und ich habe sein Maul nicht zerkratzt, mein wunderhübscher Freund, ich habe es in Fetzen gerissen, erwiderte er selbstgefällig. Julien maß die Größe des Vogels ab, verglich sie im Geist mit einem Alligatormaul und stellte fest, dass er den Vogel niemals verärgern würde.
„Ich erinnere mich; als du noch ein Mann warst, hast du mit Vorliebe deine Gegner aufgeschlitzt. Mit deinen Krallen“, fiel ihm ein. Der Rabe nickte zustimmend. Damals, im Heer, war Yuri gefürchtet gewesen. Er konnte seine Fingernägel zu messerscharfen Krallen wachsen lassen und allein mit dem Einsatz dieser Krallen hatte er etliche seiner Gegner getötet. Julien erschauderte leicht.
Phelan zuckte nur mit den Schultern.
„Du hast es überlebt. -Im Gegensatz zum Alligator.“ Er streckte seine Hand zu Yuri aus und strich ihm über das feuchte Gefieder.
Ja. Und keiner kam um mich zu suchen. -Außer Conor gestern Nacht, beklagte er sich wehleidig. Phelan lachte heiser auf.
„Ich war beschäftigt. Dann flieg einfach nicht mehr in den Sumpf, dann musst du auch keine Alligatoren mehr töten“, scherzte er und kraulte Yuris Hals. Der Vogel streckte sich genüsslich.
Tiefer, mein Herz, tiefer, schnurrte er zufrieden und Phelan begann ihm die Brust zu kraulen.
Noch tiefer, forderte Yuri genüsslich. Phelan lachte auf und nahm die Hand weg.
„Vergiss es, Borondin, ich rubbel dir ganz bestimmt nicht deinen Vogelpimmel.“ Er schnippte ihm leicht gegen den Schnabel. Yuri schnaubte beleidigt.
Und dabei ist der Kleine doch so sexy …, seufzte er Julien in den Kopf. Julien grinste ihn breit an.
Aber wem erzähl ich denn das? Yuri zwinkerte Julien schelmisch zu. Schon angegriffen und gelandet?
Nein. Julien zog es vor, diese Art des Gesprächs auf telepathische Art weiter zuführen.
Warum nicht? So schrecklich ist diese Frisur nun auch wieder nicht. Eigentlich steht sie ihm, finde ich. Er sieht so attraktiv lässig aus, wenn er sich den Pony aus dem Gesicht streicht. Da wäre ich dann immer gerne wieder Mann, schwärmte Yuri versonnen.
Er steht auch nicht auf dich, widersprach Julien und verkniff sich ein triumphierendes Lächeln. Und ich glaub auch nicht wirklich, dass Phelan sich vor dich hinknien würde um sich von dir begatten zu lassen. Er würde eher dich begatten.
Yuri prustete abfällig in Juliens Kopf.
Ach, er würde seine Meinung schnell ändern. Ich würde einfach ihn ein paar Mal mich rammeln lassen und dann würde ich rangehen. Und es würde ihm gefallen. Er wäre der erste, dem es nicht gefällt, wenn ich ihn im stecke, behauptete er gönnerhaft. Julien presste die Kiefer zusammen und rang um Beherrschung. Er würde sich jetzt nicht vorstellen, wie der Mann Yuri mit Phelan vögelte. Zum einen, weil es ein völlig abwegiger Gedanke war, dass Phelan sich vor einen anderen Mann knien würde und zum anderen … Zum anderen, weil er schlichtweg nicht darüber nachdenken wollte. Eifersucht kroch in Julien hoch und er zwang sie hartnäckig wieder hinunter in die Tiefe, aus der sie gekrabbelt war.
Conor bellte und unterbrach das Gespräch. Julien war ihm äußerst dankbar dafür. Er hätte sonst womöglich noch etwas gesagt, was er später vielleicht bereut hätte.
„Nein, Con, ich werde den Alligator nicht suchen. Wahrscheinlich wurde er schon längst von anderen gefressen“, wehrte Phelan entschieden ab. Conor prustete. Er klang dabei ein wenig wie das Wesen Gollum in Peter Jacksons Verfilmung von Der Herr der Ringe stellte Julien belustigt fest.
„Grund Gütiger, wie alt bist du eigentlich?“ Phelan schüttelte ungläubig den Kopf und sah zu Julien.
„Ich glaub es nicht. Er will mit Yuri in den Sumpf um diesen vermaledeiten Alligator zu suchen. Kannst du es glauben?“ Er deutete mit seiner Gabel auf Conor, der hinter ihm saß und zufrieden hechelte. Julien hob lachend die Augenbrauen.
„Okay …“, sagte er gedehnt. „Lass ihn doch. Er ist ja schon ein großer Wolf und außerdem fliegt ja auch noch Yuri, die Killerkralle, mit.“
„Glaubst du, ich könnte es ihm ernsthaft verbieten? Er würde so oder so gehen, ob mit oder ohne meine Zustimmung. Er kann sich nur abschminken, dass ich mit durch den Morast wate“, Phelan widmete sich wieder seinem Essen. Julien sah zu Conor, der immer noch hechelte.
„Ich geh nicht mit. Zu viel Wasser“, wehrte er sofort ab und schüttelte sich allein bei dem Gedanken, durch den Sumpf zu laufen. Er war kein Freund von Wasser. Er hasste es regelrecht. Es war nass und man fühlte sich sofort klamm, wenn man in Kleidern damit in Berührung kam und überhaupt … Er schüttelte sich ein zweites Mal.
„Dann müsst ihr wohl oder übel allein gehen. -Lasst euch aber nicht fressen. Auch Alligatoren haben ein Recht auf Leben und ich glaube nicht, dass es den Umweltschützer gefallen wird, wenn ihr die gesamte Population ausrottet, nur weil ihr euch von jedem zweiten Alligator fressen lasst“, ulkte Phelan mit einem spöttischen Seitenblick auf Yuri. Der putzte sich nur sein Gefieder. Julien stupste ihn mit dem Zeigefinger an und lachte, als der große Rabe beinahe in Phelans Teller kippte. Yuri krähte empört und schnappte nach Juliens Finger.
„Hast du gehört, Yuri, kein orales Stelldichein mehr mit Reptilien“, witzelte er kichernd. Der Vogel nahm Angriff auf Juliens Hand und schnappte mit seinem scharfen Schnabel danach.
„Du musst deine abartigen Sexspielereien eindeutig in andere Bahnen lenken.“ Julien brachte seine Hand außer Reichweite des Schnabels und lachte herzhaft. Amy schlug ein Geschirrtuch vor den Mund um ihr Kichern zu verdecken und drehte sich hastig zum Fenster. Selbst Phelan stieß ein belustigtes Glucksen aus. Yuri krächzte erneut und flatterte von der Theke. Immer noch lautstark krächzend hüpfte er zu Conor. Julien beobachtete die beiden bei ihrer stummen Unterhaltung.
„Sie gehen jetzt in den Sumpf. Und wir sollen uns keine Sorgen machen, sie werden nicht zu viele von den Biestern töten“, teilte Phelan Amy und Julien mit. Beiden nickten zustimmend.
„Verirrt euch nicht“, bat Amy und strich beiden über die Köpfe.
„Conor sagt ‚I wo, er kennt sich im Sumpf besser aus als in seiner Hosentasche, du musst dir keine Sorgen machen.‘ Und sie bringen uns auch Souvenirs mit.“ Phelan sah den beiden nach, wie sie durch die angelehnte Hintertür aus der Küche trabten.
„Was er nur an diesem Morast so mag ist mir schleierhaft“, murmelte Phelan in seinen nicht mehr vorhandenen Bart und vernichtete den Rest seines Frühstücks. Julien konnte ihm da nur beipflichten.
Wenn man es genau betrachtete, war es weniger Phelan, der ihm Disziplin beibrachte, sondern Amy. Wurde der erste Großputz in der Villa noch von professionellen Reinigungskräften erledigt, zwang sie ihn mit unnachgiebiger Strenge, selbst für seine Wäsche zu sorgen und auch mal den Staubsauger in die Hand zu nehmen. Sie ließ nicht einmal seinen Protest gelten, dass er als einziger nur Gläser und Tassen benutzen würde, um sich vor dem Spülmaschinendienst zu drücken. Drei Wochen nach seinem Einzug in die Villa fühlte sich Julien wie eine in Armani und Dior gekleidete Haushaltshilfe. Er hatte Waschdienst, Spüldienst, Putzdienst und nur der Tatsache, dass er nicht ins Sonnenlicht konnte war zu verdanken, dass er nicht auch noch den Rasen mähen musste. Und auch der Einwand, dass Phelan bestimmt genug Geld hatte, um sich Angestellte leisten zu können, prallten an Amy ab.
Immerhin verbrachte er so recht viel Zeit mit Phelan und so langsam taute dieser immer mehr auf. Mittlerweile hatten die beiden sogar so etwas wie ein tägliches Ritual. Es handelte sich zwar nur ums allabendliche Kaffeekochen, was Phelan auch für Julien übernehmen musste, da dieser immer noch auf Kriegsfuß mit der alten Kaffeemaschine stand, aber für Julien war es etwas Besonderes. Es lief jeden Tag nach der Dämmerung nach demselben Schema ab. Julien drückte immer die gleichen Knöpfe ohne etwas zu bewirken, dann kam Phelan, stieß ihn mit der Hüfte weg und brühte ihm Kaffee auf. Während sie darauf warteten, dass die Tasse gefüllt wurde, blieben sie Hüfte an Hüfte stehen um dann zusammen zu den Barhockern zu gehen. Julien wusste nicht, ob diese Berührung Phelan etwas bedeutete, Julien allerdings bedeutete sie sehr viel.
An diesem Morgen würde sich allerdings alles ändern. Julien wartete wie jeden Morgen an der Kaffeemaschine auf Phelan, dieses Mal jedoch standen drei Kaffeetassen bereit und eigentlich hatte er keine Lust auf dieses Ritual. Er drehte sich nicht um, als Phelan in Amys Begleitung die Küche betrat. Phelan stellte sich neben ihn, schob ihn sanft beiseite und brühte Kaffee für drei. Julien nahm die Tassen in die Hand und wandte sich zu Amy; die sich schon auf einen Hocker gesetzt hatte. Sie verdrehte die Augen.
„Grund Güter, Jungs! Zieht nicht solche Gesichter, es geht nicht die Welt unter, ich fliege nur wieder nach Hause!“, tadelte sie leicht genervt. Seit zwei Tagen schlichen die beiden um sie herum, mit Trauermienen, die einen glauben ließen, es sei jemand gestorben.
„Ich kann nicht ewig hier bleiben. Ich habe eine Arbeit und zu der muss ich wieder zurück. Außerdem kann ich schlecht zulassen, dass mein Mann und mein Sohn in ihrem Saustall verrotten! Danke, mein Schatz.“ Sie schenkte Julien ein fröhliches Lächeln, als dieser eine Tasse vor ihr auf den Tisch stellte, welches er kläglich erwiderte.
„Und wenn wir in einem Saustall verrotten, kommst du dann wieder um uns zu retten?“, fragte Julien hoffnungsvoll. Sie verdrehte wieder die Augen.
„Also ehrlich jetzt. Macht es mir nicht so schwer, bitte. Ich würde gerne noch länger hierbleiben, keiner weiß das besser als Phelan, aber ihr seid doch nicht allein. Ihr habt doch noch euch. -Und die zwei anderen.“ Sie schenkte Julien ein mütterliches Lächeln und griff nach seiner Hand. Julien seufzte herzhaft. Der Gedanke, dass Amy sie in weniger als zwei Stunden verlassen und zurück nach Irland fliegen würde, schnürte ihm die Brust zu. Er konnte es sich einfach nicht vorstellen, wie es hier ohne Amy sein würde. Ohne ihr Lachen und ihre Kommandos. Sie war ihm so sehr ans Herz gewachsen, dass er glaubte, sie schon seit Ewigkeiten zu kennen, nicht erst seit wenigen Wochen.
„Ihr fahrt mich nachher einfach zum Flughafen und geht danach irgendwo in einen eurer Clubs und besauft euch. Was haltet ihr davon?“, schlug sie vor. Julien zuckte nur mit den Schultern.
„Phelan, war Julien schon mal mit dir im Loup?“, fragte sie.
„Nein. Wir waren bisher nur das eine Mal aus. Aber das könnten wir machen“, stimmte er zu, jedoch fehlte in seiner Stimme jegliche Begeisterung. Amy verdrehte zum dritten Mal die Augen, dieses Mal demonstrativ.
„Hört auf damit. Sonst komm ich nie wieder“, drohte sie und ihrer Stimme schwang ein leicht genervter Unterton mit. Phelan fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und seufzte.
„Tut mir leid, Ames“, murmelte er leise.
„Wir bringen dich nachher zum Flughafen und fahren dann ins Loup und betrinken uns auf dein Wohl und einen guten Heimflug. Okay?“ Er stieß die Luft aus und sah sie um Zustimmung suchend an.
„Guter Junge. Das macht ihr.“
Dreieinhalb Stunden später saßen die beiden in Phelans Nachtclub Loup und nippten gedankenverloren an ihren Gläsern mit Whiskey. Trotz seiner Frustration kam Julien nicht umhin, sich den Partyraum genau anzusehen. Er war das erste Mal hier, er hatte bisher nie auf der Gästeliste gestanden. Ein Umstand, den er mal mit Phelan ausdiskutieren musste, wenn auch nicht jetzt sofort.
Das Loup wurde amtlich als Nachtclub geführt. In Wahrheit war es allerdings nichts anderes als ein sehr gutes und nobles Edelbordell in dem man für gutes Geld die schönsten und willigsten Frauen und Männer haben konnte. Zu den offiziellen Öffnungszeiten tanzten spärlich bekleidete Tänzerinnen und Tänzer auf den Tischen und die Mitarbeiter waren ordnungsgemäß bekleidet. Die äußerst geschickt versteckten Séparées wurden nur von denen gefunden, die wussten, wo sie danach suchen mussten und noch kein Beamter der Sittenbehörde hatte sie je entdeckt. Die Einrichtung war elegant und noch aus den zwanziger Jahren mit abgedunkelten Nischen in denen man direkt an den Tischen die Beleuchtung regeln konnte. Die lange Tanztheke zog sich verschlungen wie ein Labyrinth durch den ganzen Raum und wurde durch den aus milchigem Glas bestehenden Boden in warmen Gold und Kupfertönen beleuchtet. Es gab keinerlei Ausschweifungen oder illegale Angestellte, nur Lifejazz- oder Bluesmusik an manchen Abenden oder Schlangentänzerinnen. Alles in allem gab es keinen Grund für extra angesetzte Razzien oder unangemeldete Kontrollen. Und so, wie er Phelan noch von früher kannte, trugen aller Wahrscheinlichkeit nach auch noch gesalzene Bestechungsgelder dazu bei, dass man den Club in Ruhe ließ.
Sobald der Club allerdings für die Allgemeinheit geschlossen hatte und nur noch ausgewählte Stammgäste zugegen waren, zeigte er sein wahres Gesicht. Die Tänzerinnen und Tänzer verloren völlig ihre Kleidung und aus den Bedienungen wurde das, was sie waren; Prostituierte, die halbnackt oder nackt ihre Dienste außer dem Servieren der Getränke anboten. Darüber hinaus gab es in loser Reihenfolge bestimmte Events präsentiert um die allgemeine Nachfrage zu erhalten.
Sie saßen in einer Nische mit Dämmerbeleuchtung, die den besten Blick auf die Tanzbühne und den Raum hatte und tranken irischen Whiskey aus dem Braedental.
„Ich habe hier eine Schlangentänzerin, die nur nach der Sperrstunde auftritt, was die mit ihren Schlangen treibt, grenzt schon fast an Zoophilie. Wenn sie hier tanzt, dauert es nicht wirklich lange, und die Lichter der Logen werden fast alle gedimmt“, Phelan nippte schmunzelnd an seinem Glas. Julien hob die Augenbrauen. Das klang interessant.
„Dann gibt es da noch die Live-und-auf-der-Bühne-Nacht und die heißbeliebte Dollarnacht“, fuhr Phelan fort.
„Also was Live-und-auf-der-Bühne bedeutet kann ich mir sehr gut vorstellen. Aber was bedeutet Dollarnacht?“, wandte Julien ein. Phelan grinste kurz.
„Oh, nein. Das wird nicht erzählt, das wird gezeigt“, wehrte er ab. Julien schnaubte und ließ sich in das weiche Polster fallen.
„Das glaub ich jetzt aber nicht, oder? Erst machst du mir mit solchen Aussagen den Mund wässrig und jetzt kommst du mit, Oh, nein, das erzählt man nicht, das zeigt man. Das ist ziemlich scheiße von dir“, maulte er und leerte sein Glas mit einem großen frustrierten Zug. Phelan lachte leise auf.
„Das machst du nur, weil du ganz genau weißt, dass ich jetzt vor Neugier fast umkomme. Du bist einfach nur ein scheiß Sadist.“ Julien sah sich suchend nach einer Kellnerin um, fand sie und winkte sie her. Sie war eine Augenweide, mit festen großen Brüsten, die von einem hauchdünnen Nichts von Bandeautop bedeckt waren, einer schlanken Taille und sexy runden Hüften mit einem runden festen Hintern. Sie trug einen Minirock, der eher unter die Rubrik „breiter Gürtel“ fiel und so eng saß, der er mehr zeigte als verdeckte. Julien biss sich genüsslich auf die Unterlippe und bestellte eine Flasche Whiskey und Eis. Als sie zurück zur Bar ging, mit einem unheimlich antörnenden Hüftschwung, konnte er sich einen Ton der Begeisterung nicht verkneifen.
„Deine Leute hier sind heiß“, stellte er fest. Phelan grinste breit und beugte sich zu Julien vor.
„Das will ich auch schwer hoffen, immerhin verdiene ich durch sie mein Geld“, scherzte er augenzwinkernd.
„Und glaub mir, sie sehen nicht nur heiß aus, sie können auch Dinge mit dir machen…“ Phelan ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen und grinste verschwörerisch.
„Das glaub ich dir sogar ohne Selbsttest“, witzelte Julien anzüglich.
„Und die machen bei der Dollarnacht auch mit?“, startete er einen Versuch, doch mehr über diese mysteriöse Veranstaltung herauszufinden.
„Netter Versuch. Okay, pass auf, ich check mal schnell was ab und komm gleich wieder, ja? Lass dich solange von meinen Angestellten inspirieren“, schlug er vor, erhob sich und schlenderte durch den Raum. Julien sah ihm gedankenverloren nach und bemerkte, dass ihm die meisten seiner Gäste nachsahen, fast alle mit eindeutig zweideutigen Hintergedanken. Er schüttelte grinsend den Kopf. Und dieser Kerl lief blind und taub durch die Welt und bemerkte die Reaktionen, die er hervorrief nicht einmal.
Julien tat, was Phelan ihm geheißen hatte, ließ seinen Blick durch den Club schweifen und musterte Phelans Angestellte. Die Männer waren alle ausnahmslos groß, durchtrainiert und hatten makellose Gesichtszüge. Sie trugen knappe und enge Short die nichts, aber wirklich gar nichts der Phantasie überließen. Und sie waren ausnahmslos alle gut bestückt. Die Kellnerinnen waren wohlproportionierte wunderschöne Frauen mit festen Brüsten und runden Hinterteilen. Und durchweg alle Angestellten hier waren Prostituierte. Julien wusste schon lange, dass Phelan sein Geld mit Bordellen verdiente. Er hatte in jeder Metropole dieser Welt einen dieser als Nachtclub getarnten Bordelle stehen. Und es hatte über zweihundert Jahre gedauert, bis Julien endlich einen Fuß in einen von ihnen setzen konnte. Er ließ noch mal den Blick über den Raum schweifen.
Er mochte diese altmodische Eleganz dieses Ladens. Es gab dem ganzen wirklich das Flair eines achtbaren Nachtclubs, der einfach nur ein wenig Retro-Atmosphäre versprühte. Wenn da nicht die extrem leicht bekleideten Bedienungen wären. Die trübten das Bild eines Nachtclubs der Zwanziger Jahre beträchtlich. Aber wer lockte schon zahlkräftige Kundschaft in so einen Laden, wenn die Angestellten Kleidung aus den Zwanzigern trugen? In der heutigen Zeit galt das Motto Sex Sells mehr denn je, also musste er seinen Sex ja irgendwie verkaufen. Und nach dem, was Julien über diese Läden hier gehört hatte, verkaufte sich der Sex nicht nur verdammt gut, es war auch verdammt guter käuflicher Sex. Vielleicht sollte er mal einen probieren.
Er entdeckte Phelan, der in einer kleinen Gruppe von sechs Männern und Frauen stand und lächelte. Dieser Kerl war sich einfach nicht bewusst, welche Anziehungskraft er hatte. Obwohl es den Anschein hatte, dass es ein ernstes Gespräch war, waren vier von den Beteiligten eindeutig auf Balzkurs. Eine der Frauen strich sich immer wieder in einer eindeutigen Geste durch die Haare und schob sie weg, dass ihr Hals frei lag, während einer der Männer sich bemühte, besonders lässig zu sein und seine Bauchmuskeln anspannte. Julien kicherte leise. Und es war so was von umsonst. Die ganzen Versuche, diskret Phelans Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, waren völlig für die Katz. Er bemerkte es nicht einmal, als er direkt mit der Frau sprach, die beinahe schon verzweifelt um ihn buhlte. Phelan beendete das Gespräch, klopfte einem der Männer kameradschaftlich auf die Schulter und bahnte sich seinen Weg zurück zum Platz. Julien biss sich auf die Unterlippe, als Phelan mit seiner ihm völlig eigener Eleganz, die so viel Kraft ausstrahlte, auf ihn zukam. Phelan hatte abgenommen, stellte Julien fest. Er hatte an Muskelmasse verloren, war nicht mehr ganz so durchtrainiert wie einst, aber es gefiel ihm. Phelan brauchte diese ganzen Muskeln von früher nicht mehr, er musste keine Rüstung mehr tragen. Julien seufzte verhalten, während er Phelan dabei beobachtete, wie er auf ihn zukam. Würde dieser Kerl nur öfter Anzüge tragen und nicht wie sonst, alte Jeans und Langarmshirts. Nicht, dass dieses beinahe schon schlampige Outfit dem Wolf nicht stehen würde, die Jeans saßen so perfekt, dass sie Phelans kräftige Beine und den festen Hintern hervorragend betonten und die eng anliegenden Langarmshirts unterstrichen jeden von Phelans Muskeln und betonten die breite, starke Brust, aber in diesem Anzug, mit dem grauen Hemd, von dem die beiden obersten Knöpfe offen waren, sah dieser Mistkerl einfach nur sexy aus. Sogar mit dieser seltsamen Frisur, bei der seine nachtschwarzen Haare schon beinahe auf die Schultern aufstießen. Und wenn Phelan nachlässig seinen viel zu langen Pony aus dem Gesicht strich, konnte Julien schon beinahe hören, wie Männer und Frauen in dessen Nähe verhalten seufzen. Er gehörte ja beinahe auch dazu.
„Hey, wieder da?“, grüßte Julien, als sich Phelan neben ihn auf die Sitzbank warf.
„Ja“, sagte er und schüttelte den Kopf. Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah er Julien an.
„Mein Geschäftsführer hat mit gerade erzählt, dass gestern Nacht ein Vampir nur zwei Straßen weg von hier umgebracht worden ist“, erzählte er und nahm einen Schluck aus seinem Glas.
„Oh. Was ist passiert?“, fragte Julien.
„Ihm wurde das Herz herausgerissen. Ein Wolf, der in dem Haus, das an der Gasse grenzt, seinen Laden hat, hat ihn heute Morgen gefunden, als er den Müll wegbringen wollte. Er hat den Rudelführer von New Orleans angerufen und der hat dann Allister Nemours angerufen, und der kümmert sich wohl im Moment darum“, fuhr Phelan fort. Julien schnitt eine Grimasse. Er mochte Allister Nemours nicht. Allister Nemours war ein Großkotz und Aufschneider. Und darüber hinaus war er der Clanführer der Vampire in New Orleans. In den Staaten hatte jede größere Stadt ein Werrudel und einen Vampirclan, die dafür sorgten, dass ihresgleichen dort unbehelligt leben konnten. Sie hatten die richtigen Verbindungen für alle Arten von offiziellen Papieren und sie kümmerten sich darum, dass manche Dinge nicht ans Licht der Öffentlichkeit gerieten. Meist war es mit unzähligen Streitereien zwischen Rudel und Clan verbunden. In den Staaten waren sich Vampire und Wermenschen immer noch sich selbst die nächsten. In der alten Welt gab es in jeder größeren Stadt entweder ein Rudel oder einen Clan und dieser unterstand zu neunzig Prozent dem Großen Rat. Sie taten genau dasselbe, sich um Papiere und Lebensläufe kümmern, Vampir- oder Werangelegenheiten diskret im Stillen regeln. Und wenn es sich nicht mehr im Stillen regeln ließ, dann kam der Rat hinzu. Und der regelte dann. Es hatte Zeiten gegeben, da war es in der alten Welt schon mal vorgekommen, dass ein ganzes Dorf ausgelöscht wurde. Der Große Rat war nicht nur gegründet worden, um die drei großen Völker der Vampire, Wermenschen und Weisen -Zauberer und Hexen- zu einen und das Blutvergießen innerhalb diesen zu vermeiden, er war gegründet worden, um ihre Existenz vor den Augen der Menschlingen geheim zu halten. Phelans Großvater Raghnall O’Braeden und Juliens Vater, Dashiell Delano waren die Ratsältesten und diejenigen, die vor langer Zeit aus losen Bündnissen eben diesen Rat geschmiedet hatten.
Hier in den Staaten hatte der Rat nicht so viel Macht wie auf der anderen Seite des großen Ozeans, hier regelten die ansässigen Clan- und Rudelführer solche Angelegenheiten meist für sich.
„Was hast du?“, hakte Phelan nach, als Juliens Miene sich verdüsterte.
„Ich kann Nemours nicht ausstehen. Er hat nichts, er kann nichts und ausgerechnet so was will mir sagen, wie ich mich zu verhalten habe.“ Julien schnaubte, schraubte die gebrachte Whiskeyflasche auf und goss sich einen doppelten Whiskey ein.
„Wissen sie schon, wer es ist?“, hakte Julien nach. Phelan schüttelte verneinend den Kopf.
„Nein, aber Charles“, er deutete mit seinem Glas in der Hand auf den Wolf, der vorhin so tapfer seine Bauchmuskeln angespannt hatte, „sagt, er hat gehört, dass es sich wohl um einen Einzelgänger gehandelt hat.“
Julien nagte nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. Das erschwerte die Suche nach der Identität des Toten etwas. Einzelgänger gehörten keinem Clan oder Rudel an, von dem sie geschützt wurden. Was auch hieß, sie waren anonyme Gestalten, die am Rande ihrer Gesellschaft lebten, ohne dass diese von Ihnen groß Notiz nahm. Irgendetwas an New Orleans zog eben diese Einzelgänger magisch an, denn in dieser Stadt schwirrten fast drei Mal so viele davon durch die Straßen als an jeder anderen Stadt dieser Welt. Vielleicht lag es am Flair der Stadt, oder am Sumpf, in dem man sich zur Not verstecken konnte, falls nötig.
„Vielleicht ein Streit“, meinte er. Phelan zuckte mit den Schultern.
„Wer weiß. Ist nicht mein Problem. Soll sich Nemours drum kümmern. Da es ein toter Beißer ist, ist es sein Job, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Hauptsache, er hält sich bedeckt.“ Phelan hielt Julien sein leeres Glas hin, damit dieser es ihm auffüllte. Julien tat ihm den Gefallen.
„Das ist, was mich noch so an dem Kerl stört. Dieser demonstrative Pseudorassismus“, knurrte er missmutig.
„Ah. Deshalb steht er nicht auf deiner Gästeliste“, bemerkte Phelan mit spöttisch funkelnden Augen. Julien stieß einen genervten Ton aus.
„Auch. Und weil ich ihn nicht ausstehen kann.“ Er grinste boshaft.
„Was ist mit Burging? Kannst du den auch nicht ausstehen?“, hakte Phelan nach. Julien zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Mit dem hatte ich noch nichts zu tun. Hab ihn erst ein oder zwei Mal gesehen. Steht übrigens auch nicht auf meiner Liste vom Club.“ Er grinste wieder breit.
„Du stehst jetzt allerdings drauf“, fügte leicht gönnerhaft hinzu. Phelan deutete eine leichte Verbeugung an.
„Und du und Burging? Seit ihr schon aneinander geraten?“, wollte Julien wissen. Phelan lachte auf.
„Was glaubst du?“, fragte er mit funkelnden Augen.
„Ich kann’s mir denken, aber ich will’s dringend von dir hören“, bat Julien voller Vorfreude. Er kannte Phelan und er hatte einiges von Frederick Burging, dem Rudelführer der Werwölfe von New Orleans gehört und er konnte die Geschichte jetzt kaum erwarten.
„Er kam vorbei nachdem wir drei Wochen in der Stadt waren. Ich habe keine Ahnung was für einen Deal er mit meinem Onkel hatte, als der noch gelebt hat. Jedenfalls stand er drei Wochen nach unserem Einzug mit seinen vier Bodyguards unten am Tor und forderte Eintritt. Ich hab ihn rein gelassen und da stand er dann vor mir, wie eine schlechte Imitation von Marlon Brando in der Pate …“ begann Phelan zu erzählen. Julien lachte auf.
„Wann genau war das?“, wollte er wissen.
„Neunzehnhundertfünfundsechzig. -Also konnte Burging nicht wissen, dass er Marlon Brando schlecht imitierte. Egal, jedenfalls stand er da mit seinen vier Schoßhunden und meinte, dass ich offensichtlich etwas sehr wertvolles in diesem Haus beherbergen würde, und er mir sehr gerne dabei helfen würde, es auch weiterhin in Sicherheit beherbergen zu können. Ich würde ja wissen, was mit meinem Vorgänger geschehen sei.“
Frederick Burging war ein großgewachsener Mann, mit harten nicht wirklich attraktiven Gesichtszügen der sein Rudel mit eiserner Hand schon beinahe diktatorisch führte. Er bestimmte und wer seinen Befehlen Widerstand leistete, wurde recht schnell eines Besseren belehrt. Meistens mit roher Gewalt. Trotzdem kam auch er nicht gegen den Strom Einzelgänger an, die sich in seiner Stadt einnisteten. Von diesen knöpfte er so gut es ging, zumindest Schutzgelder ab. Ganz im Stil der Mafia.
Im Sommer Neunzehnhundertfünfundsechzig, drei Wochen nachdem Raghnall seinen Enkelsohn zum neuen Bibliothekar ernannt hatte -den Grund dafür wusste nur er allein- stand Frederick Burging mit vier seiner stärksten und kampferprobtesten Wölfe vor der Tür von Fáelán vom Braeden, dessen Laune zu der Zeit alles andere als gut gewesen war. Erst hatte er Amy ziehen lassen müssen, dann hatte sein Großvater ihn nach New Orleans ins Exil gesteckt, wo er auf eine Ansammlung alter Bücher achtgeben musste. Wollte er rennen, musste er durch Matsch und Morast waten. Und als Krönung des Ganzen bekam er auch noch Besuch von jemandem, der sich als selbsternannter König der Wölfe sah und es wagte, ihm dreist ins Gesicht zu drohen, sollte Phelan sich nicht einsichtig zeigen und ihm Schutzgeld zahlen. Phelan wägte exakte drei Sekunden ab, ob es sich lohnen würde, sich mit diesem Kerl anzulegen und beschloss, dass es das tat. Mit dem eisigsten Lächeln auf den Lippen, das er hervorbringen konnte, erklärte er dem König der New Orleans-Wölfe, dass dieser sich seine Drohung in den Allerwertesten schieben könnte und wenn er ihm in die Quere kommen würde, würden ihm auch seine vier Pseudo-Prätorianer nicht viel helfen können. Burging reagierte genau so, wie Phelan es sich erhofft hatte; er wurde wütend und begann, Phelan offen zu drohen. Und dieser reagierte auf diese Drohung wie er es Zeit seines Lebens getan hatte: Er nahm die Drohung an und forderte Burging auf, doch mit ihm Kräfte zu messen, und wenn dieser wollte, würde Phelan auch gerne gegen seine vier Leibwächter antreten. Burging machte aus dieser offenen Kampfansage ein Spektakel vor seinem gesamten Rudel. Phelan prügelte zwei der vier Leibwächter beinahe in ihren endgültigen Tod und schob danach Burgings Gesicht einmal quer durch seinen Vorgarten. Seitdem hatte Phelan seine Ruhe und den Hass des Rudelführers von New Orleans sicher. Wenn sich die beiden auf der Straße begegneten, wechselte Frederick Burging meistens die Straßenseite.
Julien lachte laut und herzhaft.
„Allerdings war ich so nett und habe ihm eine persönliche Einladung fürs Loup geschickt. Ich bin ja nicht nachtragend. Ich lade ihn zu besonderen Veranstaltungen ein, er bekommt Rabatt und ab und zu mal einen ausgegeben und seine Leute sind hier auch jederzeit willkommen. Manchmal schaut er hier tatsächlich rein, trink ein-zwei Cocktails und hüpft mit einer meiner Mädchen ins Bett. Ein paar seiner höheren Wölfe sind sogar Stammgäste.“ Phelan leerte sein Glas und stellte es auf den Tisch.
„Allister dagegen hat sich trotz meiner Einladung noch nie hier blicken lassen. Tut meinem Umsatz keinen Abbruch“, fügte er schulterzuckend hinzu.
„Oh, und heute wird es leider keine Dollarnacht geben. Nicht genug von den wirklich wichtigen Stammgästen da. Aber wir bekommen Bescheid, wenn es soweit sein sollte“, wechselte er mit leisem Bedauern das Thema. Julien zog eine Flunsch. Jetzt musste er auch noch nächtelang warten, bis er wissen würde, was eine Dollarnacht war.
Juliens Geduld wurde drei lange Nächte auf die Probe gestellt, dann erhielt Phelan einen Anruf von seinem Geschäftsführer, der ihm mitteilte, dass an diesem Abend genug Stammgäste im Club waren und die Stimmung aufgeheizt genug sei, um eine Dollarnacht zu veranstalten.
Phelan sah Julien an, der das Gespräch mitgehört hatte.
„Ich weiß nicht. Mir ist heute nicht so …“, begann er zögernd, doch Julien unterbrach ihn.
„Hör auf damit! Du hast es mir versprochen!“, brauste er auf. Phelan hob die linke Augenbraue.
„Ich kann mich nicht erinnern, dir etwas versprochen zu haben“, widersprach er und verschränkte die Arme vor der Brust. Julien verdrehte entnervt die Augen.
„Du hast mir gesagt, eine Dollarnacht erzählt man nicht, das zeigt man“, entgegnete er schnippisch.
„Und das ist dann für dich gleich ein Versprechen?“, fragte Phelan ungläubig. Julien war kurz davor, ihm an die Gurgel zu gehen. Er war so verdammt neugierig, er platzte gleich und jetzt das!
„Du bist echt so ein…“
Phelan brach in schallendes Gelächter aus und schlug Julien leicht den Telefonhörer gegen die Stirn.
„Ziehen wir uns um und fahren los. Mann, das liebe ich so an dir“, gluckste er belustigt und ging die Treppe nach oben in sein Zimmer. Julien glotzte ihm sprachlos nach.
„Hast du mich verarscht?“, rief er Phelan hinterher. „Du alter Sack hast mich verarscht!“
Julien wollte eigentlich empört klingen, aber das glückliche Grinsen stahl sich wider Willen auf sein Gesicht. Phelan hatte ihn veralbert. Er hatte einen Scherz mit ihm getrieben. Er hatte über ihn gelacht. Julien biss sich fröhlich auf die Unterlippe und hastete Phelan hinterher nach oben.
Es gefällt ihm also doch, dass ich hier bin, jubelte er innerlich. Heute Nacht würde er sexy sein und zwar so sexy, dass es auch Phelan auffallen musste. Julien riss beschwingt die Türen seines Kleiderschranks auf und begutachtete seine Garderobe.
Sind die beiden nicht putzig? Conor kratzte sich inbrünstig hinter seinem Ohr.
Unheimlich. Zum Kotzen putzig, spottete Yuri ätzend. Conors Blick wurde tadelnd.
Was denn? So wie die beiden sich anstellen, ist es eine Schande für jeden Mann!, behauptete der Vogel abfällig.
Männer sehen was sie wollen und erobern es sich. Und schwänzeln nicht wie verliebte Halbwüchsige umeinander herum und schwärmen sich von der Weite aus an. Das, was die beiden hier treiben ist erbärmlich.
Sie haben sich dreihundertsiebenundfünfzig Jahre nicht mehr gesehen. Sie müssen sich erst wieder kennenlernen, erklärte Conor mitfühlend. Yuri prustete verächtlich.
Kennenlernen. PAH! Es reicht völlig, wenn die beiden einmal zusammen in die Kiste hüpfen, dann kennen sie sich schon wieder, versicherte er selbstsicher.
Herrgott, Yuri. Es gibt Dinge auf dieser Welt, die nicht mit Sex gelöst werden können!, entgegnete Conor gereizt. Yuri sah ihn eindringlich an.
Dieses Ding von den beiden schon. Julien sprengt fast seine Hose, wenn er Phelan sieht und der, der kriegt seinen dämlichen verklärten Blick, wenn er meint, Julien sieht es nicht. Was für ein Problem haben die beiden eigentlich mit sich?
Das einfachste Problem dieser Welt: sie haben Angst, zurückgewiesen zu werden, klärte Conor ihn geduldig auf. Yuri seufzte theatralisch. Dann schien sich sein Schnabel zu einem Grinsen zu verziehen. Conor stellte neugierig die Ohren auf.
Naja, wir wissen, dass beide das gleiche wollen, nämlich sich. Dumm nur, dass die beiden das nicht wissen. Wir könnten daher nett sein und es den beiden sagen…, schlug Yuri betont unschuldig vor und sah Conor bedeutungsschwanger an.
Oder?, hakte dieser nach.
Oder wir machen es für uns einfach ein bisschen interessanter.
Schieß los, forderte Conor ihn auf. Yuri hüpfte in den Salon und flog elegant auf die Rückenlehne von Conors Ohrensessel.
Setzt dich, mein lieber Freund, ich habe da so eine Idee…
Es war noch eine knappe Stunde bis zur Sperrstunde und Julien saß neben Phelan in dessen Nische und wartete ungeduldig auf das Schließen des Clubs. Er musste schwer an sich halten, nicht wie ein kleiner Schuljunge auf dem Sitzpolster herum zu rutschen. Phelan grinste ihn von der Seite her an. Julien sah heute umwerfend aus. Aus dem Grinsen wurde ein leicht versonnenes Lächeln. Julien warf Phelan einen Blick zu und dieser räusperte sich verhalten.
„Es ist nicht mehr lange“, versicherte er ihm. Julien verdrehte melodramatisch die Augen und stieß einen leidenden Ton aus.
„Oh, diese Pein“, lamentierte er und legte seine Hand auf die Brust.
„Ich hasse warten“, knurrte er wehleidig.
** „Warum gehst du nicht jagen? Du hast noch eine Stunde totzuschlagen“, schlug Phelan vor. Julien legte kritisch den Kopf schief.
„Bin ich so unerträglich, dass du mich loshaben willst?“, wollte er wissen. Phelan schüttelte lachend den Kopf.
„Da denke ich einmal an dein leibliches Wohl und dann wird mir gleich unterstellt, dass ich dich loswerden will“, tat er entrüstet. Julien schnaubte. Phelan hatte ja Recht. Er könnte wirklich einen kleinen Happen vertragen. Er erhob sich von seinem Platz, kippte den Inhalt seines Glases hinunter und strich seinen Anzug zurecht.
„Dann geh ich mir mal einen kleinen Mitternachtshappen holen.“ Mit knapper Not hielt er sich davon ab, Phelan einen kurzen Kuss zu geben, stattdessen wirbelte er elegant herum und hob zum Abschied die Hand. Phelan sah ihm nach, bis er durch die Hintertür verschwunden war.
Julien liebte die Jagd. Er liebte es, seine Opfer auszuwählen, sie zu verfolgen, sie dorthin zu lenken, wo er mit ihnen ungestört war, ohne dass sie es bemerkten. Er schlenderte die Straße hinunter, die Hände lässig in den Taschen seiner Armani-Anzughose und sondierte die Menschlinge, die noch unterwegs waren.
Auf der anderen Straßenseite stach ihm eine hübsche Blondine ins Auge. Sie war groß gewachsen, mit schmalem Körperbau. Julien tippte auf ein Model. Obwohl, eigentlich war sie nicht dürr genug für ein Model. Ach, was interessierte ihn, womit sein Essen sein Geld verdiente! Er wechselte die Straßenseite, schlenderte ihr entgegen und als er sie passierte, fing er ihren Blick mit seinen grauen Augen auf.
Geh weiter und bieg in die übernächste Gasse ab, sendete er den Befehl in ihre Gedanken. Dann war der Moment vorüber und sie gingen beide weiter. Julien war fast enttäuscht, dass es heute so einfach gegangen war. Er hetzte sein Essen viel lieber noch ein wenig, das Adrenalin versüßte den Geschmack des Blutes. So würde er ihr eben Panik in den Kopf schicken, sobald sie in seinen Armen lag. Er verschwand zwischen zwei Häusern und huschte im Schatten in die Gasse, in die er die Blondine geschickt hatte. Sie wartete brav auf ihn.
„Komm her, meine Schöne und schweig“, säuselte er betörend, hielt ihren Blick gefangen und lockte sie mit einem unheimlich verführerischen Lächeln tiefer in die Dunkelheit.
„Du solltest nicht mit jedem Fremden in unheimliche Gassen gehen“, tadelte er, während er ihre weichen Locken beiseite strich.
„Ich könnte ein Triebtäter sein, der dir die schlimmsten Dinge antut und dich danach am Leben lässt, damit du jeden und jeden einzelnen Tag deines restlichen Lebens daran erinnerst wirst.“ Julien fuhr ihr mit den Fingerspitzen über den schlanken Hals und ertastete ihre Schlagader. Ihr Puls war bei seinen Worten in die Höhe geschnellt. Er lächelte kalt.
„Ich könnte dich mit allem schänden, was hier so herumliegt und du wärst nicht eine Sekunde lang in der Lage, auch nur einen Laut von dir zu geben, um um Hilfe zu rufen.“ Julien hauchte einen Kuss auf ihre erstarrten Wangen. IhrAtem ging hektisch, sie versuchte, einen Ton hervorzubringen, doch kein Laut drang über ihre Lippen.
„Vielleicht werde ich dich mit allem schänden, was hier so herumliegt. Und ich könnte mit dieser Weinflasche dort drüben anfangen.“ Julien legte seine Lippen auf ihre Haut, ihr Puls raste, Angst drang aus jeder ihrer Poren. Julien bleckte die Zähne, dann ritzte er erst ganz sacht mit seinen scharfen Eckzähnen die weiche Haut auf. Der erste Tropfen Blut lief in seinen Mund. Julien beschloss, dass sie gut genug schmeckte und biss zu. Die Blondine stöhnte lautlos auf und verzog vor Schmerzen das Gesicht, als Julien kräftig das Blut aus ihrer Ader saugte, sorgsam darauf bedacht, keinen kostbaren Tropfen davon zu vergeuden. Er würde sie nicht töten, so hungrig war er nicht und, wenn er ganz ehrlich war, dafür schmeckte sie auch nicht gut genug. Julien sättigte sich, dann ließ er von ihrem Hals ab. Er leckte pflichtbewusst über die Bisswunde, die sich augenblicklich verschloss und kurz darauf sogar ganz verschwunden war.
„Weißt du was?“, begann er und wischte sich einen vorwitzigen Blutstropfen vom Mundwinkel.
„Ich werde dich nicht schänden, ich bin keiner, der so etwas hübschen Frauen antut. Du würdest auch freiwillig die Beine für mich breitmachen, wenn ich das wollen würde.“ Er musterte die Blondine von Kopf bis Fuß, die ihn völlig verstört ansah.
„Dafür müsste ich dich nicht einmal manipulieren. Vergiss mich. Vergiss das alles. Vergiss, dass du hier reingelaufen bist und mich getroffen hast“, suggerierte er ihr mit leicht abfälligen Ton.
„Und iss mehr Fleisch. Du hast zu wenig Eiweiß.“ Julien wandte sich von ihr ab und schlenderte zum Ausgang der Gasse.
„Ach, und du kannst wieder Reden“, fügte er noch hinzu, dann bog er ab und war verschwunden.
Die Blondine zwinkerte verwirrt. Wieso zum Teufel stand sie hier in dieser grusligen dunklen Gasse? Sie erschauderte, sah sich nervös um und eilte hastig zur Straße. Sie hatte wohl zu viel Stress in letzter Zeit gehabt, sagte sie sich, während sie ihre Haare zurechtzupfte. Gott, sie brauchte jetzt unbedingt einen Burger! Zielsicher steuerte sie auf das nächste Fastfood-Restaurant zu. Julien sah ihr mit einem schiefen Grinsen im Gesicht nach. Menschlinge, dachte er bei sich. Sie waren so einfach zu manipulieren.
Beschwingt und gesättigt schlenderte er zurück zum Loup.
Er nickte dem Türsteher zu, der ihm bereitwillig die Tür öffnete und spazierte gemütlich in den Clubraum. Mittlerweile war er bis auf die Angestellten und Phelan, der auf einem Barhocker saß und sich mit einem seiner Sicherheitsleute unterhielt, leer. Die Angestellten waren dabei, hastig die Tanztheke und die Tische zu putzen. Julien stellte sich ungefragt neben Phelan.
„Hey“, grüßte er beide. Der Sicherheitsmann nickte ihm freundlich zu und Phelan drehte sich zu ihm um.
„Hey, schon fertig?“, wollte er wissen. Julien nickte mit einem breiten Grinsen und rieb sich wie ein kleines sattes Kind den Bauch. Der Sicherheitsmann lachte laut los.
„Ihr Beißer seit der Hammer!“, gluckste er, klopfte Julien auf die Schulter und verabschiedete sich von ihnen. Julien schenkte ihm sein unschuldigstes Grinsen.
„Wir sind gleich soweit“, klärte Phelan ihn auf und rutschte vom Hocker. Julien hob erwartungsvoll die Augenbrauen.
„Na, worauf warten wir dann? Bring du den Alkohol, ich reservier uns die besten Plätze!“, unkte er und marschierte schnurstracks zurück in Phelans Nische. Keine Minute später gesellte sich Phelan zu ihm, in den Händen hielt er eine Flasche Whiskey und zwei frische Gläser.
„Es geht los“, sagte er und setzte sich. Julien lehnte sich erwartungsvoll vor. Jetzt würde er also eine Dollarnacht erleben. Die Vorfreude ließ ihn leicht unruhig werden.
Dann endlich gab der Geschäftsführer einem der Türsteher ein Zeichen, der verschwand und einige der Gäste kamen durch eine Hintertür wieder zurück. Sie nickten Phelan zu, der das Nicken verschmitzt lächelnd erwiderte. Die Lichter in den Logen gingen wieder an und die Frauen und Männer nahmen Platz. Es waren ausnahmslos Vampire und Wermenschen wie Julien feststellte. Trotz der fehlenden Musik herrschte eine ausgelassene Stimmung, es wurde geredet und gelacht und dann sah Julien, wie ein anderer Türsteher dem Geschäftsführer ein Zeichen gab, dieser gab es an den DJ weiter und plötzlich war der Raum wieder von lauter Musik erfüllt.
Der Geschäftsführer trat auf die Bühne, begrüßte jeden der Anwesenden mit einem freundlichen Nicken und verneigte sich leicht vor Phelan. Julien legte den Kopf schief. Es war ein niedlicher Kerl mit kurzgeschnittenen blonden Locken und fröhlich funkelnden blauen Augen. Er war groß und schlank und wie jeder Mitarbeiter in diesem Laden, äußerst hübsch an zusehen. Er hätte eher irgendwo in eine Strandbar gepasst, als in dieses Etablissement, er wirkte im ersten Moment wie ein kalifornischer Sunnyboy.
„Sehr verehrte Gäste, herzlich willkommen zurück, Ladies und Gentlemen! Ich hoffe, ihr habt genug Bares dabei, um diese Nacht in vollen Zügen genießen zu können.“ Amüsiertes Gelächter hallte durch den Raum. Der Geschäftsführer grinste breit, ein ansteckendes Sunnyboy-Grinsen. „Ich heiße Euch herzlichst willkommen zur Dollarnacht!“ Er machte eine tiefe schwungvolle Verbeugung. Die Gäste johlten und applaudierten ausgelassen.
„Meine Damen und Herren; die Dollarnoten!“, pries er an, dann sprang er elegant von der Bühne. Bedienungen, die nicht mehr trugen als äußerst knappe Stringtangas, balancierten Tabletts in ihren Händen auf denen Pyramiden aus kleinen röhrenförmigen Kapseln standen zu den Gästen und tauschten diese gegen Bargeld aus. Ein Kellner, dessen eng anliegender Tanga im Grunde mehr Preis gab, als er verdeckte, stellte mit einem verführerischen Lächeln ein Tablett auf den Tisch vor Julien und verschwand wieder. Julien griff nach einem der an den Kanten abgerundeten Röhrchen und erkannte, dass es aus durchsichtigem und flexiblem Kunststoff war und sich darin ein zusammengerollter Geldschein befand. Phelan nahm ebenfalls eines der Röhrchen in die Hand und hielt es hoch.
„Für einsfünfzig bekommt man ein Röhrchen in dem jeweils ein Dollar drinsteckt“, begann er zu erklären.
„Das ist ja Wucher!“, unterbrach ihn Julien in gespieltem Entrüsten. Phelan lachte auf und zuckte mit den Schultern.
„Die können es sich alle leisten und ich muss ja auch was daran verdienen, denn der Gewinn, also die Eindollarnoten hier drin, bekommt der oder die, dem du sie gibst. Ich bekomme von dem ganzen Spaß nur die fünfzig Cent“, fuhr Phelan fort und tippte Julien mit dem Röhrchen auf die Nase.
„Du Armer, und was genau mache ich nun mit dem Ding?“, wollte Julien wissen. Phelan sah ihn tadelnd an.
„Du greifst vor! Lass es mich erklären, ich bin stolz auf diese Erfindung, also hör mir jetzt zu! Pass auf: das Material dieser kleinen Kapseln ist aus einem speziell beschichteten Latexkunststoff, absolut neutral und anschmiegsam und äußerst gleitfähig. Bekommen tun es die Tänzer und wie sie es bekommen, kannst du gleich sehen.“ Er lehnte sich zurück und deutete Julien an, dasselbe zu tun. Widerwillig ließ sich Julien wieder in die Kissen sinken. Ein neuer Song begann und Tänzer traten auf die Theke. Julien stieß einen leicht erstaunten Ton aus. Es waren wunderschöne Männer und Frauen mit wohlgeformten Körpern und makellosen Gesichtern und sie waren alle nackt. Phelan grinste breit.
„Oh, wow“, meinte Julien nur.
„Okay, gibt es da jemand, der dir ganz besonders ins Auge sticht?“, fragte Phelan neugierig. Julien ließ seinen Blick über die Tänzer schweifen.
„Dort, die Tänzerin mit den schwarzen Locken und den großen Dingern. Die rasierte“, sagte er schließlich. Phelan nickte und hob die Hand. Die Tänzerin kam mit wippenden Hüften auf die beiden zu und begann, mit aufreizenden Bewegungen vor ihnen zu tanzen. Julien schluckte leicht, als die Frau sich vor ihnen rekelte und streichelte und sich ihnen darbot. Phelan grinste, hob seine Kapsel, die er immer noch in der Hand hielt, in die Höhe, strich dann damit an der Innenseite ihres Oberschenkels hoch zu ihrem Schritt und schob es der Tänzerin schließlich in einer langsamen Bewegung weit hinein. Die Tänzerin warf ihren Kopf in den Nacken und lächelte genüsslich. Julien stieß einen überraschten Ton aus. Phelan drehte sich zu ihm und grinste.
„Wenn dir gefällt, was man dir zeigt, dann belohnst du sie oder ihn damit, indem du ihr oder ihm diese Kapsel reinschiebst. Wenn du möchtest, dass sie oder er etwas anderes tut, als nur tanzen, dann äußerst du einfach deine Wünsche“, erklärte er Julien, streckte sich und flüsterte der Tänzerin etwas ins Ohr. Sie lächelte verführerisch, nickte leicht und begann, sich ausgiebig den Schritt zu streicheln. Phelan griff wieder nach einem Röhrchen und schob es ihr als Belohnung in ihren weit gespreizten Schoß. Julien starrte ihm nach, bis es völlig in ihr verschwunden war. Das war unglaublich. Unglaublich pervers. Er grinste etwas dümmlich.
„Und wie lange macht man es?“, fragte er rau.
„Bis sie voll ist“, antwortete Phelan lachend.
„Bis sie voll ist?“, hakte Julien nach. Das klang ein wenig herablassend, als ob man von einem Glas sprach und nicht von einer Person. Phelan nickte.
„Bis kein Röhrchen mehr hineingeht. Vorne und hinten. Bei den Männern nur hinten, versteht sich. -Na los, nicht so schüchtern. Hier und heute darf nach Herzenslust angefasst und reingesteckt werden. -Und das gilt nicht nur für die Kapseln, wenn du verstehst, was ich meine“, forderte er Julien auf und zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
Julien grinste breit, das war ein Event ganz nach seinem Geschmack, nahm sein Geldröhrchen und strich es in sanft kreisenden Bewegungen über ihren rasierten Schamhügel, hinunter zu ihrem Schritt. Er drückte es leicht gegen ihrer Kitzler, bevor er damit tiefer fuhr und es ihr weit hineinsteckte.
„Ich mag die Dollarnacht“, bemerkte er zufrieden, während er sich ein neues Röhrchen vom Tablett holte und der Tänzerin in die Vagina schob.
Juliens bestes Stück drückte schon leicht gegen den Reißverschluss seiner Hose, als er seine Hand wieder von ihrem Schritt zurückzog, und leicht bedauernd auf ihre prall gefüllte Möse starrte, in der Unmengen an durchsichtigen Latexröhrchen steckten. Er grinste leicht notgeil, nahm eine neue Kapsel vom Tablett und deutete der Tänzerin an, ihm den Hintern entgegenzustrecken. Mit einem willigen Blick drehte sie sich um und begann aufreizend langsam und äußerst anrüchig ihre runden Pobacken zu kneten. Julien grinste breiter und begann, ihre Kehrseite zu befüllen.
„Was passiert, wenn nichts mehr reingeht?“, fragte Julien unzählige Röhrchen später und rieb seinen Finger an dem leicht gedehnten After der Tänzerin.
„Wenn nichts mehr hineingeht ist sie fertig. Normalerweise kommen die Tänzer dann auch nicht mehr auf die Bühne zurück, aber wenn die Stimmung gut ist, dann holen sie die Dinger raus und gehen weitertanzen“, antwortete Phelan und gab einem Kellner ein Zeichen, ihnen ein neues Tablett mit aufgerollten Dollarnoten zu bringen.
„Und wie gut ist die Stimmung heute?“, hakte Julien nach und bohrte ein Röhrchen tief in den Hintern der Tänzerin. Trotz der lauten Musik hörte er ihn genüssliches Stöhnen.
„Heute ist die Stimmung sehr gut. Sie ist bald voll, du solltest dich nach einer neuen umsehen. Oder nach einem, sei frei von falscher Bescheidenheit, die passt hier nicht rein“, antwortete Phelan. Julien nickte, holte tief Luft um seine Erregung ein wenig in den Griff zu kriegen und begann, die Tänzerin dabei zu fingern, wenn er ihr eine Dollarkapsel in den After schob. Am liebsten würde er sie jetzt ficken, stellte er fest, als er ihr ein weiteres Röhrchen in den Hintern drückte.
„Gibt es irgendwelche Regeln, die ich beachten muss?“, fragte er leicht atemlos.
„Alles, was den Tänzer gefällt, ist erlaubt. Auch sie zu vögeln. Allerdings sind bei diesem Event die Séparées geschlossen“, antwortete Phelan mit falschem Bedauern.
„Gott, bist du ein pervers veranlagter Boss“, stellte Julien fest. Phelan zuckte nur mit den Schultern.
„Du glaubst gar nicht, was so ein Live-Fick die Stimmung anheizt. Ich denke nur an die Zufriedenheit meiner Gäste. Und auch ein bisschen an das Geschäft, natürlich“, behauptete er großherzig. Julien lachte auf. Natürlich tat der große alte Wolf das und in New Orleans fiel im Sommer Gras vom Himmel. Und keiner kam auf die Idee, dass es hier vor allem darum ging, dass die Gäste hier kleine Vermögen liegen ließen um selbiges von Phelan zu vergrößern. Julien hatte gehört, dass sein Freund einer der wohlbetuchtesten Bewohner dieser Stadt war. Naja, genaugenommen hatte er das über den Besitzer des Clubs gehört, damals hatte er nicht gewusst, dass es sich dabei um Phelan handelte, aber er schweifte ab und bei diesem Event war das beinahe schon sträflich. Er konzentrierte sich wieder auf seine Tänzerin auf der Bühne.
„Und, fickst du auch mit?“, hakte Julien nach und stellte mit Bedauern fest, dass seine Tänzerin kein weiteres Röhrchen mehr in sich aufnehmen konnte. Sie drehte sich zu ihm, gab ihm einen heißen Zungenkuss und ließ sich dann von einem der Türsteher von der Theke nach hinten tragen.
„Oh, nein, ich bin eher ein Voyeur“, gestand Phelan ungeniert und zündete sich eine Zigarette an. „Wen möchtest du jetzt haben?“, wechselte er das Thema.
Julien sah sich auf der Tanztheke um und entdeckte einen jungen Tänzer mit blonden Engelslocken und einem Gesicht, das einen zum Schwärmen brachte. Er war mit einem so prächtigen Schwanz ausgestattet, bei dem selbst die meisten Pornodarsteller vor Neid erblassen würden. Julien zumindest tat es ein wenig und er war selten neidisch auf die Bestückung anderer Männer.
„Den da“, verlangte er und zeigte mit dem Finger auf ihn. Der junge Tänzer sah in Juliens Richtung, lächelte hinreißend anrüchig und stolzierte zu ihm.
Mit halb geschlossenen Augen und einem lasziven Lächeln begann der Tänzer leicht mit den Hüften zu wackeln und sich langsam die wohl gebaute Brust und den Bauch zu streicheln. Julien grinste leicht debil und nickte zustimmend. Das gefiel ihm. Die Hände des Tänzers wanderten von seinem Bauch über seine Lenden zu den Oberschenkeln, die er weit spreizte und schließlich begann er ausgiebig seinen Schwanz zu kraulen und zu kneten. Julien gab einen anerkennenden Ton von sich, während er dabei zusah, wie es sich der Tänzer selbst besorgte. Als sein bestes Stück steil und hart nach oben ragte, nahm er seine Hände von ihm, tanzte so nah es ging an Julien heran und ließ seine Hüften aufreizend kreisen, während er sich im Rhythmus der wuchtigen Bässe umdrehte und ihm seinen Hintern entgegenstreckte. Beinahe bedächtig begann er seine Pobacken zu kneten und sie auseinander zu ziehen und Julien sein After anzupreisen. Fast sofort schob dieser eine der Dollarkapseln tief hinein und seufzte fast wehmütig. Phelan verkniff sich ein Grinsen und ließ den Blick schweifen. Seine Gäste waren ausnahmslos mit seinen Tänzern beschäftigt, einige sogar schon mit sich selbst. Jetzt gönnte er sich ein breites Grinsen und sein Unternehmerherz schlug vor Freude. Wenn es so weiter ging, würde es eine sehr ertragreiche Nacht werden. Neben ihm gab Julien seltsame Töne von sich, die von steigender Erregung zeugten, während er Röhrchen für Röhrchen im Hintern des blonden Tänzers verschwinden ließ. Schließlich hatte Julien auch diesen Tänzer gefüllt, einen äußerst stürmischen Kuss dafür bekommen und er stürzte sich wie ein ausgehungerter Löwe auf sein Whiskeyglas. Mit einem kräftigen Zug kippte er den Alkohol hinunter und zeigte einer Kellnerin an, ihm ein Glas mit irgendeinem Cocktail zu bringen.
„Oh, Mann, ich brauch eine Pause, sonst versau ich mir meine Calvin Kleins.“ Julien warf sich nach hinten in die Kissen der Lehne.
„Scheiße, bist du auch so geil?“, wollte er wissen und stieß verhalten auf. Phelan schüttelte verneinend den Kopf.
„Nein. Sollte ich?“, fragte er amüsiert. Julien schnitt ihm eine Grimasse.
„Ja, klar. Als ob dich das nicht antörnen würde“, erwiderte er spöttisch. Phelan lachte auf.
„Tut es nicht“, wiederholte er ernst. Julien prustete, lehnte sich zur Seite und griff beherzt in Phelans Schritt.
„Das ist ja wohl nicht wahr!“, rief er regelrecht entsetzt. „Da werden dir die heißesten Mösen und Ärsche auf dem Silbertablett präsentiert und du hast nicht mal einen Steifen! Was ist los mit dir? Hast du im Laufe der Zeit vergessen, wozu man das Ding sonst noch benutzt, außer zum Pissen?“
Im nächsten Moment erstarrte er. Jetzt war er garantiert zu weit gegangen. Doch entgegen Juliens Befürchtung, dass Phelan ihm diese Aussage übel nehmen könnte, warf dieser nur den Kopf in den Nacken und lachte laut und schallend los.
„Ich habe definitiv nicht vergessen, wozu ich den Kerl noch benutzen kann außer zum Pissen, mein Lieber, ich habe eben einfach nur eine bessere Selbstbeherrschung als du“, gluckste er und zwinkerte Julien schelmisch zu. Dem wurde bewusst, dass er immer noch Phelans Schritt fest im Griff hatte und nahm hastig seine Hand weg.
„Scheißkerl“, knurrte er und tat beleidigt, um seine Verlegenheit zu überspielen. Phelan brach wieder in lautes Gelächter aus. Er warf einen kurzen Blick auf Juliens Schritt, in dem sich eine nicht zu übersehende Beule abzeichnete.
„Na, hast `nen Blowjob nötig?“, neckte er liebenswürdig. Julien starrte ihn kurz völlig entgeistert an, dann nickte er verdattert. Kurz erlag er der irrationalen Befürchtung, dass Phelan ihm einen Blasen würde. Phelan grinste schelmisch, was Julien noch mehr verwirrte, dann sah er sich kurz im Raum um und winkte eine junge Frau zu sich.
„Schaff ihm ein bisschen Luft“, bat er sie, als sie an ihrem Tisch stand und deutete auf Julien. Mit einem gewinnenden Lächeln kniete sie sich vor Julien, öffnete ihm schweigend die Hose und ließ in der Bewegung, in der sie seine Unterhose aus dem Weg schob seinen besten Freund in ihren Mund gleiten. Julien stieß einen erstaunt-erfreuten Ton aus und schloss genüsslich die Augen.
Julien saß in der Lesebibliothek der Villa in einem bequemen Biedermeiersessel und blätterte durch einen Bildband über Weinanbaugebiete in Deutschland, als Phelan eintrat.
„Oh, störe ich?“ Er machte Anstalten, die Bibliothek wieder zu verlassen. Julien sah hoch.
„Nein, ganz im Gegenteil. Du kannst ruhig bleiben“, wehrte er ab. Phelan schloss die Tür hinter sich und ging zielstrebig zu einem Bücherregal.
„Was suchst du?“, wollte Julien wissen und betrachte eingehend Phelans Hintern, der in einer gewohnt engsitzenden Jeans steckte. Außer dieser Jeans trug Phelan, wie so oft zu Hause, nichts. Julien tastete mit den Augen den perfekt modellierten Rücken ab, betrachtete das Spiel der Muskeln unter der sonnengebräunten Haut, folgte der Wirbelsäule hinunter bis zu dem runden, festen Po, der in dieser verblichenen Hose steckte, die fast unverschämt tief saß, man konnte beinahe das Steißbein sehen.
„Julien, weißt du, wo der zweite Band von Der Herr der Ringe steht? Conor möchte das vorgelesen haben. Der erste und der dritte stehen hier, aber der zweite fehlt“, fragte Phelan und stand etwas hilflos vor dem hohen Bücherregal. Julien erhob sich und trat auf Phelan zu. Konzentriert überflog er die Buchrücken.
„Keine Ahnung. Als ich das letzte Mal in der Ecke war, stand es noch da. Und ich hatte es nicht in den Fingern, versprochen.“ Er sah Phelan ratlos an. Der fluchte verhalten.
„Ganz toll. Jetzt verschwinden hier schon Bücher. -Hilf mir, Iuls. Was kann ich dem Kerl als gute Alternative anbieten?“ Phelans Blick war regelrecht flehend, als er Julien in die Augen blickte. Und der verlor sich in der glänzenden Schwärze. Er wollte etwas antworten, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Er schluckte rau, versuchte, Worte hervor zu zwängen, doch aus seinem Hals kam nur ein heiseres Krächzen. Seine Lippen fühlten sich spröde und hart an. Er spürte, wie Phelan ihm die Hände auf die Wangen legte, eine sachte Berührung die ihm den Atem raubte und ihm Schauer das Rückgrat entlang jagte, die direkt in seinen Lenden mündeten. Er schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender.
Er sah, wie Phelan seine Lippen bewegte, aber sein Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er die Worte nicht verstehen konnte. Seine Hand bewegte sich bis sie die Haut von Phelans Brust berührte und blieb dort liegen. Er spürte den kräftigen, schnellen Herzschlag unter der weichen Haut.
Phelan kam ihm näher und dann berührten sich ihre Lippen. Julien seufzte leise. Phelan presste seinen Mund auf den von Julien, dann packte er ihn fest an der Hüfte und zog ihn beinahe grob an sich. Mit sanfter Gewalt schob er seine Zunge zwischen Juliens Lippen, der diese bereitwillig öffnete. Der Kuss raubte Julien fast die Sinne. Beinahe verzweifelt krallte er sich in Phelans Schulter und schmiegte sich an ihn. Er spürte Phelans Erregung an seiner eigenen. Ein leises Stöhnen entschlüpfte ihm, während Phelans Zunge seine Mundhöhle erforschte. Phelans Hände wanderten hektisch von Julien Rücken zu dessen Hintern, kneteten ihn wild und begannen, Juliens Hemd aus der Hose zu ziehen. mit einem ungeduldigen Knurren schob er eine Hand in den Hosenbund, seine Fingernägel kratzten über die Haut von Juliens Pobacke. Julien stöhnte lauter, begann sich an Phelan zu reiben, der Kuss wurde wilder. Phelans zweite Hand nestelte an Juliens Hosenknopf, riss ihn regelrecht auf, dann zerrte er den Reißverschluss nach unten und packte in Juliens Hose beinahe grob dessen hartes Glied. Julien keuchte in Phelans Mund als dieser anfing, ihn mit unsanften Bewegungen zu wichsen. Er stieß die Hüften nach oben, stöhnte ungeniert, spürte, wie der Orgasmus sich näherte und schrie leise auf, als Phelan den Druck auf seinen harten Schwanz noch erhöhte und er schließlich zuckend kam.
Als Julien mit der Abenddämmerung in die Küche trat, saß dort schon Phelan und frühstückte gutgelaunt.
„Guten Morgen“, wünschte er fröhlich. „Gut geschlafen?“
Julien knurrte einen Gruß zurück, grabschte sich eine Tasse aus dem Schrank und stellte sich vor die Kaffeemaschine. Phelan zuckte nur mit den Schultern, glitt anmutig von seinem Barhocker und stellte sich neben ihn. Mit einem sanften Schubs schob er Julien beiseite, um ihm seinen morgendlichen Kaffee zu machen. Julien schloss die Augen und rang um Fassung. Der Traum der letzten Nacht steckte ihm noch in allen Knochen, er hatte das Gefühl, als ob ihm diese Berührung tausend winzige Stromstöße durch den Leib jagte.
„Schlecht geschlafen?“, vermutete Phelan mitfühlend. Julien nickte nur ohne ihn anzusehen.
„Wenn das so ist, dann fällt die Dollarnacht für dich ab sofort flach“, scherzte Phelan und gab ihm einen leichten Knuff in die Rippen. Julien lächelte gequält. Er warf Phelan einen raschen Blick aus den Augenwinkeln zu und beinahe wäre es ihm wie in seinem Traum ergangen und er wäre in diesen wunderschönen Augen versunken.
„Na, komm, lass uns frühstücken“, riss ihn Phelan aus seiner Trance. Julien zuckte leicht zusammen und nickte dann. Grund Güter, er musste sich zusammenreißen, sonst konnte er Phelan nie wieder in die Augen sehen. Er schloss kurz die Augen und ermahnte sich im Stillen, sich von einem einzigen Traum nicht so aus der Fassung bringen zu lassen.
Nur ein einziger Traum? Pah! Julien lag in seinem Bett und atmete schwer. Von wegen nur ein einziger Traum. Seit zwei Wochen quälten ihn nun beinahe jede Nacht Sexträume von Phelan. Julien keuchte auf und griff sich in den Schritt. Er war hart aber wenigstens hatte nicht wieder abgespritzt. Er erschauderte und stöhnte. Sein Hintern kribbelte und Julien hätte schwören können, dass er noch fühlte, wie Phelan in ihm steckte und ihn vögelte.
„Ohhh… das muss aufhören…“ jammerte er leise und begann, sich einen runterzuholen. Nachdem er vier Nächte in Folge von Sex mit Phelan geträumt hatte, war er zur Überzeugung gelangt, dass er einfach nur mal wieder einen ordentlichen Fick brauchte. Sie waren ins Loup gefahren und Julien war mit einem hübschen dunkelhaarigen Kerl in ein Séparée gegangen und dort hatten sie sich gegenseitig halb um den Verstand gevögelt. Danach hatte er drei Nächte seine Ruhe gehabt. Das war jetzt wieder das zweite Mal, dass er von Phelan geträumt hatte. Julien keuchte als seine Erregung zunahm. In seinem Traum hatten sie verdammt wilden Sex miteinander gehabt. Hinter der Villa im feuchten Gras hatte Phelan ihn so leidenschaftlich durchgevögelt, dass Julien von einem Orgasmus zum nächsten getaumelt war. Er stöhnte verhalten, als er sich in die Hand spritzte. Er konnte Phelan schon nicht mehr in die Augen sehen. Wenn er das tat, bestand jedes Mal die Gefahr in dieser warmen Schwärze zu versinken und -wie er zu seiner eigenen Schade gestehen musste- hart zu werden. Julien wischte sich seine Hand mit einem Taschentuch aus dem Nachttisch sauber und wälzte sich auf den Rücken.
„Das ist nicht fair“, wisperte er heiser. Er liebte Phelan immer noch so sehr wie am ersten Tag und es war schon schlimm genug, dass Phelan in ihm nur noch einen Freund sah und nicht mehr seinen Liebhaber wie einst. Und jetzt fingen auf einmal diese Träume an. Julien spürte, wie sein Hintern nur bei dem Gedanken an sie wieder anfing zu prickeln.
Er hatte keine Ahnung, was er machen sollte.
Phelan lag grübelnd in seinem Bett. Nach der Dollarnacht hatte sich Julien irgendwie verändert. Er sprach kaum noch mit ihm, ging ihm nach Möglichkeit aus dem Weg und sah ihn nicht mehr an. Hatte er etwas falsch gemacht? Phelan rief sich die letzten beiden Wochen ins Gedächtnis, analysierte sein Verhalten gegenüber Julien und kam zu dem Ergebnis, dass er keine Ahnung hatte, was er falsch gemacht haben könnte. Phelan seufzte leise.
Es war schon schlimm genug, Julien hier zu haben, Raghnall hatte ja keine Ahnung, wie schlimm. Aber Raghnall wusste auch nicht alles. Er wusste, dass Julien und Phelan beste Freunde waren. Raghnall wusste, dass sie Waffenbrüder gewesen waren. Raghnall wusste, dass Phelan Julien blind vertraute.
Was Raghnall allerdings nicht wusste; er und Julien waren Liebhaber gewesen.
Phelan verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und starrte die Decke an. Keiner außerhalb des Heeres hatte es gewusst. Sie hatten einen Kodex gelebt: Was im Heer geschah, blieb im Heer. Und dieses Heer hatte viele Geheimnisse gehabt. Selbst Conor, der durch seine Tätigkeit als Chronist und angehender Bibliothekar dazu verpflichtet gewesen war, alles niederzuschreiben, hatte geschwiegen. Sie waren bis zu seiner Verbannung Liebhaber gewesen und dann musste Phelan gehen. Er war Julien nicht treu geblieben, was hätte das für einen Sinn gehabt, jemandem treu zu sein, den man nie wieder in die Arme schließen konnte, er hatte sich damit abgefunden, ohne Julien an seiner Seite zu leben. Er hatte die Einsamkeit überwunden, hatte neue Liebhaber gefunden, Männer wie Frauen, hatte es geschafft, seine Gefühle für Julien mit seinem neuen Leben zu arrangieren und dann tauchte der einfach so bei ihm auf und lebte bei ihm.
War Julien eifersüchtig, weil er im Laufe seiner Verbannung mit anderen Männern geschlafen hatte? Phelan konnte diesen Gedanken verneinen. Julien würde kaum von ihm verlangen können, ihm auf Ewigkeiten treu zu bleiben.
Hatte Julien vielleicht ein schlechtes Gewissen, weil er seit Phelans Verbannung mit anderen Männern geschlafen hatte? Und dass er es getan hatte, bezweifelte Phelan keine Sekunde lang. Das wäre möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich. Julien liebte Sex und er praktizierte ihn dementsprechend häufig. Und er wusste, dass Phelan das wusste, warum also sollte er deshalb verlegen sein?
Oder hatte Julien die Befürchtung, Phelan könnte noch Gefühle für ihn hegen, während er selbst ihn nur noch als guten Freund sah? Dieser Gedanke schnürte Phelan den Hals zu. Als er an diesem Abend vor fast anderthalb Monaten nach Hause gekommen war und Raghnall ihn zu Julien geführt hatte, hatte er weiche Knie bekommen. Er hatte sich gefühlt wie ein dummer Teenager, der zum ersten Mal seinem großen Schwarm gegenüber steht. Er hatte sogar feuchte Handflächen bekommen, so nervös war er mit einem Mal geworden. Phelan machte sich keine großen Hoffnungen auf ein erneutes Aufkeimen von Juliens Gefühlen zu ihm. Es waren über dreihundertfünfzig Jahre vergangen, seit sie sich das letzte Mal richtig von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden hatten. Sie waren nicht mehr dieselben Männer von damals, er war nicht mehr derselbe Mann wie damals. Außerdem konnte Phelan nicht verlangen, dass Sybilla ihren Mann schon wieder mit ihm teilen würde. Es war schon erstaunlich genug gewesen, dass sie es damals getan hatte.
Seine Augen wurden schwer, Phelan blinzelte träge. Er sollte schlafen, er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Der Sumpf war durch den heftigen Regen der letzten Tage angestiegen und hatte nicht nur unzählige Alligatoren auf den Rasen hinter seinem Haus geschwemmt, sondern auch noch das magische Wehr, welches die Weisen um das Haus gezaubert hatten um es vor ungebetenen Eindringlingen zu schützen, geöffnet. So hatte er zig sture Alligatoren davon überzeugen müssen, wieder zurück in ihren Sumpf zu kriechen, ohne dabei einen Arm oder ein anderes Gliedmaß zu verlieren. Und danach musste er auch noch das sinnlose Gebrabbel und Herumgehüpfe eines Voodoo-Priesters über sich ergehen lassen, als der das Wehr erneuerte. Am liebsten würde er diese verdammte Bibliothek einfach in die Luft sprengen, dann er müsste sich nicht mehr mit diesem ganzen magischen Mist herumschlagen.
Phelan wünschte sich schweren Herzens, dass sie Julien so schnell wie möglich wieder abholen und mitnehmen würden. Er hatte sein einsames, depressives Leben davor eigentlich gern gehabt. Trotz der Bibliothek. So konnte er seinen Frust wenigstens ab und zu an ein paar aufdringlichen Einzelgängern auslassen.
Ihre Münder trafen sich zu einem nassen Kuss, ihre harten Schwänze rieben aneinander, während ihre Hände hektisch über ihre Leiber fuhren, um sich zu fühlen. Julien drehte die Hüften und zog die Beine an, bot sich ihm an; Phelan versenkte seinen Schwanz tief in dessen Hintern. Er keuchte, als die kühle Enge von Julien sich um ihn schloss. Er trieb seine Hüften nach vorn, stieß hart zu, stöhnte, presste seine Lippen auf die von Julien. Stieß schneller, noch härter, Julien wand sich unter ihm, bog den Rücken durch, stöhnte, schrie vor Lust.
„Oh, ja, ich liebe es, wenn du so wild bist“, keuchte er in Phelans Ohr. Er erschauderte, biss ihm in die Unterlippe, saugte daran, rammte seine Zunge in Juliens Mundhöhle, stöhnte wieder. Phelan packte Julien an den Hüften, seine Stöße wurden beinahe grob und er ergoss sich mit einem lauten Schrei in Julien.
Phelan blinzelte in die Dunkelheit, sein Herz raste. Was um alles in der Welt war das für ein Traum gewesen? Er rieb sich hastig mit beiden Händen über das Gesicht und setzte sich an die Bettkante.
Er hatte zu viel über Julien und ihre Beziehung zu einander nachgedacht. Das musste es gewesen sein. Phelan schüttelte lächelnd den Kopf. Er verhielt sich wirklich wie ein dummer Schuljunge, jetzt bekam er schon feuchte Träume von Julien. Er lehnte sich zurück und stütze sich mit den Händen auf dem Bett ab.
„Meine Güte, ich fang an, durchzudrehen“, scherzte er humorlos. Versonnen ließ der den Traum Revue passieren. Erst runzelte er kritisch die Stirn, dann traf ihn eine plötzliche Erkenntnis. Phelan sprang mit einem Satz aus seinem Bett, brüllte vor Zorn auf und rannte nackt wie er war aus seinem Schlafzimmer.
„Conor! Yuri! Wo seit ihr?”, donnerte er auf dem Flur. Er ließ zwei Sekunden verstreichen und als keine Antwort kam, stürmte er die Treppe nach unten.
„Conor! Yuri!“
Phelan machte einen Satz in die Küche, um nach draußen zu rennen, als das Klingeln seines Handys ihn ausbremste. Kurz überlegte er sich, ob er es nicht einfach klingeln lassen sollte, dann nahm er ab. Nicht viele Leute hatten seine Handynummer und wenn die anriefen, dann gab es meistens Probleme -entweder in einem seiner Clubs oder mit Geld.
„Ja?“, knurrte er schlechtgelaunt. Am anderen Ende der Leitung hörte er wie jemand atmete. Phelan nahm das Gerät vom Ohr und starrte auf das Display. Die Nummer war unterdrückt.
„Okay, Arschloch, wer bist du und woher hast du meine Nummer?“
Der Anrufer räusperte sich verlegen. Phelan hörte, dass es ein Mann war.
„Rede, Wichser.“ Phelan wusste, dass beleidigen und einschüchtern nicht unbedingt die beste Methode war, jemanden zum Reden zu bringen, aber er war stinksauer und da die, die an seiner schlechten Laune Schuld waren, nicht greifbar waren, musste eben diese arme Seele am anderen Ende der Leitung herhalten.
„Ich … ich weiß nicht, ob du mich kennst, ich bin … ich bin Shane. Shane Ducote …“ begann der Anrufer zögernd, als wäre es ihm unangenehm, seinen Namen zu nennen.
„Ich weiß, wer du bist. Du bist der Dritte im Rudel. -Was willst du und woher hast du diese Nummer?“, schnauzte Phelan ungehalten. Natürlich kannte er Shane Ducote. Er stand im New Orleans-Rudel an dritter Stelle nach Frederick Burging und einem grobschlächtigen Vollidioten namens Beau Lambert. Und er war ein oft und gern gesehener Stammgast im Loup.
„Ich, …“, Ducote räusperte sich um seine Nervosität zu überspielen, „ich hab die Nummer von Ben“, gestand er und räusperte sich erneut. Phelans Hand krampfte sich um das Handy. Sein Zorn wurde größer. Benjamin Leblanc war sein Geschäftsführer im Loup und der wusste, dass er Phelans Handynummer an niemanden weitergeben durfte.
„Warum sollte Benjamin dir meine Handynummer geben?“
„… Weil … weil ich ihn darum gebeten habe. … Es … es … gestern Nacht wurde ein Wolf getötet.“
Phelans Wut verrauchte augenblicklich. Ein Wolf … und Ben gab einem Außenstehenden seine Handynummer. Er schloss die Augen. Bittere Magensäure stieg ihm in den Hals und Phelan schluckte sie mühsam wieder hinunter.
„Weiter“, forderte er gepresst.
„… es ist … also wir kennen ihn nicht. Es muss wohl ein Einzelgänger sein, vielleicht einer von den Flüchtlingen aus Haiti …“, fuhr Ducote hastig fort. Phelans Knie gaben nach und er sackte auf einen Barhocker. Es war nicht Conor. Sein Herz hämmerte wild in seiner Brust. Phelan zwang sich zur Ruhe.
„Und was ist jetzt daran so wichtig, dass Ben dir meine Nummer gibt?“, fragte er harsch. Er hörte Ducote hart schlucken.
„Ihm wurde das Herz herausgerissen, wie bei dem Vampir vor zwei Wochen. Frederick hat sich ziemlich aufgeplustert deswegen …“ begann er zaghaft. Es war nicht leicht für einen Wolf, seinen Rudelführer gegenüber einem Fremden zu kritisieren.
Julien schlenderte in die Küche und erstarrte, als er Phelan nackt auf einem Barhocker sitzen sah. Das hatte ihm jetzt gerade noch gefehlt. Er wollte sich gerade zurückziehen, als Phelan ihn her wank.
„Du solltest darüber nicht an einem Telefon reden“, unterbrach Phelan.
„Es ist eine Telefonzelle“, erwiderte Ducote.
„Keine Gefahr, dass dir einer vom Rudel gefolgt ist und dich belauscht?“, hakte Phelan nach.
„Nein. Ich bin nicht von gestern, ich weiß, wie ich mich ungesehen wegschleichen kann.“ Trotz ersetzte Ducotes Unsicherheit.
„Gut. Dann red‘ weiter.“
Julien drehte auf dem Absatz um und verließ die Küche. Kurz darauf kam er mit einer Jeans wieder und hielt sie Phelan hin. Der klemmte sich sein Handy an die Schulter und zog sich schnell die Hose über. Julien atmete erleichtert auf. Er wusste nicht, ob er einen nackten Phelan wirklich lange ertragen konnte.
„Naja, jedenfalls ist Frederick der Meinung, der tote Wolf sei ein Racheakt der Vampire gewesen und hetzt ein wenig im Rudel rum … Naja, das kann dir ja egal sein, du hast weder was mit dem Rudel noch mit dem Clan zu tun, aber ich hab auch gehört, wie er über dich gesprochen hat. Keine Ahnung, um was es ging, ich war nicht dabei, aber ich dachte, es ist wichtig, dir das zu sagen“, erzählte Ducote. Phelan nickte schnaubend, angelte nach seinen Zigaretten und zündete sich eine an.
„Und warum erzählst du mir das alles? Ich habe ja nichts mit dem Rudel zu tun und außerdem habe ich deinem Rudelführer ordentlich die Schnauze poliert“, wandte Phelan ein und inhalierte tief. Ducote lachte leise auf.
„Ja, ich war dabei. Dort, wo du im Rasen Fredericks Gesicht lang gezogen hast, wächst das Gras immer noch spärlicher als auf dem Rest vom Grundstück“, scherzte er. Phelan hob die Augenbraue.
„Willst du einen Umsturz planen?“, hakte er nach. Ducote lachte wieder.
„Nein. Ich würde selbst mit dir nicht gegen Frederick und seine Halbaffen ankommen. Ich hab nichts gegen dich, ganz im Gegenteil, und ich dachte, du solltest es einfach wissen. -Naja, und dein Vampirfreund steht ja auch nicht gerade gut mit dem Clan und ich dachte … naja … falls jemand meint, er müsste es auf ihn absehen …“Ducote verstummte.
„Danke“, sagte Phelan ehrlich.
„Wenn ich noch was hören sollte, melde ich mich bei dir“, fügte Ducote hinzu und Phelan konnte hören, dass er das Gespräch beenden wollte.
„Oh, und keine Sorge; ich hab deine Nummer nirgends aufgeschrieben, ich hab sie im Kopf. Ich kann mir gut Nummern merken“, fügte er noch hinzu, dann legte er auf. Phelan lauschte noch ein Weilchen dem Besetztzeichen, dann unterbrach er die Verbindung. Er sah zu Julien, der sich aus seiner neu gekauften Kaffeemaschine einen Kaffee herausgelassen hatte. Julien hatte zwar eine Woche dafür sparen müssen, aber jetzt konnte er sich wenigsten selbst einen Kaffee brühen.
„Was hast du gehört?“, fragte Phelan. Julien nippte an seiner Tasse.
„Ab Telefonzelle“, antwortete der und setzte sich.
„Heute Nacht ist ein Wolf umgebracht worden. Ein Einzelgänger, das Rudel kennt ihn nicht. Aber Burging ist der Meinung, es sei Rache von den Vampiren gewesen sei, weil man dem Toten vor zwei Wochen auch das Herz herausgerissen hat.“
„Hm“, machte Julien nachdenklich, „Und jetzt laufen die Anführer Sturm.“
Phelan nickte schulterzuckend.
„Ducote fand es besser, uns zu informieren.“
Julien nahm noch einen kräftigen Schluck Kaffee.
„Hm“, machte er wieder. „Den kenn ich. Ist ein netter Kerl, glaub ich. Er war mal mit einem Vampir im J1 und er ist ziemlich locker drauf, was Vampir-Wolfsfreundschaften angeht. Er war freundlich, höflich und er sieht ganz gut aus. -Wenn man auf markante Männer steht.“ Julien starrte nachdenklich in seine Kaffeetasse, unfähig Phelan ins Gesicht zu sehen. Phelan gab einen nachdenklichen Ton von sich.
„Lassen wir uns überraschen“, meinte er nur, glitt von seinem Hocker und ging zu Juliens Kaffeemaschine. Ohne zu fragen brühte er sich einen Kaffee auf. Täuschte er sich, oder braute sich in New Orleans etwas zusammen. Er musste Conor alles erzählen, Conor erkannte schnell die Dinge hinter den Dingen. Ducote hatte ihn vorhin nicht angelogen. Er war sich sicher gewesen, nicht verfolgt worden zu sein und seine Erklärungen waren auch ehrlich gemeint gewesen. Phelan erkannte sofort, wenn ihn jemand belog und Ducote hatte ihn das ganze Gespräch über die Wahrheit gesagt.
„Wo ist Conor?“, riss ihn Julien aus seinen Gedanken. „Er sollte davon wissen, falls es mehr ist als nur zwei Morde.“
„Was sollte es noch sein?“, hakte Phelan nach. Julien zuckte mit den Schultern.
„Aufruhr. Viktor hat erst vor zwei Monaten in San Franzisco einen Aufruhr zwischen dem Clan und dem Rudel dort niedergeschlagen. Die Amis ticken diesbezüglich immer wieder mal aus“, erzählte er lapidar. Phelan schürzte die Lippen. Viktor Delano war Juliens älterer Halbbruder aus Dashiells erster Ehe. Raghnall hatte ihm das Kommando seines großen Heeres übertragen nachdem der alte Heerführer zu oft zu viel Ärger in Bezug auf Phelans Heer verursacht hatte. Dessen Abneigung gegen die Wölfe vom Braeden war letztendlich so weit eskaliert, dass er in einer Schlacht die Hilfe verweigert hatte. Er konnte sich sehr gut vorstellen, wie Aufruhr niederschlagen bei Viktor aussah. Das Niederschlagen konnte da ziemlich wörtlich genommen werden. Viktor war kein Mann, der lange fackelte.
„Gott behüte“, knurrte Phelan frustriert. Aufstände konnte er nun überhaupt nicht gebrauchen.
Was soll Gott behüten?, wollte Conor wissen, der zusammen mit Yuri durch die Hundeklappe der Küchentür hereinkam. Phelan sah ihn an und erinnerte sich, dass er mit den beiden noch ein Hühnchen zu rupfen hatte. Er holte Luft, um mit seinen Vorwürfen zu beginnen, als Julien ihn unwissentlich davon abhielt, indem er sagte:
„Gestern Nacht wurde ein Wolf getötet und der Dritte vom Rudel hat von Ben die Handynummer von Phelan bekommen und ihm gerade angerufen.“
Conors bellte überrascht.
Erzählt, forderte er streng.
„Gestern Nach wurde ein Einzelgänger in der Stadt getötet. Ihm hat man ebenfalls das Herz herausgerissen. Burging hetzt wohl seine Wölfe auf, indem er behauptet, dass sei ein Racheakt von den Vampiren gewesen. Über mich hat er wohl auch noch was gesagt, aber Ducote weiß nicht, um was es ging. Um Julien macht er sich auch Sorgen, weil er es mit Nemours nicht wirklich gut kann“, erzählte Phelan kurz.
Wer ist Ducote?, wollte Yuri wissen.
„Der Dritte vom Rudel“, antwortete Phelan.
Und weshalb ruft er ausgerechnet dich an? Du bist kein Freund des Rudels, wandte der Vogel ein. Phelan grinste kurz.
„Weil er mich mag. Ich glaube, er hat seinen Rudelführer nicht wirklich gern. Er hat nicht gelogen“, erwiderte er. Conor nickte.
„Julien befürchtet, dass ein Aufruhr ausbrechen könnte“, fügte er noch hinzu. Conor schmatzte nachdenklich und drehte einige Runden um die Theke.
Es ist noch zu früh, als das sich so etwas bestätigen ließe. Wir sollten einfach abwarten, was noch geschieht, beschloss er schließlich. Julien nickte zustimmend und Phelan zuckte mit den Schultern.
Es ist nicht gut, dass ihr beide mit den Führern dieser Stadt nicht klar kommt, bemerkte Yuri.
„Es ist nicht mein Problem, das Burging ein Volltrottel ist“, entgegnete Phelan schulterzuckend und leerte seine Tasse. Julien grinste breit.
„Oder Nemours ein überheblicher Vollidiot“, fügte er hinzu. Conor verdrehte die Augen.
Genau diese Einstellung wird euch noch Ärger bereiten, prophezeite er düster. Phelan und Julien sahen sich an, zuckten mit den Schultern und lachten los.
„Wir lieben Ärger“, behauptete Julien gutgelaunt.
Das ist ja das Problem, knurrte Conor missmutig.
Die Nacht war mild und klar und es war die Zeit, in der es sogar in Großstädten ein wenig ruhiger wurde.
Sie schritt mit wippendem Gang die Bürgersteige entlang zu ihrem Zuhause, sie hätte auch ein Taxi nehmen können, aber dann hätten die wenigen Nachtschwärmer, die selbst noch zu dieser Zeit unterwegs waren, ihr keine bewundernden Blicke zuwerfen können.
Ob sie eitel war!?
Sie war es und sie wusste, dass sie alles Recht dazu hatte, eitel zu sein, sie war eine geballte Ansammlung weiblicher Sexualhormone auf zwei Beinen. Im Vorbeilaufen prüfte sie in einer Schaufensterscheibe den Sitz ihrer Frisur, sie saß immer noch perfekt, was auch sonst, und wollte den Blick gerade wieder nach vorn richten, als sie in der Scheibe den Schatten auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah. Es war kein normaler Schatten, das erkannte sie sofort, dennoch wandte sie weder den Kopf in dessen Richtung, noch verlangsamte sie ihre Schritte. Es war die Schattensilhouette eines Mannes gewesen, für eine Frau war der Umriss zu kräftig und zu groß, und dieser Schatten hatte sie fixiert. Schauer rannen ihr Rückgrat hinunter. Sie war stark und schnell, aber der Schatten war stärker und schneller, das hatte sie gespürt und gesehen. Er war keiner von ihrer Art, war er von den anderen?
Vor ihr bewegte sich etwas, was unbeweglich zu sein hatte, sie wechselte die Straßenseite, eilig, aber nicht auffällig eilig, vielleicht ließen die Schatten von ihr ab, wenn sie glaubten, sie hätte sie nicht bemerkt. Sie bog ab, trat unter die Lichter der Straßenlaternen, obwohl ihr greller Schein in ihren Augen brannte, bog erneut ab und stoppte. Wo waren die Menschen? Wo waren die Nachtschwärmer abgeblieben? Wo zum Teufel war sie selbst gelandet? Hatte sie sich tatsächlich in der Stadt verirrt? Sie sah sich irritiert um, dann spürte sie, dass sich hinter ihr die Schatten zusammenzogen, wo sich keine Schatten zusammenziehen konnten, zusammenziehen durften, und jetzt rannte sie los.
Fühlten sich so die Menschen, wenn sie gejagt wurden?
Ihr Herz hämmerte mit einem Mal gegen ihre Brust.
Warum wurde sie gejagt?
Von wem wurde sie gejagt?
Wo waren die Nachtschwärmer, die normalerweise die Straßen bevölkerten?
Wo war irgendeiner ihrer Art, sie waren doch überall, wo waren sie jetzt, wo sie sie brauchte?
Sie versuchte, die aufsteigende Panik zu bekämpfen.
Hinter ihr hörte sie leises Schattenrascheln, es kam näher, immer näher; sie rannte schneller, einer ihrer Pumps rutschte von ihren Füßen und brachte sie ins Stolpern. Sie ruderte mit den Armen, versuchte, ihr Gleichgewicht zu halten, schleuderte den zweiten Schuh von ihrem Fuß und rappelte sich auf. Gleichmäßig atmen, weit mit den Beinen ausholen, da vorne war eine breite mehrspurige Straße, sie sah Menschen, keiner griff jemanden an, wenn Zeugen in der Nähe waren, Knurren grollte hinter ihr auf.
Bei Gott, es waren Reißer!
Sie hatte keine Chance gegen Reißer, Reißer waren zu stark! Sie schrie, als sie den Luftzug in ihrem Nacken spürte, der bedeutete, dass ihre Verfolger zum letzten Sprung angesetzt hatten um sie zu Boden zu reißen.
Ein Mitarbeiter der städtischen Müllabfuhr fand am nächsten Morgen die grausam zugerichtete Leiche einer jungen Frau neben den Müllcontainern liegen. Ihre Kehle war völlig zerfetzt und in ihrer Brust klaffte ein Loch, so groß wie eine Bowlingkugel.
„…über Ihre Identität. Die Polizei ist nun auf der Suche nach Zeugen. Sie bit…“ Phelan schaltete den Fernseher aus und drehte sich zu Julien, der desinteressiert in einer Zeitung blätterte, während er an einem Kelch frischem Blut nippte. Er hatte sich den Luxus gegönnt und sich von einem seiner Lieferanten einen frischen, gesunden jungen Mann herbringen lassen, der jetzt unten in diesem Kellerloft wohnte, welches ebenso magisch erschaffen worden war, wie die Bibliothek. So sparte er sich die Fahrten in die Stadt und konnte naschen, wann immer er wollte. Es war dekadent und faul, aber ihm war nach dekadent und faul.
„Hm“, machte er und schlug die Zeitschrift zu.
„Was ist hm?“, hakte Phelan nach.
„Kein besonderes Hm. Ist das eine von uns?“ Julien deutete auf den dunklen Fernseher, in dem eine adrette und äußerst seriöse Nachrichtensprecherin über den Fund einer bestialisch zugerichteten Leiche berichtet hatte, bis Phelan ihren Bericht rüde abgeschaltet hatte.
„Hm,“, antwortete Phelan, „keine Ahnung. Wir werden es aber ziemlich schnell herausfinden, würde ich sagen. Ich wette fünfhundert Dollar, dass es eine Vampirin war.“ Er sah Julien herausfordernd an. Julien schnappte im ersten Moment empört nach Luft.
„Phelan! Du machst hier gerade eine Wette über eine Tote!“, entrüstete er sich. Phelan sah ihn völlig unbeeindruckt an.
„Und? Was ist jetzt? Gehst du mit?“, hakte er nach. Julien überlegte kurz.
„Was denkst du denn? Ich sag die hat den Mond angeheult.“
Phelan nickte zufrieden und Julien überlegte sich, wie er fünf Tage lang mit nur 50 Dollar am Tag überleben sollte, sollte der die Wette wider Erwarten verlieren.
„Und wie willst du jetzt herausfinden, was sie war?“, wollte Julien neugierig wissen. Phelan nahm sein Handy in die Hand.
„Ganz einfach: Ich rufe einen Wolf an, der in New Orleans bei den Cops arbeitet.“
Ein kurzes Gespräch später sah Phelan Julien mit leisem Triumph an.
„Du schuldest mir fünfhundert Dollar“, meinte er grinsend. Julien fluchte verhalten. Er hätte es eigentlich besser wissen müssen; Phelan war fast unbesiegbar, wenn es um Wetten ging. Dumm nur, dass Julien so etwas wie wettsüchtig war. Daran war seiner Meinung nach Phelan schuld.
„Das ist alles nur deine Schuld“, klagte er mürrisch an, zählte fünfhundert Dollar aus seinem für ihn mickrigen Barbestand ab und knallte das Geld auf den Tisch. Phelan nahm es an sich und steckte es ohne nachzuzählen ein.
„Wieso soll ich daran schuld sein, wenn du verlierst?“, fragte er ungläubig. Julien schnaubte.
„Weil ich, seit ich im Heer war, wettsüchtig bin. Und daran bist eindeutig du schuld, weil du immer auf alles und jeden gewettet hast!“, behauptete er trotzig. Phelan lachte auf.
„Ich hab dich nie gezwungen, mitzuwetten!“ Er ging zum Kühlschrank und holte für sich und Julien eine Flasche Bier heraus.
„Das war Gruppenzwang. -Danke“, beteuerte Julien eigensinnig seine Unschuld. Phelan nahm einen Schluck Bier direkt aus der Flasche.
„Auch keine schlechte Ausrede. -Ich hab‘ nach meiner Verbannung ziemlich viel Geld mit Wetten gemacht. -Und mit Glücksspiel“, erzählte er und grinste schief.
„Warum wundert mich das nicht?“ Julien prostete Phelan zu, bevor er von seinem Bier trank. Phelans Grinsen wurde breiter. Julien senkte den Blick und betrachtete nachdenklich seine Bierflasche.
„Was hast du?“, fragte Phelan leicht besorgt. Julien hob den Kopf.
„Oh, ich werd grad nur ein bisschen wehmütig“, gestand er leise. „Ich musste eben nur an früher denken, im Heer und an die ganzen Wetten, die wir dort immer abgeschlossen haben.“
„Wir haben viel gewettet“, bestätigte Phelan grinsend.
„Wir haben auf alles gewettet, auf was man wetten konnte. -Sogar auf die Größe der Hundehaufen, wenn uns nur langweilig genug war“, meinte Julien und lachte auf.
„Man, wir waren schon ein schräger Haufen“, fügte er versonnen hinzu.
„Aber wir haben jedem den Arsch versohlt. -Wir waren die Besten der Besten. Wir waren die Wölfe vom Braeden!“ Julien hob seine Bierflasche zum Toast.
„Auf die Wölfe vom Braeden“, prostete er Phelan zu. Phelans Grinsen wurde breiter.
„Auf die Wölfe und ihre unschlagbaren Wetten“, fügte Phelan noch hinzu und tippte mit seinem Flaschenhals gegen Juliens. Sie nahmen jeder einen Schluck, dann setzt Julien seine Bierflasche ab und sah Phelan ernst an.
„Und, ist’s ein Aufruhr?“, wechselte er das Thema. Phelan lachte auf.
„Keine Ahnung. Wir haben zwei tote Vampire und einen toten Wolf …“ Er leerte die Flasche. Sein Handy klingelte. Julien warf einen kurzen Blick auf das Display, bevor Phelan abnahm. Er kannte die Nummer nicht.
„Ja?“ Phelan zuckte mit den Schultern um Julien anzuzeigen, dass er keine Ahnung hatte, wer der Anrufer war.
„Hey, ich bin’s. Shane Ducote“, antwortete es am anderen Ende. Phelan richtete sich alarmiert auf. Wenn ihn Ducote schon wieder anrief, war etwas passiert.
„Was ist passiert?“, wollte er wissen.
„Habt ihr die Nachrichten gesehen?“, fragte Ducote stattdessen.
„Ja“, sagte Phelan scharf.
„Die Vampirin war nicht die einzige heute Nacht. -Frederick lässt patrouillieren und eine dieser Patrouillen hat in der Nähe von der North Rampart Street unten am Kanal einen toten Löwen gefunden. Von uns hat ihn keiner gekannt, aber ein Einzelgänger, der da unten immer mit seinem Hund spazieren geht, hat das mitbekommen und ihn erkannt. Er meinte es sei Amon-irgendwas gewesen, tut mir leid, ich hab‘s nicht so mit Namen.“ Er lachte verlegen auf. Phelan zuckte mit den Schultern.
„Passt, ich krieg den Namen schon raus, wenn ich will“, wehrte er ab.
„Jedenfalls, dem Kerl fehlt auch das Herz und der halbe Hals. Er muss sich ziemlich gewehrt haben, aber letztendlich haben sie ihn doch gekriegt. Wenn die Patrouille ihn nicht gefunden hätte, hätte die nette Dame von den Nachrichten richtig was zu erzählen gehabt.“ Ducote lachte leicht belustigt.
„Frederick fängt an, unruhig zu werden und von einem Freund hab ich gehört, dass Nemours wohl ziemlich am Rad dreht wegen den beiden Toten. Er schwafelt groß rum von wegen, dass das Anschläge auf die Vampire von New Orleans seien und den ganzen anderen Quatsch.“
Julien fragte sich, was der ganze andere Quatsch wohl sein mochte, hütete sich aber, nachzufragen. Phelan zuckte nur ahnungslos mit den Schultern. Er wusste wohl auch nicht, was der ganze andere Quatsch war.
„Also, was ich eigentlich sagen wollte, dieser Amon-irgendwas, der war aus einem großen Löwen-Rudel irgendwo in Kenia. Das war ein ganz alter, über eintausend Jahre alt“, begann Ducote aufgeregt. Julien und Phelan warfen sich vielsagende Blicke zu und grinsten. Eintausend Jahre alt war in der restlichen Welt viel, aber alt war es nicht wirklich. Phelan überlegte kurz, ob er Ducote ein wenig necken sollte.
„Hey, Ducote. Ich bin eintausendfünfhundertdreizehn Jahre alt. In der alten Welt bin ich altersmäßig ein junger Mann, der noch grün hinter den Ohren ist“, klärte er Ducote auf. Julien kicherte hinter hervorgehaltener Hand. Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille.
„Tut mir leid. Ich wollte dich nicht schockieren. Ich dachte nur, es wäre fair, dir das zusagen“, Phelan zwinkerte Julien schelmisch zu. Ducote hüstelte verlegen.
„Ähm … okay, dann war er wohl doch nicht so alt.“ Er lachte kleinlaut. „Jedenfalls, kam dieser Löwe aus einem großen Rudel in Kenia. Er wurde dort verbannt, weil er die Töchter und Söhne seines Anführers und von den Anführern befreundeter Rudel geschändet hat. -Als sie noch keine drei Jahre alt waren. Einige fragen sich jetzt, ob der einfach nur seine Finger an kleinen Kindern hatte, und einer die Gunst der Stunde genutzt hat und ihn so umgebracht hat, dass es aussieht, als ob es zu dieser Herzausreißer-Sache gehört. -Einige geben dem Ganzen sogar schon einen Namen. Herz-Ripper.“
Phelan prustete laut.
„Herrje, das ist ja grausig“, lachte er auf. Julien floh aus der Küche um in der Eingangshalle in lautes Gelächter auszubrechen.
„Eine Frage: wenn du mit eintausendfünfhundert Jahren noch als jung giltst; als was gilt dann ein dreihundertsechsundsiebzig Jahre alter Wolf?“, fragte Ducote interessiert. Phelan versuchte, nicht mehr zu lachen.
„Puh … Hm … von den meisten würdest du nur Welpe gerufen werden. Weil die meisten einfach mindestens doppelt so alt wären wie du. -Naja, bei meinen alten Freunden wäre es zumindest so gewesen. Die rufen dich schon Welpe, wenn du nur fünfhundert Jahre jünger bist“, klärte er Ducote auf.
„Was bist du?“ Phelan hörte die eigentliche Frage hinter dieser Frage. Wer bist du wirklich?
„Ein Verbannter aus der alten Welt. Einer, der hier ist, um etwas sehr wertvolles zu hüten.“ Selbst wenn er gewollt hätte, hätte Phelan ihm nicht mehr sagen dürfen.
„Wenn ich über dich nachdenke, dann habe ich manchmal das Gefühl, dass du keine Hilfe benötigen würdest um Frederick zu stürzen“, fuhr Ducote fort.
„Shane“, begann Phelan ernst. „Shane, ich mag dich. Du bist aufrichtig und denkst weiter, als die meisten hier. Aber denke diesen Gedanken niemals wieder. Hörst du?“
Ducote schluckte.
„Nein.“
„Gut. Du wärst glaub ich in der alten Welt gern gesehen. Wisst ihr noch mehr?“
„Sie haben rausgekriegt, wer die anderen beiden waren. Der Vampir war ein Einzelgänger namens Ezra Anderson. Wo er herkam weiß keiner, aber er hatte keinen Clan oder Gönner. Wahrscheinlich wurde er irgendwann mal gebissen und allein damit gelassen. Der Wolf hieß Maxime Joasint und er war wirklich ein Haiti-Flüchtling. Er hat bei dem großen Beben sein komplettes Rudel verloren und ist dann illegal in die Staaten geflohen. Es sind alles keine Leute, die irgendwo groß vermisst werden. -Oder würdest du einen Kinderschänder vermissen?“
„Nein. Wenn du was über den Vampir herausfindest…“
„Melde ich mich wieder bei dir“, versprach Ducote.
„Danke.“
„Bis dann.“ Ducote legte auf.
Phelan sah zu Julien, der sich wieder zurück in die Küche gewagt hatte, nachdem sein Lachkrampf verebbt war.
„Na, ausgekichert?“ Er legte sein Handy zurück auf den Tresen. Julien nickte grinsend.
„‘Tschuldige, aber man konnte regelrecht hören, wie Ducote das Gesicht heruntergefallen ist, als du ihm gesagt hast, wie alt du bist und dass das noch nicht wirklich alt ist.“
„Tja. Das ist das Blöde bei den Amis. Für die zählen als Älteste, die um sechzehnhundert geboren wurden. Normalerweise hänge ich mein Alter nicht wirklich an die große Glocke.“ Phelan zündete sich eine Zigarette an.
„Was war? Außer der schockierenden Eröffnung deines Alters“, witzelte Julien und bediente sich an Phelans Zigarettenschachtel.
„Sie wissen jetzt, wer die beiden anderen waren. Das eine war ein streunender Vampir namens Ezra Anderson. Den vermisst keiner, weil ihn keiner kannte. Und der Wolf war ein Haitianer namens Maxime Joasint der bei dem Beben sein Rudel verloren hat. Nach dem sucht auch keiner. Ebenso wenig wie nach einem afrikanischen Kinderschänder. Wenn ich wetten würde, würde ich mein ganzes Eigentum darauf wetten, dass der Vampir, der in den Nachrichten gekommen ist, auch ein Einzelgänger ist“, tippte Phelan.
„Nein, du wettest ja nie“, behauptet Julien gönnerhaft; schnitt Phelan eine Grimasse und blies ihm den Rauch ins Gesicht.
„Ernsthaft jetzt. Warum sollte jemand Einzelgänger töten? Ich mein, die waren nicht auffällig und nichts. Oder glaubst du, Nemours‘ und Burgings Herumgejammer von wegen Aufruhr ist nur Show und die wollen die Einzelgänger in ihrer Stadt loswerden? Die Buschtrommel trommelt immer mal wieder davon, dass die beiden ziemlich angepisst sind, weil es in der Stadt so viele davon gibt.“ Julien sah Phelan nach, wie der zur Kaffeemaschine ging - der antiquierten, nicht der neuen stylischen von Julien - und sich einen Kaffee machte. Seine Jeans saß gewohnt eng und das graue Langarmshirt das er trug betonte nicht nur seine Bräune sondern auch seinen gut gebauten Oberkörper. Julien schnurrte im Geiste.
„Was weiß ich. -Ich hab nicht vor, mich damit auseinander zusetzen. Dafür gibt es den Rudelführer und den Clanchef und wenn es zu sehr an die Öffentlichkeit geht, mischt sich der Rat ein.“ Er drehte sich zu Julien um und sah ihn ernst an.
„Ich bleib einfach nur hier sitzen und seh‘ zu, dass keines der heiligen Bücher abhanden kommt. Und hoffe, dass Raghnall irgendwann mal auf die schlaue Idee kommt, diese verfluchte Bibliothek nach Irland zu holen und selbst darauf aufzupassen.“ Er schnippte Asche ins Spülbecken und kam mit einer vollen Tasse zurück zu Julien.
„Blöd nur, dass Ducote davon ausgeht, dass dich das interessieren soll“, wandte Julien ein und benutzte den Aschenbecher zum abaschen. Phelan verdrehte leicht genervt die Augen.
„Er macht sich Sorgen um unser leibliches Wohl“, widersprach er. Jetzt verdrehte Julien die Augen.
„Das ist echt nett von ihm, aber ich glaube, ich habe in genug Schlachten gekämpft um selbst auf mich aufpassen zu können“, entgegnete er leicht gereizt. Warum glaubte immer nur jeder, er könnte nicht selbst auf sich aufpassen?
„Du tarnst dich einfach zu gut“, scherzte Phelan.
„Was?“ Julien sah ihn leicht dümmlich an.
„Ich sagte; du tarnst dich einfach zu gut. -Ich weiß, dass es dich nervt, dass jeder von dir denkt du könntest nicht mal eine Fliege umbringen. Das liegt unter anderem daran, dass du ihnen den Lebemann vorspielst. Den verantwortungslosen, den eitlen sorglosen Geck. Und deshalb glauben sie nicht, dass da noch mehr in dir stecken könnte“, klärte Phelan ihn auf.
„Gut, dass ich es besser weiß.“ Er zwinkerte Julien verschwörerisch zu. Julien lächelte ihn glücklich an. Phelan hatte nie an ihm gezweifelt. Phelan hatte ihm immer den Rücken gestärkt, ihn aufgemuntert, ihn gepusht, mehr zu geben, mehr zu zeigen, zu wachsen, über sich hinauszuwachsen. Und er hatte Wege gefunden, Regeln und Verbote zu umgehen, um Julien zu unterstützen.
„Wir werden es einfach Conor sagen, dann hat der einen Grund, sein Hirn wieder anzustrengen“, beschloss Phelan und trank von seinem Kaffee.
„Meine Maschine macht den besseren Kaffee“, stellte er fest, drückte seine Zigarette aus und leerte seine Tasse.
„Viel besserer. Hast du Lust, was trinken zu gehen? Ich brauch nen Tapetenwechsel.“ Phelan stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn herausfordernd an. Julien sprang von seinem Barhocker.
„Zieh dich um, ich warte in der Garage.“
Eine Stunde später schlenderten sie im J1 durch die Gäste durch in Richtung Bar, als Phelan auf einen jungen Mann aufmerksam wurde, der sich einen Weg durch die Gäste bahnte. Er stoppte und wich zurück um in der Menge zu verschwinden.
„Dad! Dad!“, rief der Mann über den Lärm hinweg, in der Hoffnung, gehört zu werden. Julien, der verdattert hinter Phelan hersah, ohne zu wissen, was nun schon wieder mit dem Wolf los war, drehte sich um.
„Dad!“ Der junge Mann lachte erfreut und rannte die letzten Meter auf Julien zu, bevor er sich in dessen Arme warf.
„Desmond!“ Julien drückte ihn kurz an sich, dann schob er ihn weg.
„Des, hör mir zu“, begann er ernst, doch er wurde von Desmond unterbrochen.
„Man, Dad, wo warst du? Onkel Raghnall stand auf einmal hier mitten im Laden und hat sich die Bücher angesehen, aber ich weiß nicht warum, und man sagt, du wohnst jetzt in dem Haus, aber das kann ja nicht sein, niemand wohnt da freiwillig und warum hast du dich nicht gemeldet?“, bombardierte er Julien aufgeregt. Dieser hob in einer strengen Geste die Hand und Desmond verstummte augenblicklich.
„Des, hör mir jetzt genau zu, hast du mich verstanden? Ich konnte mich nicht bei dir melden, weil ich mich nicht bei dir melden darf. Ich ... ich bin verbannt“, gestand Julien widerwillig ein. Desmond hob erstaunt die Augenbrauen.
„Verbannt? Für immer?“, quiekte er entsetzt. Julien schüttelte verneinend den Kopf.
„Nein, nur für eine Zeitlang. Hoffe ich zumindest. Das heißt, ich darf nicht mehr mit dir reden, bis ich von meinem Vater etwas anderes höre und du darfst auch nicht mehr mit mir reden. Und ja, ich wohne in dem Haus und so schlimm ist das gar nicht“, fuhr er fort. Desmond zog die Nase kraus.
„Oh, man, das kommt von deinen scheiß Blutparties. Das mit dem in Blut baden ist aber auch wirklich übertrieben“, meckerte er frustriert und schob die Hände tief in die Hosentaschen. Julien runzelte die Stirn.
„Woher weißt du davon?“, hakte er scharf nach. „Warst du etwa mal auf einer? Ich habe dir verboten, dahin zu gehen!“
„Hey, meine Ex wollte mal auf eine, ich war nur zwei Mal!“, verteidigte sich Desmond unschuldig. Juliens Blick blieb kritisch.
„Okay, drei Mal! Aber nur, weil meine Ex unbedingt hin wollte!“, gestand Desmond und grinste seinen Vater engelsgleich an.
„Welche Ex?“, fragte Julien süffisant. Sein Sohn wechselte die Freundinnen wie Unterwäsche. Desmond grinste schief.
„Na, die eine, die mit den langen Haaren ...“, antwortete er vage. Julien lachte kurz auf und schüttelte den Kopf
„Ich sag dir jetzt eins; du gehst nie wieder auf eine illegale Party, hast du mich verstanden?! Und jetzt geh bitte, sonst bekommen wir wirklich Ärger!“, scheuchte Julien ihn fort. Desmonds Miene wurde leicht jämmerlich. Dann runzelte er die Stirn.
„Hey, ist das da drüben Onkel Phelan? Warum seid ihr zusammengekommen, er ist doch auch verbannt, also so richtig, für immer. Gibt das nicht mehr Ärger, wenn ihr miteinander redet? Wo hast du ihn getroffen? Hattest du seine Nummer?“, wollte er noch wissen. Julien stöhnte entnervt auf.
„Ja, das ist er und nein, gibt es nicht. Ich wohne jetzt bei ihm, das hat deine Großmutter ausgehandelt! Und jetzt verschwinde endlich, bevor wir Ärger bekommen!“, scheuchte er ihn weg. Desmond wandte sich um, um zu gehen und drehte sich noch mal zu Julien.
„Mo-ment. Du wohnst jetzt bei Onkel Phelan? Ich denke, du wohnst in diesem komischen Gruselhaus im Irish Bayou“, hakte er mit zusammengezogenen Augenbrauen nach. Dann formte sein Mund ein „O“.
„Ach, du heilige Scheiße!“, quiekte er, als er endlich verstand. „Onkel Phelan wohnt da? Er ist der komische Irre? Oh, verdammte Kacke!“ Desmond schlug die Hände vor den Mund und lachte ungläubig.
„FUCK! Das ist nicht dein Ernst! Weißt du, was alles über dieses Haus erzählt wird?“, kreischte er fassungslos. Julien holte tief Luft.
„Reiß dich zusammen, verdammt noch mal!“, fauchte er seinen Sohn an. Desmond schnappte erschrocken nach Luft.
„Ich weiß, was man über dieses Haus sagt und nichts davon stimmt! Und auch das, was man sich über Phelan sagt, stimmt nicht, er ist immer noch derselbe Phelan wie eh und je. Und jetzt geh bitte, ich will wirklich nicht, dass wir Ärger bekommen.“
Desmond scharrte verlegen mit seinem Schuh auf dem Boden herum.
„Tut mir leid. -Hey, Dad. Sag ihm einen Gruß und er fehlt. Du mir übrigens auch.“ Er hob die Hand zum Gruß in Phelans Richtung, dann wirbelte er herum und verschwand in der Menge. Julien hoffte kurz, dass sein Sohn sich nicht in Schwierigkeiten gebracht hatte, weil er mit ihm geredet hatte, doch dann stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht.
„Er ist wie ein Aal“, meinte Phelan hinter ihm. Julien nickte ohne sich zu ihm umzudrehen.
„Wir sollten ihn eascann nennen. Es wird nicht von Dauer sein. Bald kannst du wieder mit ihm reden.“ Phelan drückte ihm kurz die Schulter. Julien seufzte leise und blickte zu Phelan.
„Ich soll dir sagen, du fehlst“, sagte er leise. Phelan lächelte traurig.
„Sie mir auch“, antwortete er rau, gab sich einen Ruck und ging zur Bar. Julien sah ihm bekümmert nach. Er wusste nicht, was ihn im Moment mehr schmerzte; dass Phelan mit einem Mal so einsam wirkte oder weil er Desmond nicht mehr um sich haben durfte.
Desmond war nicht sein leiblicher Sohn, Julien hatte keine leiblichen Kinder, nur ein paar gemachte, aber er hatte Desmond mit erzogen, als er mit dessen Mutter zusammen gewesen war. Damals, als er unter Phelan bei den Wölfen vom Braeden gekämpft hatte. Desmonds Mutter Sybilla war eine Kriegerin im Heer gewesen. Nein, Sybilla war die Kriegerin im Heer gewesen. So schön und so tödlich. Mit flammendroten Locken und einer Figur … Julien seufzte leise.
Und einem Temperament ... Jetzt lachte er kurz auf.
Für Desmond war er der einzige Vater und für ihn selbst war Desmond sein erstgeborener Sohn, auch nachdem Julien nach Phelans Verbannung das Heer und somit auch gezwungenermaßen Sybilla verlassen hatte. Er und Desmond hatten sich nie aus den Augen verloren und kurz nachdem Julien nach New Orleans gezogen war, war Desmond ihm wie so oft hinterher gereist. Er hatte schon vor langer Zeit den Namen Delano angenommen und wohin sie gingen, stellten sie sich als Vater und Sohn vor. Sie waren Vater und Sohn, auch wenn Desmond ein Wolf war. Julien war bereit für ihn durch die Hölle zu gehen.
Er sah zu Phelan, der sich einen doppelten Whisky bestellt hatte, echten irischen Whisky, gebrannt im Braeden, ihn in einem Zug hinunterkippte und gleich den nächsten orderte.
Phelan hatte alles zurücklassenmüssen. Sein Heer, seine Familie, sein Rudel. Das waren die Wölfe vom Braeden für ihn gewesen. Sein Rudel. Sein Halt. Auch wenn Julien selbst im Moment nur Phelan, Conor und Yuri hatte, er wusste, irgendwann würde er wieder zurückkehren. In die Sicherheit des Delano-Clans -wenn er es denn wollte-, zurück zu seinen Freunden, seiner Familie, zurück zu Desmond.
Phelan allerdings … Julien wusste nicht, was die drei damals verbrochen hatten, aber er wusste, dass ihre Verbannung endgültig war. Ohne eine Aussicht auf Milderung der Strafe. Diese Art von Verbannung ging so weit, dass Phelan nicht nur keinem Rudel mehr beitreten, oder selbst eins gründen durfte, er durfte auch keine unbebauten Ländereien besitzen, die einem Wolf genügend Platz und Schutz zum Rennen ließen. Und die Verbannten durften sich ihrem Heimatland nur noch bis auf höchstens zehn Kilometer nähern, aber nie wieder betreten. Sie durften mit keinen Zughörigen des Rates reden. Verbannte hatten keinen Namen und kein Gesicht mehr. Ihre Namen durften nicht mehr laut gesprochen werden. Die Schreiber hörten auf, ihre Geschichte niederzuschreiben. Sie wurden vergessen.
Julien stellte sich neben Phelan.
„Lust auf betrinken, Gestrandeter?“, fragte er leise. Phelan drehte sich zu ihm und lachte heiser.
„Gestrandeter. So hat mich auch noch niemand genannt. Warum nicht“, sagte er mit einem wehmütigen Lächeln auf den Lippen und von Trauer glänzenden Augen. Julien nickte, deutete dem Barkeeper an, ihm zwei Whiskyflaschen zu geben, und folgte Phelan zu ihrem Platz.
„Es tut mir leid“, sagte er ehrlich, als er sich setzte. Phelan schürzte die Lippen und sah nach oben.
„Es ist nicht das allein sein, Julien. Es ist auch nicht, dass ich meine Familie nicht mehr sehen darf, oder dass Conor ein Wolf ist und ich langsam beginne, sein Gesicht zu vergessen.“ Er nahm den Blick von der Decke und blickte Julien direkt in die Augen. Sie waren so tief und dunkel und voller Leid, dass es Julien die Kehle zuschnürte.
„Daran gewöhnst du dich. Es ist zweifellos hart ohne ein schützendes Rudel, aber ich kann mich selbst beschützen. Ich konnte mich schon immer selbst beschützen. Ich fühlte mich nicht lange einsam und verlassen, ich habe bemerkt, dass ich mit diesem Leben endlich das haben kann, wovon ich bisher immer nur geträumt habe. Ich habe erkannt, dass ich endlich nur ich selbst sein kann, auch wenn das hieß, dass ich mein Rudel zurücklassen musste, meine Familie, meine Freunde, meine Existenz.“ Er verstummte kurz, trank einen Schluck Whisky und lachte hart auf.
„Doch nicht einmal jetzt gönnt er mir meinen Frieden. Jedes Mal, wenn ich ihn gefunden habe, reißt er ihn mir aus den Armen und er schert sich einen feuchten Dreck darum, wie ich mich fühle. Selbst jetzt, wo er mich verstoßen hat, wo es im Tal verboten ist, meinen Namen laut zu nennen, selbst jetzt benutzt er mich wie ein Ding, benutzt mich als seine persönliche atmende Waffe gegen jeden seiner Gegner. Und ich kann nicht einmal etwas dagegen tun. Und ihm, ihm ist es völlig gleichgültig, wie es mir dabei geht.“ Phelans Blick und Stimme wurden erst zornig und dann bitter. Er goss sich sein Glas voll bis an den Rand und leerte es.
„Gott! Ich war so ein Idiot!“, fluchte er und sein Zorn richtete sich jetzt auf sich selbst.
„Ich … ich … ich hätte …“, begann Phelan wütend, dann holte tief Luft, straffte die Schultern und ein sichtbarer Ruck ging durch seinen Körper.
„Egal. Hey, es gibt jetzt kosmetische Cremes ohne Duftstoffe, die selbst ein Wolf wie ich benutzen kann. Jemand den ich einmal kennen gelernt habe, macht seit einigen Jahren ein Vermögen mit völlig parfümfreien Kosmetikprodukten. Wenn du eine Hautcreme davon aufträgst, verfliegt ihr Eigengeruch fast augenblicklich und kann uns so nicht beim Wittern stören. Wusstest du das?“, wechselte er so extrem das Thema, dass Julien überrascht auflachte.
„Nein, ich kenne die parfümfreien Schönheitsmittelchen für die Menschlinge, aber das kenne ich nicht. Soll das heißen, du cremst dich jetzt ein?“, neckte er liebevoll und beschloss, das Thema Verbannung und Einsamkeit auf dann zu verschieben, wenn Phelan darüber reden wollte. Der schmunzelte leicht.
„Manchmal. Wenn sie mir eine Kiste mit ihrem Mist schickt. Sie fragt nämlich jedes Mal, was ich davon halte und sie merkt, wenn ich lüge“, gestand er ein. Julien grinste.
„Du warst eben schon immer ein miserabler Lügner“, bemerkte er spöttisch. „Das ich das noch erlebe, dass sich der große Phelan vom Braeden eincremt. Wenn man bedenkt, wie sehr du dich immer davor gewehrt hast.“
Phelan zuckte mit den Schultern.
„Ein Krieger cremt sich nicht ein“, behauptete er selbstgefällig und der letzte Rest Trauer und Verbitterung war aus seinen Augen verschwunden. Julien bewunderte ihn kurz dafür. Phelan kämpfte weiterhin verbissen um seinen Seelenfrieden, selbst wenn es immer wieder versucht wurde, ihn ihm zu nehmen.
„Leon schon“, erwiderte Julien und nippte an seinem Whiskyglas. Phelan prustete.
„Leon ist auch kein Krieger. Er ist ein Grieche“, gab er als Antwort. Julien lachte laut auf. Leon sollte kein Krieger sein? Leon Delano, geboren als Leonidas Delanious, genannt der Löwe des Süd-Ostens, der große Heerführer der Vampire, der große Führer des einen großen Heeres des Rates sollte kein Krieger sein? So etwas durfte nur Phelan laut aussprechen, jedem anderen wäre der Kopf von den Schultern gerissen worden. Julien lachte lauter.
„Und wer ist deiner Meinung nach dann ein Krieger?“, kicherte er belustigt.
„Borgúlfr. Der hat sich nicht einmal freiwillig gebadet!“, antwortete Phelan lächelnd. Julien stieß einen lachenden Schrei aus. Borgúlfr war ein Werbär unter Phelans Kommando gewesen, ein Riese von einem Mann, Schultern so breit wie ein Schrank und ein Bauch so hart wie Stahl; ein Krieger aus dem hohen Norden Norwegens, dessen bester Freund und Bruder ein homosexueller, feingliedriger und überaus eitler Vampir Namens Beigan war.
„Es sei denn Beigan hat gedroht, ihm über den Schurz zu kotzen, wenn er nicht augenblicklich Wasser zur Hand nimmt“, gluckste Julien und schlug die Hand vor den Mund.
„Weißt du noch, wie Beigan Borgúlfr an den Knöcheln gepackt und den ganzen langen Weg zum Fluss gezerrt hat? Er hat geschnauft wie ein Walross“, fragte er Phelan.
„Borgúlfr war so betrunken, dass er nicht einmal mehr lallen konnte, er gab nur noch Grunzlaute von sich. Und der arme Beigan musste danach erst mal seine Frisur wieder herrichten, da die ihm völlig abhanden gegangen war. Gott, er war schon ein eitler Geck“, sinnierte Phelan amüsiert.
„Erzähl mir mehr“, bat Julien versonnen. Phelan lächelte nachdenklich ohne in Schwermut zu versinken.
„Als Borgúlfr und Tariq sich das erste Mal begegneten, war tiefste Nacht, kein Stern leuchtete am Himmel und die Flammen der Lagerfeuer waren am Erlöschen. Borgúlfr hatte Nachtwache und döste mit offenen Augen, als ihn ein Bettlaken ohne Gesicht an der Schulter packte und in einem unverständlichen Kauderwelsch verfluchte. Borgúlfr stieß einen spitzen Schrei aus, machte einen Satz nach hinten und schwenkte seine große Axt hin und her, als ob er die Luft zerhacken wolle. Das Betttuch ohne Gesicht war Tariq, die Flüche waren in Arabisch und es waren keine Flüche, sondern die Frage wo sein Heerführer sei, er wolle dem großen Heer beitreten. Borgúlfr war nicht mehr zu beruhigen, er war der festen Überzeugung, unser muslimischer Freund sei ein Aptrgangr, ein Wiedergänger, der ihm Schaden zufügen wollte. Er soll aufgeschrien haben, wie ein Mädchen, als Beigan, wohl völlig genervt von seinem Bruder, auf Tariq zuging und diesen am Oberarm berührte um Borgúlfr zu verdeutlichen, dass es sich bei Tariq um ein lebendes Wesen aus Fleisch und Blut handelte und nicht um einen bösen Geist“, erzählte er. Julien lachte auf.
„Oh, ich hätte das gern gesehen“, gluckste er. Es war schwer vorstellbar, dass ein Mann wie Borgúlfr sich so vor etwas fürchten sollte.
„Ja, ich auch. Mein Vater hat diese Geschichte bei jeder Gelegenheit die sich ihm bot, erzählt und sich selbst am meisten darüber amüsiert. Ich kann es leider nicht halb so gut erzählen wie er, darum büßt sie einiges an Witz ein“, antwortete Phelan bedauernd. Julien machte eine abwertende Handbewegung.
„Du hast schon schlechter erzählt“, widersprach er unverhohlen. Phelan schnitt ihm eine Grimasse.
„Dann hat mein Lehrer in Freiem Reden doch nicht versagt, was!?“, scherzte er. Julien stieß ein Kichern aus.
„Er hat zumindest ein bisschen Erfolg verbuchen können.“
„Er war auch nur Mittelmaß“, setzte Phelan seinen damaligen Lehrer herab. Julien schnappte entrüstet nach Luft.
„Mittelmaß? Ich glaub dir geht's zu gut! Ich hab mir fast ein Bein ausgerissen, um dich dazu zu kriegen, einen klaren Satz zu sprechen! Mittelmaß, dir hust‘ ich gleich ein Mittelmaß“, grunzte er eingeschnappt. Phelan grinste breit.
„Los, du unglaublicher Redner. Erzähl mir eine gute Geschichte. Erzähl mir etwas von Ovid“, forderte er, goss sich Whisky in sein Glas und lehnte sich entspannt zurück. Julien legte den Kopf schief und dachte nach.
Das Klingeln verhieß nichts Gutes.
Phelan konnte das Unheil, das sich dahinter verbarg, beinahe mit den Händen greifen, als er zur Video-Türsprechanlage ging. Er schaltete die Videokameras ein, die rings um das Tor installiert waren und der Bildschirm leuchtete auf. In der Nahaufnahme über dem Klingelknopf erschien Frederick Burgings Gesicht. Es hatte einen wütend-verkniffenen Ausdruck. Phelan schaltete zu den anderen Kameras und der Bildschirm teilte sich in vier Quadrate. Burging war nicht allein gekommen. Er hatte die beiden Leibwächter, denen Phelan damals ordentlich den Hintern versohlt hatte, den Zweiten des Rudels Beau Lambert und Shane Ducote mitgebracht, letzterer sah nicht wirklich glücklich aus.
Phelan drückte auf den Knopf für die Gegensprechanlage.
„Was willst du?“, fragte er ungehalten. Burgings verkniffener Gesichtsausdruck wurde eine Spur verkniffener. Er war es nicht gewohnt, dass man so mit ihm redete und die Schmach, die Phelan ihm fünfundsechzig zugefügt hatte, nagte immer noch an ihm wie ein Geschwür.
„Ich will mit dir reden“, antwortete er gepresst und funkelte in die Kamera.
Phelan seufzte verhalten.
„Die Autos bleiben unten. Sobald das Tor aufgeht, solltet ihr euch beeilen, es öffnet sich nur für zehn Sekunden.“ Phelan betätigte einen Schalter und ließ das schwere schmiedeeiserne Tor gerade einmal weit genug aufgehen, um zwei Männer nebeneinander Zutritt zu gewähren. Er zählte im Geiste bis zehn und ließ das Tor wieder schließen. Der zweite von Burgings Leibwächtern schaffte es gerade noch, hineinzuschlüpfen.
„Wer ist es?“, wollte Julien neugierig wissen und streckte den Kopf aus der Salontür heraus.
„Burging. Er will mit mir reden. -Conor, Yuri, ihr bleibt wo ihr seid. Julien, gib Acht, dass sie das auch tun“, ordnete Phelan an und öffnete die Haustür. Er trat auf die Veranda, lehnte sich an eine der großen Säulen und beobachtete Burging und seine Männer, wie sie die lange Auffahrt nach oben liefen. Burgings Gesichtsausdruck nach zu urteilen, kochte er mittlerweile vor Zorn. Phelan sah die leichte Ausbeulung von Pistolenholstern unter den Sakkos der beiden Leibwächter. Er hob die Augenbraue. Wollten sie ihn jetzt etwa erschießen?
„Es zeugt nicht gerade von gutem Benehmen, bewaffnet zu einem Unbewaffneten zu kommen“, rief er der Gruppe entgegen. Burgings Blick schnellte zu Phelan. Er war tödlich.
„Meine Männer sind immer bewaffnet. Es dient zu meinem Schutz“, erwiderte er bissig und erreichte endlich die Treppe zur vorderen Veranda. Phelan sah ihn eindringlich an, während er darauf wartete, dass die restlichen Männer sich um ihren Rudelführer positionierten.
„Was willst du?“, fragt er erneut.
„Mit dir über die Toten reden“, antwortete Burging endlich. Phelan runzelte die Stirn.
„Na, dann, schieß los“, forderte er ihn auf, ohne sich von seiner Säule zu bewegen. Burgings Kiefer zuckten.
„Was weißt du darüber?“, herrschte er ihn an.
„Nicht mehr als du. Eher noch weniger. Zwei Wölfe und zwei Vampire wurden die Herzen herausgerissen. Und der zweite Vampir wurde von der Müllabfuhr entdeckt“, antworte Phelan gelassen, und holte ein Päckchen Zigaretten aus seiner Hosentasche. Er wickelte die Folie davon ab, öffnete sie bedächtig und zog eine Zigarette heraus.
„Möchte jemand?“, bot er höflich an und ließ die Schachtel fragend kreisen.
„Nein? Gut“, meinte er achselzuckend, als von niemandem eine Reaktion kam, klemmte sich seine Zigarette in den Mundwinkel und tastete seine Jeans nach einem Feuerzeug ab.
„Hat jemand von euch Feuer?“, fragte er freundlich in die Runde. Burging wirkte, als ob er ihm gleich an die Gurgel gehen würde, Beau Lambert starrte mit versteinerter Miene auf einen unsichtbaren Punkt hinter ihm und die Leibwächter blieben weiterhin in ihrer salzsäulenartigen Starre neben Burging sehen. Ducote senkte den Blick und lächelte leicht, während er sich in die Hosentasche griff.
„Hier“, sagte er und warf Phelan ein Feuerzeug zu. Der fing es elegant und zündete sich seine Zigarette an.
„Danke. Fang“, forderte er Ducote auf, doch der schüttelte verneinend den Kopf.
„Behalt es“, wehrte er ab. Phelan senkte leicht den Kopf zum Dank.
„Oh, vielen Dank“, bedankte er sich und schob es sich in die Gesäßtasche.
„Zurück zum Thema, Burging. -Warum kommst du zu mir?“, hakte Phelan nach und inhalierte tief. Burging ließ die Schultern kreisen, um sich zu sammeln.
„Ist das alles was du darüber weißt?“, hakte er unwirsch nach. Phelans Blick wurde geduldig.
„Es interessiert mich nicht, was in der Stadt passiert, es sei denn, es hat mit meinen Geschäften zu tun. Und das hat es in diesem Fall nicht“, antwortete er ruhig.
„Was ist mit deinem Beißerfreund?“, wollte Burging wissen. Phelan hob kurz die Augenbrauen.
„Für den gilt dasselbe. Wenn du allerdings gekommen bist, um mich um Hilfe zu bitten, muss ich ablehnen. Ich habe keine Zeit, mich um diesen Kram zu kümmern. Das ist nicht mein Job“, stellte er klar. Ducote verzog das Gesicht zu einer belustigten Miene.
„Bevor ich Hilfe von jemandem wie dir brauche …“ begann Burging gepresst und ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.
„Dann sehe ich das Gespräch als beendet. Ihr habt wieder zehn Sekunden, durch das Tor zu gehen. Jeder, der sich danach noch auf meinem Grundstück befindet wird als letztes mein Gesicht sehen, bevor ich seinen Kadaver im Sumpf versenke.“ Phelan drückte die Zigarette auf dem Holzgeländer aus und schnippte die Kippe achtlos ins Gras. Burging holte Luft um etwas zu erwidern - noch nie hatte ihm jemand so dreist ins Gesicht gedroht - dann wirbelte er auf dem Absatz herum und stapfte zurück zum Tor. Ducote drehte sich als letzter um, zuckte entschuldigend mit den Schultern und hob die Hand zum Gruß. Phelan nickte ihm zu, dann ging er zurück ins Haus.
„Was war das denn?“, fragte Julien neugierig als er die Haustür schloss. Phelan sah ihn tadelnd an.
„Habe ich nicht gesagt, ihr sollt im Salon bleiben?“
Julien verdrehte die Augen.
„Also eigentlich hast du nur gesagt, Conor und Yuri sollen bleiben wo sie sind. Ich sollte nur darauf aufpassen, dass die beiden das auch tun.“ Er grinste unschuldig und schob seine Hände tief in die Hosentaschen. Phelan seufzte gespielt genervt, öffnete den Wölfen für exakte zehn Sekunden das Tor und sah ihnen dann zu, wie sie ihn ihre Autos stiegen und davon fuhren.
„Ich glaube, Burging hat gehofft, dass wir die vier umgebracht haben“, witzelte er humorlos.
„Du hast ihm ganz schön eins mitgegeben, mit deiner Drohung“, wandte Julien ein. Phelan zuckte mit den Schultern.
„Mit dem komm ich klar. Ich hab mich schon mit Schlimmeren rumgeschlagen.“ Er holte sich eine neue Zigarette aus der Schachtel. Suchend klopfte er sich die Hosentaschen nach einem Feuerzeug ab, dann erinnerte er sich, dass Ducote ihm das seine geschenkt hatte und griff in seine Gesäßtasche. Phelan sah auf das Feuerzeug, stockte und lachte dann los. Julien kam neugierig näher.
„Was?“, wollte er wissen und sah über Phelans Schulter. Phelan hielt ihm das Feuerzeug hin.
„Seine Handynummer.“ Er grinste breit und zündete seine Zigarette an. Julien nickte beeindruckt.
„Cleveres Kerlchen. Er muss gehört haben, wie du bei den Telefonaten geraucht hast und dachte sich wohl, es sei ein guter Weg, dir so seine Nummer zukommen zu lassen“, lobte er anerkennend, griff Phelan über die Schulter und stibitzte ihm seine Zigarette aus dem Mund. Phelan sah ihn entrüstet an.
„Ich glaub ich mag ihn“, stellte Julien fest und schlenderte rauchend in die Küche.
„Kaffee?“, schlug er vor. Phelan sah ihn belustigt an.
„Du willst mir einen Kaffee machen? Gern“, stimmte er zu und zündete sich eine neue Zigarette an, während er Julien in die Küche folgte.
Sind wir beiden die einzigen, die sich darum Sorgen machen, dass der Rudelführer Phelan gerade eben indirekt des Mordes beschuldigt hat?, fragte Conor bekümmert. Yuri schüttelte sich.
Es sind doch einfach Idioten, bemerkte er abfällig. Ich werd mal ein Auge auf den Köter haben. Wer weiß, was der in seinem Wahn noch so alles anstellt.
Yuri spreizte die Flügel und flog elegant aus dem halb geöffneten Salonfenster Burging hinterher. Conor schnaubte. Er hatte keine Ahnung, was hinter den Morden steckte, aber so wie es aussah, steckten Phelan und Julien wohl in kleinen Schwierigkeiten.
Sie hatte ihn geschlagen!
Diese kleine Schlampe hatte ihm so eine Ohrfeige verpasst, dass sie ihm den Kiefer ausgerenkt hatte! Wütend stapfte er durch die leeren Straßen nach Hause. Er hätte gern zurückgeschlagen, aber das Miststück war um einiges stärker als er.
„Verfluchte Wolfsschlampe!“, knurrte er ungehalten und kickte eine leere Obstkiste aus seinem Weg. Sie wäre der perfekte Fang gewesen. Groß, schlank, sexy, heiß und dazu noch mit richtig viel Kohle. Seine Chance, aus dieser winzigen Bude rauszukommen, die sich seine Wohnung schimpfte. Er hatte kaum Geld, es war für einen Einzelgänger verdammt schwierig, einen Job zu finden. Wäre er ein Rudelwolf gewesen, hätte er gefälschte Papiere erhalten und zwar gratis, aber wenn man kein Rudel hatte, brauchte man viel Geld für falsche Ausweise und das hatte er nicht. Wie auch, wenn man nur Hilfsarbeiterjobs erledigen konnte? Oh, er hatte mal ein Rudel gehabt, vor etlichen Jahrhunderten, aber sie hatten ihn rausgeschmissen, er sei unkontrollierbar, seine Anfälle von wilder Raserei nicht mehr für das Rudel tragbar.
„Gottverdammter Fuck. Als ob ihr alle so perfekt gewesen wärt!“, jammerte er mürrisch und zündete sich eine Zigarette an. Eine Gestalt kam ihm entgegen und rempelte ihn an, er stolperte ein paar Schritte zur Seite und wirbelte herum.
„Hey, pass doch auf, wo du hinlatscht, scheiß verfickter Beißer, verdammt noch mal!“, schnauzte er den Vampir an, bevor er sich wieder wegdrehte und weiter ging.
„Scheiß Beißer, überhebliches Pack!“, motzte er undeutlich, dann packte ihn eine kräftige Hand an der Schulter und riss ihn herum.
„Ey, was zum Teufel soll ...?“ Er verstummte.
Seine Augen weiteten sich überrascht, als er spürte, wie eine Faust sein Brustbein durchschlug, sein Herz packte und herausriss. Es ging alles so schnell und wirkte so einfach, dass der erstaunte Ausdruck auf seinem Gesicht blieb, selbst als er schon tot war.
Ein Grollen erklang von der Gestalt, als diese den leblosen Körper los ließ und mit ihrer grausigen Beute in der Hand einfach ihres Weges ging.
Das Loup war zum Bersten voll.
Als Geschäftsmann begrüßte Phelan den gestiegenen Umsatz, als Privatmann fragte er sich, ob sein Volk wirklich so oberflächlich und kalt war, wie es schien. Mittlerweile suchte die Polizei von New Orleans nicht nur nach einem Mörder sondern auch noch nach einem Leichendieb, denn als der Pathologe am zweiten Tag nach dem Mord an der Vampirin die Leiche untersuchen wollte, war die Lade, in der sie gelegen hatte, leer. Phelan vermutete, dass Nemours sie hatte abholen lassen. Darüber hinaus waren in den letzten Tagen noch drei weitere Wölfe und zwei Vampire ermordet worden, allen waren die Kehlen zerfetzt und die Herzen aus dem Brustkorb gerissen worden. Gut, dass diese von Nemours und Burgings Leuten gefunden worden waren.
Und die Wermenschen und Vampire in New Orleans gingen völlig desinteressiert feiern. Er lehnte an seiner Theke und rauchte, während er sich überlegte, ob diese totale Gleichgültigkeit an ihren Mitmenschen eine Folge der Menschlings-Gesellschaft war, in der sie sich alle mit weitaus mehr Leidenschaft hineinstürzten, als sie Anteilnahme am gewaltsamen Tod ihrer Artgenossen nahmen. Oder sie verdrängten schlichtweg die Ereignisse und somit auch ihre Sorgen. Phelan drückte seine Zigarette aus und zündete sich gleich wieder eine neue an. Einer seine Türsteher kam auf ihn zu, Phelan deutete ihm an, zu bleiben wo er war und kam ihm entgegen.
„Was ist?“, brüllte er über den Lärm der Musik hinweg. Der Türsteher beugte sich zu Phelan vor.
„Da draußen steht Allister Nemours und will deinen Freund Julien sprechen. Soll ich ihn wegschicken?“ Der Türsteher sah Phelan fragend an.
„Nein, ich hol ihn.“ Phelan sah sich im Clubraum um, entdeckte Julien in einer Gruppe von Leuten und ging zielstrebig darauf zu. Er legte Julien eine Hand auf die Schulter.
„Draußen steht Nemours und will dich sprechen“, wisperte er Julien so ins Ohr, dass es die anderen weder sehen noch hören konnten. Julien sah ihn überrascht an und nickte dann.
„Ich komme. -Ihr entschuldigt mich?“ Julien neigte leicht den Kopf in Richtung seiner Gesprächspartner und folgte dann Phelan zur Eingangstür. Vor dem Club, zwischen den Häusern spürte Julien die Präsenz von Vampiren. Er steuerte darauf zu.
„Soll ich mitkommen?“, bot Phelan an. Julien schüttelte den Kopf.
„Bleib aber in der Nähe.“ Er verschwand in der Gasse. Phelan zündete sich eine weitere Zigarette an, lehnte sich an die Hauswand und wartete.
„Nemours“, grüßte Julien den Clanführer der Vampire von New Orleans. Allister Nemours‘ blaue Augen blickten hart. Er war ein großgewachsener, schlanker Mann mit blonden Haaren die zu einer modischen Kurzhaarfrisur geschnitten waren.
„Delano“, grüßte er zurück und seine Stimme klang wie Eis.
„Was kann ich für dich tun?“, fragte Julien freundlich.
„Ich nehme an, dass du von den Toten gehört hast“, begann Nemours und zupfte sich nicht vorhandene Fusseln vom Revers seines Jacketts. Julien nickte zustimmend.
„Wer hat das nicht?“, bemerkte er entspannt.
„Kanntest du die Toten?“, wollte Nemours wissen. Julien beschloss, dass es besser wäre, den völlig Ahnungslosen zu spielen.
„Ich weiß nicht mal, wer die Toten sind“, log er gelassen. Nemours verdrehte genervt die Augen.
„Oh, bitte, ich weiß, dass du alles und jeden kennst. Du treibst dich ja schließlich auch mit diesen Fellträgern herum, wie ich gehört habe. Also noch mal; kanntest du die Toten?“
„Nein, ich kannte sie nicht.“ Das war nicht einmal gelogen, er hatte wirklich keinen von ihnen gekannt. Und selbst wenn er jeden einzelnen von ihnen schon in sein Bett gezerrt hätte, dann würde er den Teufel tun, das ausgerechnet jemandem wie Allister Nemours zu erzählen. Er erinnerte Julien unangenehm an den alten Heerführer von Raghnalls großem Heer. Und diesen Kerl hatte Julien nicht ausstehen können.
„Wieso willst du das wissen?“, hakte er nach.
„Weil jemand in meiner Stadt fünf Vampire getötet hat. Deshalb.“ Nemours streckte sich und versprühte so viel Erhabenheit wie er konnte. Julien war ehrlich beeindruckt. Nicht von Nemours‘ Erhabenheit, sein eigener Vater hatte in seinem kleinen Finger mehr Erhabenheit als Nemours im ganzen Körper, aber er hätte nicht gedacht, dass der überhaupt so etwas wie Erhabenheit ausstrahlen konnte.
„Und da fällt dir niemand anders ein als ich? Ich bin ein Geschäftsmann, Allister. Und Tote kaufen keine Drinks und keinen Wein. Nenn mir also einen guten Grund, warum ich in diese Sache involviert sein sollte.“ Julien verschränkte die Arme vor der Brust.
„Du fällst mir da ein, weil du den Ruf hast, alles und jeden zu kennen“, erwiderte Nemours kühl. „Ich dachte, ich frag dich, ob du vielleicht mehr weißt, als wir. Und keine Sorge, du bist nicht so wichtig, dass wir nur dich fragen. Ich gehe zu jedem, von dem ich weiß, dass er viele soziale Kontakte in meiner Stadt hat und frage nach.“
Julien nickte leicht. Das war ein weitaus logischeres Vorgehen, etwas über die Opfer herauszufinden, als Burgings Art. Julien war der festen Überzeugung, dass dessen Besuch bei Phelan sich rein auf die Antipathie bezogen hatte, die zwischen den beiden herrschte und nicht wirklich Methode hatte.
„Ich weiß nicht einmal, wer sie waren. Ich weiß nur, dass es fünf Wermenschen und fünf Vampire sind und dass ihnen die Herzen rausgerissen und die Kehlen zerfetzt wurden. Und das ist genau das, was jeder von uns hier weiß“, erklärte er stoisch.
„Solltest du einmal mehr als das wissen, lass es mich wissen. Ich behalte dich im Auge, Delano“, sagte Nemours kalt, schnippte mit den Fingern und drehte sich elegant um. Aus dem Schatten lösten sich fünf Vampire, die Julien kurz musterten, bevor sie Nemours ins Dunkel der Gasse folgten. Julien wartete, bis sie verschwunden waren, dann ging er zurück zu Phelan.
„Und?“, fragte der und trat seine aufgerauchte Zigarette aus.
„So wie es aussieht, bin ich jetzt für den Clan irgendwie ein Mordverdächtiger“, sagte Julien lakonisch, zerrte Phelans Zigarettenschachtel aus dessen Hosentasche und bediente sich daraus.
„Du kannst es einfach nicht sehen, wenn ich etwas habe und du nicht oder?“, witzelte Phelan humorlos und gab Julien Feuer.
„Du kennst mich doch. Ich will immer das, was du auch hast.“ Julien zwinkerte ihm zu.
„Na los, gehen wir was trinken. Wow, ich werde als Verbrecher angesehen. Das ist cool“, meinte Julien, als er neben Phelan wieder zurück in den Club schlenderte. Der zuckte lässig mit den Schultern.
„Naja, ich hatte es mir interessanter vorgestellt. Eigentlich ist es ziemlich fad. Meistens erkennen sie dich nicht einmal.“ Phelan grinste schief.
„Gibt es da was, was ich wissen sollte?“ Julien knuffte ihm in die Rippen. Phelan tat, als ob er überlegen müsste.
„Nein“, erwiderte er lachend. Julien stieß einen entrüsteten Ton aus und knuffte ihn gleich noch mal. Phelan taumelte zwei Schritte zur Seite und hielt sich in gespieltem Schmerz die Rippen.
Er war ein böser Junge, er war ein Verdächtiger in mehreren Mordfällen, auch wenn diese Beschuldigung völliger Blödsinn war und er sich zugegebenermaßen ein bisschen mehr Bedeutung bei diesem Drama zumaß, als Nemours, nahm Julien das als Grund, um richtig auf den Putz zu hauen. Er flirtete intensiv eine unheimlich heiße Vampirlady an und erhielt prompt eindeutige Signale von ihr. Julien gab ihr zu verstehen, dass er sich draußen erst noch schnell einen kleinen Leckerbissen angeln würde und dann würden die beiden sich oben in Phelans Büro miteinander vergnügen.
Er verließ den Club mit dem Ziel in dessen Nähe auf einen geeigneten Menschling zu warten. Julien wählte eine Seitengasse als Versteck, verschanzte sich im Schatten des Eingangs und wartete auf den passenden Kandidaten. Julien war wählerisch. Sein Mitternachtssnack musste über gewisse gesundheitliche Eigenschaften verfügen. Das Blut durfte nicht zu fett, aber auch nicht zu fettarm sein, er sollte nicht unbedingt an einer Krankheit leiden, das veränderte nachteilig den Blutgeschmack, und am Besten war sein Opfer eine attraktive Erscheinung, das allerdings nur der Eitelkeit wegen. Auf der anderen Straßenseite ging ein Pärchen vorbei, eng umschlungen. Julien lächelte wehmütig. Mit Phelan war er nie engumschlungen irgendwo hingegangen, sie waren nur im Bett engumschlungen gewesen. Aber es war damals auch noch eine andere Zeit gewesen. Heute könnten sie es eventuell tun, wenn sie in San Franzisco gestrandet wären und nicht in New Orleans. Juliens Gedanken begannen zu wandern. Er hatte seit einigen Tagen keinen Sextraum mehr von Phelan gehabt. So sehr ihn diese Träume auch verwirrt hatten, irgendwie fehlten sie ihm jetzt. Julien stieß einen nachdenklichen Ton aus. Es war schon komisch. Eigentlich war er der dominante Typ, der, der hinten stand, aber bei Phelan war er sofort bereit gewesen, sich ihm hinzugeben. Und er hatte es nie bereut. Phelan war ein fantastischer Liebhaber. Wild, leidenschaftlich und doch so zärtlich und einfühlsam … Julien unterdrückte ein sehnsüchtiges Seufzen. Wenigstens konnte er Phelan wieder in die Augen sehen, wenn auch nicht für sehr lange. Julien befürchtete, dass, wenn er zu lange in diese Augen sah, er darin ertrinken und womöglich noch eine Dummheit begehen würde.
Ein leises Rascheln ließ ihn herumwirbeln und dann wurde ihm ein Schlag verpasst, der ihn auf die Wand an der gegenüberliegenden Seite der Gasse schleuderte. Julien fluchte verhalten. Verdammt, er war so abgelenkt gewesen, dass er nicht einmal gehört hatte, wie sich jemand an ihn herangeschlichen hatte. Er federte sich von der Wand ab, schärfte seine Sinne und sprang ins Dunkel. Irgendwo weiter hinten in der Gasse spürte er eine Präsenz, die ihn tiefer locken wollte. Julien trat einen Schritt zurück zur Straße. Er war kein Idiot. Er war ein Wolf vom Braeden. Auf so einen Trick fiel er nicht herein. Vor ihm zogen sich Schatten zusammen. Julien spannte unmerklich seine Muskeln an und bereitete sich auf einen Angriff vor.
Trotz seiner Erwartung kam er völlig unerwartet. Julien bekam einen harten Schlag von einem Angreifer auf seiner rechten Seite gegen die Schläfe, der ihn zurück gegen die Wand prallen ließ. Er schnellte vor, um zurückzuschlagen und traf nur die Luft. Julien wirbelte um seine eigene Achse, um seinen Angreifer zu finden.
Wo war er und warum konnte er ihn nicht sehen? Hinter ihm ertönte gefährliches Knurren. Julien erstarrte. Ein Werwolf? Sein Angreifer war ein Werwolf? Das war schlecht, ganz schlecht. Er konnte sich zwar gut verteidigen, aber gegen einen Werwolf hatte er fast keine Chance. Wermenschen waren um einiges stärker als Vampire und Julien hatte das ungute Gefühl, dass dieser Werwolf sehr viel stärker war als er. Außerdem neigten viele der amerikanischen Werwölfe dazu, sich in Kämpfen in Zweibeiner zu verwandeln, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren und dass wäre für ihn katastrophal. Vor allem, weil er unbewaffnet war.
Wir sehen unserem Tod furchtlos ins Aug', auf dass wir eintreten in die Hallen unserer Vorväter, dachte er leicht ironisch und wünschte sich, der Werbär Borgúlfr wäre jetzt hier, der wäre stark genug, um gegen diesen Werwolf zu kämpfen. Der wäre stark genug um gegen zehn von ihnen zu kämpfen. Julien wandte sich langsam um.
Oh, nein. Er würde hier nicht sterben. Nicht in einer stinkenden Gasse, allein, ohne Kameraden, die sich an seinen Tod erinnern und ihm ein Heldenlied singen würden. Er blinzelte erneut in die Dunkelheit und stellte leicht frustriert fest, dass er außer Schwärze nichts erkennen konnte.
„Hey, ich will echt keinen Ärger mit dir. Lass uns reden“, schlug er vor, breitete in einer friedlichen Geste die Arme aus und streckte die Handflächen ins dunkle Nichts. Julien kämpfte gegen seine aufkeimende Nervosität an und ermahnte sich, dass er ein Krieger war und kein unerfahrener Welpe. Er atmete langsam aus und sammelte seine Konzentration. Taktischer Wechsel, beschloss er und ließ die Arme wie zur Kapitulation sinken.
„Okay, du hattest deinen Spaß. Ich weiß, dass du hier bist, also zeig dich oder bist du so hässlich?“ Er ließ seinen Blick durch die Gasse schweifen. Dann packte ihn eine kräftige Hand an der Schulter, riss ihn herum und Julien starrte erschrocken in ein hassverzerrtes Gesicht. Der Werwolf knurrte wieder ein drohendes Knurren, dann holte er mit seiner freien Hand aus. Julien blockte den Schlag mit seinem Unterarm ab und trieb seinem Angreifer sein Knie in den Unterleib. Der Kerl klappte zusammen. Julien faltete die Hände wie zum Gebet und ließ seine doppelte Faust in seinen Nacken sausen. Ein weiteres Knurren erklang aus der Gasse, Julien trat seinem Angreifer so kräftig ins Gesicht, dass er hörte, wie dessen Jochbein und die Nase brachen und brachte einige Meter zwischen sich und ihn. Das Knurren erklang erneut.
Etwas war falsch. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht, Julien blinzelte und versuchte zu erkennen, was nicht stimmte, dann raste ein unglaublich schneller schwarzer Schatten auf ihn zu. Julien wollte sich gerade wegducken, als der zweite Angreifer aus seiner Flugbahn gerissen wurde und für einige Sekunden in der Luft schwebte. Erneut ertönte ein Knurren, doch dieses Mal war es völlig anders, es war richtig, dann prallte der Angreifer gegen die Wand an der gegenüberliegenden Seite und sank daran herunter.
„Faol!“, stieß Julien überrascht hervor, als er erkannte, wer seinen Angreifer aus der Luft gegriffen hatte. Phelan ignorierte ihn und trat zu dem Wolf, der benommen auf dem Boden hockte.
„Was willst du von ihm?“, fragte Phelan in einem Befehlston, den Julien noch sehr klar und deutlich in seiner Erinnerung hatte. Neben ihm stand ein Mann des Krieges. Phelan trat näher an den halb bewusstlosen heran und baute sich in seiner ganzen Erhabenheit vor dem Wolf auf.
„Was willst du von ihm?“
Der Wolf sprang mit einem Satz auf die Beine, fletschte die Zähne und versuchte, Phelan mit bloßen Händen die Kehle zu zerfetzen. Phelan schnellte vor, packte dessen Kopf und drehte ihn mit einem kräftigen Ruck zur Seite, bevor seine Hände auch nur in die Nähe seines Halses kamen. Julien hörte, wie das Genick brach und der Wolf sackte in sich zusammen. Phelan ließ den Körper zu Boden sinken. Julien trat näher.
„Was war das?“, wollte er wissen. Phelan ging neben dem Wolf in die Hocke und betrachtete ihn nachdenklich. Es war ein Mann Mitte dreißig, unscheinbar, unauffälliges Gesicht. Und offensichtlich war er tot. Das durfte nicht sein, ein Genickbruch brachte keinen Werwolf um. Phelan tastete an dem verdrehten Hals vergeblich nach einem Puls.
„Wieso ist er jetzt tot?“, murmelte Julien verwirrt. Brach man einem Wermenschen oder einem Vampir das Genick, wurde er zwar bewusstlos und bewegungsunfähig, aber er konnte sich heilen, ein Genickbruch brachte nur Menschen und Menschlinge um. Julien beugte sich zu Phelan hinunter.
„Er dürfte nicht tot sein“, stellte er fest. Phelan nickte, nahm die Hand vom Hals des Mannes und legte sie stattdessen auf seine Brust. Er war zweifelsohne tot. Phelan schnupperte leise, vielleicht sagte ihm der feine Geruch des Toten etwas. Es dauerte eine kleine Weile, bis er unter den vielen Gerüchen den richtigen erkannte und atmete die feinen Moleküle tief ein.
„Er war nicht bei Sinnen“, meinte er nachdenklich, während er weiterhin deutete, was seine Nase ihn erkennen ließ.
„Gibt es Tollwut unter euch?“, fragte Julien neugierig.
„Nein. Aber Wahn. -Was bist du?“ Phelan zog die Oberlippe des Mannes nach oben und begutachtete interessiert die Zähne.
„Er ist kein Werwolf“, stellte Julien fest.
„Er ist auch kein Vampir.“ Phelan tastete hastig den Körper des Mannes ab und griff in dessen Ausschnitt. Ein schlichter Rosenkranz hing um seinen Hals.
„Katholik“, stellte Julien fest. Phelan gab nur einen Ton von sich. Er ließ den Pulloverkragen los und hob den Kopf.
„Duck dich!“, rief er und schoss in die Höhe, dann flog eine schwarz gekleidete Gestalt auf ihn zu und riss ihn von den Beinen. Julien starrte dem Bündel Gliedmaßen nach, das tiefer in die dunkle Gasse rollte, dann bekam er einen Kinnhaken, der ihm beinahe die Sinne raubte. Er taumelte und kämpfte gegen eine Ohnmacht an. Was war das für ein Schlag gewesen! Julien schüttelte den Kopf um ihn wieder klar zu kriegen, bemerkte eine Bewegung aus dem Augenwinkel und ging in die Knie. Ein Körper prallte gegen ihn, Julien fing ihn ab, packte ihn an den Kleidern und nutzte den Schwung, um ihn hart auf den Boden zu werfen. Er hörte, wie Knochen knackend brachen und schlug zu.
Er sah sich suchend nach Phelan um. Im Dunkel vor sich hörte er Knurren und Fauchen. Etwas knallte gegen einen Müllcontainer. Dann war Stille. Kurz darauf kam Phelan zu ihm zurück. Sein Hemd hing in Fetzen an ihm herunter und er hatte tiefe blutende Kratzer im Gesicht und am Oberkörper. Julien sah ihn atemlos an.
„Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt. Phelan sah an sich herab.
„Ja. Und bei dir?“, wollte er im Gegenzug wissen. Julien nickte träge. Phelan blinzelte kurz, dann machte er einen Satz an Julien vorbei.
„Wo sind sie?“
Julien drehte sich um. Die Gasse war leer. Fassungslos suchte Julien mit den Augen den Boden ab, wo bis gerade eben noch zwei Bewusstlose und ein Toter gelegen hatten.
„Das glaube ich jetzt nicht. Die… die sind weg!“ Julien raufte sich fassungslos die Haare. Das konnte nicht wahr sein! Erst hatte er nicht bemerkt, dass sie sich angeschlichen hatten und jetzt verschwanden sie hinter seinem Rücken, als wären sie nie dagewesen.
„Ich… ich… ich habe nicht auf sie geachtet… wenn ich… dann wären sie noch da…“ versuchte er sich zu verteidigen. Phelan schüttelte verneinend den Kopf.
„Ist gut.“ Er sah sich kritisch um. „Verdammt!“, fluchte er los und trat gegen einen verbeulten Mülleimer. Julien zuckte leicht zusammen. Mit verschlossener Miene versuchte Phelan, sich das Blut mit seinem Hemdärmel vom Gesicht zu wischen, mit dem Ergebnis, dass er es nur noch mehr verschmierte.
„Das Hemd ist Schrott“, bemerkte er mit leichtem Bedauern. Es hatte ihm gefallen und jetzt war es nur noch ein besserer Putzlappen.
„„Wenn ich nicht völlig den Überblick verloren habe, dann ziehen sie zu siebt los“, stellte Phelan fest, verzog angewidert das Gesicht und spuckte Blut aus. Dann stemmte er die Hände in die Hüften und sah Julien an.
„Was machen wir nun?“, fragte er ihn. Julien zuckte mit den Schultern.
„Nach Hause gehen und baden?“, schlug der vor. Er hatte keine Ahnung, was sie jetzt machen sollten. Die ganze Situation gerade eben war einfach zu grotesk gewesen.
„Warum sollten mich sieben Werwölfe, die keine sind, angreifen?“
Phelan schüttelte den Kopf.
„Ich weiß es nicht, Iuls, ich weiß es nicht.“
„Aber wir wissen jetzt etwas anderes“, behauptete Julien, legte seine Hand auf Phelans Oberarm und bugsierte ihn langsam aber bestimmt aus der Gasse. Er wollte zurück ins Licht, noch eine Sekunde länger in dieser undurchdringlichen Schwärze und er würde durchdrehen. Phelan ließ sich widerstandslos nach draußen bringen.
„Wir wissen jetzt, wer die Vampire umgebracht hat.“
„Aber was sind sie?“ Phelan drehte sich noch mal zur Gasse und fixierte die Nacht darin. Er konnte keine Anwesenheit mehr dort spüren. Er wandte sich ab und hastete zum Auto, bevor jemand auf das Blut und sein zerfetztes Hemd aufmerksam wurde. Julien unterdrückte einen leichten Schauer.
„Keine Ahnung, Faol“, flüsterte er heiser. Er wollte nur noch in die Villa, nach Hause in sein sicheres Heim. Ein eiskalter Schauer durchschüttelte ihn, er warf noch einen kurzen Blick in die Gasse, dann drehte er auf dem Absatz um und folgte Phelan hastig zu ihrem Auto.
Im Dunkeln der Gasse ertönte mehrfaches Knurren und Fauchen.
„Ich sagte doch, es waren sechs Mann und der Tote auf dem Boden, ich habe keine Ahnung was sie wollten, außer vielleicht mein Hemd ruinieren.“ Phelan stand in seinem Zimmer und schälte sich aus den Überresten eines Hemdes, Julien hockte müde auf der Bettkante und Conor stand mitten im Raum und fixierte seinen Bruder mit seinen Bernsteinaugen.
„Faol ...“, begann Julien nachdenklich. Phelan schleuderte mit einem frustrierten Knurren sein zerrissenes Hemd auf den Boden und drehte sich zu ihm.
„Ich glaube, dass diese … diese was-auch-immer auch die Wölfe getötet haben“, vermutete er und sah Phelan fest in die Augen. Phelan sah ihn ernst an.
„Verflucht“, grollte er genervt und wünschte sich etwas in den Händen zu halten, was er auf den Boden schmettern konnte.
Und was ist mit den Angreifern geschehen?, hakte Conor nach.
„Die sind geflohen“, antwortete Phelan knapp.
Das ist nicht gut. Das ist überhaupt gar nicht gut. Conor tappte nervös im Raum auf und ab. Es ist nicht gut, wenn Gestalten herumlaufen, sie so stark sind wie wir, aber nicht zu uns gehören, fuhr er fort und klang besorgt. Phelan gab nur ein Schnauben von sich.
Wir sollten herausfinden, was diese Wesen sind und warum sie sich ausgerechnet Julien ausgesucht haben.
„Was sie sind, weiß ich nicht, warum sie Julien angegriffen haben, kann ich dir sagen. Weil er allein war. Und das bedeutet für mich, dass wir nicht mehr allein nachts durch die Stadt laufen und dunkle Gassen meiden. Und sie sind nicht so stark wie wir, sie waren sieben gegen einen. Das ist ja wohl kaum gleichstark“, fauchte Phelan und sah sich suchend in seinem Schlafzimmer um. Der Drang, etwas auf den Boden zu werfen wurde immer größer.
Phelan!, herrschte Conor ihn an und gab ein warnendes Knurren von sich. Sie haben einen von uns angegriffen! Wir sollten dringend etwas unternehmen!
Phelan ging schnaubend an seinem Bruder vorbei zu seiner Badezimmertür.
„Es interessiert mich nicht, was sie sind. Ich habe sie besiegt, sie sind geflohen und ich denke mal, dass sie uns von nun an nicht mehr angreifen werden, also ist dieses Thema für mich erledigt. Ich habe eine andere Aufgabe hier“, bestimmte er entschieden und verließ sein Schlafzimmer, um im Bad seine Wunden zu versorgen. Julien folgte ihm.
„Lass mich dir helfen. Die Kratzer sind tief.“ Er stellte sich hinter Phelan vor den Spiegel, streifte sich Latex-Handschuhe über und zog zischend die Luft ein. Mit einem Waschlappen begann er, Phelan das Blut vom Rücken zu waschen. Er konnte nicht aufhören, darüber zu grübeln, was ihre Angreifer für eine Rasse Mensch gewesen war. Sie waren nicht unsterblich, aber sie waren in der Lage, einem Wolf zentimetertiefe Risse ins Fleisch zu schneiden. Julien stockte, dann beugte er sich nah an Phelans Rücken.
„Metall“, sagte er und kratzte an einer der Wunden herum. Phelan zuckte vor Schmerz zusammen.
„Halt still, sonst verlier ich es wieder“, fuhr Julien ihn an und bohrte seinen Finger in Phelans wundes Fleisch. Der Wolf knurrte verhalten.
„Das ist Eisen. Geschmiedetes Eisen“, erkannte Julien, als er den kaum einen Zentimeter großen Eisensplitter aus Phelans Rücken gepult hatte.
„Die hatten Eisenklauen. Wahrscheinlich hatten sie Eisenhandschuhe an. Das würde auch erklären, warum mich ein Kinnhaken beinahe k.o. geschickt hat.“ Julien trat neben Phelan und hielt ihm sein Fundstück dicht vors Gesicht.
„Das heißt, sie sind nicht so stark. Sie brauchen metallene Handschuhe. -Mann, ich will wirklich dringend wissen, was das für Freaks sind“, murmelte er versonnen.
„Auf jeden Fall haben sie einen schlechten Schmied“, stellte Phelan mit zusammengepressten Zähnen fest und konzentrierte sich darauf, die Wunden heilen zu lassen. Als sie nicht mehr bluteten und sich die erste neue Hautschicht regeneriert hatte, brach er seine Konzentration ab, um die vollständige Heilung von seinem Körper übernehmen zu lassen. Morgen früh würden nur noch dünne weiße Streifen neuer Haut zu sehen sein und am Nachmittag wären keinerlei Anzeichen von Verletzungen mehr vorhanden.
Phelan nahm den Blick von dem Metallsplitter, den Julien ihm immer noch vor die Nase hielt und sah in dessen Augen. Sie waren so grau, ein so außergewöhnliches, helles grau mit leichten gelben Funken darin.
Er ertrank.
Die Welt verlor ihre Existenz in dieser blassen Farbe, in den Schattierungen und dem leuchtenden Gold. Phelan hörte, wie Juliens Herz in seiner Brust hämmerte. Oder war es sein eigenes?
Zögernd näherte er sich Juliens Gesicht.
Diese Schwärze sog ihn ein, sog ihn fort von allem, fraß ihn auf, umschlang ihn.
Julien spürte, wie ihm schwindelte, als der Blick dieser beiden schwarzen Augen in gefangen nahm und nicht mehr hergab. Sein Atem wurde hektischer, die unergründliche Tiefe zog und zerrte ihn näher an Phelan heran.
Alles in Ordnung bei euch? - Faol?
Phelan zuckte zusammen, als ob er geschlagen worden wäre. Er blinzelte hektisch, richtete sich mit einem Ruck auf und drehte den Kopf zur Tür.
„Wir kommen, Con!“
Er warf einen kurzen Blick zu Julien, der leicht zitternd vor ihm stand.
„Geh bitte nicht mehr allein nach draußen“, bat Phelan heiser. Juliens Augen wirkten im ersten Moment trüb, dann klärte sich sein Blick.
„Nein“, versprach er ernst und räusperte sich. Phelan nickte um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
„Gut. Dann sind wir nicht mehr angreifbar und um den Rest sollen die sich kümmern, die für die Sicherheit dieser Stadt zuständig sind. Wir sind aus der Sache raus und es ist erledigt“, beschloss er ruppig, wirbelte auf dem Absatz herum und hastete aus dem Bad.
Grund Gütiger, hatte er gerade versucht … hatte er sich zu Julien gebeugt?
Hatte er versucht ihn zu küssen? Phelan holte tief Luft.
War er wahnsinnig?
Er musste sich zusammenreißen, verdammt noch mal. Weitaus energischer als nötig stapfte er in sein Schlafzimmer um sich ein neues Oberteil anzuziehen.
Verfluchter Conor!
Julien sank auf den Rand der alten Badewanne.
Er hätte gerade beinahe Phelan geküsst.
Er-hätte-gerade-beinahe-Phelan-geküsst!
War er von allen guten Geistern verlassen? Er brauchte Sex und zwar dringend. Julien seufzte herzhaft.
Den Göttern sei Dank, dass Conor ihn aus dieser Situation gerissen hatte, nicht auszudenken, was geschehen wäre, hätten seine Lippen sich auf Phelans wiedergefunden.
Der verdammte Köter sollte zu Hölle fahren!
Es war nur der Anfang.
Fünf Tage später klingelten zwei Vampire von Nemours Clan bei Phelan, um ihm mitzuteilen, dass auf der Abfahrt zur Villa an der Interstate ein toter Wolf gefunden wurde. Drei Tage später waren sie wieder da, dieses Mal teilten sie ihm mit, dass knapp zehn Meter tiefer im Weg ein toter Vampir gelegen hatte. Tags darauf standen Beau Lambert und ein Phelan unbekannter Wolf vor dem Tor und eröffneten nicht nur, dass eine weitere Leiche knappe zweihundert Meter von den Grundstücksmauern der Villa entfernt gefunden worden war, sondern auch eine recht unterschwellige Andeutung, dass Phelan und Julien die Mörder der Frau sein könnten.
Es nervte Phelan zwar gewaltig, dass, wer sie auch immer waren, ihre Leichen jetzt in der Nähe seines Hauses abluden, aber im Großen und Ganzen ignorierte er die Geschehnisse ebenso, wie die lächerlichen Drohungen von Burging. Was würde er so dämlich sein, und die Leichen von denen, die er selber umgebracht hatte, vor seine Einfahrt legen. Wozu hatte er den Sumpf direkt in der Nachbarschaft!?Allerdings schloss er eine Wette um eine Woche Mülldienstmit Julien ab: Er wettete, dass es noch drei Leichen dauern würde, bis die Mordbeschuldigungen direkt ausgesprochen würden. Phelan verlor; nur eine Woche später standen zur großen Überraschung der beiden Polizisten aus New Orleans vor der Tür und baten um ein Gespräch, da ein Angler statt eines fetten Fischs einen toten Mann mit herausgerissenem Herzen am Haken hängen gehabt hatte. Phelan wurde aufs Revier gebeten, um seine Aussage zu machen und erhielt die Aufforderung, die Stadt nicht zu verlassen. Somit war er nun offiziell ein Mordverdächtiger und darüber hinaus auch noch um eintausend Dollar verlorener Wetteinsatz ärmer. Julien freute sich zwar diebisch über den erworbenen Reichtum, allerdings würde er das Geld sofort wieder verwetten, wenn ihn jemand fragen würde, wem Phelan seinen Besuch bei der Polizei zu verdanken hatte. Es konnte nur von Burging kommen. Der Rudelführer von New Orleans kam mit offenen Drohungen nicht bei Phelan an, also versuchte er es, auf andere Art und Weise. Als ob Phelan sich von menschlichen Polizisten einschüchtern lassen würde.
Conor wurde von Leiche zu Leiche hartnäckiger mit seiner Bitte, Phelan möge doch endlich etwas in der Sache unternehmen, was Phelans Gereiztheit langsam aber stetig steigen ließ und schließlich in einem verdammt lauten Streit ihren Höhepunkt erreichte, bei dem dank Phelan drei Vasen, zwei gusseiserne Pfannen und das Teeservice ihr Leben ließen. Danach war Conor vier Tage beleidigt und wechselte kein Wort mit seinem Bruder.
Kläffen und Jaulen drang an Juliens Ohr und trieb ihn unbarmherzig aus seinem Schlaf. Er schlug die Augen auf. Das Kläffen und Jaulen wurde erst leiser, dann wieder lauter und dazwischen drängte sich aufgeregtes Krächzen und Krähen. Zugegebenermaßen neugierig geworden, schwang er sich aus dem Bett und zog sich eilig an. Die Abendsonne stand noch am Himmel, Julien huschte die Treppe nach unten in den Ballsaal. Warme goldene Strahlen schienen auf die aufgewirbelten Staubkörner und spendeten ein funkelndes Licht. Julien trat an eines der bodenlangen Fenster.
Ein blonder Wolf stürmte über den Rasen, dicht gefolgt von einem schwarzen. Julien lächelte leicht.
Sie rannten.
Sein Lächeln wurde leicht wehmütig.
Julien beobachtete, wie die beiden Wölfe um einander herumtobten, spielerisch nach Ohren, Lefzen oder Beinen schnappten, ein Aufjaulen oder ein Quieken verriet, dass sie sich erwischt hatten. Phelan bremste abrupt ab, legte seinen Oberkörper auf den Boden und reckte sein Hinterteil hoch in die Luft, den erwartungsvollen Blick fest auf Conor gerichtet, der sich langsam und geduckt anpirschte. Die schwarzen Ohren zuckten, dann machte Phelan einen Satz zur Seite, rollte herum und kam auf allen Vieren wieder zum Stehen. Yuri krähte empört, als sein Sturzflug ins Leere ging und flatterte hektisch in die Höhe, um Conors zuschnappendem Kiefer zu entkommen.
Sie taten das, was Wolf und Rabe schon seit Anbeginn der Zeit taten. Sie spielten miteinander. Juliens feines Gehör vernahm das klackernde Aufeinanderschlagen von Conors langen Zähnen, als der blonde Wolf vergebens nach den Schwanzfedern des Raben schnappte, der ihn hämisch krächzend auslachte. Er kicherte in die Stille des Saales hinein, während der beobachtete, wie Conor hartnäckig wieder und wieder in die Luft sprang und Yuris Hinterteil jedes Mal um wenige Zentimeter verfehlte.
Er liebte es, den Wölfen beim ausgelassenen Spielen zuzusehen, das hatte er schon immer getan. Während er seine Freunde beim Toben beobachtete, fragte sich Julien, wie die Menschlinge wohl auf die Idee gekommen waren, dass sich Werwölfe nur bei Vollmond verwandeln konnten. Oder, was ein ziemlich neuer Trend war; dass sie sich, womöglich noch jede Nacht, verwandeln mussten, da sie keine Kontrolle über ihren inneren Wolf hatten. Er schnalzte leise mit der Zunge. Die Wermenschen sorgten vom ersten Moment an, dass Harmonie und Ausgewogenheit zwischen ihrer humanen und ihren animalischen Seite bestand. Und sie konnten sich zu jeder Tages- und Nachtzeit verwandeln, wenn sie denn wollten. Sie sollten es einfach nur in regelmäßigen Abständen tun, damit ihr inneres Tier sich austoben konnte. Dieses Austoben bestand meistens darin, dass sie rannten und Kleinvieh jagten. Und dann vor allem bei Vollmond! Sich bei Vollmond zu verwandeln war ja völliger Blödsinn, genauso gut könnten sie sich mitten in ein voll besetztes Fußballstadion stellen, das hätte ungefähr die gleiche Wirkung. Vollmondnächte waren viel zu hell, um sich heimlich zu verwandeln und um ebenso heimlich zu rennen. Julien machte leise Tztz-Geräusche.
Ein leichtes Prickeln auf seinem Rückgrat ließ Julien seine Aufmerksamkeit wieder auf seine spielenden Freunde lenken. Er grinste kurz, als er erkannte, was geschehen würde. Phelan rannte auf seinen Bruder zu, binnen eines Augenzwinkerns verwandelte der Wolf sich in einen Mann. Phelans kräftige Arme schlangen sich um Conors Brustkorb, hoben den Wolf in die Höhe und schleuderten ihn in Richtung des Raben. Conor spannte seinen Körper an und streckte den Hals.
Julien ballte erwartungsvoll die Hände zu Fäusten.
Er sah, wie sich Conors Maul öffnete, sah die spitzen Zähne im Licht der untergehenden Sonne aufblitzen und wie sich die Schneidezähne um eine von Yuris Schwanzfedern schlossen.
Der Rabe kreischte laut auf und flatterte hektisch mit den Flügeln.
Conor landete elegant auf dem Rasen, in seinem Maul hielt er eine lange Schwanzfeder von Yuri. Triumphierend drehte er sich zu seinem Bruder, der sich ebenso schnell wieder in einen Wolf zurückverwandelt hatte und gelassen auf den blonden Wolf zutapste.
Es ging so unglaublich, so unnatürlich schnell, die Verwandlung sollte schmerzhaft sein und länger dauern. Man sah sie, sah, wie sich Knochen und Fleisch bogen und verschoben. Man hörte, wie Knochen brachen, Fleisch riss. Das schmerzerfüllte Keuchen und Stöhnen. Und bei Phelan war es ein Atemzug, ein Wimpernschlag und dann stand statt eines Mannes ein schwarzer Wolf vor einem. Keine Schmerzen, keine sich verformende Knochen. Ein Gedanke und er war verwandelt. Und Julien liebte es, diesem schlagartigen Gestaltwechsel zuzusehen.
Er lehnte sich an den Fensterrahmen und betrachtete Yuri, der auf einem niedrigen Ast einer Lebenseiche hockte und wild mit den Flügeln schlagend die beiden Wölfe ankrähte.
Conor kaute genüsslich auf der Feder herum, der Ausdruck auf seinem wölfischen Gesicht war eindeutig triumphierend. Julien wandte den Blick von den dreien ab und wartete, bis die Sonne endlich untergegangen war. Auf der einen Seite wollte er ihre Dreisamkeit nicht stören, aber auf der anderen Seite wollte er daran teilhaben. Er wollte mit ihnen mitrennen und mit ihnen mitlachen, mit ihnen Herumalbern, sich mit den Wölfen balgen und versuchen, dem Raben eine Schwanzfeder zu stibitzen. Er wollte Teil ihres Rudels sein. Yuri drehte ihm den Kopf zu, sah dann in Richtung Westen und wieder zurück zu Julien.
Beweg deinen knochigen Hintern hier raus, es ist dunkel genug für dich, forderte er Julien auf.
Außerdem brauch ich deine Unterstützung. Die sind zu zweit, ich bin allein!
Julien lächelte leicht, öffnete eines der Fenstertüren und trat auf die Veranda. Laue Luft umwehte ihn und er sog tief den Geruch nach Sumpf und kommendem Regen ein. Er hatte nicht wirklich viel Zeit, sich seine Lungen mit der nichtklimatisierten Luft zu füllen, denn Conor raste in einem halsbrecherischen Tempo auf ihn zu. Er schlug wilde Haken, kläffte und jaulte und Julien schaffte zwei Schritte, bevor ihn knapp achtzig Kilogramm Wolf rammten und von den Beinen hebelten. Er flog mit rudernden Armen durch die Luft, wurde vom Geländer schmerzhaft abgebremst und vollführte einen strampelnden Salto kopfüber in einen vor der Veranda stehenden Busch.
Der Rabe lachte. Definitiv. Und Julien hasste ihn dafür. Er kämpfte seinen rechten Arm aus dem Geäst, hoffte, dass er Richtung Yuri zeigte und streckte in einer eleganten Geste seinen Mittelfinger in die Höhe.
Durch das dichte Gestrüpp gedämpft hörte er Phelans Lachen.
Julien knurrte einen unflätigen Fluch. Das erste was er sah, als er auf allen Vieren aus dem Gebüsch gekrabbelt kam, war Phelan, der in seiner menschlichen Gestalt neben der Lebenseiche kniete, sich mit der rechten Hand auf dem Boden abstützte, die linke auf dem Bauch liegen hatte und Tränen lachte. Daneben hockte ein blonder Wolf aus dessen geöffnetem Maul Töne drangen, die entweder ein Erstickungsfall waren, was Julien allerdings bezweifelte, da Phelan sich wohl kaum halbtot lachen würde, wenn sein Bruder am Ersticken wäre, oder ein Lachen sein sollten. Yuri hing krächzend und krähend auf seinem Ast. Kurz wallte Zorn in ihm hoch, er hasste es, ausgelacht zu werden, doch dann schwappte eine Woge Zärtlichkeit über ihn hinweg. Sie waren sein Rudel. Ja, im Moment lachten sie ihn aus, aber es würde auch eine Zeit kommen, in der er über sie lachen würde. Er räusperte sich und pflückte mit stoischer Miene kleine Zweige und Blätter von seinen Kleidern. Phelans Gelächter verebbte und machte einem breiten Grinsen Platz. Julien ignorierte ihn geflissentlich, während er sich weiterhin von sämtlichen Grünzeug befreite, das er finden konnte.
„Komm her.“
Die Worte waren so sanft und so voller Wärme; Julien beendete sein Putz-Schauspiel und kam mit einem glücklichen Lächeln näher.
Phelan hatte sich hingesetzt und lehnte mit dem Rücken am Stamm des Baumes. Mit tränenfeuchten Augen streckte er Julien die Hand entgegen. Conor kroch auf dem Bauch zu seinem Bruder und schmiegte sich an dessen Brust. Juliens Lächeln wurde breiter, als er auf seinen Freund zuging und sich vor ihm auf den Rasen setzte.
„Ihr seid scheiße“, knurrte er halbherzig und lehnte sich an Phelan. Dessen rechter Arm schlang sich augenblicklich um ihn und Conor veränderte seine Position und ließ seinen Schädel in Juliens Schoß sinken. Yuri segelte vom Baum und landete auf dem Kopf des blonden Wolfes.
Julien schloss mit einem genüsslichen Seufzen die Augen. Rudelkuscheln war fast genauso schön wie Rudelschlafen. Er gluckste leise.
Was hatte er dieses zusammengepferchte Schlafen am Anfang gehasst! Jeder lag über jedem oder unter jedem und jeder drückte sich an jeden und es war warm und feucht und überall nackte Haut … Julien lachte leise auf und erntete einen erstaunten Blick von Phelan.
„Was lachst du?“, wollte er wissen. Julien öffnete die Augen und drehte sein Gesicht zu ihm.
„Rudelschlafen“, antwortete er grinsend. Phelan erwiderte es.
„Du hast es gehasst und hast anfangs immer versucht, zu türmen“, erinnerte er sich belustigt. Julien nickte. Es war so völlig fremd für ihn gewesen, an kalten Tagen sein Lager mit manchmal zehn nackten Männern und Frauen zu teilen und jeder drängte sich bewusst oder unbewusst an den anderen, bis die Leiber nur noch ein ineinander verworrenes Knäul waren und er mittendrin steckte und nicht mehr wusste, wo sein Bein anfing und seine Hand aufhörte. Es hatte nichts erotisches an sich gehabt, wenn seine Hand einen Penis gestreift oder sein Knie sich gegen den Schamhügel einer Frau gepresst hatte, beim Rudelschlafen gab es keine Geschlechter, die es zu erregen galt, beim Rudelschlafen gab es nur geschlechtslose Körperwärme von nackter Haut, die einem Sicherheit und Geborgenheit vermittelte. Julien seufzte sehnsüchtig. So wenig er es zu Beginn leiden konnte, so sehr hatte er es lieben gelernt, als er sich auf das Heer eingelassen hatte, verhieß es doch Familie. Männer und Frauen, denen er vertrauen konnte, die ihn liebten, so wie er war.
Das Rudelkuscheln war seiner Meinung nach nur ein schwacher Ersatz für das Rudelschlafen, denn dabei waren die wenigsten nackt und Julien hatte irgendwann begriffen, dass jeder noch so kleine Streifen Stoff die Innigkeit, die gemeinsame Intimität, die sie dabei teilten, abschwächte. Er strich gedankenverloren durch Conors Nackenfell. Der Wolf gab schnurrende Geräusche von sich.
„Weißt du, was mich stört?“, unterbrach Julien die Stille. Phelan brummte nur ein „Hm?“.
„Dass es heißt, dass wir Vampire untot sind und dass wir keine Kirchen betreten können. Ich mein, ich bin nicht tot. Ich atme, ich fühle. Ich beginne auch weder bei Knoblauch noch bei Weihwasser zu rauchen. Ich schwör euch, dass ich die Notre-Dame besser kenne als jeder andere auf dieser Welt, so oft bin ich in dieser Kathedrale gewesen. Und ich kann mich im Spiegel sehen …“
Dafür kannst du den Göttern äußerst dankbar sein. Wie könntest du eitler Geck dir sonst die Tolle kämmen?, unkte Yuri schläfrig. Julien blitzte ihn an und schlug ihm leicht auf den Schnabel. Der Rabe kicherte nur.
„Ernsthaft, jetzt. Ich habe ein sehr klares und deutliches Spiegelbild. Mein Vater fängt vor Freude an zu heulen, wenn seine Köchin ihm Spaghetti aglio e olio kocht. Wir haben Vampire, die Priester sind, und die wedeln jeden Sonntag mit ihrem heiligen Weihwasser herum! Und unsere Herzen schlagen wie das jedes anderen Lebewesens. Wie kamen die Menschlinge dann nur auf die blödsinnige Idee, dass wir eigentlich tot sind und keine heiligen Orte betreten können?“ Julien schüttelte leicht den Kopf.
„Conor sagt, weil ein Menschling erst sterben muss, bevor er ein Vampir werden kann“, klärte Phelan ihn auf. Julien verdrehte die Augen. Das wusste er selber, er war kein kompletter Idiot.
„Aber sein Herz schlägt trotzdem!“, erwiderte er stur. Phelan öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, doch Julien unterbrach ihn, indem er die Arme in die Luft riss und ihm den Ellbogen gegen das Jochbein schlug. Phelan zuckte kurz zusammen, allerdings mehr vor Schreck als vor Schmerzen.
„Oder dieses, dieses Werwölfe verwandeln sich nur bei Vollmond!“, echauffierte Julien sich weiter. Entweder er ignorierte den unbeabsichtigten Schlag gegen Phelan gerade oder er hatte ihn schlichtweg nicht bemerkt. Phelan schüttelte belustigt den Kopf.
„Conors Theorie dazu wäre, dass die Menschlinge eine Verwandlung bei Vollmond gesehen hätten und deshalb glaubten, es sei nur bei Vollmond möglich“, übersetzte Phelan für seinen Bruder. Julien runzelte kritisch die Stirn.
„Oh, bitte, das ist ja wohl total doof. So bescheuert können doch nicht einmal Menschlinge sein!“, widersprach er entrüstet.
„Sie glauben nur das, was sie sehen. - Und wenn es dir nicht passt, wie ich deine Worte wiedergebe, dann lass dich von Yuri übersetzen oder lern, dich mit ihm zu unterhalten!“, herrschte Phelan seinen Bruder gereizt an. Conors Blick zu seinem Bruder war tödlich.
„Bitte, nicht streiten. Ich bin froh, dass ihr wieder miteinander redet, okay?“, bat Julien versöhnlich. Die Brüder blitzten sich noch kurz an und schnaubten dann beide, was Julien als Einverständnis ansah.
„Bei Vollmond ist die Nacht hell genug, dass sie so etwas beobachten könnten. Wer weiß, vielleicht hat er ja Recht damit. Fakt ist, dass sich kaum ein Wermensch mit Verstand bei Vollmond verwandelt. - Eben weil es zu hell ist.“ Phelan zuckte nachdenklich mit den Schultern.
„Außerdem, sagt Conor, ist die Notre-Dame auch eine Kathedrale und keine Kirche. Und er hat bisher immer nur gelesen, dass Beißer keine Kirchen betreten können“, korrigierte Phelan erhaben. Julien lachte.
„Ihr seid Idioten“, beleidigte er liebevoll. Phelan grinste ihn breit an und Conor hechelte zufrieden. Sie verfielen wieder in Schweigen und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Julien spürte Phelans kräftigen Herzschlag auf seinem Rücken. Sie hatten ihn gefürchtet, den großen schwarzen Wolf mit seinem seltsamen Heer, welches so sehr nach Niederlage aussah und doch immer siegreich gewesen war. Als Kind war Julien der Überzeugung gewesen, dass die Verwandlung von allen Wermenschen so schnell und einfach vonstattenging, wie die von Phelan. Dann hatte er nicht nur erfahren, dass es einem Werkind bis zum Ende der Pubertät verboten war, sich allein zu verwandeln, beziehungsweise, sich überhaupt zu verwandeln, da die Gefahr, mitten in der Verwandlung stecken zu bleiben, zu groß war und dass jede Verwandlung mit Schmerzen verbunden war. Bis auf Phelans.
„Weißt du noch, wie wir beiden als Kinder in Rom nachts auf die Jagd gegangen sind?“, wollte Julien wehmütig wissen. Phelan lachte leise auf.
„Natürlich, als ob ich das je vergessen könnte“, erwiderte er belustigt. Conors Ohren stellten sich interessiert auf.
„Erzähl du es, Iuls, du kannst es besser als ich“, bat Phelan und gab Julien einen aufmunternden Knuff. Julien grinste breit.
„Wozu ich mir Stunden um die Ohren geschlagen habe, um dich in freiem Reden zu unterrichten, ist mir schleierhaft“, tadelte er nicht wirklich böse. Er wusste, dass Phelan es hasste, zu erzählen und dass sich daran wohl auch nie etwas ändern würde.
„Als wir noch Kinder waren, ungefähr acht oder neun Jahre alt, sind wir manchmal nachts in Rom jagen gegangen. Phelan hat sich in einen kleinen Wolf verwandelt, ich habe mir die Tunika ein bisschen eingerissen und verdreckt, mir das Gesicht mit Wasser nassgemacht, damit es aussieht, als ob ich Rotz und Wasser geheult hätte und dann sind wir durch die nächtlichen Straßen von Rom gelaufen auf der Suche nach einem perfekten Opfer. Wenn wir dann eins gefunden hatten, habe ich mich an eine Straßenecke gestellt, meinen kleinen Hund in den Arm genommen und hab bitterlich geweint, da ich doch so allein war und meine Eltern im Gewirr der Straßen dieser ach, so großen und fremden Stadt verloren habe. Und wer kann schon den Tränen eines so süßen kleinen Knabens mit seinem niedlichen kleinen Hundchen widerstehen?“ Julien lachte leise auf und Conor schnaubte.
„Arglos sind wir dann mit den Erwachsenen mitgegangen, haben sie unauffällig in eine dunkle Ecke gelotst und sind dann über sie hergefallen. Wir haben uns sattgegessen und die Kadaver in die Katakomben geworfen. Das haben wir so lange gemacht, bis uns Markus erwischt hat. Erst hat er mich verdroschen, dann den kleinen Flohzirkus hier am Nacken gepackt und den windelweich geprügelt.“ Julien gab Phelan einen leichten Knuff in den Bauch und lachte.
„Und das Schlimmste daran war, wir konnten ihn nicht mal verpetzen, sonst hätten wir ja uns gleich mit verpetzt“, fügte Phelan lachend hinzu. Conor gab ein grunzendes Prusten von sich.
Die Prügel hattet ihr aber auch wirklich verdient, bemerkte er mit leichtem Tadel in der Stimme. Nicht nur das Jagen war extrem gefährlich gewesen, auch die Verwandlung von Phelan ohne einen erwachsenen Werwolf als führenden Mentor. Phelan schnitt seinem Bruder eine Grimasse.
„Ach, komm schon. Mehr als der gescheiterte Versuch, Julien zu kidnappen ist nie passiert. Meine Zähne waren schon damals scharf und ich ein guter Wachhund!“, verteidigte er ihre Dummheit. Conor verdrehte die Augen.
Du hättest mittendrin stecken bleiben können!, maßregelte er schulmeisterlich.
„Ich bin noch nie stecken geblieben. Ich hatte noch nie Probleme bei meinen Verwandlungen. Ich kenne meinen Wolf“, erwiderte Phelan ernst.
Ja, aber die anderen kennen deinen Wolf nicht und das soll gefälligst auch so bleiben! Du weißt ganz genau, was passieren würde, wenn Außenstehende erfahren würden, wie stark dein Wolf ist! Wann geht das endlich in deinen sturen Schädel, dass sie dich für eine Gefahr halten würden?, brauste Conor auf.
„Ich war acht, ich war noch ein Kind! Woher hätte ich denn damals wissen sollen, dass es nicht normal für einen Achtjährigen ist, sich, wenn er will, in einen Wolf verwandeln zu können? Du konntest es, Mutter konnte es, Ian konnte es, also war es für mich selbstverständlich, dass ich es auch kann. Ich hab erst durch Markus erfahren, dass es eben nicht normal für ein Werkind ist, dass es das kann!“
Ian und ich waren damals siebzehn, natürlich konnten wir uns schon verwandeln. Wir hatten beide Mentoren, die uns dabei geholfen haben, knurrte Conor.
„Hattest du einen Mentor?“, wollte Julien wissen. Junge Wermenschen und junge Vampire bekamen beim Eintritt in die Pubertät Mentoren zur Seite gestellt, die sie lehrten zu jagen ohne Aufmerksamkeit zu erregen und sich im Fall der Wermenschen, völlig zu verwandeln ohne in einer grotesken Zwischenform stecken zu bleiben, weil der Schmerz dabei überhandnahm und bei den Jungvampiren, dafür zu sorgen, den Blutrausch zu unterdrücken. Bei Julien hatte sich sein Onkel Leon angeboten, für einige Jahre sein Mentor zu sein und ihn das Jagen und die Selbstbeherrschung zu lehren.
„Nein. Wir haben behauptet, dass Darragh es sei, aber er konnte mir nichts beibringen, was ich nicht schon wusste. Ich hatte mich bis dahin schon oft genug verwandelt. Und wie will er mir beibringen, den Schmerz zu ertragen, wenn ich keine Schmerzen habe?“ Phelan zuckte mit den Schultern.
„Außerdem hat bis jetzt noch kein Außenstehender irgend einen handfesten Beweis gefunden, dass ich anders bin als andere Wölfe und das wird auch so bleiben“, fügte er trotzig hinzu. Julien grinste schief.
„Ja, ja. Der große Fáelán vom Braeden. Der mysteriöse Mann voller Geheimnisse“, unkte er. Phelan bohrte ihm seinen Zeigefinger ins Zwerchfell und Julien keuchte auf.
„Lass das!“, fauchte er und schlug Phelans Hand weg.
Und was machen wir jetzt?, mischte sich Yuri ein, der dem Geplänkel bisher nur zugehört hatte.
„Wie, und was machen wir jetzt?“, hakte Julien verwirrt nach. Es war ja wohl offensichtlich, was sie machten, nämlich aneinander gekuschelt an einer Lebenseiche lehnen. Der Blick des Raben wurde diabolisch und Julien würde Zeit seines Lebens Stein auf Bein schwören, dass Yuris Augen in diesem Moment rot geleuchtet hatten. - Was sie nicht getan hatten.
Wie wäre es mit einer Runde Beißer-jagen?, schlug der Vogel hinterhältig vor. Julien richtete sich ruckartig auf.
„Nichts da!“, widersprach er heftig. „Ich bin heute schon im Busch gelandet, das reicht ja wohl!“
Oh, du armer kleiner Kerl, hast du dir Aua macht?, frotzelte Yuri und schaffte es tatsächlich, mit seinem linken Flügel, Juliens Unterarm zu tätscheln. Phelan brach in schallendes Gelächter aus und Conor ließ sein Schnauben hören.
„Du bist so ein blödes Arschloch“, bemerkte Julien trocken, schnappte sich den Raben und drückte ihn fest an die Brust.
Die Welt sollte jetzt in diesem Moment anhalten und sich nie wieder weiterdrehen, denn das war einer dieser Momente, in denen nicht nur Julien Frieden mit sich hatte, auch Phelan fühlte sich gerade im Reinen mit sich selbst und konnte vergessen, dass dieser stille Moment nur geborgt war.
Denn schon zwei Tage später geschah etwas, was Phelan nie für möglich gehalten hätte.
Conor entdeckte eines nachts bei einem seiner Notdurft-Rundgänge auf dem ausladenden Grundstück die äußerst brutal und grausam zugerichtete Leiche eines Wolfes.
Phelan stand mit Julien neben seinem Bruder vor dem toten Körper und betrachtete ihn mit starrer Miene. Conor wusste, sein Bruder prüfte und analysierte was hier vor ihm auf seinem perfekten englischen Rasen in Reinkultur lag und wartete geduldig.
Und, hörst du mir jetzt endlich zu? Du musst was unternehmen, Bruder, forderte Conor ihn auf, als er schließlich nicht noch länger auf eine Reaktion warten wollte. Phelan kniff die Lippen zusammen und nickte.
„Ja, du hast Recht. Ich muss wirklich etwas unternehmen“, stimmte er Conor zu und ging energisch zum Gartenhaus. Conor sah irritiert dabei zu, wie Phelan im Inneren des Häuschens verschwand und dem Gartenschlauch in der einen und einem alten Teppich in der anderen Hand wieder zurückkam. Julien hob verwirrt die Augenbrauen.
„Was machst du?“, wollte er wissen. Phelan warf den Teppich auf den Rasen und rollte ihn aus.
„Ich werde die Leiche in den Sumpf werfen. Ich habe genug gesehen“, erwiderte er, bückte sich und wickelte die Überreste des Wolfes in den abgewetzten Stoff.
„Während ich eine passende Stelle suche, nimmst du den Schlauch und spritzt das Blut weg“, ordnete er an, drückte Julien den Gartenschlauch in die Hand und verschwand in der Dunkelheit des angrenzenden Sumpfes. Conor hätte sich am liebsten selbst in den Hintern gebissen vor Zorn und Frustration. Sein Bruder hatte nicht die dämliche Leiche zu versenken, er hatte etwas gegen diese ganze Scheiße zu unternehmen! Mit einem mächtigen Zorn im Magen tigerte er um Julien herum, der den Gartenschlauch aufdrehte und tat, wie Phelan ihm geheißen.
Als Phelan wieder aus dem Sumpf trat, hockte Conor schnaubend auf dem nassen Rasen und wartete.
Phelan, es ist mein ernst, du musst wirklich was unternehmen, du bist der einzige, der was machen kann! Bruder, bitte, tu es mir zuliebe! Hör mir zu, wer auch immer das macht hat uns eine Leiche auf den Rasen gelegt! Das war eine eindeutige Drohung!, beschwor er seinen Bruder, der schweigend das Häuschen abschloss und dann mit verkniffener Miene zurück zum Haus stapfte. Julien schob die Hände in die Hosentaschen und sah sich mehr gelangweilt, als wirklich beobachtend um.
„Ja und haben mir dabei fast meinen verfluchten englischen Rasen ruiniert!“, knurrte Phelan, trat in die Küche und wusch sich die Hände. Conor knurrte frustriert und ließ Julien mit seiner Beobachtung allein. Er stapfte durch die offene Hintertür und baute sich hinter seinem Bruder auf.
Sag mal, hörst du mir eigentlich richtig zu!? Das-war-eine-Drohung!, wiederholte er lauter.
„Wer sollte uns denn drohen und weshalb!?“, schnauzte Phelan ihn an und trocknete seine Hände ab.
HÖR AUF, DICH DUMM ZU STELLEN, DU WEISST SEHR WOHL, DASS ES EINE GOTT-VERDAMMTE DROHUNG SEIN SOLLTE UND DU WEISST AUCH VERDAMMT GENAU, WES-HALB DIR GEDROHT WIRD!
Phelan zuckte vor Schmerzen zusammen, als die Stimme seines Bruders in seinem Gehirn los schrie.
SIE DROHEN DIR, WEIL DU VERDAMMTES, STURES, DICKKÖPFIGES ARSCHLOCH EINEN IHRER BRÜDER UMGEBRACHT HAST!!
Phelan verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
„Wenn ich nicht reagiere, werden sie schon damit aufhören“, behauptete er bockig. Conor stieß einen mentalen Frustschrei aus, der in Phelans Kopf schrill widerhallte und ihn erneut zusammenzucken ließ.
„Hör auf, in meinen Kopf zu schreien, das tut weh!“, fauchte er seinen Bruder an.
LECK MICH!!!, brüllte Conor so laut er konnte. Phelan stöhnte vor Schmerzen auf und griff sich an den Kopf.
ICH HÖRE ERST AUF ZU SCHREIEN, WENN DU VERNÜNFTIG WIRST UND ICH NORMAL MIT DIR REDEN KANN!, kreischte Conor los. Phelan stieß einen Schmerzensschrei aus und sank auf die Knie. Unzählige kleiner kreischender Bomben explodierten in seinem Gehirn. Sein Blick verschleierte sich und seine Nase begann zu bluten.
„Hör auf, oder willst du mich umbringen?“, wimmerte er leise. Conor verstummte.
Dann sei vernünftig! Phelan, wir werden von diesen Wesen bedroht, du wirst von diesen Wesen bedroht, sie entwickeln sich zu einer wirklich ernst zu nehmenden Gefahr für uns.
Phelan wischte sich das Blut aus dem Gesicht und erhob sich langsam. In seinem Kopf hallte immer noch ein dumpfes Dröhnen nach und er fragte sich, ob man einen ihrer Leute zu Tode schreien konnte. Er gab seinem Kopf kurz Zeit, die meisten geplatzten Adern heilen zu lassen, dann wankte er mit weichen Knien zur Theke und nahm auf einem Hocker Platz. Conor war mit einem Satz auf seinem Stuhl. Er legte den Kopf auf die Tischlatte und sah Phelan ernst an.
Bitte, kleiner Bruder, bat er flüsternd, um das geschundene Gehirn seines Bruders zu schonen. Phelan war ihm äußerst dankbar dafür. Er stieß ein kleines Wimmern aus, als es trotz Conors Vorsicht höllisch schmerzte.
„Sagt mal, wieso konnten die auf das Grundstück? Ich mein, ich dachte, da ist ein Schutzwehr drum herum gezaubert“, bemerkte Julien, der unbeachtet in die Küche getreten war. Phelan zuckte erneut zusammen, als Juliens Stimme sein Gehirn zum Schwingen brachte.
„Leise, bitte“, wisperte er gequält. Julien sah ihn erstaunt an, dann registrierte er das Blut an Phelans Brust.
„Was ist passiert?“, fragte er alarmiert und hastete auf Phelan zu, der wieder schmerzgepeinigt zusammenzuckte.
„Conor hat so laut geschrien, dass meine Nase geblutet hat. Kümmer dich nicht darum, es heilt schon wieder“, hauchte Phelan wehleidig. Irgendwie war doch noch nicht alles in Ordnung in seinem Kopf, ein zu Schweitzer Käse gebrülltes Gehirn brauchte wohl etwas länger um zu heilen. Er stieß einen Frustlaut aus. Der Blick, den Julien Conor zuwarf war tödlich. Der verdrehte die Augen und verließ erhobenen Hauptes die Küche.
„Was hat er gesagt? Er hat doch noch was gesagt, oder?“, flüsterte Julien kritisch. Phelan grinste schief.
„Er sagte, er geht Yuri rufen. Und dass er sich nicht entschuldigen wird, ich hätte es verdient.“ Er schloss die Augen.
„Wird besser. Zumindest fühlt sich mein Kopf nicht mehr an, als ob er mit Messern durchbohrt wird, wenn du redest.“
Julien setzte sich neben ihn auf den Barhocker und blies die Backen auf. Schweigend sahen sie sich an und wenn es nach Julien gegangen wäre, hätte dieser Moment ewig andauern können. Zu seinem Leidwesen betraten jedoch nach nur wenigen Minuten Conor und Yuri das Zimmer und rissen so Phelans Blick an sich.
Was macht dein Kopf?, fragte Yuri schadenfroh. Phelan verkniff sich eine ordinäre Geste.
„Besser“, antwortete er trocken.
Wir wollen Spuren suchen. Kommt ihr mit? Der Vogel ließ seinen Blick zwischen Julien und Phelan schweifen.
„Meinetwegen. Gehen wir auf Spurensuche“, stimmte Phelan lustlos zu und erhob sich.
Ich teile nämlich Juliens Neugier, wie diese was-auch-immer es durch das Wehr geschafft haben, verkündete Yuri, während er in eleganten Kurven aus der Küche flog. Phelan folgte ihm und traf den Raben gleich am Rand des Lichtkegels wieder.
„Ich schätze, du brauchst ein Taxi“, witzelte Phelan, bückte sich und nahm den Vogel vorsichtig in die Hände. Yuri krähte wehleidig.
„Julien und ich und Conor und du. -Was sagst du dazu?“, schlug Phelan vor. Yuri krähte zustimmend. Phelan drehte sich um und setzte ihn auf Conors Rücken.
„Ihr bleibt innerhalb des Wehrs, Julien und ich gehen auf der Außenseite auf Suche“, bestimmte er. Conor bellte einmal und marschierte mit Yuri auf seinem Rücken und der Nase auf dem Boden los. Julien trat hinter Phelan.
„Irgendwie tut er mir leid. Nachts ist er zu gar nichts zu gebrauchen. Er sieht nicht gut genug um zu fliegen, nur sein Gehör ist halbwegs nützlich. -Und selbst das ist im Vergleich zu Conors praktisch kaum vorhanden.“ Er seufzte leise. Phelan nickte.
„Er ist unsere Augen und Ohren bei Tag an Orten, an die wir nicht gelangen können. Seine Zeit wird kommen“, prophezeite er nachdenklich und starrte in die Dunkelheit.
„Lass uns gehen.“ Er trat aus dem Lichtschein der durch die offene Küchentür fiel. Julien schloss die Tür hinter sich und folgte Phelan in die Nacht.
„Wir haben ein mordsmäßiges Problem“, bemerkte Julien und nagte an seiner Unterlippe herum. Phelan wanderte voll unterdrücktem Zorn im Salon herum, Conor hockte wie ein Häuflein Elend auf seinem Lieblingssessel und Yuri, der auf dem Sims des großen steinernen Kamins saß, trommelte mit seinen Krallen nervös gegen die Steinkante. Julien sah zu Phelan, der herumwirbelte und sich nach irgendwas umsah, wahrscheinlich etwas, was er gegen die Wand schmettern konnte.
„Das ist doch gequirlte Drecksscheiße!“, brauste Phelan auf und warf die Hände in die Luft. Am liebsten hätte er eine der großen alten chinesischen Vasen an die Wand geschleudert, aber er besann sich eines Besseren und beließ es bei zornigen Gesten. Eine zerdepperte Ming-Vase hätte nur wieder einen Streit zwischen ihm und Raghnall bedeutet und dafür hatte er nun wirklich keine Nerven übrig.
„Alles, was unter den Weisen Rang und Namen hat, hat gemeinsam dieses verfickte Wehr gezaubert und mir unter Eiden geschworen, dass nichts und niemand, der Schlechtes im Sinn hat, dieses Grundstück betreten kann!“, donnerte er los und deutete anklagend zu den Fenstern nach draußen. Julien nickte nur.
„Unter gottverdammten Eiden! Und jetzt steh ich hier und hatte eine scheiß Leiche in meinem Garten liegen und muss feststellen, dass offensichtlich wohl doch jemand dieses Grundstück betreten kann!“ Phelan rubbelte sich hektisch mit beiden Händen über das Gesicht.
„Ich muss es Raghnall sagen. Und der muss mir bessere Weise herschicken, als diesen zweitklassigen Voodoopriester mit seinen Hühnerknochen“, grollte er und marschierte mit ausholenden Schritten in den Flur zum Telefon. Julien sah zu Conor und schnitt eine Grimasse.
„Ich glaube, jetzt kriegen wir wirklich ein Problem“, flüsterte er dem Wolf zu, der nur fiepte.
Draußen wurde Phelan lauter.
„… Es ist mir verdammt noch mal scheiß egal, welche Order du von Raghnall bekommen hast und welche nicht, sag ihm augenblicklich, dass sein Enkelsohn Phelan vom Braeden ihn sprechen möchte! … Glaub mir, Freundchen, wenn du so weitermachst, dann geh ich das Risiko einer Strafe ein und komm nach Irland und wenn ich dich dann in die Finger kriege, wird dein letzter Wunsch sein, dass du ihn in doch ans Telefon geholt hättest …“
Julien hörte ihn tief Luft holen und dachte, dass er jetzt mit Lichtgeschwindigkeit losgerannt wäre und Raghnall ans Telefon holen würde, egal, was dieser in diesem Moment treiben würde. Phelan stieß ein Knurren aus, so tief und so gewaltig, dass Julien erschauderte und es Conor die Nackenhaare aufstellte. Offensichtlich zeigte es Wirkung, denn gleich darauf hörten sie, wie Phelan ein entnervtes „Geht doch“ zischte.
„Julien. Zigaretten“, herrschte Phelan in den Salon und selbst wenn Julien diesen Umgangston als äußerst rüde empfand, erhob er sich rasch und holte Phelan eine Packung Zigaretten und einen Aschenbecher.
„Danke.“ Phelan rang sich ein freundliches Lächeln ab. Julien machte eine abwehrende Handbewegung. Sein Freund war entschieden zu gereizt, um wirklich ernsthaft nett zu sein. Rauchend und mit steigender Ungeduld wartete er, seinen Großvater endlich am Apparat zu haben. Julien schob Phelan einen Stuhl zu und dieser nahm mit einem dankbaren Nicken Platz.
„Was willst du?“, hörte Julien Raghnall am anderen Ende der Leitung sagen und verschwand wieder im Salon. Er empfand es als besser, sich nicht in direkte Hörweite zu befinden, wenn Phelan mit seinem Großvater redete.
„Wir müssen reden“, begann Phelan harsch und erzählte knapp, was sich an diesem Abend zugetragen hatte. Danach herrschte für kurze Zeit Schweigen. Schließlich hörte Julien, wie Phelan den Telefonhörer auf die Gabel legte und sich vom Stuhl erhob.
„Er kommt. Wenn auch unter Protest“, informierte Phelan die drei und lehnte sich an den Türrahmen.
„Und er bringt deinen Vater mit“, fügte er hinzu. Julien verdrehte theatralisch die Augen. Nicht seinen Vater. Wenn sein Vater hier war, dann würde er zur Überzeugung kommen, Julien befände sich hier in akuter Gefahr und würde ihn dann umgehend irgendwo anders hin verfrachten, wo er seiner Meinung nach sicher und wohlbehütet wäre. Was dann entweder in Irland oder in Rom bei Dashiells Bruder Leon wäre. Nicht, dass Julien etwas gegen einen Besuch bei seinem Onkel Leon einzuwenden hätte, aber nicht jetzt in dieser Situation. Er wollte hier bei Phelan bleiben und ihm helfen, bei was auch immer kommen mochte.
„Wäre es nicht besser gewesen, wenn du den Toten nicht im Sumpf versenkt hättest?“, wandte Julien vorsichtig ein. Phelan sah ihn erstaunt an.
„Wieso? Wolltest du ihn Raghnall und deinem Vater zeigen?“
Julien verdrehte die Augen.
„Nein. Falls ihn jemand kennt“, wandte er leicht gereizt ein.
„Brauchen wir nicht“, entgegnete Phelan und zündete sich eine Zigarette an.
„Ich hab ihn erkannt“, fügte er hinzu. Julien musste sich zusammenreißen um nicht aufzuspringen.
„Und warum sagst du das jetzt erst?“, brauste er auf.
„Weil ich andere Probleme hatte, als die Identität eines Toten!“, fuhr Phelan ihn an.
Wer war er?, mischte Conor sich ein.
„Er war Nicolas Berkeley, der zweite Befehlshaber von der Armee von Patrick dem Roten.“ Julien sagte zwar der Name Nicolas Berkeley nichts, aber er kannte Patrick den Roten. Er war der Heerführer einer der größeren Wolfsarmeen des Rates. Er hob erschrocken den Kopf.
„Ein Ratsmitglied?“, schreckte er auf.
„Oh Gott, verdammt! Bisher waren es alles Einzelgänger gewesen. Keiner der Werleute war in einem Rudel, die meisten waren Verbannte und die Vampire hatten ebenfalls keinen Kontakt zu irgendwelchen Clanen. Warum töten sie jetzt ein Ratsmitglied? Das ist doch viel zu gefährlich.“ Jetzt sprang Julien doch auf. Er starrte Phelan mit aufgerissenen Augen an und raufte sich die Haare. Phelan hob verwundert die Augenbrauen.
„Nik ist ausgetreten“, widersprach er und seufzte leise. Warum wunderte es ihn überhaupt, dass Julien das nicht wusste. Immerhin hielt Dashiell seinen Sohn mit aller Gewalt aus Ratsdingen heraus. Julien sah ihn überrascht an.
„So was geht?“, fragte er erstaunt. Phelan nickte zustimmend.
„Natürlich. Das ist keine Verpflichtung sondern ein freiwilliges Bündnis“, erinnerte er Julien geduldig. Julien machte „Ah“ und zog dann nachdenklich seine Stirn in tiefe Falten.
„Weißt du was mich stört; Nik war ein guter Soldat, er war der zweite Befehlshaber von Patrick dem Roten. Er hätte sich wehren können, müssen“, fügte Phelan mit Nachdruck hinzu.
„Du, Faol. Was, wenn sie wissen, wer du bist?“, wollte Julien plötzlich wissen. Phelan schüttelte verneinend den Kopf.
„Das können sie nicht wissen, mein Name existiert nicht mehr, schon vergessen? Und hier in der Stadt heiße ich auch nicht Fáelán vom Braeden sondern Phelan Vallée. Keiner von meinen Angestellten auf der ganzen Welt weiß, wer ich wirklich bin und es gibt außer meiner Familie drei Leute, die es wissen und für die lege ich meine Hand ins Feuer. Sie können nicht wissen, wer ich bin. Nein, das ist unmöglich“, widersprach er energisch. Julien biss sich nachdenklich auf die Unterlippe.
„Und was wollen sie dann damit sagen?“, fragte er in die Stille des Salons.
„Dass sie verdammt sauer auf mich sind, weil ich einen von ihnen getötet habe.“
Julien sah Phelan fest in die Augen.
„Denkst du, du warst der erste, dem das gelungen ist?“
Phelans Blick wurde überrascht. Conor hob den Kopf und Yuri legte seinen schief.
„Ich mein, nur mal angenommen, okay!? Also, wenn du der erste bist, der jemals einen von ihnen getötet hat, dann bist du eine Gefahr für sie! Also ich an ihrer Stelle würde zusehen, dass ich dich kalt machen könnte. Irgendwie. Und wenn ich die wäre, dann würde ich dir dein Leben bis dahin zur Hölle machen“, erklärte Julien aufgeregt. Das musste es sein, sie fühlten sich von diesem Wolf bedroht.
„Du bist zu sehr mit deiner Mutter verwandt. Die sieht auch in allem Verschwörungen und droht armen Seelen damit, ihnen das Leben zu ruinieren“, scherzte Phelan lahm. Juliens Blick wurde tadelnd.
„Das ist jetzt nicht die Zeit für Scherze, vom Braeden, ja!?“, schnauzte er ihn an. Phelan grinste nur schief.
„Also ich finde, das sagt, dass sie ziemlich von sich überzeugt sind. Und jemand, der uns das so deutlich zeigt, wie die, muss einen guten Grund für dieses Selbstvertrauen haben. Ich glaube, wir unterschätzen sie gewaltig. Ich glaube, dass da eine sehr gut geregelte Organisation dahintersteckt“, sagte Phelan ernst.
„Da stecken mächtige Leute mit drin“, fuhr Julien fort. Sein Gehirn lief auf einmal auf Hochtouren. „Sehr mächtige.“ Er begann, im Raum auf und abzuwandern.
„Das ist kein Rassenkrieg“, wandte Phelan ein.
„Denn das sind weder Wermenschen noch Vampire“, ergänzte Julien.
„Nein“, stimmte Phelan zu.
„Aber was sind sie dann?“ Julien sah ihn fragend an, doch Phelan zuckte nur mit den Schultern.
„Eigentlich wollte ich mich damit nicht auseinandersetzen, Iuls“, gestand er leicht frustriert. Julien lächelte.
„Als ob du das je könntest. Dich nicht mit Kriegen auseinandersetzen. Du bist Fáelán vom Braeden, man“, erwiderte Julien sanft. Conor sah zu Yuri und hechelte zufrieden.
Und was alles werden wir den Alten erzählen?, fragte Conor seinen Bruder. Phelan sah kurz zu Conor, dann zu Julien.
„Er fragt, was wir den Alten alles erzählen werden.“
Julien drehte sich zu Conor und grinste verschlagen.
„Wie immer: nur das Nötigste. Und zwar so lange, bis es sich nicht mehr vermeiden lässt.“
Raghnall und Dashiell saßen wie zwei grimmige Schulkinder nebeneinander auf der großen Couch, in den Händen hielt jeder ein Glas Whisky und ihre Blicke, die sich fest auf Phelan gerichtet hatten, waren ernst.
„Was ist genau geschehen?“, wollte Raghnall wissen. Phelan, der auf der Armlehne von Conors Lieblingssessel hockte, zuckte mit den Schultern.
„Wie ich dir schon am Telefon gesagt habe, das Wehr funktioniert nicht richtig. Es hat jemand das Grundstück ohne meine gesprochene Erlaubnis betreten“, antwortete er leicht gereizt. Raghnalls Nähe war für ihn beinahe unerträglich. Allein die bloße Anwesenheit seines Großvaters brachte ihn in Rage und das, gepaart mit der Tatsache, dass Phelans Anliegen ein äußerst heikles Thema war, ließ seine Nerven vibrieren.
„Drück dich deutlicher aus“, knurrte Raghnall ungehalten. Phelan hatte ihn her zitiert und jetzt, da er vor ihm saß, musste er seinem Enkelsohn jedes einzelne Wort aus der Nase ziehen. Phelan holte tief Luft und stieß sie in einem herzhaften Seufzer wieder aus.
„Jemand ist auf dieses Grundstück gekommen und hat mir einen Toten aufs Gras gelegt“, wiederholte er gepresst. Dashiells Blick huschte kurz zu Julien der nur zustimmend nickte.
„Das wissen wir schon“, fuhr Raghnall ihn an und bevor ein Streit von Zaun brechen konnte, fuhr Dashiell dazwischen. Beruhigend legte er eine Hand auf Raghnalls Unterarm.
„Phelan. Ich denke, ich möchte als erstes erfahren, weshalb jemand überhaupt auf die Idee kommt, euch eine Leiche auf den Rasen zu legen“, forderte er mild.
„Was wisst ihr über die Morde, die in letzter Zeit hier passiert sind?“, hakte Phelan nach.
„Nicht genug, denke ich. Allerdings stellen die Menschlingsmedien bis jetzt keine ernst zu nehmende Gefahr für uns dar. Und da der Clan und das Rudel offensichtlich alles im Griff zu haben scheinen, haben wir uns darum auch nicht wirklich gekümmert“, gestand Dashiell ohne Reue ein. Phelan nickte.
„Gut. Dann hoffe ich, ihr habt ein wenig Zeit mitgebracht“, erwiderte er und begann von den Morden in New Orleans zu erzählen. Von den Toten, die immer näher an der Villa gefunden wurden und er beendete seine Erzählung mit dem Toten auf seinem Rasen.
„Und jetzt möchte ich gerne erfahren, weshalb man dir -oder Julien“ Dashiell warf wieder einen kurzen Seitenblick auf seinen Sohn; dieses Mal eindeutig vorwurfsvoll. „so viel Aufmerksamkeit schenkt, dass man euch mit Toten beschenkt.“
„Ich habe einen von ihnen getötet“, antwortete Phelan knapp. Raghnalls Blick verdüsterte sich.
„Und weshalb hast du einen von ihnen getötet?“, wollte Dashiell wissen und leerte sein Glas.
„Weil sie mich angegriffen haben.“ Die Lüge kam so glatt von Phelans Lippen, dass selbst Julien sie geglaubt hätte, hätte er nicht die Wahrheit gekannt. Bekümmert fragte er sich, wann Phelan gelernt hatte, so gut zu lügen, das letzte Mal, als sie sich gesehen hatten, war sein Freund einer der schlechtesten Lügner der Welt gewesen. Raghnalls buschige rechte Augenbraue schoss in die Höhe. Conor seufzte in Gedanken. Wenn diese Augenbraue nach oben schoss, war das kein gutes Zeichen.
„Und weshalb wurdest du angegriffen? -Sprich“, forderte Raghnall barsch.
„Ich war vor meinem Club um ein wenig frische Luft zu schnappen und bin die Straße lang geschlendert und in einer dunklen Seitengasse wurde ich angegriffen. Ich glaubte zuerst, es seien Wölfe, also habe ich einem von ihnen das Genick gebrochen, als er mich angegriffen hat, um ihn während des Heilungsprozesses zu fragen, was der Angriff bezwecken sollte, aber er war tot“, fasste Phelan grob zusammen, was vor einigen Wochen in der dunklen Gasse in der Nähe des Clubs geschehen war und ließ nur die Tatsache aus, dass es Julien gewesen war, der angegriffen worden war. Julien nickte wieder zustimmend. Die beiden Alten nickten nachdenklich.
„Bist du dir sicher dass er tot war? Es gehen die Gerüchte von Aufruhren um“, wandte Dashiell ein und stellte sein Glas vor sich auf den antiken Couchtisch. Phelans Blick verdüsterte sich.
„Natürlich bin ich mir sicher, dass er tot war, ich habe genug Männer in meinem Leben getötet um zu wissen, wann jemand tot ist und wann nicht!“, fauchte er ungehalten.
„Ich habe ihn nach einem Lebenszeichen untersucht. Der Kerl war tot. Endgültig tot“, bekräftigte er seine Aussage und verschränkte trotzig seine Arme vor der Brust.
„Hast du jemanden, der es bezeugen kann?“, wandte Dashiell ein. Phelan knirschte mit den Zähnen.
„Natürlich nicht! Ich bin wohl kaum zurück in den Club geschlendert und hab mir jemanden geholt, damit ich einen habe, der den Tod dieses Typen bestätigen kann! Darüber hinaus wurde ich von seinen sechs Freunden angegriffen. Ich war also etwas beschäftigt“, fauchte er ärgerlich. Noch mehr solcher Fragen und es würden doch noch Mingvasen zu Schaden kommen und sei es nur, um seinen Großvater zu erzürnen.
Phelan, mahnte Conor sanft und dieser schloss kurz die Augen um sich zu sammeln.
„Okay, noch mal: Wir haben gekämpft, ich habe ihm das Genick gebrochen, er war danach endgültig tot. Dann griffen mich seine sechs Kumpels an. Während ich mit zwei von ihnen beschäftigt war, haben sich die anderen vier ihren toten Kameraden geschnappt und sind auf und davon. Und die beiden anderen sogleich hinterher.“ Phelan erhob sich von der Lehne und bediente sich an der Bar. Mit einem vollen Glas Whisky nahm er wieder auf der Armlehne Platz.
„Und jetzt kommt‘s:“ Phelan beugte sich dramatisch vor und Julien konnte das leicht irre Funkeln in seinen Augen sehen. Phelan wollte jetzt nicht nur erzählen, er wollte vor allem ärgern.
„Raghnall, Dashiell. Es waren keine Wölfe. Es waren auch keine Vampire. Und auch keine Menschen, wenn sie auch eher in deren Richtung tendierten. Was auch immer mich da angegriffen hat war stark. Beinahe so stark wie ein Vampir und etwas stärker als ein Menschenkrieger. Und so wie sie mit einander harmoniert haben, haben die nicht das erste Mal zu siebt Jagd auf einen Wolf gemacht.“ Er lehnte sich mit leichtem Triumph zurück und nippte an seinem Glas. Raghnalls rechte Augenbraue blieb unverändert oben.
„Phelan. Keine Scherze“, drohte er. Phelan lachte bitter auf.
„Woher wusste ich nur, dass du mir nicht glaubst!?“, rief er bissig.
„Es gehen Gerüchte um, dass es Aufruhre hier in der Stadt geben soll“, warf Dashiell ein und unterband erneut einen aufkommenden Streit zwischen Phelan und seinem Großvater.
„Blödsinn. Dummheit und Augenwischerei“, schnaubte Phelan in sein Glas.
„Und wie steht es mit der „Flurbereinigung“ wie Nemours es so schön nennt? Zu viele Einzelgänger, die zu viel Ärger machen?“, hakte Dashiell nach.
„Völliger Blödsinn. Keiner von denen war auffällig“, verwarf Phelan auch diese Theorie. Dashiell nickte nachdenklich.
„Nimmt es bedenkliche Ausmaße an?“, fragte er. Phelan riss die Augen auf.
„Natürlich tut es das, immerhin kommen sie ungehindert auf mein Grundstück! Meinetwegen können die umbringen wen sie wollen, aber sie haben nichts auf diesem Grund und Boden verloren!“, brauste er auf. Raghnall knallte sein Glas auf den Tisch.
„Es reicht, Phelan“, warnte er. „Wir kümmern uns um die Verstärkung des Wehrzaubers.“
„Ich will ein neues Wehr“, forderte Phelan vermessen. Julien zog leicht den Nacken ein. Das war eindeutig der falsche Ton gewesen. Raghnall schnellte von der Couch.
„Du forderst?“, brauste er auf.
„Ich fordere. Immerhin bin ich derjenige, der hier festsitzt und deine scheiß heiligen Bücher bewacht! Ich kann nicht vierundzwanzig Stunden am Tag auf der Lauer liegen. Auch ich muss schlafen. Ich will ein Blutwehr“, verlangte Phelan ruhig und nippte an seinem Whisky. Raghnall schloss die Augen und atmete tief ein.
„Ein Blutwehr? Weißt du, wie aufwändig ein Blutwehr ist?“, hakte er mühsam beherrscht nach. Phelan nickte treu.
„Natürlich. Aber es bietet den besten Schutz. Nur die, deren Blut in dem Wehr ist, können es frei durchschreiten und alle anderen brauchen persönliches Geleit oder die eindeutig gesprochene Einladung es jederzeit durchschreiten zu können. Das klingt meiner Meinung nach richtig gut“, erwiderte er. Raghnall sah zu Dashiell, der seinen Blick erwiderte. Phelan beobachtete mit leisem Triumph die stumme Konversation der beiden. Er wusste, er würde sein Blutwehr bekommen, Dashiell würde seinen Großvater überzeugen.
„Meinetwegen. Du sollst dein Blutwehr haben“, knurrte Raghnall schließlich mürrisch. Phelans Genugtuung war mehr als nur offensichtlich.
„Fein. Dann wäre das also geklärt.“ Er prostete seinem Großvater zu und leerte sein Glas.
„Und mit den Freaks die da draußen rumrennen, was habt ihr mit denen vor?“, fragte er ohne recht zu glauben, dass der Rat etwas unternehmen würde. Er behielt Recht.
„Wie schon gesagt, da die Menschlinge noch nicht von Übernatürlichem sprechen ist es für uns noch nicht von Belang. Und da die Amerikaner nicht wirklich mit und nach den Regeln des Rats leben, sondern nur mehr oder weniger mit uns Kooperieren und das auch nur, wenn es ihnen in den Kram passt, sehen wir keinen Grund, uns in diese Sache einzumischen“, wehrte Raghnall entschieden ab.
„Das einzige, was für uns von Belang ist, ist dass die Bibliothek weder in ernsthafte Gefahr noch in den Fokus der Öffentlichkeit gerät. -Daher rate ich dir, Phelan, halte dich bedeckt und aus allem Ärger heraus.“
Phelan machte einen untertänigen Diener.
„Ich werde mich an deine Worte erinnern, wenn mich in der nächsten Zeit wieder jemand umbringen will. Dann werde ich denjenigen bitten, kurz zu warten, damit ich mir überlegen kann, ob ich mich wehren und meinen Angreifer dadurch töten könnte oder ob ich mich töten lassen soll“, spottete er boshaft.
„Phelan, es ist unser ernst!“, fuhr Dashiell ihn an. „Du hütest unseren wichtigsten Schatz und es ist deine Pflicht, ihn solange zu hüten, wie wir es von dir verlangen!“
„Das weiß ich selbst, ich bin kein Idiot! Ihr verlangt von mir, diese Schriften mit meinem Leben zu verteidigen, mit allen Mitteln und Konsequenzen und gleichzeitig droht ihr mir, weil ich mich verteidige, wenn ich angegriffen werde. Soll ich die Einzelgänger von meinem Grundstück wegquatschen? Glaubt ihr, wenn ich noch mal von solchen Gestalten angegriffen werde, lassen die sich dazu überreden, sich einen anderen zu suchen, den sie umbringen können?“, brauste Phelan auf.
„Ich habe nicht so lange überlebt, wenn ich nicht wüsste, wie ich mich bedeckt zu halten habe! Wirke ich, als ob ich gleich überschnappen und mordend durch die Stadt ziehen würde? Herrgott noch mal, ich bin mir meiner Aufgabe wohl bewusst!“ Er erhob sich und baute sich vor Dashiell und seinem Großvater auf.
„Ich bin ein Krieger und niemand weiß das besser als du, Raghnall! Also komm mir nicht mit Dingen, die ich schon als Kind eingebläut bekommen habe!“
Julien erhob sich und legte seine Hand auf Phelans Unterarm.
„Faol, hör auf. Lass es gut sein. Bitte“, beschwor er ihn eindringlich. Phelan war kurz versucht, Juliens Hand abzuschütteln, ließ dann aber zu, dass sie dort ruhte.
„Ich will nur, dass das neue Wehr so schnell wie möglich steht“, sagte er noch.
„Sagt mir, wann ihr mein Blut braucht.“ Phelan streifte sanft Juliens Hand von seinem Arm, stellte sein Glas auf den Tisch und ging zur Tür.
„Ich bin in meinem Zimmer. -Falls ihr mich brauchen solltet“, fügte er noch hinzu, bevor er den Salon verließ und nach oben ging. Julien sah ihm nach und unterdrückte ein Seufzen.
„Das wäre nicht nötig gewesen“, bemerkte er mit leisem Tadel in der Stimme. Dashiell stieß einen genervten Ton aus.
„Fang du jetzt nicht auch noch an“, warnte er. Julien verdrehte die Augen.
„Ich fange überhaupt nichts an, ich sage nur, dass Phelan der Letzte ist, dem ihr die Wichtigkeit seiner Aufgabe in Erinnerung rufen müsst. Und ihr könnt unbesorgt sein, er hat sich zu überhaupt gar nichts hinreißen lassen, was seine Aufgabe gefährden könnte. Ganz im Gegenteil. Er hat euch sofort angerufen, als er bemerkt hat, dass jemand unerlaubt das Grundstück betreten hat. Er hätte auch losziehen und denjenigen suchen können und wir wissen alle, dass Phelan denjenigen irgendwann gefunden hätte und das wäre dann alles andere als schön ausgegangen“, rief er den beiden Ratsältesten ins Gedächtnis. Irgendwie war es wie immer. Phelan stritt sich mit seinem Großvater, reizte schließlich auch noch Dashiell und entweder er oder Conor - wenn es richtig eskaliert war auch beide - mussten die Wogen wieder glätten.
„Darum: bitte, Onkel Raghnall, Vater. Bitte keine solchen Vorwürfe. Phelan hat keinerlei Anschuldigungen verdient“, bat Julien versöhnlich und riss seine grauen Augen flehend auf. Und es verfehlte auch dieses Mal nicht seine Wirkung. Julien konnte deutlich sehen, wie sich zuerst Raghnall, dann sein Vater entspannten. Raghnall ließ sich zurück auf die Couch sinken.
„Nun gut. Ich werde dafür sorgen, dass so schnell wie möglich Weise hierher kommen und den Zauber beginnen. In der Zeit und solange der Zauber gesprochen werden muss, um das Wehr zu erstellen werde ich Wächter abstellen, die Phelans Aufgabe übernehmen“, lenkte er ein. Julien nickte zustimmend.
„Danke“, sagte er dankbarer als er in Wahrheit war. Raghnall machte nur eine abwertende Geste.
„Ich gehe jetzt in das Arbeitszimmer und werde telefonieren“, beschloss er, erhob sich wieder und verließ den Salon, um in Phelans Arbeitszimmer ungestört Zauberer, Hexen und Priester anzurufen und eine kleine Armee herzu ordern, die sich um den Schutz der Bibliothek kümmern sollte.
„Und ihr macht euch also keine Sorgen über die ganzen Morde, die hier in der Stadt verübt worden sind?“, hakte Julien vorsichtig nach, als Raghnall gegangen war. Dashiell schenkte sich noch ein Glas Whisky ein.
„Nein. Bisher sind die Amerikaner recht gut allein mit solchen Dingen fertig geworden. Dass dein Bruder vor nicht allzu langer Zeit diesen einen Aufruhr in San Franzisco niedergeschlagen hat, lag daran, dass sich der ansässige Vampirclan an ihn gewendet hat. Zumindest sind sie uns jetzt so einiges schuldig. Wir mussten viele Fäden ziehen, um das alles vor den Menschlingen zu vertuschen. Und hier zeichnet sich im Moment nichts ab, was darauf schließen ließe, dass in nächster Zeit zu viel Aufmerksamkeit auf diese Geschehnisse fallen könnte. Nemours mag sein wie er will, von Burging ganz zu schweigen, aber sie haben ihre Stadt im Griff. Und vielleicht ist es auch gar nicht so schlecht, die Einzelgänger ab und an in ihre Schranken zu weisen. Sie können durchaus lästig werden“, erklärte er gelassen. Julien fiel beinahe aus seinem Sessel.
„Vater! Du redest hier von toten Wermenschen und Vampiren, als ob es lästige Schmeißfliegen wären!“, rief er entrüstet. Dashiell verdrehte die Augen.
„Manchmal sind sie das auch“, erwiderte er weiterhin gleichgültig. Julien konnte es nicht fassen. So viel Kaltherzigkeit hätte er seinem Vater nie zugetraut. Er stieß einen ungläubigen Ton aus.
„Und was ist dann Phelan für dich? Auch nur noch eine lästige Schmeißfliege?“, stichelte er und Zorn wallte in ihm hoch. Dashiells Blick war tadelnd.
„Also bitte, mach dich doch nicht lächerlich. Natürlich ist Phelan keine Schmeißfliege für mich. Herrje, was denkst du denn von mir?“ Er gluckste belustigt. Julien schnaubte.
„Im Moment habe ich keine Ahnung was ich von dir denken soll“, knurrte er missmutig.
„Werdet ihr die ganze Zeit da sein, bis das neue Wehr steht?“, wechselte Julien abrupt das Thema. Dashiell zuckte mit den Schultern.
„In der Stadt wahrscheinlich schon, nur nicht hier in der Villa. Die Gegend hier ist mir zu… depressiv. Zu viel spanisches Moos an den Bäumen, zu viel wilde Natur.“ Er schüttelte sich leicht. Julien verkniff sich mit Mühe einen bissigen Kommentar. Aber Phelan konnte man in diese depressive Gegend stecken. Er schnaubte mürrisch.
„Ich mag die Gegend“, behauptete er trotzig. Und wurde sich bewusst, dass er es tatsächlich auch tat. Er hatte diese wilde Gegend lieben gelernt, und am liebsten wanderte er mit Phelan durch den Sumpf. Oft hatten sie das noch nicht getan, bis auf die Nacht, in der sie nach Spuren gesucht hatten, nur zwei Mal, aber diese beiden Male waren einmalige Erlebnisse gewesen. Davon abgesehen, dass Phelan jeden Busch und jeden Strauch persönlich und mit Namen kannte, hatte er ihm faszinierende Ecken unberührter Natur gezeigt. Und er fand die Gegend alles andere als deprimierend. Er fand, sie passte zu Phelan. Denn die Natur war wild, genau wie ihr Bewohner. Dashiell sah ihn erstaunt an.
„Tatsächlich? Das ist erstaunlich“, bemerkte er nachdenklich. Julien verschränkte die Arme vor der Brust.
„Nun tu nicht so überrascht“, meckerte er trotzig.
„Wie gefällt es dir hier?“, fragte Dashiell unvermittelt. Julien wurde misstrauisch.
„Hm. Ich mag die Gegend, ich mag das Haus und ich lese viel. Er ist streng und unnachgiebig. Ich muss meine Wäsche selbst waschen und im Haushalt helfen. Und ich muss unten in der Bibliothek mitarbeiten“, antwortete er und legte mehr Leid in seine Stimme als er über die Arbeit tatsächlich verspürte. Zugegeben, auf das Saugen und Staubwischen könnte er verzichten und auf das Wäschewaschen erst recht, aber damals im Heerlager hatte er so ähnliche Aufgaben zu Hauf als Strafarbeit erledigen müssen. Und gegen das Unterwäschewaschen in einem eiskalten Fluss war Wäsche in die Maschine stopfen und danach in den Trockner ein fröhlicher Sommerspaziergang.
Dashiell schmunzelte leicht. Lyria hatte wohl doch recht gehabt, als sie beschlossen hatte, dass Julien zur Disziplinierung zu Phelan gehen musste. Wenn Dashiell es so recht betrachtete, dann hatte sich sein Sohn in der Zeit, in der er Krieger bei den Wölfen vom Braeden gewesen war sehr zu seinem Vorteil verändert. Er war reifer und erwachsener geworden und auch verantwortungsvoller. Vielleicht konnte Phelan das wieder schaffen. Es wäre wirklich wünschenswert, immerhin war Julien sein Sohn und dieser musste sich sehen lassen können. Und vor allem anderen respektiert werden.
„Wie lange muss ich noch hier bleiben?“, jammerte Julien, weil er wusste, dass sein Vater genau diese Frage erwartete. Dashiells Miene wurde wieder ernst.
„So lange es nötig ist. Und ich denke, das wird noch eine Weile sein“, erwiderte er erhaben. Julien knurrte missmutig und starrte auf seine Schuhe.
Lass es Jahre dauern, lass es Jahrhunderte dauern. bettelte er in Gedanken. Raghnall trat wieder in den Salon. Dashiells und Juliens Köpfe drehten sich zu ihm.
„In einer Stunde kommen Soldaten, die das Grundstück bewachen werden bis das Wehr geschaffen ist. -Julien, würdest du das Phelan mitteilen?“ Er wandte sich an Dashiell.
„Ich weiß nicht, wie es um dich steht, aber ich würde jetzt gern in die Stadt zurück fahren. Dieses Gebäude erdrückt mich. Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, wie mein Bruder sich das hier als Heim aussuchen konnte“, erklärte er während er sich seinen Mantel überzog.
Julien holte tief Luft um nicht etwas Unbedachtes zu sagen. Noch weiteres Gerede darüber wie erdrückend oder deprimierend dieses Haus war und er würde sich zu einer verbalen Dummheit hinreißen lassen. Dashiell nickte zustimmend und erhob sich von der Couch.
„Wir sehen uns bald wieder, mein Sohn. -Richte Phelan meinen Gruß aus.“
Julien erhob sich und begleitete die Ratsältesten zur Tür.
„Bis bald“, verabschiedete er sich, ließ sie durch das Tor und achtete sorgsam darauf, dass es sich auch wirklich komplett geschlossen hatte, bevor er die Videoüberwachung auf das ganze Grundstück umstellte.
Conor und Yuri, die vergessen im Salon hockten, tauschten Blicke.
Hm, machte Conor und kratzte sich hinterm Ohr.
Wenigstens gibt’s ein neues Wehr, meinte Yuri spöttisch. Conor schnaubte.
Waren sie schon immer so… blasiert und überheblich?, fragte er und klang bedrückt.
Und so selbstgerecht? -Ja, das waren sie, erwiderte Yuri und flatterte zum Couchtisch, um die Whiskyreste aus den Gläsern zu schlecken. Conor seufzte leise.
Dann sind wir also auf uns allein gestellt.
Das waren wir sonst auch, alter Freund. Und es hat uns nie gekümmert. Yuri versank tiefer in Phelans Glas und versuchte auch noch den allerletzten Rest der Flüssigkeit zu inhalieren.
Da waren wir auch noch hundertsechsundneunzig Leute mehr, witzelte Conor humorlos. Yuris abwertendes Prusten hallte seltsam im Glas wieder.
Und jetzt sind wir fast dreihundertsechzig Jahre älter und klüger, wiedersprach er gleichmütig.
Du siehst es wunderbar entspannt, was!?, bemerkte Conor spöttisch. Yuri krächzte vergnügt und zugegebenermaßen auch schon ein wenig beschwipst.
Und du siehst es wunderbar verbissen, krähte er und versenkte seinen Kopf in Dashiells Glas. Aber so kenne und liebe ich dich, mein Freund.
In der ersten Woche funktionierte der Schutz der Bücher über die von Raghnall abgestellten Soldaten problemlos. Sie verjagten Einzelgänger und schreckten die mysteriösen Mörder und Leichenableger sogar so weit ab, dass in dieser Zeit nicht einmal ein Mord von ihnen begangen wurde.
Und in der zweiten Woche wurden sie überrannt.
Im Nachhinein konnte keiner erklären, was genau geschehen war, denn keiner der sechs Soldaten, die das Tor bewacht hatten, überlebte den Angriff. Julien schreckte auf, als er das wilde Heulen hörte, dass sich beängstigend schnell der Villa näherte und sprang auf die Beine. Er hatte gerade die Wohnzimmertür erreicht, als Phelan an ihm vorbei zur Haustür rannte.
„Julien! Bogen!“, herrschte er Julien an und riss sich das T-Shirt über den Kopf.
„Im Arbeitszimmer! An der Wand! Sehne ist im Pfeilbeutel! -Rasch!“ Phelan verzichtete darauf, sich aus seiner Jeans zu quälen und begann mit seiner Verwandlung. Der Ruf nach Conor ging in einem drohenden Knurren unter, als innerhalb eines Augenblickes statt des Mannes ein Wolf auf zwei Beinen weiterhastete. Julien hielt sich nicht lange mit der Bewunderung seines Freundes auf, sondern rannte in Phelans Arbeitszimmer. Er riss den ungespannten Bogen von der Wand, griff nach der Tasche mit den Pfeilen und zerrte die Sehne aus einer kleinen Seitentasche. Seine Finger arbeiteten so schnell und effektiv wie eh und je. Binnen Sekunden hatte er den Bogen gespannt, den Pfeilbeutel über seine Schulter geworfen und rannte zurück zur Haustür. Aus den Augenwinkeln erhaschte er einen Blick auf zwei kunstvolle Kurzschwerter, die an der Wand hingen. Julien schnappte sie sich kurzentschlossen ohne abzubremsen. Ein Bellen ließ ihn zur Seite ausweichen, dann flog Conor an ihm vorbei und schoss aus der geöffneten Tür nach draußen. Das letzte, was Julien von dem Wolf sah, war, wie sich seine Hinterläufe von denen eines Tieres in die eines Zweibeins verwandelten. Als er auf die Veranda trat prallte Conor in Kriegsform gegen zwei Einzelgänger. Julien rammte die beiden Kurzschwerter neben sich in die Holzplanken der Veranda, legte einen Pfeil ein und spannte den Bogen. Er holte tief Luft, visierte in die Dunkelheit und schoss. Jaulend ging ein Einzelgänger zu Boden, statt seines rechten Auges ragte der Federkiel aus der Augenhöhle. Er suchte in der Dunkelheit nach Phelan, fand ihn und begann, einen Pfeilregen auf die Einzelgänger niederprasseln zu lassen.
Die Soldaten, die den hinteren Teil des Grundstücks bewacht hatten, kamen, aufgeschreckt durch die Geräusche des Kampfes, um die Villa gerannt und begannen sich ebenfalls zu verwandeln. Julien nahm sich die Zeit, sie dabei zu beobachten, prägte sie sich ein und fuhr fort, Pfeile auf die Einzelgänger zu schießen.
Es waren so unglaublich viele, wo kamen sie her und weshalb hatten sie sich ausgerechnet jetzt zu dieser Horde zusammengerottet? Julien verdrängte den Gedanken, bevor er ihn wirklich ablenken konnte, verschoss seinen letzten Pfeil und warf den nutzlosen Bogen beiseite. Entschlossen griff er nach den beiden Schwertern. Werwölfe waren keine Gegner, gegen die ein Vampir gerne kämpfte, selbst in ihrer menschlichen Form, aber als Vampir gegen Zweibeiner zu kämpfen war schierer Selbstmord. Diese Form entstand, wenn der Wermensch im richtigen Moment der Verwandlung stoppte und meist kamen Kreaturen zustande, an denen irgendetwas nie wirklich richtig proportioniert war. Manchmal waren die Extremitäten zu lang oder zu kurz, der Körper wirkte oft leicht unförmig oder die Kiefer schlossen sich nicht richtig.
Julien ließ die Klingen durch die Luft sausen, um sich an sie zu gewöhnen, dass die beiden Schwerter scharf geschliffen und perfekt ausbalanciert waren, stand für ihn völlig außer Frage, dieses Haus war das Haus von Fáelán vom Braeden und dort würde man keine Waffe finden, die sich nicht benutzen ließe. Julien trat von der Veranda, holte tief Luft und stürmte los. Er hatte gelernt, gegen Zweibeiner zu kämpfen, er hatte trotz aller Verbote gegen Zweibeiner gekämpft und gesiegt, er war gedrillt und geschult worden, geschlagen und verletzt und er verteidigte hier sein Heim, seine Höhle; Julien hieb mit einem ausholenden Schlag einem Zweibein den rechten Arm ab und enthauptete ihn mit seinem zweiten Schwert.
Er war Julien Delano, Anführer der Bogenschützen im Heer der Wölfe vom Braeden, er hatte gegen Schrecken gekämpft und überlebt, die viele andere von seinen Brüdern und Schwestern getötet hatten und er würde hier und jetzt kämpfen und siegen oder kämpfen und sterben.
Er stieß beide Klingen tief in den Rücken eines Einzelgängers und schlitzte ihn in drei Teile. Blut und Eingeweide flogen durch die Luft und landeten klatschend auf dem Boden. Ein bedrohliches Heulen erklang und ein dunkler Schatten raste auf Julien zu, holte mit seiner riesigen krallenbesetzten Pranke aus und schleuderte ihn in die Luft. Seine Rippen brannten und er spürte, dass der Wolf ihm die Seite aufgerissen hatte, dann landete er mit einem dumpfen Knall auf dem Kies der Einfahrt. Blitzschnell wirbelte er herum, zwang den Schmerz in sich nieder und schnellte auf die Beine. Ein großer, klobig wirkender Wolf stapfte auf ihn zu. Seine Beine waren zu dick und zu kurz für seinen langen Oberkörper und seine Arme waren zu lang und endeten in unförmigen Klauen mit langen, schmutzigen Krallen. Seine Kiefer, die nicht richtig aufeinanderzupassen schienen, mahlten und gaben hässliche Geräusche von sich. Unter seine grün leuchtenden Augen mischte sich ein roter Schimmer. Julien fluchte herzhaft und ging leicht in die Hocke. Die Beine leicht gespreizt, die beiden Schwerter locker in den Händen, den Blick starr auf seinen Gegner gerichtet.
„Na, komm schon, komm schon“, lockte Julien leise und ließ die Schwerter in seinen Händen hüpfen. Den richtigen Moment abwarten. Er machte einige Schritte nach links. Er musste den richtigen Moment abwarten. Wieder einige Schritte nach links. Die Abscheulichkeit auf zwei Hinterläufen folgte ihm. Geifer tropfte aus seinem Mundwinkel.
„Na, los, Wichser. Komm schon und hol mich“, knurrte Julien und spuckte dem Wolf vor die Füße. Denn manchmal, und auch das hatte Julien einst gelernt, wenn der richtige Moment nicht zu einem kommen wollte, dann musste man den Moment eben zu einem herbeizwingen. Der Wolf griff mit einem siegessicheren Brüllen an und raste wie eine Dampflok auf Julien zu.
Er wartete.
Und wartete.
Und im letzten Moment sprang er in die Höhe und schleuderte dem Wolf seine Schwerter in die Augäpfel. Kreischend fiel der Wolf zu Boden, seine Klauen schnitten über sein Gesicht und versuchten, die Klingen aus seinen Augen zu reißen und zogen seine Haut in blutigen Streifen vom Schädel. Julien landete elegant auf dem Kies, sprang vor, riss die Schwerter aus dem Wolf heraus und rammte sie tief in dessen Herz. Der Einzelgänger zuckte noch einmal kurz und blieb dann tot liegen. Julien fixierte kurz die Kämpfenden und verschaffte sich einen Überblick, bevor er um sie herum zurück zur Veranda lief, auf die ein verwundeter Einzelgänger zukroch. Zorn wallte in Julien hoch, als der Verwundete die erste Treppenstufe erreicht hatte. Das hier war sein Rudel und seine Höhle und niemand, NIEmand, hatte es zu wagen, dort ungefragt einzutreten! Mit einem zischenden Brüllen rannte er auf den Einzelgänger zu und hackte ihm die Hände ab, die nach dem Treppengeländer greifen wollten.
„Wage es nicht, hier einzutreten“, fauchte er drohend bevor er dem Kerl den Kopf von den Schultern trennte.
„Wagt es nicht“, drohte er keuchend in die Nacht. „Wagt es nicht.“
Als der Kampf vorbei war, lagen vor der Veranda der Villa vier enthauptete Einzelgänger, der Kies der Einfahrt war getränkt von Blut. Manche der am Boden liegenden krümmten sich vor Schmerzen, wimmerten voller Pein, doch die meisten von ihnen waren tot. Inmitten der verstümmelten Leichen standen Phelan und Conor, Blut troff von ihrem Fell, Conors lange Klauen krümmten sich immer wieder, auf der Suche nach neuen Opfern. Phelan warf den Kopf in den Nacken und stieß ein lautes Heulen aus.
Er hatte gesiegt.
Er warnte.
Und er drohte.
Julien hob das Kinn in einer hochmütigen Geste. Sie hatten gesiegt.
Conor verließ als erster das Schlachtfeld.
Julien grinste ihn breit an, als er auf ihn zuschritt, weit über zwei Meter groß, eine wunderschöne Symbiose aus Mann und Wolf mit goldenem Fell. Er nickte Conor zu, als dieser ihn passierte. Conor nickte zurück und legte Julien sanft seine blutverschmierte Pranke auf die Schulter, bevor er das Haus betrat. Juliens Blick wanderte zu Phelan. Sein Heulen war mittlerweile verstummt und er ließ seinen Blick über die Toten sowie die Soldaten seines Großvaters wandern. Von den sechs Verbliebenen hatten vier überlebt, einer war schwer verwundet. Phelan stieß ein schmatzendes Geräusch aus, dann stieg er über die Körper der Gefallenen zum Haus.
„Ich werde nach dir sehen“, sagte Julien, als der große schwarze Mann-Wolf an ihm vorbei ging. Er erntete nur ein Knurren als Antwort.
„Und dein Knurren kannst du dir in die Haare schmieren“, motzte Julien ihm nach und trat von der Veranda, um seine verschossenen Pfeile einzusammeln.
„Kümmert euch um euren Verletzten“, herrschte er die Soldaten an, kickte einen Toten beiseite und hob den darunterliegenden Pfeil auf. Mit einem mürrischen Knurren warf er den zerbrochenen Pfeil in die Dunkelheit.
„Und dann seht zu, das Raghnall und Dashiell über das hier unterrichtet werden und dass weitere Soldaten kommen, die hier das Grundstück absichern. -Und dieses Mal mehr als zwölf Mann, denn offensichtlich reichen zwölf von euch dazu nicht aus.“ Mit einem Grunzen zerrte er an zwei Pfeilen, die tief in einem Brustkorb steckten. Julien taumelte einen Schritt zurück, als sie sich mit einem schmatzenden Geräusch aus dem Fleisch lösten. Kritisch sah er sich um, stellte fest, dass er alle Pfeile eingesammelt hatte und kehrte zur Villa zurück. Was mit den Soldaten geschehen würde, interessierte ihn nicht. Sie gehörten weder zu seinem Rudel, noch waren es Männer, die Julien mochte. Sie gehörten zu Raghnalls Heer und dieses Heer hatte ein persönliches Problem mit den Wölfen vom Braeden. Wieso das so war wusste Julien nicht, aber es war ihm egal. Genauso egal, wie ihm die Soldaten jetzt waren. Julien schloss die Haustür hinter sich und legte Pfeile, Schwerter und Bogen achtsam auf den Tisch im Wohnzimmer. Er musste duschen und seine Wunde an den Rippen verarzten. Und sich ein neues Hemd kaufen. Wenn er genug Geld dafür gespart hatte. Julien gab einen leisen Ton von sich. Es war ein Armani-Hemd gewesen. Er knurrte frustriert und schleuderte das zerrissene Hemd in die Ecke. Ein sehr gutes Armani-Hemd. Mit einem missmutigen Seufzer stieg er in die Dusche und stellte das Wasser an.
Mit verbundener Wunde und einer riesigen alten Doktortasche bewaffnet begab sich Julien nach seiner Blitzdusche auf die Suche nach Phelan. Er fand ihn auf der rückwärtigen Terrasse des Hauses. Phelan hockte, in einen dicken Quilt eingewickelt, auf dem Boden, lehnte am Geländer und starrte in die Nacht.
„Ich hab doch gesagt, dass ich nach dir sehen werde.“ Julien stellte die wuchtige Arzttasche ab und ging neben Phelan in die Hocke. Dieser wandte ihm den Kopf zu und grinste schief.
„Stur wie eh und je“, witzelte er müde. Julien nickte zustimmend.
„Eben. Und jetzt zeig her.“ Er streifte Phelan den Quilt von den Schultern und betrachtete seinen Rücken.
„Na, das hat sich ja mal wieder gelohnt“, bemerkte er lakonisch, öffnete die Tasche und kramte Watte, Desinfektionsmittel und ein Paar Latex-Handschuhe heraus.
„Du hättest Conor ruhig noch ein paar mehr überlassen können.“ Julien zog sich die Handschuhe über und begann, Phelans Wunden zu säubern. Dieser zischte leise.
„Wenn du meinst“, knurrte er nur.
„Ich meine.“ Julien zog die Decke weiter nach unten. Unter Phelans rechtem Arm prangten lange und tiefe Risswunden von scharfen Krallen.
„Herrje, wolltest du dich von denen tranchieren lassen?“, warf er ihm vor und begann vorsichtig Phelan zu verarzten und versuchte dabei zu verdrängen, dass Phelan unter der dicken Decke nackt war. Juliens Hände tasteten sachkundig über Phelans Körper, suchten nach Brüchen oder Quetschungen, salbten und verbanden wie sie es schon so oft getan hatten. Schließlich gab es für Julien keinen triftigen Grund mehr, Phelan zu berühren. Er zog sich die Handschuhe von den Händen, warf sie achtlos beiseite und wickelte Phelan wieder in seine Decke ein.
„Woher wussten sie es wohl?“, fragte Julien laut und setzte sich neben Phelan auf die Holzplanken. Phelan schnaubte leise.
„Sie haben irgendwie ein Radar für so etwas. -Sie wissen ganz genau, wenn Raghnall das Tor unten auflässt. Es ist beinahe unheimlich. Sobald es eine Möglichkeit für sie gibt, auf dieses Grundstück zu gelangen, rotten sie sich zu diesen Horden zusammen und stürmen das Haus. Normalerweise sind es nicht so viele wie heute, aber …“ Phelan verstummte und wickelte den Quilt fester um sich als fröre er.
„… so wie sie immer zu wissen scheinen, wann das Tor offen steht, scheinen sie jetzt zu wissen, dass es im Moment keinen guten Schutz um dieses Haus gibt. So wie’s aussieht, stehen mir noch einige turbulente Tage ins Haus.“ Er schnaubte leise.
„Dann solltest du zu wem auch immer beten, dass in den nächsten fünf Tagen kein weiterer Angriff stattfinden wird. Sonst geht die Villa mit all Ihrem Hab und Gut unter“, prophezeite Julien düster und knuffte leicht gegen Phelans Oberarm.
„Vor allem, wenn die anderen Soldaten von Raghnall genauso Vollidioten sind, wie diese. Sie haben keinen Wert für uns, sie können mit uns nicht mithalten. Sie haben keine Ahnung, wie sie in solchen Situationen reagieren müssen, was wir hier bräuchten, wären unsere Leute, wir brauchen hier ordentliche Krieger, die schnell und spontan sind und keine hirnlosen Soldaten …“, deklarierte Julien aufgebracht. Phelan lachte auf.
„Julien, beruhig dich. Raghnall wird angemessen reagieren und bessere Männer schicken und bald ist das Blutwehr fertig und dann haben wir unsere Ruhe. -Vor den Einzelgängern und diesen wer-auch-immer-sie-waren.“ Er lehnte sich gegen Julien und schloss die Augen.
„Und wenn ich ganz ehrlich bin; meinetwegen können sie diese verfickte Bude überrennen“, bemerkte er träge. Julien hob erstaunt eine Augenbraue.
„Aha. Und wie kommt’s, dass du diese verfickte Bude dann so sehr verteidigst?“, neckte er liebevoll.
„Es sind noch meine ganzen Sachen drin. Die müssen vorher raus. Dann können sie hier einfallen.“ Phelan streckte sich, verzog vor Schmerzen das Gesicht und sank wieder zurück gegen Julien und das Geländer. Julien schüttelte lachend den Kopf.
„Du solltest ins Bett, schlafen“, schlug er amüsiert vor. „Du redest wirre Dinge.“
Wie zur Bestätigung gähnte Phelan laut.
„Ich denke, das ist eine gute Idee“, stimmte er zu und erhob sich mühsam. Mit einem schmerzverzerrten Knurren packte er das Verandageländer. Julien seufzte leise, schlag Phelans Arm um seine Schulter und schleifte ihn unsanft mit sich ins Haus.
„Könntest du weniger schnell rennen, bitte?“, fauchte Phelan erschöpft, als Julien ihn die Treppe nach oben geschleift hatte und krallte sich an einem Türrahmen fest. Julien stoppte und drehte sich zu ihm um. Phelan war blass und ein leichter Schweißfilm überzog seine Haut. Er hatte offensichtlich stärkere Schmerzen als Julien angenommen hatte.
„Es tut mir leid. Ich wollte dich nur so schnell wie möglich ins Bett packen“, entschuldigte er sich verlegen. Phelan ließ widerwillig den Türrahmen los.
„Am Stück oder in Einzelteilen?“, witzelte er mürrisch, biss die Zähne zusammen und humpelte weiter.
„Wenn wir in meinem Schlafzimmer sind, musst du mir das Bein noch mal verbinden. Es blutet wieder“, bemerkte er und seufzte erleichtert auf, als Julien die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Phelan ließ sich mit einem lauten Stöhnen auf sein Bett fallen.
„Entschuldige. Bleib liegen, ich hol die Tasche.“
Phelan lachte bellend.
„Oh, verdammt, und ich wollte jetzt doch so gerne eine flotte Sohle aufs Parkett legen“, scherzte er und schälte sich aus seinem Quilt.
„Blödmann“, knurrte Julien tadelnd und rannte nach unten, um die Arzttasche zu holen.
Als er wieder nach oben kam, hatte Phelan es sich auf seinem Bett bequem gemacht, den Quilt auf die weiche Daunendecke gelegt und diese zurückgeschlagen und lag völlig schamlos nackt da. Juliens Blick wanderte über Phelans Körper und blieb schließlich an seinem linken Oberschenkel hängen, dessen frischer Verband wieder rot durchtränkt war.
„Scheiße“, fluchte er verhalten, zog sich wieder Handschuhe über und wickelte die Binde ab. Sorgsam schmierte er blutstillende und heilende Salbe auf die tiefen Kratzer.
„Man, man, man. Der hat sich ganz schön auf deinem Oberschenkel ausgetobt“, bemerkte er beinahe bewundernd. Phelan gluckste.
„Schön, dass es dir gefällt. Mir tut es einfach nur weh“, witzelte er. Julien schnitt ihm eine Grimasse und verband Phelans Oberschenkel neu.
„Du solltest jetzt wirklich schlafen“, sagte Julien, zerrte die Handschuhe von seinen Händen und rieb sich müde über das Gesicht. Die Erschöpfung schlug über ihm zusammen wie eine riesige Welle. Er selbst wollte sich jetzt auch nur noch in die weichen Daunen fallen lassen und sehr lange schlafen. Irgendwie war dieser Kampf heute Abend so furchtbar anstrengend gewesen. Als hätte er gegen ein riesiges Heer gekämpft und nicht nur gegen eine Horde Einzelgänger. Außerdem schmerzten seine Rippen.
„Wie geht es dir?“, fragte Phelan und kroch umständlich unter seine Decke. Julien zuckte nickend mit den Schultern.
„Meine Seite tut weh. Ist aber nicht so tief wie bei dir. In drei Tagen ist alles vorbei.“ Er lehnte sich neben Phelan an das Kopfende des Bettes.
„Dann ruh dich aus“, schlug Phelan vor und löschte das Licht. Julien seufzte genüsslich, als warme Dunkelheit ihn umhüllte und schloss die Augen. Innerhalb von Sekunden war er eingeschlafen.
Julien erwachte, als seine Beine gegen ein Hindernis stießen, das beim Einschlafen noch nicht dagewesen war. Er richtete sich auf, blinzelte ins Dunkel und entdeckte Conor, der sich am Fußende des Bettes zusammengerollt hatte. Julien streckte sich. Oh, verdammt, er war in seinen Straßenkleidern eingeschlafen. Mit einem Brummeln erhob er sich vom Bett, um leise in sein eigenes Zimmer zu schleichen.
„Zieh dich aus und leg dich wieder hin. Es wird kalt hier“, murmelte Phelan im Halbschlaf und hob die Decke an, um Julien zu zeigen, wo sein Schlafplatz für diese Nacht war. Julien lächelte leicht versonnen. Was hatte er dazu schon entgegenzusetzen? Nichts. Phelan war sein Heerführer. Julien schälte sich aus seiner Hose und dem Hemd, streifte sich die Socken von den Füßen und kroch nur noch mit seiner Unterhose bekleidet zu Phelan unter die Decke.
Mit einem Gefühl der Geborgenheit schmiegte er sich zaghaft an Phelans Brust.
Am anderen Morgen fühlte Julien sich irgendwie seltsam rastlos. Er versuchte, in seinen Club zu fahren, um sich dort mit Feiern abzulenken, verwarf diese Idee aber schon an der Tür zur Garage. Schließlich entschloss er sich, nach unten in die große Bibliothek zu gehen. Dort, inmitten all der Bücher und Schriftrollen würde sich garantiert etwas finden, was in beschäftigte. Und wenn es nur die Originalschriften von Ovid waren, die er sich zum unzähligsten Mal ansehen und darin lesen konnte. Und so öffnete er lustlos die schwere Tür, die nach unten in den von Zauberhand erschaffenen Keller und somit in die große Bibliothek führte und schlenderte durch die langen, mit unzähligen Schriften beladenen Reihen. Gedankenverloren strich er mit seinem Fingerspitzen über alte Buchrücken, fuhr den Windungen der Schriftrollen nach und blieb schließlich vor einem dicken Wälzer mit nachtschwarzem Ledereinband stehen. Mit einem gleichgültigen Ton zog er das Buch aus dem Regal, schlug es auf, überflog die erste Seite und las sich in der zweiten fest. Völlig versunken in das Geschriebene ließ er sich auf den Boden sinken. Julien verlor sich in der Geschichte über die Entstehung des Großen Rates, über die Geschichte, wie sein Vater und Raghnall aus einst losen Bündnissen zwischen den Völkern der Wermenschen, Vampiren, Hexen und Zauberern eine feste Einheit geformt hatten, die gemeinsam agierten, sich gegenseitig unterstützten und schützten. Er versank in Schlachten und Liebeswirren und vergaß Zeit und Langeweile.
Julien flog regelrecht durch die Regale, suchte fieberhaft nach Querverweisen und Fortsetzungen und landete schließlich in einer dunklen Ecke weit hinten in der riesigen Bibliothek.
Bis auf drei Bücher war das Regal leer und die dicke Staubschicht auf den Einbänden und den Regalböden ließ erahnen, dass es schon viele Jahre her war, dass sich jemand dort aufgehalten hatte. Beinahe zaghaft strich Julien den Staub vom obersten Buch. Es war in weiches schwarzes Leder gebunden und mit aufwändig gestickten Mustern verziert. Silberne keltische Knoten bildeten einen schmuckvollen Rand, ein eingebrannter Wolfskopf starrte ihn an, seine Augen waren mit Goldfäden nachgezogen, seine Pupillen leuchteten in glänzendem Silber. Auf seiner Stirn prangte ein großes Keltisches Kreuz, genau dasselbe, wie es Phelan an einer schlichten Lederschnur um den Hals trug. Ehrfürchtig strichen Juliens Finger die Konturen des Wolfsschädels nach und verharrten an dem dicken Siegel aus schwarzem Wachs, welches dafür angebracht worden war, um das Buch zu verschließen. Wenn der Rat einen verbannte, versiegelten die Schreiber die Bücher mit einem festen schwarzen Wachssiegel, damit niemand mehr darin lesen oder etwas hinzufügen konnte. Dieses Siegel war vor langer Zeit gebrochen worden. Julien fuhr stirnrunzelnd über die Bruchstelle. Wer sollte so etwas tun? Und vor allem; wer war so lebensmüde, so etwas zu tun? Er warf einen Blick auf die beiden anderen Bücher, die noch im Regal lagen und erkannte, dass auch ihre Siegel gebrochen waren. Wer sollte die Siegel brechen? Wer wollte verhindern, dass diese Lebensbücher in Vergessenheit gerieten? Wen hatte Phelans und Conors Onkel diese Bücher lesen lassen? Oder war es gar Phelan selbst gewesen, der die Siegel gebrochen hatte? Nein, entschied Julien und betrachtete erneut die beiden Bücher auf dem Regal. Nein, es musste noch vor Phelans Zeit als Bibliothekar geschehen sein. Ob es wohl wer gewagt hatte, sie fortzuführen?
Julien schlug hastig das Buch auf. Er würde es nur herausfinden, wenn er es lesen würde.
Der Stern der Wölfe strahlte hell in dieser Nacht, als der zweite Sohn des Conlaoch vom Braeden zur Welt kam…
Julien sank langsam auf die Knie, das Buch über Fáelán vom Braeden in den Händen, die Augen fest auf die Buchstaben gerichtet, die ihm erzählten, was er noch nicht über Phelan wusste und dieser ihm wohl nie erzählen würde.
Er ist ein Prinz ohne ein Reich, dachte Julien, als er das dicke Buch wieder zuschlug und auf den so wunderschön verzierten Einband starrte. Und was bin ich?
Widerwillig stellte er das Buch wieder zurück an seinen Platz und griff sich die beiden Lebensbücher von Conor und Yuri. Er setzte sich zurück auf den Boden, lehnte sich an das staubige Regal und versank in ihren Geschichten.
Julien schlug Yuris Lebensbuch zu und tippte es nachdenklich gegen sein Kinn. Alle drei Bücher endeten abrupt mit dem letzten Eintrag über ihre Verbannungsverhandlung; eine trockene Auflistung ihrer Vergehen und der Strafe. Es gab keine nachträglichen Einträge. Julien räumte die drei Bücher zurück an ihren Platz, nicht ohne mit seinem Hemdärmel den Staub vom Regalfach zu wischen. Auch wenn sie Verbannte waren, sie mussten nicht einstauben. Sie durften nicht vergessen werden. Nicht sie.
Julien hob nachdenklich den Kopf und fragte sich, wo sich wohl sein Lebensbuch befand. Nachdenklich begab er sich auf die Suche und fand es nach langer Zeit zwischen dem Buch von Ian und seines Halbbruders Viktor. Julien leckte sich nervös über die Lippen. Ägyptische Hieroglyphen und der römische Lorbeerkranz als Schmuckrand und anstelle des Wolfskopfes ein mächtiger goldgefiederter Falke zeichneten das etwas dünnere Buch aus, in dem sein eigenes Leben niedergeschrieben stand. Julien schlug es auf.
Als er es wieder beiseitelegte, schloss er die Augen und senkte beschämt den Kopf. Er hatte in den letzten Jahren nicht wirklich irgendeine Tat vollbracht, die auch nur annähernd ehrenhaft gewesen war. Nach seiner Zeit als Krieger der Wölfe vom Braeden stand in seinem Lebensbuch nicht mehr viel Ruhmreiches geschrieben. An Stelle von großen Taten reihten sich Feiern, Frauen- und Männergeschichten und Verstöße aneinander wie das Strafregister eines Wiederholungstäters. Julien seufzte tief und zog die Beine an. Niedergeschlagen starrte er ins Nichts. Jetzt konnte er ziemlich gut verstehen, weshalb keiner ihn wirklich ernst nahm und viele seiner Clanmitglieder ihn sogar leicht verachteten. Das, was er sich in letzter Zeit geleistet hatte, hatte seine ruhmreiche Zeit weit in den Schatten gestellt. Es wurde wirklich nötig, dass er sich änderte. Mit leicht hängenden Schultern rappelte er sich auf und verließ den Raum.
Eigentlich hatte er vorgehabt, still und heimlich in sein Zimmer zu verschwinden und sich ausgiebig in Selbstmitleid zu suhlen, doch als er das Obergeschoss erreicht hatte, kam Phelan aus seinem Zimmer gehumpelt. Er war immer noch blasser als sonst und sein Gesicht war verkniffen.
„Was hast du?“, fragte er besorgt. Julien hob träge den Kopf und hätte er weinen können, hätten Tränen des Selbstzorns und der Scham in seinen Augen gebrannt.
„Ich bin wohl der größte Loser, den mein Vater hervorbringen konnte“, flüsterte er heiser. Phelan sah ihn verwirrt an.
„Wie kommst du denn jetzt da drauf?“, wollte er irritiert wissen. Julien lachte hart auf und deutete mit einer abwertenden Armbewegung ins Erdgeschoss.
„Da unten steht es schwarz auf weiß. Nur Partys. Nur Mist und Partys und Weiber und Partys!“, spie er angewidert. Er schüttelte leicht frustriert den Kopf.
„Mann, ich bin eine Null“, haderte er mit sich selbst. Phelan trat auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Ich hab keine Ahnung, was du jetzt schon wieder hast, aber lass dir eins gesagt sein. Um so exzessiv zu feiern wie du, gehört schon ganz schön was dazu“, versuchte er zu scherzen. Julien sah ihn verärgert an.
„Eben! Exzessive Partys! Das ist das einzige, was ich in den letzten Jahren geleistet hab! Kein Wunder nimmt mich keiner mehr ernst! So jemanden kann man ja auch nicht ernst nehmen!“, brauste er auf und schlug Phelans Hand weg. Phelan verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ach ja!? Weißt du, was für Männer man noch weniger ernst nimmt, außer verantwortungslosen Drückebergern? Männer, die sich immer nur selbstbemitleiden, anstatt etwas daran zu ändern!“, bemerkte er leicht lehrmeisterhaft.
„Und jetzt hör auf zu spinnen. Da steht garantiert noch so einiges mehr, als nur deine Feiern und Weibergeschichten. Du bist ein Wolf vom Braeden und das steht dort auch geschrieben. Ebenso wie deine Taten, die du dort vollbracht hast. Ich muss dir sie jetzt wohl kaum alle einzeln aufzählen, oder? Meine Güte, dann hast du eben in der letzten Zeit etwas über die Stränge geschlagen, aber das machen noch weitaus mehr als nur du. Glaubst du, Ian lebt wie ein Heiliger? Oder Viktor? Auf dich achtet man einfach nur eben ein bisschen mehr wie auf die anderen, weil du eines Tages den Platz deines Vaters einnehmen wirst. Aber glaubst du tatsächlich, dass dein Vater in seiner Jugend nicht auch genug Blödsinn getrieben hat?“ Phelan verstummte und schüttelte den Kopf.
„Ehrlich, Iuls. Was machst du dir darüber so extreme Gedanken? Muss ich den Code für die Bibliothek ändern, damit das nicht mehr vorkommt?“, unkte er. Julien schnitt ihm eine genervte Grimasse. Er wollte jetzt keine Moralpredigt über sich und sein Leben und vor allem seinen Gemütszustand hören. Und erst recht nicht von Phelan. Er wich geschickt Phelans Blick aus.
„Können wir das Thema wechseln?“, bat er mürrisch. Phelan stieß einen leicht resignierten Ton aus, nickte aber.
„Ganz wie du willst. -Ich wollte mir gerade etwas zu essen machen. Möchtest du auch etwas oder willst du allein weiterleiden?“, neckte er leicht boshaft und hinkte zur Treppe. Zorn wallte in Julien auf und er hätte Phelan am liebsten so einen Tritt mitgegeben, dass dieser die Treppe im Freiflug nach unten genommen hätte. Er schwankte zwischen Selbstmitleid suhlen und Phelan hinterhergehen und entschied sich, Phelan nach unten zu folgen.
„Tut es noch sehr weh?“, wollte er wissen, als er hinter Phelan in die Küche getreten war. Phelan grunzte schulterzuckend.
„Es heilt“, meinte er nur, holte sich ein riesiges Steak aus dem Kühlschrank und klatschte es in eine Pfanne. Wenige Minuten später erfüllte ein köstlicher Geruch die Küche. Julien schnupperte genüsslich. Wenn Phelan kochte, wünschte er sich manchmal, dass seine Mutter ihn an festes Essen gewöhnt hätte. Allerdings war Lyria der Meinung, dass sich ein Vampir von Welt nicht mit so niederen Gelüsten wie Nahrung zu sich nehmen, die nicht aus Blut bestand, abgab. So würde Julien unweigerlich den Rest des Abends über der Toilettenschüssel hängen und sich die Seele aus dem Leib kotzen, wenn er festes Essen zu sich nehmen würde. Er wartete, bis Phelan mit seiner Leckerei aus Steak und Gemüse zu ihm an die Theke kam. Er wartete auch noch die ersten Bissen ab, bis er sprach.
„Ich weiß, was ihr getan habt. Es steht in euren Büchern“, platze er heraus. Phelans Miene verdüsterte sich kurz und er kniff die Lippen zusammen.
„Wir haben einen Fehler gemacht. Jetzt müssen wir mit den Konsequenzen leben“, antwortete er beherrscht. Er sprach nicht gern über gewisse Dinge und über seinen Verbannungsgrund erst recht nicht. Es war dumm gewesen, ihn begangen zu haben und es nutzte nichts, sich ewig darüber zu grämen. Er hatte vor langer Zeit beschlossen, nicht mehr darüber nachzudenken und sich das Leben nicht unnötig zu erschweren.
„Wie weit seid ihr mit euren Forschungen gekommen?“
„Jetzt verlangst du zu viel!“, schnitt Phelan ihm wütend das Wort ab. Julien zuckte erschrocken zusammen.
„Du begibst dich in diesem Moment auf zu dünnes Eis, Julien. Frag nie wieder danach, es ist vergangen! Ich zahle meine Strafe, Conor zahlt seine Strafe und Yuri zahlt seine Strafe. Vergangenes ist vergangen und vorbei! Vergiss, was du gelesen hast! Es gibt auf deine Fragen keine weiteren Antworten!“, warnte er und hackte die Gabel in das Fleisch. Julien hätte sich am liebsten in den Hintern gebissen.
„Tut mir leid“, flüsterte er beschämt. Phelan grunzte nur.
„Wirklich, Faol. Es tut mir leid. Ich … es geht mich nichts an … ich meine, es ist ja offensichtlich, dass es mich nichts angeht … immerhin kam keiner auf die Idee, mir davon zu berichten. Sei nicht böse, bitte.“ Bei keinem anderen wäre Julien auf die Idee gekommen, um Vergebung zu betteln, aber Phelan war keiner der anderen, Phelan war schon immer etwas Besonderes gewesen. Bei Phelan konnte er schon immer so sein, wie er wirklich war, mit allen Fehlern und Macken die er hatte. Und Phelan akzeptierte seine Fehler und Macken und dafür liebte Julien ihn. Für all sein Verständnis und all das andere, was er ihm geschenkt hatte.
„Vergiss es. Ich hab überreagiert“, wehrte Phelan ab und grinste versöhnlich.
„Verbind mir nachher einfach nur meine Kratzer neu“, wechselte er das Thema. Julien nickte erleichtert.
„Danke“, sagte er ehrlich. Phelan sah erstaunt von seinem Essen hoch.
„Wofür?“, wollte er wissen. Julien zuckte verlegen mit den Schultern.
„Dafür, dass du mir meine Dummheiten nicht übel nimmst.“
Phelan lachte auf.
„Naja, die meisten zumindest“, scherzte er und schob sich ein Stück Fleisch in den Mund. Breit Julien angrinsend kaute er darauf herum. Der verdrehte die Augen.
„Dass du mir die meisten Dummheiten nicht nachträgst“, verbesserte er sich.
„Also nachtragen und übelnehmen sind zwei Paar Stiefel“, widersprach Phelan gutgelaunt.
„Wirst du jetzt pingelig?“, schnappte Julien ein.
Als Conor zehn Minuten später die Küche betrat, waren Julien und Phelan in eine rege Diskussion über die unterschiedliche Bedeutung von Nachtragen und Übelnehmen vertieft.
Phelan trug Julien die Frage über den Grund seiner Verbannung weder nach noch nahm er sie ihm übel. Er benahm sich schlichtweg, als ob er sie einfach nie gestellt hätte. Allerdings konnte Julien weder das Gelesene noch das Gespräch nicht vergessen. Trotzdem war es Zufall oder vielleicht doch einfach Schicksal, dass er eine Woche später eine Antwort erhielt.
Seine Gedanken hörten nicht auf, sich um seine Frage an Phelan zu drehen und um Phelans Antwort, die eigentlich keine Antwort sondern nur ein Verbot gewesen war. Warum verbot ihm Phelan, darüber reden zu wollen, wenn es doch vergangen war? Julien kam gerade von einem nächtlichen Spaziergang auf dem großen Grundstück zurück, bei dem er geprüft hatte, ob die neu abgestellten Wachen von Raghnall auch genau dort waren, wo sie hingehörten und genau das taten, wofür sie da waren, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Im ersten Moment glaubte er, sich getäuscht zu haben, aber als er länger stehen blieb, verstärkte sich das Gefühl. Etwas Geheimnisvolles lag in der Luft, etwas, was verdeckt bleiben sollte, etwas Verbotenes. Zielstrebig ging er auf die Tür von Phelans Arbeitszimmer zu, öffnete sie einen Spalt und trat lautlos ein. Phelan hockte mit dem Rücken zur Tür an seinem Schreibtisch, konzentriert über ein Mikroskop gebeugt, Conor und Yuri starrten auf den Computerbildschirm, auf dem sich merkwürdige Wesen tummelten, bevor er zu einer seltsamen Reaktion kam. Der Schreibtisch quoll über mit Blättern, Akten und einer Ausstattung die Julien in einem Chemielabor erwartete aber nicht hier.
Wie hatte er dieses Labor übersehen können? Es war so groß und umfangreich und er war oft genug in diesem Arbeitszimmer gewesen um online seine Geschäfte zu überwachen und doch hatte er es nie entdeckt.
Weil du es nicht entdecken solltest, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Julien zuckte heftig zusammen und Phelan schnellte auf seinem Stuhl herum. Sie starrten sich einen Atemzug lang ertappt an.
„Ihr tut es immer noch“, flüsterte Julien heiser. „Ihr tut es immer noch, obwohl es euer Leben zerstört hat.“
Conor sprang von seinem Hocker und kam auf ihn zu. Einen verrückten Moment lang war Julien der festen Überzeugung, er würde hier drin sterben.
„Seit ihr wahnsinnig? Da draußen tummeln sich dreißig von Raghnalls Soldaten! Von den ganzen Hexen und Zauberern ganz zu schweigen! Sie könnten euch dabei erwischen!“, warf Julien ihnen vor und schloss hastig die Tür hinter sich. Grund Gütiger, er wagte es nicht, sich auszudenken, was geschehen würde, sollte jemand zufällig hier hereinkommen und das sehen. - So wie er selbst.
Du hast es gelesen, Julien! Du hast es gelesen, du weißt, was wir hier tun! Sag mir nicht, du bist nicht auch neugierig! Sag mir nicht, du willst nicht auch eine Antwort finden! Sag mir nicht, es brennt dir nicht auf der Haut wie ein hartnäckiger Ausschlag, die Lösung zu sehen! Du weißt, was wir getan haben und du wolltest wissen, wie weit wir mit der Forschung gekommen sind! Also sag mir nicht, du willst nicht auch wissen, was geschieht, wenn wir das Blut unserer Rassen kreuzen!, versuchte Yuri voller Leidenschaft zu erklären und flatterte aufgeregt mit den Flügeln.
Sie hatten das erste Gesetz überhaupt gebrochen.
Das, das Leben zu heiligen.
Julien schüttelte leicht den Kopf. Und sie taten es immer noch. Sie forschten immer noch weiter und suchten nach einer Lösung für diesen Irrsinn! Man konnte ihre Rassen nicht kreuzen, es war unmöglich! Sie waren zu verschieden, es wäre ein Verrat an der Natur! Und doch kam Julien näher, sah Phelan fest in die Augen. Irgendwo in seinem Inneren glaubte er an ihren Erfolg. Phelans Blick war unergründlich. Oder sah er so etwas wie Enttäuschung auf dem Gesicht seines Freundes?
„Was glaubt ihr, machen sie mit euch, wenn sie entdecken, dass ihr immer noch daran forscht!? Wollt ihr alles wegwerfen, was ihr habt?“, flüsterte er rau. Er wollte nicht, dass sie ihm wieder genommen wurden, er wollte nicht, dass sie wieder weggejagt wurden, sie waren seine Freunde, seine Familie, sein Rudel, er wollte sie nicht wieder verlieren!
„Sie können uns nur töten“, antwortete Phelan ruhig. Julien starrte ihn fassungslos an.
„Was sagst du da?“, flüsterte er bestürzt.
„Um Himmels Willen, Phelan! Hält dich nicht einmal das ab?“ Julien fuhr sich hektisch durch die Haare. Sie würden sie hinrichten. Wenn sie jemals erfahren sollten, dass die drei mit diesem Verbot, diesem Wahnsinn, weitergemacht hatten, wahrscheinlich all die Jahre, dann würden sie sie öffentlich hinrichten!
„Julien, sie werden es nicht erfahren, weil sie keinen Grund haben, danach zu suchen. Und wir werden ihnen auch keinen Grund dafür geben“, fügte Phelan mit leisem Nachdruck hinzu.
„Nein“, sagte Julien leise. Als ob er sie verraten würde. Er fühlte sich beleidigt und gedemütigt. Er hatte geglaubt, Phelan würde ihm vertrauen und ihn kennen und jetzt warf er ihm Verrat vor.
Er wird niemandem etwas sagen, Phelan, das weißt du, tadelte Conor sanft.
„Ich weiß, dass er es niemandem sagen wird“, antwortete Phelan ernst. Conors Blick wurde weich. Dann stieß er einen Ton aus, der sich wie ein Räuspern anhörte und wandte sich von seinem Bruder ab.
Trotzdem sollten wir ihn nicht auch noch da hineinziehen, wandte er ein.
Er steckt schon drin, erwiderte Phelan stumm. Er hat gesehen was wir tun; glaubst du ernsthaft, sein Vater oder Raghnall schenken ihm Glauben, wenn er beteuert, nichts davon gewusst zu haben? Sie haben ihre Mittel und Wege, die Wahrheit herauszufinden. Wenn er schon dafür büßen muss, dann soll er wenigstens einen guten Grund haben.
Während Conor einen inneren Kampf mit sich ausfocht, trat Julien an den Tisch und versuchte, sich auf das Bild auf dem Computer einen Reim zu machen.
„Darf ich jetzt wissen, wie weit ihr seid?“, fragte er zaghaft.
„Es ist zu spät“, bestimmte Phelan. Conor fiepte leise. Ja, das war es. Jetzt steckte Julien mit drin. Jetzt hatte er Ergebnisse gesehen, die geheim bleiben sollten. Er seufzte und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Wundervoll. Nun hatten sie auch noch Juliens Leben ruiniert. Er betete, dass Dashiell und sein Großvater nie auf die Idee kamen, in Juliens Geist nach Geheimnissen zu suchen.
„Zu spät wofür?“, hakte Julien nach. Zu spät es ihm zu erklären?
„Es ist zu spät in der Zeit, um noch weiter zu machen. Und zu spät um dich hier herauszuhalten“, klärte Phelan ihn auf und schaltete das Mikroskop aus.
„Setz dich.“
Julien warf sich in den monströsen Ohrensessel, der in einer Ecke stand. Nervös knetete er seine Hände während er darauf wartete, dass ihm irgendeiner etwas erzählte.
„Möchtest du die wissenschaftliche Version hören, oder die, die jeder verstehen kann?“, scherzte Phelan und warf einen Seitenblick auf Yuri. Der beschloss, Phelan einfach nur zu ignorieren und sah stattdessen Julien erwartungsvoll an, in der Hoffnung, Julien würde sich für die wissenschaftliche Version entscheiden.
„Die einfache, bitte.“
Wenn Phelan es ihm erklärte würde er eine knappe und präzise Aussage zu hören bekommen und seine Neugier würde so recht schnell gestillt sein. Phelans Blick zu Yuri war mehr als nur gönnerhaft. Der Rabe plusterte sich beleidigt auf und drehte ihnen den Rücken zu. Julien gluckste mit nervöser Belustigung.
„Also dann werde ich versuchen, dir alles zu erzählen. Ich warn dich aber vor; ich bin kein Wissenschaftler und ich habe keine Ahnung wie das meiste richtig heißt. Ich kann dir nur die Idiotenversion weitergeben, die Conor mir erzählt hat“, erklärte Phelan. Er räusperte sich verhalten, griff in das turmhohe Chaos von Unterlagen, ergatterte Aschenbecher und Zigarettenschachtel und zündete sich eine Zigarette an.
„Fühl dich frei“, sagte er, warf Julien die Schachtel zu und blies den Rauch aus. Julien bediente sich und stellte fest, dass seine Hände leicht zitterten. Grund Gütiger, er war so nervös wie eine Jungfer bei ihrem ersten Mal, stellte er lakonisch fest und zog gierig an seiner Zigarette.
„Okay, du weißt jetzt also das, was in den Büchern steht. Dann kann ich mir den Teil sparen. Was dort ausgelassen wird ist, das wir eben immer noch weitermachen.“ Phelan zwinkerte Julien kurz zu und dieser stützte seine Ellbogen auf den breiten Armlehnen ab und beugte sich erwartungsvoll vor.
„Verständlich, dass wir einiges weiter sind als vor dreihundert Jahren, aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Das einzige, was wir definitiv wissen, ist, das alle Komponenten stimmen müssen. Wir wissen nur nicht, welche es ganz genau sind und in welcher Zusammensetzung.
Zuerst haben die beiden das versucht, was wir tun, wenn wir Menschlinge beißen. Sie tauschten Blut. Na ja, zuerst bissen sie einen Menschling und verwandelten ihn in einen Vampir oder Wolf. Nachdem er verwandelt war, gaben sie ihm Wolfs- oder Vampirblut. Als das nicht funktioniert hat, nahmen sie zwei Menschlinge, verwandelten einen in einen Wolf und den anderen in einen Vampir und ließen sie sich gegenseitig beißen. Das klappte schon eher, aber nicht ganz. Sie starben trotzdem. Zugegeben, es war ein scheiß Tod. Denn wünscht man sich nicht einmal seinem ärgsten Feind“, gestand Phelan.
„Wieso? Wie scheiße ist er denn?“, hakte Julien gespannt nach.
„Es ist, als ob Milliarden kleinen Explosionen in deinen Adern hochgehen und sich jede einzelne davon anfühlt wie ein riesiger Atomsprengsatz. Und nicht nur das. Es macht dich wahnsinnig. Du verlierst wahrhaft den Verstand und bist nur noch ein schmerzerfülltes sabberndes Individuum ohne Hirn. Ich konnte es nur das erste Mal ertragen, sie bis zum Schluss am Leben zu lassen. Ehrlich, Iuls, nie war ich so erleichtert, einem Lebewesen den Kopf abzuschlagen, wie bei den armen Kreaturen.“ Julien erschauderte leicht. Das klang ziemlich kalt. Als ob diese Leute weniger Wert besessen hätten als die anderen. Phelan fuhr mit seiner Erzählung fort.
„Nun denn, sie hatten also herausgefunden, dass die, die gebissen wurden, länger überlebten, als die, die das Blut injiziert bekamen. Und dann kam so etwas wie der Durchbruch für sie. Einer ihre Menschlinge war ein Mann, dessen Aggressionsschwelle sehr tief lag. Er war zu einem Vampir umgewandelt worden und war der Ansicht, dass der Mann, den Conor zu einem Wolf gemacht hatte, ihn beleidigt hatte. Dieser gebissene Vampir griff in einer unaufmerksamen Sekunde den anderen Mann an und biss ihm in seiner Rage in den Arm. Der Wolf befreite sich, indem er seinem Angreifer den Hals blutig kratzte. Ihr Blut vermischte sich. Während ich den wildgewordenen in seiner Zelle in Ketten legte, kümmerten sich Conor und Yuri um sein Opfer. Der Mann überlebte drei Wochen, die meiste Zeit davon lag er zwar im Fieberwahn, aber er lebte deutlich länger als alle anderen zuvor. Damals dachten wir, es sei der Zorn, der das möglich gemacht hatte, aber heute wissen wir, dass es das Adrenalin sein musste, was durch die Adern des Vampirs geflossen war und dass wohl auch sein Speichel andere Faktoren aufwies, als bei einem normalen Biss. Sie haben es noch oft wiederholt und getestet, aber länger als einen Monat lebte keiner von ihnen, ob Wolf oder Vampir. Der Angreifer von damals starb schon nach wenigen Tagen an den üblichen Symptomen. Was wussten wir jetzt also!?
Wir wussten, dass nicht nur das Blut wichtig ist, sondern alle Faktoren! Es muss alles stimmen: das Blut, der Speichel und das Adrenalin. Allerdings wissen wir noch nicht so genau, wie was in welchen Teilen zusammenpasst, aber Yuri glaubt, dass beide Partien einen hohen Adrenalinwert brauchen, sie müssen sich beide in einer Stresssituation befinden. Als Amy dann bei uns war, konnten wir keine direkten Versuche mehr durchführen, das geht einfach nicht, verstehst du, und jetzt, mit dem heutigen Stand der Technik bietet es sich ja an, ein Computerprogramm zu entwickeln, das genau das für uns errechnen soll. Dann brauchen wir keine Menschlinge mehr zu töten. Studien haben sowieso bewiesen, dass Computerprogramme viel genauere Angaben machen können, als lebende Versuchsobjekte. Glaub mir, es hat lange gedauert, Yuri von dieser Art der Forschung zu überzeugen. Er will einfach immer seine Versuchskaninchen dafür haben.“
„Versuchskaninchen. Meinst du damit Menschlinge?“, hakte Julien mit leichtem Missfallen nach. Für ihn hatten die Menschlinge auch nicht gerade einen hohen Stand, aber sie als Versuchskaninchen zu bezeichnen fand er äußerst diskriminierend. Phelan sah ihn entschuldigend an, als ob diese Betitelung von ihm käme und nicht von Yuri. Der schmollte immer noch mit dem Rücken zu ihnen und putzte sich desinteressiert sein Gefieder.
„Und wie hast du es hingekriegt, dass er es eingesehen hat?“
Phelan grinste triumphierend.
„Indem ich ihm gesagt habe, was er eh schon wusste. Sie sind nicht widerstandsfähig genug für seine Experimente und Geborene zu holen ist viel zu riskant. Und, dass wenn wir mit unserem Programm fertig sind, er noch ein letztes Mal zwei Menschlinge holen darf, um festzustellen, ob das Programm auch wirklich korrekt berechnet hat.“ Phelan zog ein letztes Mal kräftig an seiner Zigarette, bevor er sie im Aschenbecher ausdrückte. Als er wieder hochsah, war sein Blick ernst.
„Es ist ein gefährliches Spiel, was wir hier treiben, verstehst du!? Wir spielen Gott, Julien, und das ist verdammt anmaßend. Denn so eine Entdeckung könnte unsere Völker revolutionieren und eine Eliterasse unter uns schaffen. Starke Krieger, vielleicht sogar unbesiegbare, wenn man die richtigen Blutbahnen vermischt. Nicht auszudenken, wenn das in die falschen Hände geraten würde! Was glaubst du, würde geschehen, wenn ein Diktator dieses Wissen in die Hände bekommen würde? Es wäre eine Katastrophe unermesslichen Ausmaßes.“ Phelan verstummte, zündete sich eine neue Zigarette an und inhalierte tief. Julien nickte nachdenklich. Er wusste nicht, ob er so etwas wirklich haben wollte. Eine Eliterasse. Meistens zog so etwas immer den Tod vieler Unschuldiger mit sich. Er holte tief Luft und kratzte sich nachdenklich am Kopf.
„Was geschieht, wenn ihr die richtige Formel herausgefunden habt?“, wollte er wissen. Phelan lächelte leicht.
„Jetzt kommt der wahre Grund, warum ich dabei bin. Yuri neigt zum Größenwahn und das weiß er. Ich bin der, der ihn zurückhält, wenn er über die Stränge schlagen will. Wenn wir erreicht haben, was wir erreichen wollten, werde ich alles vernichten, was mit dieser Forschung zu tun hat. Das ist nichts, was man wirklich tun sollte. Es sollten einfach nur die versponnenen Gedanken von Forschern sein, mehr nicht“, sagte er. Julien öffnete den Mund zu einer Erwiderung.
„Dann forscht ihr für nichts?“, rief er entgeistert. Phelan schüttelte verneinend den Kopf.
„Nein, Julien, du verstehst nicht! Sie forschen für sich! Nicht für Weltruhm! Es ist nicht gut, so eine Superrasse zu züchten! So eine Rasse darf nicht gezüchtet werden! Diese Forschungen dienen nur, um den Stolz zweier Wissenschaftler zu befriedigen! Es war nie etwas für die Praxis, es war alles nur das Erreichen eines Ziels! Nur ein Test! Ein Experiment! Mehr nicht. Und mehr wird es auch nie werden, um unser aller Sicherheit willen“, versuchte er zu erklären. Conor kläffte zustimmend. Julien dachte lange darüber nach, bevor er schließlich nickte.
„Ja. Du hast Recht. Es ist zu gefährlich, die Ergebnisse zu behalten. Darf ich euch trotzdem helfen? Ich werde niemandem etwas davon sagen, ich verspreche es euch.“
Phelan verdrehte erst die Augen, dann nickte er.
„Ich weiß, dass du nichts sagst. Und ich persönlich nehme dein Angebot gerne an. Du könntest mir helfen, unsere Laborratten im Auge zu behalten. So eine Arbeit kann sich schnell schlecht auf den Charakter auswirken, verstehst du?“, hakte er nur halb im Spaß nach. Julien nickte ernst.
„Okay, mach ich. Und was soll ich tun, wenn ich merke, dass etwas nicht stimmt?“
„Schlag sie k.o. und verknote sie zu einem Paket. Ich fahr sie dann an die Küste und lass sie ersaufen“, scherzte Phelan trocken. Julien blinzelte irritiert, dann verstand er, dass es nur ein Scherz war und lachte heiser. Conor brummte beleidigt und rollte sich zu Phelans Füßen zu einer Kugel zusammen.
Wagt es und ich beiß euch die Eier ab, drohte er eingeschnappt. Phelan ignorierte ihn.
„Zugegeben, das mit dem Ozean war ein Scherz. Das andere allerdings nicht“, fügte er an Julien gewandt hinzu.
„Faol“, sagte Julien verlegen. Phelans Grinsen erlosch augenblicklich. Alarmiert sah er Julien an. Dieser senkte den Blick und kratzte mit seinem Fingernagel auf der Armlehne herum.
„Danke, dass du mir vertraust“, flüsterte er heiser.
„Warum sollte ich das nicht, du hast mir noch keinen Grund gegeben, es nicht zu tun“, erwiderte Phelan ernst. Julien hob erstaunt den Kopf, Conor gab einen prustenden Laut von sich und Yuris Krähen ähnelte verteufelt einem Lachen.
„Nein?“, hakte er verwirrt nach. Er hatte Phelan aber etwas angetan, vor langer, sehr langer Zeit, etwas für das er sich schon fast genauso lange schämte. Er hatte nicht nur Phelans Vertrauen nicht verdient, genau genommen auch nicht dessen Freundschaft.
„Sei uns treu, kleiner Bruder, mehr verlangen wir nicht“, bat Phelan ohne Drohung. Julien nickte. Er hatte bereits einmal ihre Freundschaft aus Dummheit und Eifersucht beinahe zerstört, noch einmal würde er das nicht riskieren. Yuri drehte den Kopf zu ihm und zwinkerte ihm zu.
Vorsicht, Julien Delano. Wir ziehen dich unaufhaltsam in einen Abgrund und aus dem gibt es kein Entrinnen mehr, warnte er dramatisch und der Blick seiner schwarzen Knopfaugen bohrte sich in die von Julien.
„Erzähl mir etwas, was ich noch nicht weiß, Nebelkrähe“, erwiderte Julien entschlossen. Lieber untergehen, als sein Leben so weiterführen wie bisher. Und außerdem, außerdem war Julien alles recht, um einen Grund zu haben, sich noch öfter in Phelans Nähe aufzuhalten.
Dann war es das also.
Conor lag draußen auf dem warmen Gras und blinzelte in die Morgensonne. Jetzt hatten sie auch Julien mit hineingezogen. Er seufzte herzhaft. Das war so nicht geplant gewesen. Nichts von allem war so geplant gewesen. Er schnaubte und dachte daran, wie er und Yuri das erste Mal auf die Idee gekommen waren, zu versuchen, ihre Rassen zu kreuzen.
Wo war es gewesen? London? Ja, in London. Conor hatte zufällig ein Gespräch zweier Werkater mit angehört, die im Vollrausch damit geprahlt hatten, einen Vampirbiss überlebt zu haben. Sie wurden nicht wirklich ernst genommen, wer nahm schon das Wort von Trunkenbolden für bare Münze!? Er selbst hatte es auch nicht getan, aber die Behauptungen hatten trotzdem in seinem Verstand Wurzeln geschlagen. Er hatte Yuri davon erzählt. Und sein Freund hatte sich hingesetzt und nachgedacht und war mit einem Schlag kreidebleich geworden.
Was, wenn es stimmen würde? Hatte er Conor mit weit aufgerissenen Augen gefragt. Conor, bei allen Göttern, es wäre unser aller Untergang!
Nie würde Conor die Angst und Sorge im Gesicht seines Freundes vergessen. Nie würde er vergessen, wie dieselbe Angst ihm den Hals zuschnürte, als ihm bewusst wurde, wovor sein Freund sich fürchtete.
Sollte es wirklich der Wahrheit entsprechen, dann würde es Wesen geben, die immun wären. Immun gegen Vampirbisse. Immun vielleicht sogar gegen die vergifteten Bisse der Anderen, der wilden ihrer Arten, die Anarchie lebten und Chaos hinterließen. Dann würde es Wesen geben, die, wenn sie nur körperlich stark genug waren, vielleicht auch stark genug waren gegen jegliche Waffen? Dann wären sie elitäre Wesen, elitäre Soldaten und diese Wesen könnten all das gefährden, wofür der Rat kämpfte. Sicherheit. Schutz. Frieden. Sie mussten schneller sein, als alle anderen, die davon wussten, und die vielleicht dasselbe dachten, wie Conor und Yuri.
Conor war heimlich und ohne die Erlaubnis seines Onkels Conroy, dem damaligen Bibliothekar, in die Bibliothek geschlichen und hatte in den großen Schriften ihrer Völker nach Anhaltspunkten gesucht. Vielleicht hatte schon einmal jemand davon gehört und es niedergeschrieben. Er hatte nichts gefunden und dann hatten Yuri und er damit begonnen, zu experimentieren.
Heimlich, im tiefsten und hintersten Kellergewölbe in der leerstehenden Burg seines Vaters. Und auf einmal hatte Phelan an der Tür gestanden. Wütend. Nein, korrigierte sich Conor, nicht wütend. Rasend vor Zorn. So dumm sich sein Bruder auch stellte, er war ein helles Köpfchen, er war ein gerissener Mistkerl und dieser Mistkerl hatte sie entdeckt. Er hatte sie angeschrien, er hatte Conor sogar eine schallende Ohrfeige verpasst, Conor hatte gebettelt und gefleht, versucht zu erklären, versucht, seinen Bruder zu beruhigen, er hatte sogar geweint wie ein kleines Kind.
Und Phelan hatte ihnen tatsächlich zugehört. Schweigend, mit versteinerter Miene. Und er hatte danach lange Minuten geschwiegen.
Ihr müsst eure Leichen besser verschwinden lassen. Die Flut hat eine von ihnen zurück an den Strand gespült. Ich werde mich ab jetzt darum kümmern.
Das war das Einzige gewesen, was er jemals dazu gesagt hatte. Und es war der Anfang vom Ende gewesen.
Sie hatten niemals vorgehabt, den Rat zu stürzen, Phelan lebte für die Werte des Rates, sie alle lebten für die Werte des Rates, sie hatten doch nur versucht, zu beweisen, dass es nicht möglich war, ihre Rassen zu mischen. Sie wollten doch nur auf Nummer sicher gehen, dass kein anderer es schaffen würde und ihnen damit Schaden zufügen könnte. Sie hatten nichts Böses im Sinn gehabt.
Im Nachhinein hatte Conor sich oft gefragt, weshalb sie nicht zu seinem Großvater und Dashiell gegangen waren. Weshalb sie es ihnen nicht erzählt hatten. War es Egoismus, weil sie etwas für sich alleine haben wollten? War es neidische Angst, jemand könnte ihnen ihre Forschungen entreißen und den Lohn ihrer Mühe ernten? War es die Furcht, von seinem Großvater verstoßen zu werden? Er wusste keine Antwort darauf.
Conor hob den Kopf und starrte auf die vorbeiziehenden Wolken.
Man hatte sie erwischt und des Hochverrats angeklagt.
Es wurden Stimmen laut, die seinen und Yuris endgültigen Tod forderten. Und unter diesen Stimmen wurde gefordert, dass Phelan der Vollstrecker zu sein hatte. Und im Gegenzug würde er von aller Schuld freigesprochen werden.
Er hatte abgelehnt. Das musste allen von Anfang an klar gewesen sein. Phelan würde weder ihn, noch Yuri auf Geheiß von irgendjemandem töten. Lieber würde er die schlimmsten Strafen, die schlimmste Folter ertragen, als sie zu töten. Und wieder stellten sich dieselben Fragen, wie schon seit fast dreihundertsechzig Jahren:
Weshalb waren sie so darauf erpicht gewesen, dass er und Yuri starben? Oder ging es dabei gar nicht um ihren Tod, wie Yuri immer behauptete, sondern um Phelan?
Aus welchem Grund waren diese Leute Phelan gefolgt?
Weshalb war ihm nachspioniert worden?
Ein Wort schlich sich unaufhaltsam an die Oberfläche von Conors Gedanken: Verrat.
Nicht durch Phelan. Nicht durch ihn oder Yuri.
Verräter in den Reihen des Rates.
Conor schüttelte den Gedanken ab, bevor er sich weiter festigen konnte. Er durfte so nicht denken! Wenn er so dachte, dann hatte der Rat keine Zukunft und somit hatten auch ihre Völker keine Zukunft. Zumindest nicht diese Art von Zukunft, wie sich Raghnall und Dashiell für sie alle erwünschten.
In Frieden miteinander und unerkannt von den Menschlingen leben. Nicht wirklich versteckt oder gar in ihrer Lebensweise eingeschränkt. Nur unauffällig, mit dem Wissen, sobald es von Nöten war, gäbe es jemanden, der einem helfen konnte und würde.
Conor zwang sich, an etwas anderes zu denken.
Am Besten an die Bibliothek. An die Werke der Menschlinge, die er alle gelesen hatte. Oder noch besser, an die großen Schriften. In den großen Schriften stand alles niedergeschrieben. Die Entstehung des Rates. Alle Kriege, die geführt wurden. Zaubersprüche. Lustige Anekdoten. Das Leben aller Ratsmitglieder und deren Verbündeter. Die Lebensbücher nahmen den größten Teil der Schriften ein.
Conor lächelte innerlich. Jeder Clan und jedes Rudel welches sich dem Rat unterstellt hatte, hatte mindestens einen Schriftführer, dessen Aufgabe es war, gewissenhaft niederzuschreiben, was dort geschah. Die Geburt eines jungen Welpen. Die erste Jagd eines Jungvampires. Der Tod eines Mitgliedes. Alles wurde dort verzeichnet. Er selbst war damals im Heer seines Bruders der Schriftführer gewesen. Er hatte einen heiligen Schwur vor dem versammelten Rat schwören müssen, alles so wie es sich zugetragen hatte, niederzuschreiben, frei von eigenen Ansichten, Eindrücken und Meinung und in die jeweiligen Lebensbücher einzutragen. Er hatte feierlich genickt, sein Sprüchlein aufgesagt und hinter seinem Rücken versteckt unter seinem Wams seinen Mittelfinger über seinen Zeigefinger gekreuzt. -Und nur ausgewählte Dinge in die Lebensbücher seiner Kameraden geschrieben. Conor lachte schnaubend. Wie es schien, war er ein weit größerer Verräter als alle annahmen. Immerhin hatte er einen heiligen Eid entweiht. Er kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr.
Hoch oben, über den Wipfeln der uralten Lebensbäume zog ein großer Rabe seine Kreise. Entweder war Yuri auf der Jagd, obwohl er dafür eigentlich zu weit oben flog, oder er powerte sich aus. Conor fragte sich, wie viel Magie die Weisen in diesen Zauber stecken mussten, um den Körper eines ausgewachsenen Mannes in den eines - wenn auch wirklich großen - Raben zu hexen. er würde es leider nie erfahren. Jede verfluchte Hexe, die er seit seiner Verbannung dazu gefragt hatte, hatte darüber geschwiegen.
Köterattacke!, brüllte es übermütig in seinem Kopf, dann schoss der Rabe wie ein Pfeil senkrecht nach unten auf ihn zu, um im wirklich allerletzten Moment seine Flugbahn zu ändern und abzubiegen. Yuri vollführte eine Reihe wilder Saltos und ließ sich dann völlig ausgelaugt vor Conors Pfoten ins Gras fallen. Der kleine Vogelbrustkopf hob und senkte sich hektisch.
Uhuhuuuu, jauchzte sein Freund atemlos. Ich liebe fliegen!
Conor schnaubte. Es fand es äußerst erstaunlich, wie gelassen Yuri mit seinem Schicksal umging. Er selbst, der wusste, wie es sich in einem Tierkörper lebte, hatte sich recht schnell an die Tatsache gewöhnt, dass er jetzt nur noch ein Wolf war, aber für Yuri, der so eine Erfahrung noch nie gemacht hatte, sollte es doch eine furchtbare Qual sein. Stattdessen hatte Conor manchmal das Gefühl, dass seinem Freund diese Lebensumstände außerordentlich gut gefielen.
Ja, du tust es ja auch erst seit dreihundertfünfzig Jahren. Da kann einen schon mal der Hafer stechen, unkte Conor belustig. Yuri zwinkerte abwechselnd mit dem linken und dann mit dem rechten Auge und krähte leise.
Es kann nicht jeder so ein Griesgram sein, wie du, behauptete er vergnügt und schrubbte seinen Rücken im Gras. Hätte Conor es gekonnt, hätte er seine Augenbrauen nach oben gezogen. Er? Ein Griesgram? Der einzige, der hier in diesem Haus als Griesgram durchging, war sein Bruder! Conor überlegte kurz, ob er zur Strafe einfach auf den Vogel pinkeln sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Yuri sprang auf die Beine, schüttelte sich und sah seinen Freund mit schief gelegtem Kopf ernst an.
Es war nie geplant, dass Julien das mitbekommt, sagte er und er klang traurig dabei. Conor nickte.
Warum zum Teufel musste er auch einfach so ins Zimmer platzen? Ich wünschte, er hätte es nie gesehen. Wenn sie das erfahren, dann … Der Rabe verstummte, doch Conor wusste auch so, was er sagen wollte. Und wie den Gedanken an Verrat, verbot er sich auch diesen Gedanken weiter zu denken. Raghnalls und Dashiells Erbe ohne einen Erben. Es wäre fatal. Nein, es wäre der Untergang. Er zwang sich erneut, an etwas anderes zu denken. Zum Beispiel an das menschliche Gesicht Yuris.
Lang und schmal, mit hohen Wangenknochen, einer großen Hakennase und klugen grau-blauen Augen. Wirre schwarze Haare und einem Grinsen, welches eher einem breiten Zähneblecken glich.
Hoffte er jedenfalls. Er musste zugeben, dass er immer öfter vergaß, wie sein Freund als Vampir ausgesehen hatte. Dass er blass gewesen war, daran konnte er sich noch erinnern. Leichenblass war er gewesen. Conor hatte noch keinen so blassen Vampir gesehen, wie Yuri.
Wir werden ihn schützen, mit allem was wir haben, damit sie ihn nicht auch noch in ihre gierigen Fänge bekommen, bemerkte Yuri bestimmt. Conor nickte wieder.
Es reicht, dass sie uns aus dem Weg geschafft haben, mit Julien machen sie das nicht. Noch einmal lasse ich mich nicht von ihnen überrumpeln. Yuris blick war wild entschlossen. Conor wusste, dass sein Freund der felsenfesten Überzeugung war, dass alles, was ihnen geschehen war, ihre Entdeckung, die Verhandlung, die Urteilsverhängungen, das all das eine Farce gewesen war, um die eigentlichen Motive einiger Ratsmitglieder zu vertuschen. Yuri glaubte daran, dass diejenigen, die mit so viel Ehrgeiz und Besessenheit auf diese Verbannung gepocht hatten, selbst noch viel gewichtigere Dinge verheimlichten.
Vielleicht sollten sie es doch einmal Phelan sagen. Aber ob sein Bruder wirklich wieder zurück an seinen angestammten Platz wollte? Conor wandte unwillkürlich seinen Blick auf die Villa, hinter deren Mauern sein Bruder gerade schlief.
Allerdings kam es im Leben eines großen Mannes nicht immer darauf an, was dieser Mann wollte, sondern was das Beste für sein Volk war.
Conor sah wieder zu Yuri.
Lass uns in den Sumpf gehen. Ich muss mit dir reden. - Allein und ungestört.
Eigentlich war Julien noch nie in seinem Leben an Forschung und Wissenschaft interessiert gewesen, dazu war ihm dieses Thema zu trocken und rational, aber das hier konnte sich zu einer ernsthaften Passion entwickeln. Außerdem fand er es äußerst spannend und reizvoll, bei so etwas Verbotenem und Verwerflichem mitzuwirken, auch wenn sich sein Wirkungskreis im Moment noch darauf beschränkte, Phelan beim Erstellen des Programms zu zusehen. Das war das Seltsamste an allem für ihn. Phelan war ein Genie am Computer, er tippte fremdartige Befehle in die Maschine, mit einer Leichtigkeit, mit der Julien atmete. Irgendwie war es für Julien verstörend, den großen, leicht altmodisch wirkenden Kriegsführer so ein hochmodernes Gerät beherrschen zu sehen. Phelan lächelte ihn von der Seite an, ohne den Blick von dem großen Flatscreen zu nehmen.
„Sie können schlecht tippen, meinst du nicht?“, sagte er leicht belustigt. „Außerdem ist es eine willkommene Abwechslung in dieser Tristesse von Leben gewesen. Mittlerweile bin ich richtig gut darin geworden, einen PC zu bedienen und zu programmieren. Wenn mal alle Stricke reißen sollten und ich wieder von vorn anfangen muss, mach ich Karriere als professioneller Hacker oder such mir einen Job als Programmierer“, scherzte er gutgelaunt, zwinkerte Julien zu und konzentrierte sich wieder auf die merkwürdige Anordnung von Zahlen und Buchstaben vor ihm. Julien machte nur „Hm“ und blätterte interessiert in den Aufzeichnungen.
„Du hast mir nicht erzählt, wie du dazu gestoßen bist und in den Büchern steht davon nichts drin.“, fragte er nach einiger Zeit neugierig. Phelan schüttelte den Kopf, nickte dann und sah hoch.
„Ich habe sie zufällig dabei erwischt. Ich weiß nicht, warum ich sie nicht daran gehindert habe, vielleicht, weil es verboten war. Noch verbotener als fliegen.“ Er lachte heiser und strich mit seinen Fingern über die Tastatur. Fliegen. Julien lächelte leicht. Als sie noch um viele Jahrhunderte jünger gewesen waren, waren sie oft fliegen gegangen. Zu Fliegen war nichts anderes gewesen als high zu sein, beflügelt von einem Cocktail aus hochgiftigen Pilzen und Kräutern.
Würde ein Mensch diese explosive Mischung verzehren würde er an augenblicklichem Organversagen sterben - das behauptete zumindest Phelan. Julien bezweifelte, dass die Menschlinge sofort daran sterben würden, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie irreparable Schäden vom Verzehr davontragen würden. Diese Pilz-Kräutermischung hatte eine heftigere Wirkung als der Genuss von allen hochkarätigen illegalen Drogen zusammen, Julien hatte es selbst getestet. Allerdings hatte er nie erfahren, aus welchen Bestandteilen das Kraut zum Fliegen bestand, Phelan hütete sein Rezept wie seinen größten Schatz - sehr zu Juliens Verdruss.
„Naja, ich hab eigentlich nur ihren Müll entsorgt, die Leichen verschwinden lassen, Spuren verwischt. War wohl nicht so gründlich dabei, wie ich dachte.“ Phelan stieß ein humorloses Lachen aus. Julien runzelte kritisch die Stirn.
Natürlich, dachte er zynisch, als ob du in dieser Hinsicht jemals schlampig gewesen wärst. Das wäre ja etwas ganz neues. Phelan war schon damals als Achtjähriger sehr darauf bedacht gewesen, nach ihrer Jagd keinerlei Spuren zu hinterlassen und selbst Markus hatte zugeben müssen, dass er selten solch eine Gründlichkeit im Verschleiern und Verwischen von Spuren gesehen hatte. Trotzdem hatte er sie erwischt und verprügelt. Julien nagte nachdenklich auf seiner Unterlippe herum.
Allerdings war Phelan zu der Zeit keine acht Jahre alt mehr gewesen sondern ein erwachsener Mann, der verdammt viel Erfahrung darin hatte, seine und andere Spuren zu verwischen. Wenn Julien dieses Wissen als Basis nahm und den Gedanken weiterspann. Wenn Phelan etwas so wichtiges tat, wie die Beweise einer sehr, sehr verbotenen Tat zu verschleiern, dann wäre er so gründlich und würde unzählige Mal nachprüfen und kontrollieren. Julien wusste, zu wozu Phelan in dieser Hinsicht fähig war, was hatten sie damals im Heer an Beweisen verschwinden lassen müssen und Wege verschleiern, Lügen spinnen. Julien dachte sich die verschiedensten Arten aus, wie Phelan die Leichen hätte verschwinden lassen können und war kurz davor, eine wichtige Entdeckung zu machen, als Phelan weiterredete und er den Faden verlor.
„Wirklich helfen tu ich erst seit wir unsere Ruhe haben. Und mit dem heutigen technischen Stand glaube ich, dass wir endlich unser Ziel erreichen werden. Computerprogramme sind wirklich viel zuverlässiger als Menschen.“ Er kramte im Chaos seines Schreibtisches nach den Zigaretten und zündete sich eine an. Julien fluchte lautlos. Jetzt war die Idee weg. Er bediente sich an Phelans Schachtel. Jetzt hieß es, an etwas anderes denken, dann kam der verloren gegangene Gedanken meist von alleine wieder.
„Bist du jemals wieder geflogen?“, fragte Julien deshalb neugierig. Phelan lachte.
„Ab und zu, aber nicht mehr so oft wie damals. Der Reiz war nicht mehr gegeben“, antwortete er ehrlich. „Und ich hatte auch weitaus weniger Zeit um es zu tun. Schade irgendwie. Ich bin gerne geflogen. Und du?“
„Du hast mir nie gesagt, aus was die Mischung bestand“, sagte Julien leicht tadelnd. Phelan grinste.
„Ich weiß. Aber es gibt auch noch andere Mittel um so zu fliegen. Reichst du mir bitte die schwarze Mappe rüber? Wenn meine Berechnungen stimmen, dann haben wir es endlich geschafft, einen Berechnungsgrundstein zu legen“, bat er. Julien reichte ihm die dicke Mappe. Wir fand er leicht übertrieben, er trug nicht wirklich zum Gelingen des Systems bei, er reichte nur Mappen oder las fremdartige Formeln vor. Phelan schlug die Mappe auf und begann wieder mit seiner Programmierung. Julien setzte sich neben ihn und betrachtete die schnelle Folge der Buchstaben, Zahlen und Zeichen, die auf dem Bildschirm auftauchten, eine Reaktion ergaben, Daten errechneten und kurz darauf sagte Phelan: „Jetzt müsste es klappen.“
Gespannt starrte Julien auf den Flatscreen, aber eigentlich sagte es ihm gar nichts, was er sah. Grüne Zahlen- und Buchstabenreihen zischten über den Bildschirm und verschwammen selbst vor seinem scharfen Auge. Dann stoppte der Datenfluss mit einem Mal, der PC gab laute Piepgeräusche von sich und der Cursor erstarrte auf dem plötzlich schwarz gewordenen Bildschirm. Phelan fluchte herzhaft, hackte auf die Tastatur ein und stieß ein grollendes Knurren aus.
„Aufgehängt?“, tippte Julien. Er konnte zwar nicht Programmieren, aber normale Userkenntnisse hatte er dann doch und irgendwie sah es immer gleich aus, wenn sich ein Programm aufgehängt hatte.
„Auch. Verfluchte, gottverdammte Scheiße!“, donnerte Phelan los und beherrschte sich im letzten Moment, nicht den Rechner aus dem Fenster zu werfen. Stattdessen drückte er seine halb aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus, bis sie nur noch aus Bröseln bestand.
„Okay, das war's für heute“, bestimmte er und kappte die Stromzufuhr des Computers. Julien verkniff sich ein Grinsen.
„Lach nicht“, fauchte Phelan, allerdings klang er nicht ernsthaft verärgert.
„Ich lache nicht, ich grinse“, korrigierte Julien belustigt.
„Witzbold“, knurrte Phelan, rammte den Strecker des Stromkabels zurück in die Buchse und zischte ihm noch einen undeutlichen Fluch entgegen.
„Lass uns alles wegräumen. Ich habe heute keine Lust, mich stundenlang mit der Frage herum zu ärgern, warum da jetzt auf einmal ein so schwerer Fehler im Programm ist, der sogar den PC in die Knie zwingt. -Lust auf Scrabble?“, schlug er vor und räumte den Schreibtisch auf. Julien sah ihn erstaunt an.
„Wie kommst du jetzt auf Scrabble?“, fragte er überrascht und half Phelan beim Wegräumen.
„Es muss ja nicht unbedingt Scrabble sein, was anderes wäre auch okay.“
„Wir könnten auch Schach spielen“, meinte Julien. Phelan runzelte die Stirn.
„Ich bin grottenschlecht in Schach“, wandte er ein. Julien grinste breit.
„Ich weiß, darum schlage ich es ja auch vor.“
Phelan richtete sich auf.
„Fein, dann spielen wir eben Schach. Ich bin ein guter Verlierer!“, behauptete er großspurig. Julien gab ihm einen Knuff in die Rippen schnitt ihm eine wilde Grimasse. Phelans Blick wurde entrüstet, dann schnappte er Julien am Kragen, nahm ihn in den Schwitzkasten und trommelte ihm leicht mit den Fingern auf dem Kopf herum.
„Du glaubst mir nicht? Oh, warte, ich werde dir eine Schachpartie liefern, wie du noch nie eine Schachpartie geliefert bekommen hast!“, drohte er ihm an. Julien lachte auf und versuchte, sich aus Phelans festem Griff zu befreien.
„Du schummelst!“, rief Julien entrüstet, als Phelans Königin ihn auf wundersame Weise Schach setzte, noch ehe das Spiel richtig begonnen hatte. Phelan sah ihn mit übertriebener Empörung an.
„Du behauptest, ich schummle?“, protestierte er. Julien nickte nachdrücklich.
„Du wagst es zu behaupten, ich, Fáelán vom Braeden, würde schummeln! Ich bin ein ehrbarer Mann, Sire Delano!“
Spielt ihr Schach?, fragte Conor belustigt und schlenderte gut gelaunt mit Yuri auf dem Rücken zur Küche herein. Julien wandte ihnen den Kopf zu.
„Der schummelt!“, klagte er und zeigte mit seinem ausgestreckten Zeigefinger auf Phelan. Conor schnaubte belustigt. Einer plötzlichen Eingebung folgend flog Juliens Blick zurück zu Phelan, der ihn engelsgleich anlächelte. Julien wurde von seinem plötzlichen Misstrauen regelrecht erschlagen und er sah hastig auf das Spielbrett. Irgendwie beschlich ihn das Gefühl, dass die Spielfiguren gerade eben noch anders gestanden hatten. Mehr zu Juliens Vorteil, als zu Phelans. Er blitzte Phelan giftig an.
Der mogelt bei Schach schlimmer als eine zahnlose Zigeunerin beim Wahrsagen lügt, behauptete Yuri gelassen und flog elegant neben das Spielbrett. Mit schräg gelegtem Kopf verschaffte er sich einen Überblick über die aktuelle Spielsituation, dann krächzte er sein Rabenlachen.
„Immerhin ist er schon Schach“, bemerkte Phelan selbstgefällig. Conor schnaubte missbilligend und sprang auf den Barhocker neben Julien. Er kannte die Tricks seines Bruders, Phelan war ein Meister, wenn es darum ging, bei einem Spiel zu betrügen, ob das nun Schach oder ein anderes war.
Schade, dass er nicht mit einem ehrlichen, ihm ebenbürtigen Gegner spielen kann, bedauerte Conor und gab ein jämmerliches Winseln von sich. Phelans Gesicht hellte sich mit einem Schlag auf.
„Doch, kann er! Wenn ich Conors Figuren führe, könnt ihr beide gegeneinander Schach spielen! Und ich verspreche hoch und heilig, dass ich auch nicht schummeln werde! Bei meiner Ehre!“, schwor Phelan feierlich und legte die Hand auf seine Brust. Julien fixierte ihn kritisch.
„Wehe, du betrügst!“, drohte er mit erhobenem Zeigefinger. Phelans Blick wurde schelmisch.
„Was dann? Knuffst du mich wieder?“, neckte er ihn.
„Nein, dann hau ich dich!“, erwiderte Julien selbstgefällig. Phelan lachte auf und ordnete die Spielfiguren.
„Wir müssen leider mit weiß spielen, sonst weint das Beißerlein, aber dafür dürfen wir den ersten Zug machen“, klärte er seinen Bruder auf. Julien funkelte ihn an. Dafür würde es noch ein Nachspiel geben, für dieses, sonst weint das Beißerlein.
„Fangen wir an“, sagte er mit einem gespielt gönnerhaften Blick auf Phelan, der ihm einen Luftkuss zuwarf. Julien spürte Wärme in sich aufsteigen, auch wenn dieser Kuss nur ein Scherz gewesen war, keine wirklich Gefühlsäußerung.
Nervt nicht, unterbrach Conor ungeduldig und teilte Phelan seinen ersten Zug mit. Konzentriert euch lieber auf das Spiel.
Gegen Conor Schach zu spielen war eine echte Herausforderung für Julien. Es war ein Schachduell der Meisterklasse, was sie sich lieferten. Der einzige, mit dem er auf demselben hohen Niveau spielen konnte, war sein Vater, und wann er mit dem seine nächste Partie Schach spielen würde stand weit in den Sternen.
Phelan kam es vor, als hätte er Tage vor diesem Spielbrett gesessen, als Julien gelassen das für ihn erlösende „Remis“, sagte. Er lächelte leicht. Der genervte Unterton, der in Juliens Stimme mitschwang, war eigentlich nicht hörbar, aber Phelan erkannte ihn trotzdem. Conor schnaubte zustimmend. Seit zehn Minuten umkreisten sich nun ihre Könige, die einzigen noch verbliebenen Spielfiguren auf dem Brett. Phelan betrachtete interessiert die beiden kunstvoll geschnitzten Holzherren, legte den Kopf schief und beschloss, dass Schach eigentlich ein bescheuertes Spiel war, es dauerte ihm viel zu lange und dann umkreisten sie sich noch eine halbe Ewigkeit mit ihrer letzten Spielfigur.
„Es sei denn, du willst das Spiel noch weitertreiben“, fügte Julien hinzu. Er hätte es ja am liebsten getan denn er war im Gegensatz zu Phelan kein guter Verlierer. Conor stieß eine seltsame Mischung aus Bellen und Lachen aus.
Nein, heute nicht. Ein anderes Mal, versprochen, meinte er gutgelaunt. Er hatte schon lange nicht mehr eine so hervorragende Partie Schach gespielt. Phelan gluckste und erhob sich, um Essen zu machen.
„Er lehnt dankend ab, verspricht dir aber eine Revanche“, teilte er Julien mit.
Es fuchst ihn, nicht gewonnen zu haben, sagte er in Gedanken zu Conor als er das erste Steak in die Pfanne legte. Julien räumte die Figuren und das Spielbrett zurück in den Mahagonikoffer.
Ich weiß, gab sein Bruder sehr zufrieden zurück. Wenn es ums Verlieren geht, ist er immer noch dieser furchtbar verzogene schmollende Bengel. -Hat wer von euch Lust auf Scrabble? Conor ließ hoffnungsvoll den Blick schweifen.
„Nein. Es will keiner Scrabble spielen“, wehrte Phelan ab. Julien riss in gespielter Bestürzung die Arme in die Luft.
„Was ist denn das für ein Ding mit euch, dass ihr in diesem Haus so wild auf Scrabble seid?“, lamentierte er. Phelan nahm ihm den Koffer ab und räumte ihn in einen Küchenschrank.
„Wer viel Zeit hat, wird ein Meister im Spiele ausprobieren. Und Conor nervt es, dass er immer gegen mich verliert“, behauptete er und hackte Zwiebeln klein. Conor bellte laut.
„Was sagt er?“ Julien deutet fragend auf Conor.
Dass er nur verliert, weil Phelan Wörter erfindet, antwortete Yuri.
„Und, stimmt es?“
„Natürlich nicht“, behauptete Phelan in dem Moment, in dem Yuri sagte:
Was glaubst du denn?
Julien lachte.
„Ach, das Programm spinnt“, wechselte Phelan das Thema und klatschte ein zweites riesiges Steak in die Pfanne. Das Fett zischte laut auf.
Dinge passieren, kommentierte Conor nur und Yuri flatterte aufgeregt mit den Flügeln.
Hast du den Fehler gefunden? Hast du ihn behoben? Ist es ein schwerwiegender Fehler? Ich sagte doch, man kann diesen Maschinen nicht trauen, wir hätten bei Versuchskaninchen bleiben sollen!, beklagte er sich dramatisch. Phelan wirbelte herum und streckte ihm drohend die Fleischgabel entgegen. Julien zuckte erschrocken zusammen, auch wenn die Drohung nicht ihm galt.
„Ich sage es dir jetzt ein allerletztes Mal, Yuri Borondin. Hör auf, sie Versuchskaninchen zu nennen, es sind Menschen!“, fauchte er wütend. Yuri krähte empört, gab aber keine Antwort.
„Das nächste Mal, wenn du sie in meiner Gegenwart so nennst, drehe ich dir so den Kragen um, dass du ihn nicht mehr in die richtige Richtung zurückdrehen kannst“, knurrte Phelan ungehalten und schleuderte sein Fleisch in der Pfanne herum. Yuri verzichtete darauf, ein Kommentar dazu abzugeben, sondern hockte still auf der Stuhllehne. Julien beschloss, sich aus dem Disput herauszuhalten. Conor zwinkerte ihm gelassen zu.
Julien formte mit seinem Mund ein „Oh!“ und sah von Yuri zu Phelan. Dann war das also einer dieser besagten Höhenflugmomente von Yuri gewesen. Conor hechelte zustimmend.
Oh-mein-Gott, stellt der Köter sich manchmal an!, beklagte Yuri sich theatralisch bei Julien. Ich bin ein genialer Wissenschaftler, ich habe schon zu Zeiten Dinge erkundet und entdeckt, von denen die Menschlinge jetzt erst wissen! Und da echauffiert der sich über so lächerliche Banalitäten wie Höflichkeitsfloskeln!
Julien grinste breit.
„Lass mich aus euren Streitereien raus, ja? Das ging noch nie gut“, raunte er dem Raben zu.
„Ich unterbreche ja nur ungern eure Zwiesprache; Essen ist fertig.“ Phelan stellte Julien schwungvoll einen großen Tonkrug mit frischem, warmem Blut hin. Julien lächelte zum Dank, doch Phelan hatte sich schon wieder umgedreht und deckte das Essen auf. Conors Rumpsteak war von Phelan in mundgerechte Happen zerschnitten und schwamm in seinem eigenen Blut. Conor bevorzugte sein Fleisch mehr roh als gebraten. Yuri bekam eine so kunstvoll tranchierte rohe Maus, dass Julien bei ihrem Anblick nicht einmal übel wurde. Phelan war wahrhaftig nicht nur an einem Computer ein Meister, sondern auch beim Kochen. Phelan nahm mit seinem Teller in der Hand Platz.
„Lasst es euch schmecken“, wünschte er ihnen freundlich und schnitt ein großes Stück Fleisch ab. Im Gegensatz zu seinem Bruder aß er sein Fleisch eher medium gebraten als roh, was Julien dankbar registrierte. Seltsamerweise fand er den Anblick von Blut, was aus einem gebratenen Fleischstück in Strömen herauslief, widerlich.
„Danke, du dir auch“, wünschte er und nahm einen Schluck aus seinem Krug. Conor und Yuri erwiderten den Gruß und begannen zu essen.
Und dann war das Wehr gefestigt. Nach fast zwei Monaten hatten die Weisen das Blutwehr erstellt und an diesem Tag war es soweit; sie verließen zusammen mit Raghnalls Soldaten das Grundstück.
Julien lauschte mit geschlossenen Augen den Stimmen, die der Wind von draußen durch das geöffnete Fenster wehte ohne auf die Worte zu achten. Es interessierte ihn sowieso nicht, was gesprochen wurde, wen interessierten schon Abschiedsfloskeln, die nicht ernst gemeint waren? Und diese Floskeln waren nicht ernst gemeint, Phelan hatte den Tag herbeigesehnt, an dem das Wehr gefestigt war und die Wachen von Raghnall endlich gehen würden.
Er gähnte und zog sich die Decke über den Kopf, wünschte sich, die ganzen Leute sollten endlich verschwinden, damit er weiterschlafen konnte und ließ sich vom harschen Klang von Phelans Stimme einlullen.
Zwei Stunden später schlenderte er ausgeruht die Treppe herunter. Er hatte sich zugegebenermaßen ein bisschen mehr als nötig herausgeputzt, mit dem heimlichen Ziel, Phelan zu gefallen. Mit lässigem Schwung betrat er die Küche, setzte sein strahlendstes Lächeln auf und stieß gleich darauf einen Frustlaut aus.
Die Küche war leer.
„Na, toll“, knurrte er missmutig und trat in den Raum. Dramatischer Auftritt: voll für die Katz. Julien trottete zu seiner Kaffeemaschine, brühte sich einen Kaffee auf und starrte aus dem Fenster. In der Dunkelheit sah er eine schemenhafte Gestalt, die vom Sumpf auf das Haus zukam. Eher neugierig als besorgt nahm er seine volle Tasse, ging zur Hintertür, trat auf die kleine Veranda und beinahe auf Yuri, der neben Conor am Rand des Lichtkegels hockte.
„Tschuldige“, nuschelte Julien halbherzig, als der Rabe sich lautstark beschwerte. Julien erkannte die Gestalt als Phelan, der sich mitten im Rasen bückte, seine Hände auf den Boden legte und nach kurzer Zeit wieder aufstand um zurück in den Sumpf zu gehen.
„Was macht er da?“, fragte Julien erstaunt.
Leben zurückbringen, antwortete Yuri und putzte sich das Gefieder an der Brust.
Julien sah den Vogel verwirrt an. Der verdrehte genervt die Augen.
Hör dich um, was hörst du?, wollte Yuri leicht gereizt wissen. Julien legte den Kopf schief und lauschte.
„Nichts“, sagte er schließlich immer noch genauso verwirrt, dann stockte er.
„Nichts. Ich höre gar nichts.“
Kein Vogel, keine Grille, selbst das Laub, das sich in der leichten Brise bewegte, schien das lautlos zu tun. Um ihn herum herrschte völlige Stille.
Das ist ein Blutwehr, erklärte Yuri nun überhaupt nicht mehr genervt. Es kann nur von denen betreten werden, deren Blut durch das Wehr fließt, alle anderen bedürfen persönlichen Geleits oder einer eindeutig gesprochenen Einladung es jederzeit durchschreiten zu können. Und jeder Baum und jeder Busch braucht Bewohner, die ihn am Leben halten oder es ihm wieder nehmen.
„Willst du damit sagen, dass Phelan hier Insekten aufs Grundstück trägt?“, hakte Julien ungläubig nach. Conor hob den Kopf und bellte einmal.
„Das ist nicht euer Ernst.“
Siehst du uns lachen? Alles hat seinen Preis. Vor allem ein Blutwehr.
„Seit wann macht er das schon?“, hakte Julien nach und leerte seine Tasse mit einem großen Schluck. Er verbrannte sich zwar den Mund dabei, aber während er die Tasse neben sich auf den Verandaboden stellte, ließ der die Verbrennung heilen.
Seit ungefähr fünf Stunden.
„Was für eine Scheiße“, knurrte Julien ungehalten. Dann schlüpfte er aus seinen Lederhalbschuhen, zerrte sich die Socken von den Füßen und krempelte seine Designerhose bis zu den Knien hoch.
„Ich geh ihm helfen. Sonst sammelt er in drei Jahren noch Würmer.“ Entschlossen marschierte er auf Phelan zu, der gerade eben wieder dem Sumpf entstiegen war.
Conor sah Yuri an und hechelte.
Auf der einen Seite nervt mich das total, dass ich nicht helfen kann, aber auf der anderen Seite … er pausierte um in Gedanken zu Grinsen. ... auf der anderen Seite allerdings freut es mich irgendwie, wenn die beiden etwas allein zusammen machen. -Und wenn es nur Würmer einsammeln ist.
Yuri prustete nur und schalt Conor in seinem eigenen Gedanken einen romantischen Narren.
Sie sammelten bis kurz vor dem Morgengrauen. Käfer, Insekten, schlafende Vögel, Würmer, Raupen, sogar einen Bienen- und einen Wespenstock. Juliens anfänglicher Widerwillen war einer Faszination und Ehrfurcht gewichen, vor allem als er Phelans ernstes Gesicht dabei sah und das erste Mal die Worte hörte, die er jedem noch so kleinen Tier zuraunte:
„Komm in Freundschaft, sei immer Willkommen; komm als Feind, stirb am Wall.“
Trotzdem war er froh, als Phelan verkündete, dass sie nur noch einmal in den Sumpf müssten. Seine Hose war bis an den Hintern hoch schlammverschmiert und klebte nass an seinen Oberschenkeln und sein Hemd sah nicht viel anders aus. Wie es in seinen Haaren aussehen mochte, wollte er gar nicht wissen, die fühlten sich an, als ob er den halben Baumbestand darin hängen hatte. Leicht frustriert zupfte er sich Schlamm vom Hemdsärmel. Er trug hier wirklich sehr teure Markenkleidung, für die er sich entschieden hatte, um gut auszusehen und jetzt watete er damit im Morast herum und ruinierte sie.
Er stieß einen wehleidigen Ton aus. Wenn er auch nur im Entferntesten geahnt hätte, dass er anstatt Phelan optisch zu beeindrucken, mit diesem im Sumpf nach Kriechtieren herum krabbeln würde, hätte er sich etwas anderes, weniger teures angezogen.
Er ließ den wehleidigen Ton erneut hören und hörte auf, Schlamm von seinem Hemd zu pulen. Es hatte sowieso keinen Wert, das Hemd taugte nur noch für den Mülleimer.
Seine Sinne registrierten etwas, was sich schnell von hinten näherte; Julien spannte sich an und wirbelte herum, bereit zur Verteidigung. Ein schwarzer Schatten flog auf ihn zu, Julien vergeudete wertvolle Sekunden damit, zu erkennen, was ihn angriff, dann klatschte ein riesiger Schlammklumpen auf seine Brust und ließ ihn rückwärts taumeln. Fassungslos starrte er an sich herunter. Der Schlamm rutschte langsam und zäh über seinen Bauch und landete mit einem schmatzenden Geräusch auf dem Boden.
„Das … doch … also …“ schnappte er perplex. Irgendwo im Dunkel vor ihm hörte er ein leises Glucksen.
„Spinnst du?“, brauste Julien auf, bückte sich und riss kurzerhand einen Klumpen Dreck samt Gras heraus. Das Glucksen wurde lauter.
„Das Hemd war teuer!“
Das Glucksen verstummte abrupt, dann schallte lautes Lachen zu ihm herüber. Julien knurrte verhalten, fixierte die Dunkelheit und schleuderte den Dreckklumpen in die Richtung, aus der das Lachen kam. Er hörte einen klatschenden Aufprall, dann ein überraschtes Keuchen. Zufrieden zog Julien die Nase hoch und streckte die Schultern.
Treffer, dachte er triumphierend, drehte sich wieder um und stolzierte erhobenen Hauptes weiter. Er kam drei Schritte weit, bis ihm ein Klumpen Dreck in den Rücken flog, der Julien beinahe von den Füßen riss. Er taumelte ein paar Schritte vorwärts und kämpfte mit seinem Gleichgewicht.
„Also jetzt reicht's“, zischte Julien als er wieder fest stand, schnellte herum und rannte los. Die Dunkelheit wich immer mehr zurück und gab eine Silhouette frei. Julien machte einen Satz, prallte gegen Phelan und riss ihn mit sich auf den Boden. Für einen kleinen Bruchteil waren sie schwerelos, schwebten in der Luft, Julien spürte Phelans Hände auf seinen Hüften, die der gepackt hatte, um ihn abzuwehren, dann landeten sie in einem morastigen Sumpfloch und schwarzer zäher Schleim schlug über Juliens Kopf zusammen.
Stille. Eine alles verzehrende Stille umfing ihn, raubte ihm alle Sinne und die Möglichkeit, sich zu bewegen. Panik stieg in Julien auf, dann bekam er einen Stoß, der seine Rippen knacken ließ, er wurde nach oben getrieben, es ertönte ein lautes schmatzendes „Plopp“ und er war frei. Gierig schnappte er nach Luft. Grund Gütiger, worin war er gelandet?
Eine schlammverschmierte Klaue griff nach ihm, erwischte seinen Oberarm und dann tauchte ein Schlammmonster auf. Es schnaubte prustend, Morastspritzer flogen davon und es sog gierig Luft in seine Lungen.
„Um der Götter Willen, Julien“, blubberte das Monster, gab würgende Geräusche von sich und tauchte bis zu den Schultern auf.
„Nie wieder einen Bodycheck im Sumpf.“
Der Morast unter Julien waberte und verschob sich, das Sumpfmonster entstieg dessen feuchten Klauen und zog ihn mit sich ans Ufer.
„Du hast angefangen“, bemerkte Julien leicht schmollend und ließ sich von dem Sumpfmonster mitziehen. Es gab glucksende Geräusche von sich, während es Julien über eine trockene Stelle zerrte.
„Revanche“, sagte es nur, schlang seine Schlammarme um Julien und ließ sich mit ihm einfach fallen. Dieses Mal schlug kühles Wasser über seinem Kopf zusammen. Julien erstarrte. Wasser. Erst Schlamm und Morast, dann Wasser! Er hasste Wasser! Die Schlammarme entließen ihn aus ihrer Umarmung und Julien paddelte hektisch zurück an die Oberfläche.
„Scheißkerl“, fauchte Julien ohne wirklich beleidigt zu sein, als Phelans Kopf neben ihm auftauchte.
„Ich dich auch“, meinte der grinsend und begann sich zu waschen. Widerwillig tat Julien es ihm gleich, wenn auch bedeutend schneller. Er wollte aus dem Wasser raus. Nachdem er sich vom gröbsten Dreck befreit hatte, watete er schnaubend ans Ufer, setzte sich auf einen umgefallenen Baumstamm und beobachtete Phelan dabei, wie dieser sich sorgfältig säuberte.
„Hast du keine Badewanne zuhause oder warum putzt du dich hier so gründlich?“, feixte er und stützte sich mit den Händen an dem Stamm ab. Phelan drehte sich zu ihm und schnitt ihm eine Grimasse.
„Ich habe keine Lust mit zwölf Kilo Schlamm beladen zurück zu gehen“, erwiderte er gelassen und fuhr mit seiner Reinigung fort. Nicht, dass es Julien stören würde. Er legte den Kopf schief, lehnte sich gegen seine aufgestützten Hände und genoss das Schauspiel vor sich im Wasser. Aufmerksam beobachtete er, wie Phelan mit einer unglaublichen Eleganz aus dem Wasser stieg und über das schlammige Ufer auf ihn zuging, als ob er auf festen Boden treten würde. Wenn Julien es nicht besser wüsste, würde er behaupten, es gab nichts was die Eleganz dieses Mannes rauben könnte. Er seufzte lautlos und erhob sich von seinem Baumstamm.
„Ich bin nass“, bemerkte er pikiert. Phelan grinste.
„Schon kapiert.“ Er gab Julien einen leichten Knuff gegen den Oberarm.
„Wir gehen nach Hause.“
Auf dem Rückweg zur Villa fragte sich Julien unwillkürlich, wie er diesen drückend schwülen, nassen, feuchten, moskitobefallenen Sumpf hatte schön finden können. Seine Kleider klebten an seinem Körper wie Säcke und er stank widerlich nach brackigem Wasser, Schlamm und Moder. Mit einem prüfenden Schnuppern in Phelans Richtung erkannte er voller Genugtuung, dass der auch nicht wirklich besser roch. Fauchend schlug er das gefühlt eine millionste Moskito, welches sich an seinem Blut laben wollte, tot. Er sah bestimmt aus, wie eine dieser Leimrollen, an denen immer zuhauf tote Fliegen klebten.
Was ist denn mit euch passiert?, wollte Conor wissen, als die beiden triefend und immer noch mit Schlamm verschmiert auf die Veranda traten.
„Julien ist in ein schwarzes Sumpfloch gefallen und ich musste ihn rausziehen“, behauptete Phelan und entledigte sich ungeniert seiner Kleider.
Yuri sendete Julien ein rolliges Schnurren in den Kopf. Juliens Kopf schnellte zu dem Vogel.
Oh-so-se-xey, schnurrte Yuri lüstern und plusterte sich auf. Julien sah ihn tadelnd an und vergaß, Phelans Lüge aufzudecken.
Lass das, fauchte er ungehalten. Der Rabe zwinkerte unschuldig.
Was denn? Ist doch wahr! Schau ihn dir doch mal an, der Kerl ist eine Wucht, verteidigte er sich mit gespielter Empörung.
Aber wem erzähl ich das …
Yuri ließ den Rest des Satzes unheilschwanger in der Luft hängen, flog ins Haus und ließ Julien mit glühenden Wangen auf der Veranda zurück.
Ach, übrigens: Klamotten aus. Mit dem ganzen Dreck kommst du hier nicht rein. Der Rabe krächzte noch schadenfroh, bevor er aus Juliens Blick in den Salon flatterte. Julien schickte ihm einen Fluch hinterher und schälte sich aus seinen ruinierten Klamotten, nicht ohne einige kurze Seitenblicke auf Phelans Kehrseite zu werfen.
„Conor sagt, wir sollen zusehen, dass wir auf dem Weg in unsere Bäder so wenig Dreck wie möglich auf den Läufern hinterlassen.“ Phelan drehte seinen Kopf zu Julien und zwinkerte ihm zu.
„Ich bekomme gerade richtig Lust, mich noch mal in dem Sumpfloch zu wälzen und ohne mich abzuwaschen, wieder zurück zu kommen“, flachste er, ließ seine Kleider einfach auf der Veranda liegen und trat ins Haus.
„Du solltest dich übrigens beeilen, die Sonne geht bald auf und ich habe keine Lust, das Häufchen Asche, was dann noch von dir übrig bleibt, wegzufegen.“
Julien knirschte mit den Zähnen.
„Wie oft noch; wir zerfallen nicht zu Asche, wenn wir in die Sonne kommen“, knurrte er.
„Puff und Asche seid's“, behauptete Phelan gutgelaunt. Julien setzte zu einer Antwort an und schloss den Mund wieder. Jedes Mal. Jedes Mal fiel er darauf herein. Schon als Kind war er auf diesen blöden Satz hereingefallen. Er sollte es so langsam wissen.
„Steh drüber, Julien“, befahl er sich selbst, folgte Phelan und Conor ins Haus und schloss die Tür hinter sich.
„Du kennst die Wahrheit.“
Sie waren im Heerlager, welches in seiner Villa untergebracht war und die Villa war nicht diese Villa im Sumpf sondern ein Anwesen, welches er schon seit vielen Jahren nicht mehr betreten hatte und es wohl auch nie wieder tun würde und sie lagen in seinem Bett in seinem Schlafzimmer welches aussah wie seine Lagerstätte im Heerlager, ein großer Haufen aus Fellen und Kissen und einem dichten schwarzen Vorhang, der keinen Strahl Sonne durchließ, darüber ausgebreitet. Er spürte einen kühlen Körper neben sich und öffnete die Augen. Sein Blick verfing sich augenblicklich in Juliens grauen Augen.
Juliens Körpergewicht drückte Phelan leicht in die Felle, sein kühler Körper ließ ihn vor Lust erschaudern. Phelan schloss die Augen, atmete tief Juliens Geruch ein, ließ ihn in sich ausbreiten und Julien drückte seine Lippen auf seine. Der Kuss war lang und sanft. Erforschend, neckend, liebend.
Sie liebten sich.
Langsam, genüsslich. Phelans Stöße waren tief, Juliens Körper bäumte sich unter ihm auf, er seufzte erregt, biss sich auf die Unterlippe, wisperte seinen Namen. Sie lagen in Phelans Bett, versteckt unter der Bettdecke, taten es heimlich, versuchten, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Julien öffnete die Augen, fing wie so oft den Blick von Phelan ein und hielt ihn gefangen.
Phelan schlug seine Augen auf und starrte ins Dunkel. Es lag kein kühler Körper neben ihm, auch nicht auf ihm und die Küsse waren nur ein Traum gewesen. Dieses Mal ein richtiger. Phelan schnalzte mit der Zunge und überlegte sich, ob er Conor und Yuri eigentlich zur Rede stellen sollte. Immerhin hatten sie sich in seinen Kopf geschlichen und ihm einen feuchten Traum mit Julien suggeriert. Er seufzte leise. Wenn, dann nicht jetzt und heute, er wollte sich noch ein wenig von seinem Traum gefangen halten und sich in den Nachwirkungen aalen, ihn sich wieder und wieder ins Gedächtnis rufen, bis er verblasste oder für immer in seinen Gedanken blieb. Phelan drehte den Kopf auf die Seite und starrte das leere Kopfkissen neben sich an. Wann hatte das letzte Mal jemand diese Seite des Bettes belegt? Wie lange war es jetzt schon her, dass das Kissen neben ihm eingedrückt war vom Kopf eines Bettgefährten? Er presste die Lippen zusammen. Er könnte jederzeit schnellen Sex haben, wenn er nur wollte, aber eine feste Beziehung …
Oh, Schatz, lass uns doch irgendwo hin fahren, nach Pensacola, nach St. Louis, irgendwo hin.
-Tut mir leid, ich kann nicht. Wir könnten höchstens bis nach New Aurora runter fahren, weiter darf ich leider nicht.
-Aber wieso denn, mein Schatz?
-Darf ich dir nicht sagen, führte er ein imaginäres Gespräch im Kopf.
Oh ja, das wäre der Renner in jeder Beziehung. Wie sollte man jemandem erklären, dass man die Stadt nicht verlassen durfte, wenn man nichts erklären durfte? Phelan seufzte erneut, dieses Mal herzhaft.
Keine Wehmut. Erinnerte er sich. Keine Wehmut.
Er schwang sich aus dem Bett und begann mit der Morgentoilette.
Es hätte alles schlimmer kommen können, ermahnte er sich beim Zähneputzen. Conor lebt, Yuri lebt, du lebst. Wir sind alle unversehrt. Es geht uns allen gut. Ich habe genug Reichtümer um noch mindestens fünf Weltwirtschaftskrisen zu überstehen und wenn nicht, dann werden wir auch das schaffen. Wir haben es schon einmal geschafft. Wir hatten nichts und was haben wir jetzt?
Conor lebt.
Yuri lebt.
Alles ist gut.
Er spuckte aus, spülte sich den Mund mit frischem Wasser und schleuderte seine Zahnbürste in den Becher.
„Bullshit!“, fluchte er und blitzte sein Spiegelbild an. „Ich hasse diese Stadt und diesen Sumpf und dieses verfickte Haus und diese dreckverfluchte Bibliothek hasse ich am allermeisten!“, zischte Phelan bitter.
„Nicht mal die verdammten Unwetter sind auf meiner Seite! Nicht einmal die Auffahrt hat dieser drecks Hurrikan erwischt! Verfickte Wehr!“, wetterte er beim Ankleiden.
„Ich hasse dieses Haus …“ murmelte Phelan, öffnete seine Schlafzimmertür und ging nach unten in die Küche um Frühstück zu machen.
Sein Traum verblasste zu einer wehmütigen Erinnerung.
„Das Blutwehr scheint sie ziemlich sauer gemacht zu haben“, bemerkte Julien mit schiefgelegtem Kopf, als er nur wenige Tage später neben Phelan vor dem großen Eisentor stand und interessiert auf den Anblick sah, der sich ihnen bot.
Vor ihnen lagen mindestens fünf mehr oder weniger grausam verstümmelte Leichen. Der Geruch von altem Blut und Fäkalien ließ Julien flacher atmen. Der Gestank war widerwärtig.
Phelan schnaubte nur ohne damit aufzuhören, auf seiner Unterlippe herumzunagen. Er dachte nach. Und zwar angestrengt. Wog Für und Wider seiner eventuellen nächsten Handlungen ab, kam zu einem Entschluss und verwarf ihn gleich wieder, fasste dann einen neuen, nur um diesen ebenfalls sofort wieder zu verwerfen.
„Problem“, sagte er schließlich, ließ endlich von seiner Unterlippe ab und drehte den Kopf zu Julien.
„Drei Möglichkeiten. Erstes: Wir räumen hier auf und ignorieren es. Zweitens: wir lassen es liegen, rufen Nemours und Burging an, dass die sich das ansehen und räumen dann hier auf. Und Drittens: wir lassen es liegen, rufen Raghnall und deinen Vater an, dass die es sich ansehen und räumen es dann weg“, zählte Phelan auf. Julien runzelte die Stirn.
„Es?“, hakte er kritisch nach.
„Es. Das Problem. Es“, erklärte Phelan leicht verwirrt und schob die Hände in die Hosentaschen.
„Du schraubst so was zu einem es herunter? In solchen Momenten mache ich mir immer Sorgen um das, was da in deinem Kopf steckt.“ Julien schüttelte ungläubig den Kopf.
„Wie würdest du es denn nennen?“ Phelan hob abwehrend die Schultern.
„Eine mordsmäßige Sauerei? Eine kleine Katastrophe? Eine Unverschämtheit? - Alles, aber kein Problem. Das ist ein bisschen größer als nur ein Problem.“ Julien fuchtelte dramatisch mit den Händen in der Luft herum.
„Also gut: Was sollen wir jetzt mit dieser unverschämten Sauereien-Katastrophe machen?“
Julien bemerkte sehr wohl, dass Phelan ihn trotz der Tatsache, dass entstellte Leichen vor ihnen lagen, aufzog und verkniff sich ein bissiges Kommentar.
„Was würdest du tun?“, fragte er stattdessen. Phelan verdrehte die Augen.
„Das ist ja mein Problem. - Ich-weiß-es-nicht“, antwortete er leicht gereizt. Jetzt verdrehte Julien die Augen.
„Okay, anders gefragt. - Was würde mein Heerführer tun?“, grunzte er ein bisschen gereizter als Phelan. Der lachte kurz auf.
„Der würde die Scheiße hier wegräumen lassen und in den Krieg ziehen.“
Julien strahlte ihn an.
„Na also. Da haben wir doch unsere Lösung.“ Er klatschte in die Hände, dann drehte er sich um und marschierte zurück zur Villa. Phelan sah ihm verwirrt nach.
„Was tust du?“, wollte er wissen.
„Na, eine Schubkarre und Schaufeln holen. - Irgendwie müssen wir das Problem da ja zum Sumpf kriegen.“ Julien schüttelte lachend den Kopf. Phelan stieß die Luft aus.
Er hat dich klassisch hereingelegt, Conor entschlüpfte dem Schatten der Bäume.
Nerv nicht, knurrte Phelan seinen Bruder an. Hast du was entdeckt?
Nicht viel. Sie sind gut. Conor zog das letzte Wort dramatisch in die Länge, ließ seine Worte etwas wirken und fuhr dann fort. Ihre Spuren sind kaum auszumachen, sie haben fast keinen Geruch oder Abdrücke hinterlassen. Ich hab sie trotzdem gefunden, bin ja kein Amateur. Sie haben ihr Auto weiter hinten in einem Feldweg geparkt. Dann sind sie planlos durch den Sumpf gewandert, um die Fährte zu verwischen und haben dann ihre Fracht im Schutz der Bäume einfach auf die Auffahrt geworfen. Danach sind sie einen anderen wirren Weg zurück zu ihrem Auto gegangen, sind eingestiegen und wohin auch immer gefahren. Ich hab mir den Feldweg mal genauer angesehen. Da gibt es viel zu viele Reifenspuren für einen Weg, der im Nichts endet. Scheint, dass das ihr Lieblingsfeldweg ist.
Phelan schnaubte, spuckte wütend aus und begann wieder, auf seiner Unterlippe herumzunagen.
Ich muss hier erst aufräumen und dann nachdenken, bestimmte er entschlossen. Conor kläffte einmal leise.
Denkst du noch nach?, hakte Conor nach, nachdem Phelan und Julien die Kadaver entsorgt, im Sumpf versenkt und die Auffahrt mit Wasser abgespritzt hatten.
„Ja“, knurrte Phelan missmutig und machte sich mit seinem Gartenschlauch bewaffnet wieder auf den Weg zurück zum Gartenhaus.
Denkst du immer noch nach?, wollte Conor wissen, als Phelan den Schlauch aufgerollt und verstaut hatte.
„Ja.“ Das Knurren in Phelans Stimme wurde einen Tick tiefer. Er schloss das Gartenhäuschen ab und ging zur Villa. In der Küche stand Julien und wartete mit einer frisch gebrühten Tasse Kaffee auf ihn. Phelan nahm sie dankend entgegen.
Immer noch?, ließ Conor nicht locker und folgte seinem Bruder wie ein Schatten in den Salon. Aufgeregt hechelnd hockte er sich vor Phelan auf den Boden, der mitten in der Bewegung, sich auf die Couch zu setzen, erstarrte.
„Ja, ich denke immer noch nach und es geht nicht schneller, wenn du alle fünf Sekunden lang nervst!“, brauste er auf und funkelte den Wolf gefährlich an. Der verdrehte nur die Augen.
Man wird ja mal fragen dürfen, schnappte er ein und stolzierte beleidigt zu seinem Lieblingssessel. Mit einem hochnäsigen Schnauben nahm er darauf Platz. Phelan knirschte mit den Zähnen, während er seine Bewegung, sich zu setzen, beendete. Julien warf sich neben Phelan in die Polster und zog die Beine an. Geduldig nippte er an seinem Kaffee und wartete auf eine Entscheidung von Phelan.
„Mal angenommen“, begann Phelan nach einiger Zeit. Alle Köpfe schnellten zu ihm, selbst Yuri hörte mit seiner ausgiebigen Putzerei auf.
„Mal angenommen wir würden herausfinden, wo sie sich verkriechen. Also Gesetz des Falles, dass sie so etwas wie einen Bau haben …“ Phelan verstummte kurz um von seinem Kaffee zu nippen.
Dann wissen wir, wo sie hausen, bemerkte Yuri lapidar. Phelan nickte zustimmend.
„Und was dann?“, wollte er wissen und sah erst Julien, dann Conor und dann Yuri an.
„Dann … keine Ahnung. Dann haben wir zumindest einen Anhaltspunkt“, fuhr Julien unsicher fort.
„Genau. Und mehr nicht“, endete Phelan ernst. „Dann wissen wir nicht wirklich mehr als jetzt. Außer vielleicht ihrem Treffpunkt. Vielleicht aber auch nur, wo einer von ihnen wohnt.“
Das reicht doch schon, wandte Conor ein. Wenn es die Privatwohnung von einem von denen ist, dann brechen wir dort ein und nehmen ihn gehörig in die Mangel. - Hey, ich kenne da einen Wolf, der weiß, wie man Informationen aus jemandem herauskriegt.
„Conor, du sprichst hier gerade von Folter“, wandte Julien leicht empört ein, als Yuri ihm Conors Vorschlag erzählt hatte. Dessen Blick war unschuldig.
„Folter ist nichts, mit dem man spaßt. Wir foltern nicht einfach so drauf los.“ Julien war fassungslos. Im Heer hatten sie nie gefoltert, Phelan hasste Folterstrafen, er hatte nicht einmal wirklich mit Folterungen gedroht. War auch nicht nötig gewesen. Den Gefangenen hatte oft nur ein Blick auf einen grimmig dreinblicken Werbär gereicht und sie hatten freiwillig alles erzählt. Und meistens hatten sie ihre Informationen sowieso auf anderen Wegen bekommen. Phelan war ein Freund von Spionage gewesen und in seinem Heer hatte es ausgezeichnete Spione gegeben.
Schlag was Besseres vor, Pazifist, fauchte Conor beleidigt. Yuri kicherte, als er es Julien sagte. Der knirschte mit den Zähnen.
„Reiz mich nicht, Conaire vom Braeden. - Es wird nicht gefoltert und basta“, zischte er. Phelan legte ihm beruhigend die Hand auf den Unterarm.
„Schluss. Keine Folter. Wir kommen anders an unsere Informationen. Wir sind immer anders an unsere Informationen gekommen“, bestimmte er. Conor machte ein Hmpf-Geräusch und legte den Kopf auf die Sessellehne.
Und wie? Wir haben keinen Beigan und Borgúlfr mehr, die für uns ausspionieren können. Wir sind auf uns gestellt, mein Herz, stellte er süffisant fest. Phelan grinste breit.
„Wir haben einen Raben“, meinte er geheimnisvoll. Juliens Augenbrauen schnellten in die Höhe.
„Wir haben die Bibliothek. - Dort muss irgendetwas stehen. Es steht dort immer etwas“, fügte er triumphierend hinzu, auch wenn er keine Ahnung hatte, was an der Tatsache, dass sie einen Raben hatten, so außergewöhnlich sein sollte.
Die Bibliothek umfasst Millionen Schriften, wandte Conor missbilligend ein. Phelan zuckte gelassen mit den Schultern.
„Und? Wir haben ihren Bibliothekar.“ Er zwinkerte Conor zu.
„Und was bringt uns der Rabe, Faol?“, wollte Julien neugierig wissen.
„Der? Der folgt unseren speziellen Freunden, wenn sie wieder auftauchen“, erklärte Phelan zufrieden. Julien nickte zustimmend. Das klang gut.
Da der Rabe und der Bibliothekar nun Aufgaben bekommen haben; was macht ihr beide dann?, hakte Yuri neugierig nach. Phelan lehnte sich zurück, nippte an seiner Tasse und grinste breit.
„Wir lehnen uns zurück und tun gar nichts“, behauptete er gutgelaunt. Julien lacht laut auf.
Hättest du wohl gerne, was?, schnauzte Conor entrüstet.
„Wir helfen dir beim Suchen“, antwortete Phelan milde.
Besser, Conor warf ihm einen vernichtenden Blick zu und bettete sein Kinn auf der Sessellehne neu. Phelan sah zu Julien und zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
Gesetz dem Fall wir finden etwas heraus, wandte Yuri ein. Was dann?
„Um das Thema kümmern wir uns, wenn wir etwas herausgefunden haben“, beschloss Phelan leichthin, leerte seine Tasse und erhob sich.
„Na los, Jungs. Gehen wir runter und suchen irgendwas.“
Die anderen folgten ihm treu in die Bibliothek.
So. Hier sind wir. Und nach was suchen wir jetzt? Conor sah seinen Bruder fragend an.
„Plötzlich ausgebrochene Kriege, ungeklärte Massenmorde, Rassenmorde, so etwas in der Art denke ich“, antwortete Phelan nachdenklich und sah sich leicht verloren um. Er hatte keine Ahnung, wo sie in Mitten all dieser unzähligen Bücher anfangen sollten, zu suchen. Vor allem da sie nicht wirklich wussten, wonach sie suchen sollten.
„Vampire, die keine Vampire sind; Wermenschen, die keine Wermenschen sind“, griff Julien auf. Phelan nickte zustimmend, langte wahllos nach einem Buch und blätterte es lieblos durch.
Okay, lasst mich nachdenken. Wartet hier, seit still und fasst hier nichts an! -Phelan!, fauchte Conor energisch. Phelan warf Julien einen gespielt zerknirschten Gesichtsausdruck zu und stellte das Buch hastig wieder zurück an seinen Platz. Der grinste nur und wackelte mit den Augenbrauen.
„Aye, großer Häuptling“, ulkte Phelan. Conor schnaubte nur und verschwand im Gewirr der Gänge.
„Fass hier ja nichts an“, raunte Julien ihm verschwörerisch zu. Phelan schnitt ihm eine Grimasse und tippte gegen einen Buchrücken. Julien formte ein übertriebenen „Oh“ mit einem Mund und riss theatralisch die Augen auf, dann prusteten sie beide los.
Idioten, knurrte Conor gereizt und wanderte weiter.
Julien gestand sich nach einiger Zeit widerwillig ein, dass er sich die Suche nach Hinweisen irgendwie spannender vorgestellt hatte. Er konnte zwar nicht erklären, was er sich genau vorgestellt hatte, aber versuchen, nicht auf die dick eingestaubten Bücher zu niesen hatte nicht dazu gehört. Er seufzte und stellte das Buch wieder zurück an seinen Platz.
Im Gang neben ihm bekam Phelan gerade wieder eine seiner Niesattacken und Julien kam auf zehn Nieser bevor Phelan sich geräuschvoll die Nase putzte. Für seine empfindliche Nase musste das die Hölle sein. Julien ließ seinen Blick desinteressiert über die Buchrücken schweifen als Phelan an ihm vorbeimarschierte.
„Wo gehst du hin?“, fragte Julien neugierig. Phelan schniefte.
„Hoch. Ich hab keine Papiertaschentücher mehr.“
Julien machte ein mitleidiges „Ah.“ und sah Phelan nach, wie der zwischen den Regalen verschwand. Leichter Neid überkam ihn. Phelan konnte der staubigen Hölle der Langeweile zumindest für ein Weilchen entfliehen. Und wenn es auch nur war, um sich neue Taschentücher zu holen. Mit einem resignierten Seufzer machte er sich auf die Suche nach Conor, der irgendwo in den unendlichen Tiefen der Bibliothek verschollen war.
„Hast du was?“, fragte er gelangweilt, als er den blonden Wolf gefunden hatte. Yuri segelte vom obersten Regal herunter, ein dickes Buch in den Klauen.
Skandale, Affären, Romanzen, Zwiste …, zählte der Vogel auf und ließ das Buch auf den Boden sinken.
Und ich habe ein Buch gefunden, ein wahrer Erguss erotischer Geschehnisse. -Ich darf es nur nicht lesen, weil wir besseres zu tun haben, erzählte er pikiert und schenkte Conor einen bösen Blick, den dieser ignorierte.
Julien verdrehte die Augen.
„Recht hat er“, gab er Conor Recht und bückte sich nach dem Buch. Vorsichtig schlug er es auf und überflog Seite um Seite. Schließlich klappte er es wieder zu, schüttelte verneinend den Kopf und hielt es Yuri hin, der es wieder zurück an seinen Platz flog. Conor schnaubte kurz, hob den Kopf und gab wohl dem Raben einen Hinweis, denn dieser flog augenblicklich die oberste Buchreihe entlang und krallte sich ein neues Buch. Sechs fruchtlose Bücher später versteifte sich der Wolf plötzlich. Julien sah ihn alarmiert an.
„Was ist?“
Er fragt, wo sein Bruder ist, erklärte Yuri.
„Oben. Er hat keine Papiertaschentücher mehr“, antworte Julien arglos. Dann runzelte er böse die Stirn.
Wo holt er die? In Rumänien?, spottete Yuri krächzend und Conor schnaubte entnervt.
„Er kneift“, stellte Julien trocken fest. Conor bellte einmal.
„Ich erschlag ihn“, bestimmte Julien, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte entschlossen zur Tür.
Also das will ich sehen, flachste Yuri belustigt. Conor verdrehte die Augen.
Julien fand Phelan in der Küche, wo er am Tresen saß, eine Familienpackung Eis vernichtete und dabei fernsah. Julien stemmte die Hände in die Hüften und räusperte sich energisch. Phelan drehte ihm den Kopf zu und hob den Löffel zum Gruß.
„Ich hab euch nicht vergessen“, behauptete er ernst. Julien schnaubte ungläubig.
„Ich kneife auch nicht“, fuhr Phelan fort. „Als ich hochkam hatte ich eine SMS von Ducote auf meinem Handy, ich soll mal die Boulevard-Nachrichten einschalten. Das hab ich gemacht und da kam ein höchst dramatischer Bericht über die Morde. Wenn du mir nicht glaubst -hier ist mein Handy.“ Phelan schob Julien sein Handy zu. Julien machte nur „Hm“.
„Keine Sorge. Die Reportage war viel zu reißerisch, als dass sie ernsthaft Schaden zufügen könnte. Kein Polizist mit Verstand sieht das als einen Grund, um sich in den Fall zu verbeißen. -Vor allem, da ja niemand die Toten vermisst“, wehrte Phelan lapidar ab und schob sich einen Löffel Eis in den Mund. Julien zog die Nase kraus.
„Und was hat das mit dem Eis zu tun?“, hakte er nach. Phelan zuckte mit den Schultern.
„Ich hatte Hunger“, gab er nur als Antwort. Julien seufzte theatralisch auf und brühte sich einen Kaffee.
„Habt ihr was gefunden?“, wollte Phelan wissen.
Nein, antwortete Conor als er die Küche betrat.
Falls wir dort unten überhaupt etwas finden. Mir gehen die Bücher aus, von denen ich glaubte, dass dort etwas Hilfreiches stehen könnte. Und die Ideen, in welchen Büchern man vielleicht noch was finden könnte, gestand er niedergeschlagen.
„Dann aktivieren wir eben den Raben“, schlug Phelan vor. Julien setzte sich gegenüber von ihm auf einen Hocker.
„Sprich, großer Heerführer. Was hat das mit dem Raben auf sich?“
Genau. Sprich, großer Heerführer. Was hat es mit mir Raben auf sich? Yuri vollzog eine zirkusreife Loopingnummer, bevor er auf Juliens Schulter landete.
„Du, mein lieber Rabe bist ab sofort unser Spion außerhalb dieser Mauern.“ Phelan steckte seinen Löffel ins Eis und grinste diabolisch.
Ich kann nachts nicht sehr gut fliegen, mein Herz, das solltest du so langsam wissen. Ich kann jemanden verfolgen, wenn ich ihn nicht wirklich verfolgen, sondern einfach nur dort hinflattern muss, wo derjenige wohnt, aber ich kann nachts niemanden verfolgen, wenn ich sein Ziel nicht schon vorher kenne, warf Yuri tadelnd ein. Phelans Grinsen wurde breiter.
„Für das, was du tun musst, reicht deine Flugkunst völlig aus“, wiedersprach er. „Du legst dich einfach nur auf die Lauer. Wenn sie kommen, fliegst du zu ihrem Auto, versteckst dich dort und fährst als blinder Passagier bei ihnen mit. -Et voilà, wir wissen, wohin sie fahren.“ Phelan griff zufrieden nach seinem Löffel, schaufelte eine unverschämt große Portion Eis darauf und schob sie sich in den Mund.
Conor lachte bellend und Julien musste zugeben, dass die Idee nicht schlecht war. Einfach aber effektiv. Yuri sackte auf Juliens Schulter zusammen.
Und wie soll ich das machen? Soll ich mich unters Auto hängen? Oder in den Auspuff kriechen?, maulte er. Phelan lutschte gelassen sein Eis.
„Dir fällt schon was ein, bist doch ein helles Köpfchen“, meinte er nur. Der Rabe schnaubte. Ein äußerst interessantes Geräusch, stellte Julien fest, es klang irgendwie merkwürdig.
Und ab wann lege ich mich auf die Lauer?, jammerte der Vogel.
„Ab morgen Abend“, beschloss Phelan und stellte leicht enttäuscht fest, dass er sein Eis vernichtet hatte. Er spielte kurz mit dem Gedanken, die Verpackung auszulecken, schob sie dann allerdings von sich. Er wollte nicht als gefräßig dastehen.
„Du fliegst zu dem Feldweg von dem Conor erzählt hat und wartest dort auf sie. Wär doch gelacht, wenn wir sie nicht finden würden“, beschloss Phelan. Er warf einen Blick zum Fenster. Der Morgen graute. Julien erhob sich.
„Na dann, ich fliehe, bevor ich in deiner Küche noch zu Asche zerfalle“, frotzelte er mit einem gehässigen Blick auf Phelan. Der sah ihn erstaunt an.
„Hier drin doch nicht“, widersprach er überrascht. Julien blinzelte.
„Bin ich hier drin durch magische Schwingungen von Sonnenstrahlen geschützt oder was?“, scherzte er und ignorierte die Nervosität, die in ihm aufkam. Draußen färbte sich der Himmel bereits rot, er musste zusehen, in einen abgedunkelten Raum zu kommen, sonst würde es schmerzhaft für ihn werden.
„Nein. UV-abweisende Fenster“, antwortete Phelan verwirrt. „Hatte ich das nicht erwähnt?“
Julien war kurz sprachlos.
„Nein, hattest du nicht“, klärte er ihn auf. Hier waren Fenster verbaut, die UV-Strahlen abwiesen und er verzichtete auf Sonnenauf- und -untergänge? Er zog zischend Luft in seine Lungen.
„Manchmal möchte ich dich erwürgen“, stellte er fest. „Ich werde mich jetzt hinten im alten Ballsaal vor eins der großen Fenster stellen und den Sonnenaufgang ansehen“, beschloss er stoisch. Phelan sah ihn zerknirscht an.
„Ich hab es dir wirklich nicht gesagt?“, hakte er nach.
„Nein.“
„Verzeih. Darf ich mitkommen?“
Julien tat, als ob er überlegen musste. So sauer auf diese nicht mitgeteilte Information konnte er gar nicht sein, um Phelan diesen Gefallen abzuschlagen. Er nickte zustimmend.
„Ist noch der Prototyp. - Aber der Hersteller hat mir Eide geschworen, dass sie funktionieren“, beteuerte Phelan, erhob sich und er und Julien gingen schweigend in den ehemaligen Festsaal, der beinahe die gesamte Länge des hinteren Hauses einnahm. Schwere goldene Kronleuchter hingen an der Decke, es steckten sogar noch Kerzen in einigen von ihnen. Das Parkett war stumpf von mangelnder Pflege und unzähligen Schuhen, die schon darauf getanzt hatten. Die Luft roch leicht abgestanden und im Licht der aufgehenden Sonne tanzten Staubflocken, die sie aufgewirbelt hatten. Julien stellte sich nah an eines der bodenlangen Fenster und blickte über den Sumpf hinweg auf den Himmel. Hinter den Bäumen tauchte die rote große Scheibe auf, Juliens Herz schlug vor Angst schneller. Dort erhob sich sein größter Feind. Instinktiv duckte er sich um den Strahlen zu entgehen. Phelan legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Sie kann dir nichts anhaben“, flüsterte er leise und ließ seine Hand auf Juliens Schulter ruhen. Dieser atmete tief ein.
„Es ist … einfach … es …“ Julien fehlten die Worte. Hier in diesem Moment konnte er endlich einmal das genießen, das ansehen, wovon er schon sein ganzes Leben lang geträumt hatte. Und er hatte Phelan dabei an seiner Seite. Julien starrte in den Sonnenaufgang. Seine Augen schmerzten von der Helligkeit und sein Unterbewusstsein brüllte ihm zu, er solle verdammt noch mal verschwinden und sich ein dunkles sicheres Versteck suchen.
„… es ist wunderschön …“ wisperte er völlig gefangen von dem Anblick, der sich ihm bot. Er warf einen schneller Blick zu Phelan, der lächelnd nach draußen sah.
„Ja. Das ist es“, stellte er leicht verwundert fest. Juliens Augen hefteten sich wieder auf die aufgehende Sonne.
„Wann hast du dir das letzte Mal einen Sonnenaufgang angesehen? Und ich meine, richtig angesehen, so wie jetzt?“, fragte Julien leise. Phelan lachte auf.
„Schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Es macht keinen Spaß, es dauernd allein zu tun“, gestand er. Julien nickte wissend.
„Dann sollten wir das öfter machen, huh?“, schlug er beinahe zaghaft vor. Phelans Hand, die immer noch auf seiner Schulter ruhte, drückte sie leicht.
„Gute Idee“, stimmte er zu.
Julien lächelte glücklich.
Nächte vergingen, an denen sich Yuri vergeblich an dem Feldweg auf die Lauer legte und wartete, dass ein Auto vorfuhr, welches zufällig Leichen im Kofferraum transportierte. Nur ein Auto kam an drei verschiedenen Nächten. Allerdings beherbergte es keine Mörder mit Toten, sondern einen gut gebauten College-Footballspieler, der sich auf seinem Rücksitz mit einem Transvestiten vergnügte. Zu Yuris grenzenloser Freude fuhr der Footballspieler ein Cabrio und hatte bei jedem seiner Tête-à-Têtes das Verdeck unten, was dem Raben in seinem Baumversteck ungehinderten Blick auf das rege Treiben unter ihm verschaffte. Er amüsierte sich köstlich, indem er die beiden mit Gedankenmanipulation zu seinen eigenen Vorlieben umarrangierte. Doch nach dem dritten Treffen wartete Yuri vergeblich darauf, dass sie wieder kamen. Kurz fragte er sich, ob er die beiden vergrault hätte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder.
Nachdem er beinahe einen Monat lang jede Nacht auf der Lauer gelegen hatte, fragte er sich, ob die Leichenableger überhaupt wiederkamen. Vielleicht hatten sie ja ein anderes Opfer gefunden, dem sie Tote vor die Tür legen konnten. Er putzte sich gelangweilt das Gefieder, als der seichte Nieselregen einsetzte.
Na wunderbar, knurrte er missmutig und verkroch sich tiefer unter dem schützenden Laubdach. Stumme Flüche gegen das Wetter zeternd versuchte er sich so klein wie möglich zu machen.
Dumpf hörte er vereinzelte Autos, die die Interstate entlang fuhren, im Sumpf quakten die Frösche, der Wind ließ Blätter und Gräser rascheln. Yuri grunzte krächzend und gähnte. Gott, war das ermüdend. Er zwinkerte heftig um den Schlaf zurückzuhalten und ließ sich von den Geräuschen um ihn herum einlullen. Schlimmer als Nachtwache im Heer. Schlimmer als Nachtwache in einer gut gesicherten Stadt. Schlimmer als eine Ratsversammlung.
Seinem leichten Vogelschlaf war es zu verdanken, dass er augenblicklich hochschreckte, als er ein näher kommendes Motorengeräusch hörte. War es sein Footballspieler? Yuri legte den Kopf schief und sein Herz begann zu hämmern. Es war nicht der Motor des Cabrios, den er hörte. Yuri schüttelte sich Schlaf und Regen aus dem Gefieder, streckte und dehnte sich ausgiebig und wartete. Langsam kam das Geräusch näher und schließlich sah er, wie ein alter Ford Bronco mit ausgeschalteten Scheinwerfern auf ihn zufuhr. Yuri verschmolz mit den Schatten und wartete.
Der Wagen hielt an und vier Gestalten mit Kapuzen stiegen aus. Sie gingen um das Auto herum, öffneten den Kofferraum, wuchteten zwei in Folie gewickelte Pakete heraus und verschwanden mit ihnen im Sumpf. Yuri erkannte den Geruch von Blut, als die Gestalten unter ihm vorbeigingen. Er wartete bis er sich sicher war, dass sie weg waren, dann segelte er von seinem Ast und umflog so lange das Auto, bis er ein geeignetes Versteck gefunden hatte. Yuri zwängte sich zwischen die Karosserie und die Stoßstange des Hecks. Unter den bösesten Verwünschungen die sich alle ausnahmslos gegen Phelan richteten, schob, drückte und quetschte er sich in die schmale Lücke und hoffte, dass er dort jemals wieder lebend herauskommen würde. Ein Stoßgebet an schlechte Autoverbauer und schlampige Autopflege sendend, wand er sich zu einer Stelle, an der die Stoßstange lockerer in ihrer Verschraubung hing und es Yuri ermöglichte zwischen ihr und der Karosserie durchzusehen. Er schmatzte zufrieden. Es war eng, es stank nach Gummi, Auspuffgasen und anderen Dingen, die Yuri lieber nicht analysieren wollte, aber es war ein gutes Versteck. Jetzt musste er nur noch warten.
Sie kamen zurück, stiegen ein, der Wagen erwachte brummend zum Leben, dann ging ein Ruck durch die Karosse und sie rumpelten los. Bis zum Ende des Feldwegs war Yuri zur Überzeugung gelangt, dass sein Versteck beschissen war. Der Auspuff blies ihm hartnäckig jede zweite Fehlzündung entgegen, die lockere Stoßstange wackelte und schepperte ihm kreischende Misstöne in die Ohren und während seiner Wartezeit in seinem Autoversteck war aus dem Nieseln ein ordentlicher Regen geworden und der Fahrer des Broncos schaffte es, jede Pfütze, die sich ihm bot, mitzunehmen. Als sie die ersten Häuser von New Orleans passiert hatten, war der Vogel bis auf die Haut durchnässt und seine Laune war tödlich gereizt. Er hatte zwar, im Gegensatz zu Julien, keine Wasseraversion, aber was zu viel war, war zu viel. Phelan musste sich was richtig Gutes überlegen, um das wieder gut zu machen. Und zwar was verdammt richtig Gutes.
Yuri blinzelte gegen den Regen an, um sich zu orientieren, war im ersten Moment verwirrt, dann erkannte er wo sie langfuhren. Sie waren auf dem Weg in die Sozialbausiedlungen. Yuri verrenkte sich fast den Hals, um das Straßenschild zu lesen und schnalzte zufrieden mit der Zunge. Sie fuhren wohl in die seit Hurrikan Katrina aufgegebenen Gebiete. Darauf hätten sie auch allein kommen können. Wenn man etwas heimlich und im Verborgenen machen wollte, machte man das an bevölkerungsarmen Orten. Oder, wie in diesem Fall, an menschenleeren, verlassenen Orten. Yuri verdrehte über ihre eigene Blödheit die Augen. Man hätte meinen können, sie wären noch nie mit so einer Situation konfrontiert worden. Sie wurden träge, stellte der Vogel selbstkritisch fest. Das war gefährlich und das musste sich ändern. Er würde es Phelan als Allererstes sagen, sobald er wieder von seiner Spionagemission zurück war.
Die Straße wurde holprig und so wie der Fahrer vorhin durch sämtliche ihm dargebotene Pfützen gefahren war, schien er nun durch jedes auch noch so kleine Schlagloch zu fahren. Yuri knirschte mit dem Schnabel. Wenigstens hatte der Regen aufgehört. Und immerhin war ihm der Grund eingefallen, weshalb sich ihre kapuzentragenden Freunde den letzten Monat nicht hatten blicken lassen. Das Wetter war zu schön gewesen. Die letzten Nächte waren so klar und hell gewesen, dass nur ein kompletter Vollidiot es gewagt hätte, sich an ein Grundstück zu schleichen und dort Tote abzulegen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit stoppte der Wagen vor einem heruntergekommenen Grundstück. Der Motor wurde abgestellt; Yuri hörte, wie sich die Autotüren öffneten, der Wagen wackelte leicht, als die Passagiere ausstiegen und die Türen wurden wieder geschlossen. Yuri entschied, dass er ebenfalls aussteigen würde. Er wand sich umständlich aus seinem Versteck, rutschte alles andere als elegant aus der Stoßstange und knallte auf den Asphalt. Er fluchte erneut, sah sich um und hüpfte hastig hinter einen kleinen Busch. Yuri lauschte, stellte fest, dass er allein war und wagte, sich dem Gebäude zu nähern. Es war eine alte kleine Holzkirche, die der Hurrikane 2005 schwer ramponiert hatte und die Gemeinde hatte sie offensichtlich aufgegeben. Eilig huschte er näher, drängte sich an die Steinwand und lauschte erneut. Vom Inneren konnte er Stimmen hören. Yuri sah sich um und entdeckte ein Loch in der Wand, welches gerade groß genug für ihn war, um durchzuschlüpfen. Yuri flatterte kurz mit den Flügeln um den letzten Rest Regen herauszuschütteln und flog nach oben.
Im Inneren der Kirche war es bis auf das spärliche Licht weniger Kerzen dunkel; Yuri ließ seinen Blick schweifen und fand einen Stützbalken, der sich quer über die ganze Kirche spannte. Er betrat ihn und hüpfte lautlos näher.
Die vier Kapuzenmänner standen dicht um einen fünften herum, die Köpfe verschwörerisch zusammengesteckt und flüsterten miteinander. Yuri wagte sich näher heran.
„… erfüllt.“ - „Wir werden …“ - „… herauslocken …“ - „… weitere Schritte …“
Yuri fluchte in Gedanken und hüpfte noch näher.
„Wir müssen hartnäckiger vorgehen. Dann werden wir ihn aus der Reserve locken. Das neue Hexenwehr, welches dieser Teufel erschaffen lassen hat, wird uns nicht ewig aufhalten. Wir werden auch dieses Mal einen Weg hinein finden. Und dann wird diese gottlose Kreatur seiner gerechten Strafe nicht mehr entgehen können. Wir werden ihn und seine lasterhafte Grotte des Grauens dem Erdboden gleichmachen und vernichten. Er hat einen unserer Brüder getötet, das können und dürfen wir nicht dulden. Bruder Francis‘ Tod darf nicht ungesühnt bleiben.“ Der Fünfte hatte sich ihn Rage gesprochen. Yuri legte den Kopf schief. Fanatiker. Das war ja putzig. Er kratzte sich am Hals und lauschte weiter.
„… geleistet. Geht, meine Söhne und ruht. Wenn ihr morgen zur heiligen Messe wieder herkommt, werdet ihr all eure himmlischen Kräfte für den Heiligen Herrn brauchen“, verabschiedete der Fünfte die vier Kapuzenmänner.
Amen. Fahret wohl, geliebte Brüder und rammet den erstbesten Baum, den ihr findet und krepieret elendigst an ihm, frotzelte Yuri feierlich und machte so gut er konnte mit seinem Flügel das Kreuzzeichen in Richtung der Männer. Es war eine grauenhafte Geste für die er von denen da unten garantiert wegen Ketzerei verbrannt worden wäre.
Die Kapuzenmänner verneigten sich und verließen schweigend die Kirche. Yuri blieb wo er war. Das hier schien ihr Treffpunkt zu sein. Dann war er hier fürs Erste genau richtig. Er beobachtete, wie der fünfte Mann die wenigen Kerzen löschte und ebenfalls die Kirche verließ.
Zufrieden mit seiner Leistung suchte sich Yuri eine ruhige und blickgeschützte Ecke, plusterte sich auf und machte es sich bequem. Es war noch recht früh in der Nacht, er würde jetzt noch eine Mütze voll Schlaf holen und sich im Tageslicht mal genauer hier umsehen.
Er war schon weggenickt, als er wieder hochschreckte.
Es wäre ratsam, bevor er einschlief, Phelan Bescheid zu geben.
Julien war gereizt und seine Gereiztheit steigerte sich von Tag zu Tag, jedes Mal, wenn Yuri im Morgengrauen verneinend zurück zur Villa kam. Nicht einmal mehr die Sonnenaufgänge konnten seine Laune heben und schließlich gab er es auf, sich welche anzusehen.
Er schnippte mürrisch Salzkörnchen von der Theke, die er zuvor aus dem Streuer geschüttelt hatte und schnaubte. Wenn Yuri heute schon wieder ohne Neuigkeiten nach Hause kommen würde, würde er einfach nur ausflippen. Sogar Phelan ging ihm mittlerweile aus dem Weg, weil er seine schlechte Laune nicht mehr ertragen konnte. Von Conor hatte er kaum was gesehen, der Wolf stromerte ununterbrochen in der Bibliothek herum, immer noch verzweifelt auf der Suche nach einem Hinweis, der ihnen helfen konnte. Julien blies wütend die verbliebenen Salzkörner vom Tisch und stützte sein Kinn auf die Platte. Ob bis zehn zählen wirklich half? Julien probierte es lustlos und gab bei vier wieder auf.
„Kann ich eintreten oder werde ich mit Salzbomben getötet?“, ulkte Phelan und steckte seinen Kopf durch die Tür. Juliens Blick war tödlich.
„Yuri hat sich gemeldet“, fuhr Phelan fort und trat ein. Julien sprang vom Hocker.
„Was ist passiert?“, japste er aufgeregt. Phelan gab ihm mit einem Wink zu verstehen, sich wieder zu setzen, ging zu seiner Kaffeemaschine und brühte sich und Julien Kaffee. Widerwillig nahm Julien wieder Platz.
„Conor weiß schon Bescheid. Ich war gerade unten bei ihm in der Bibliothek als sich Yuri gemeldet hat. -Hier, trink.“ Phelan stellte Julien eine Tasse vor die Nase.
„Und hör auf, hier Salz zu streuen, in Louisiana wird es nicht so kalt, dass der Boden gefriert“, scherzte er milde und setzte sich auf den Hocker neben Julien. Julien schnaubte nur.
„Was hat er jetzt gesagt?“, grunzte er und die Gereiztheit schwang noch in seiner Stimme mit. Phelan wägte kurz ab, Julien noch ein wenig länger zappeln zu lassen und entschied sich, es lieber nicht zu tun. Das Verletzungsrisiko war einfach zu groß. Er sah Julien ernst in die Augen und klärte seinen Freund über den neuesten Sachverhalt auf.
Juliens Gereiztheit machte augenblicklich Abenteuerlust Platz.
„Und jetzt?“, hakte er aufgeregt nach. Phelan zuckte mit den Schultern.
„Jetzt warten wir bis er wieder zurückkommt.“
„Was passiert, wenn sie ihn entdecken?“, schreckte Julien nach einem kurzen, nachdenklichen Schweigen auf.
„Er ist ein Rabe. Und Raben sind überall. Wenn sie ihn entdecken, glauben sie, dass er sich die Kirche als Nest ausgesucht hat. Im Schlimmsten Fall verjagen sie ihn“, beruhigte ihn Phelan und nippte an seiner Tasse.
„Was aber, wenn sie ihn töten?“ In Juliens Kopf entstanden mit einem Mal die schlimmsten Mordszenarien. Phelans Blick wurde tadelnd.
„Hast du schon mal davon gehört, dass die Kirchen Raben ausgerottet hätten? Und selbst wenn sie ihn töten würden; Yuri ist zäh, es wäre nicht das erste Mal, dass er eine Kugel im Leib stecken hätte.“
Julien blinzelte kurz.
„Hast du ihn erschossen?“, fragte er kritisch. Jetzt wurde Phelans Blick empört.
„He, was denkst du denn von mir? Ich drehe ihm ab und an das Genick um, wenn er mir zu sehr auf den Geist geht, aber erschießen … Was du mir zutraust.“ Er schnaubte beleidigt. Julien hob abwehrend die Schultern.
„Eben. Du drehst ihm das Genick um. Seit ich hier bin hast du ihm schon sechs Mal das Genick umgedreht. - Und ihm vier Mal den Schnabel gebrochen!“, entgegnete er tadelnd. Phelan verdrehte die Augen.
„Trotzdem habe ich ihn noch nie erschossen. Das erste Mal war es ein Querschläger bei einer Schießerei in den Everglades. Das zweite Mal ein gezielter Schuss von einem Cowboy, der sich wichtig machen wollte“, erzählte er.
„Was ist mit dem Cowboy passiert, nachdem er Yuri erschossen hatte?“, fragte Julien neugierig. Phelan grinste grausam.
„Oh-my-Lord, Raben können ja so rachsüchtig sein …“
„Heilige Scheiße!“, entglitt Julien, als ihm klar wurde, dass der Vogel den armen Kerl wohl zerfetzt hatte, dann lachte er schallend los.
„Amen, Bruder, amen“, deklarierte Phelan mit seinem grausamen Grinsen auf dem Gesicht und prostete mit seiner Kaffeetasse Julien zu.
„Erzähl mir was von dir, seit du weg bist. - Bitte“, bat Julien sanft und lächelte Phelan an. Dieser lachte kurz auf.
„Was willst du wissen? Wie wir allein und mittellos auf die Welt losgelassen wurden? Mit nichts als meinem Schwert, einem Säckel Goldstücke, einem Mantel aus Bärenfell und zwei Schindmähren verstoßen wurden?“ Er kam nicht umhin, leicht verbittert zu klingen.
„Wie bist du in so kurzer Zeit zu so viel Geld gekommen? - Und du hast viel Geld.“ Julien drehte sich zu Phelan, stütze den Ellbogen auf die Tischplatte und seinen Kopf in die Hand. Phelan grinste.
„Zu meinem ersten Geld bin ich gekommen, als ich noch in Irland im Hafen die beiden Gäule von Raghnall verkauft habe. - Dem Pferdehändler habe ich gesagt, wenn er sie wieder loswerden will, soll er zu Raghnall vom Braeden gehen und sie sich wieder abkaufen lassen. Danach war es nicht leicht für uns. Ehrlich gesagt, wir hatten beinahe hundert Jahre kaum Geld. Es ist schwer, welches zu verdienen, wenn man nur Töten kann. Ich habe zwar hin und wieder Geld mit Wetten und bei Kartenspielen gewonnen, aber es war nie wirklich genug um große Sprünge zu machen.
Tja. Das hat sich dann geändert, als man in der alten und der neuen Welt anfing, im großen Stil Wettgeschäfte zu machen. Von da an ging es Schlag auf Schlag. Richtig viel Geld gemacht hab ich zur Zeit der Prohibition und in der Weltwirtschaftskrise. - Und zwar nur durch den Verkauf von Alkohol. Dann gab es hier und da ein paar Immobiliengeschäfte, kleine Gefälligkeiten und nicht zu vergessen den Verkauf von Pilzmischungen. Die oberen Zehntausend haben mir das Zeug regelrecht aus der Hand gerissen … Und immer wieder bei Wetten und Spielen.“ Er biss sich auf die Oberlippe und starrte in seine Kaffeetasse.
„Ich bin also auf mich allein gestellt genauso unehrenhaft zu Geld gekommen, wie damals als Heerführer“, gestand er ohne Reue. Julien nickte zustimmend. Wo Phelan Recht hatte, hatte Phelan Recht. Dieser große Mann vor ihm war ein Leichenfledderer, ein Wettbetrüger, Schmuggler und Söldner, ein Drogendealer und Trickbetrüger. Das einzige, was er nie gewesen war, war ein Dieb. Julien überlegte kurz, ob das so geblieben war.
„Kannst du mir bitte auch ein bisschen mehr erzählen, als nur eine Auflistung von Betrügereien und illegalen Geschäften?“, flachste er.
„Also bitte. An Immobilien ist ja wohl nichts Illegales“, tat Phelan empört. Julien verdrehte die Augen.
„Ach, deine Bordelle hast du auch vergessen“, fügte Julien grinsend hinzu.
„Nachtclubs, bitteschön“, korrigierte der Wolf erhaben.
„Puffs.“
„Nachtclubs“, widersprach Phelan störrisch. Julien schnaubte.
„Na logisch. Und ich hab Häkelkränzchen.“
„Ehrlich? Das ist interessant. Wo denn? Bei den Kriegsveteranen-Frauen oder bei den Polizisten-Frauen von New Orleans?“, scherzte Phelan. Julien lachte auf und gab Phelan einen Klaps gegen den Oberarm.
„Nun erzähl schon was Richtiges. Und erzähl mir nicht, du hättest keine gute Geschichte aus der Zeit, die sich zu erzählen lohnt.“
Phelan grinste breit und erhob sich.
„Erst noch einen Kaffee. -Dann eine Geschichte“, versprach er, nahm Juliens leere Tasse mit und brühte beiden noch einen Kaffee.
Yuri erwachte, als er leise, verstohlene Schritte hörte. Langsam streckte er sich, legte den Kopf schief und lauschte. Das Huschen erstarb, nur um gleich darauf wieder zu beginnen und sich in seine Richtung zu bewegen. Der Vogel spannte sich an und schoss wie ein Pfeil nach unten. Seine Krallen bohrten sich in weiches Fleisch, ein erschrockenes Quieken erklang, dann erhob sich der Rabe und landete auf dem dicken Deckenbalken. Mit einem zufriedenen Schnurren hieb Yuri seinen Schnabel in den sich windenden Körper der kleinen Maus zwischen seinen Krallen. Sie war fett und äußerst schmackhaft. Während er sich genüsslich an seiner Beute labte, sah er sich interessiert in der kleinen Kirche um.
Das Dach war notdürftig geflickt, die Fenster mit schweren Brettern vernagelt, die Bodendielen hatten sich durch die Überflutung nach oben gewölbt. Yuri schmatzte nachdenklich. Es war schmutzig hier drin, die wenigen Bänke, die noch hier standen, waren morsch und kaputt, der Vogel fragte sich, was das für eine seltsame Sekte war, die in so einer heruntergekommenen Bruchbude ihre Messen abhielt. Es gab keinen Hinterausgang, vielleicht sollten sie bis zur nächsten Messe warten und dann den ganzen Laden mitsamt den kranken Anwesenden niederbrennen, überlegte er unbekümmert, riss ein weiteres Fleischstück aus seiner Beute und ließ seinen Blick schweifen. Er konnte nicht wirklich glauben, dass hier - in all dem Schmutz und Schimmel - heilige Gottesdienste abgehalten werden sollten. Aber der Fünfte hatte es in der Nacht doch gesagt.
Yuri ließ von seiner Maus ab und begann langsame Runden in dem Gebäude zu drehen, ließ seinen Blick unzählige Male über die Wände, den Boden, die Decke gleiten. Er flog durch das Loch in der Wand nach draußen, segelte über das Grundstück, flog über die angrenzenden Grundstücke, erkundete die Straße und schlüpfte schließlich zurück ins Innere der Kirche. Nachdenklich klopfte er mit einer seiner Krallen auf den Balken.
Er übersah etwas. Er wusste es. Irgendetwas übersah er.
Nach langem Hirnzermartern gab er schließlich mit einem frustrierten Schnauben auf. Es war verhext. Gedankenverloren knabberte er die Knochen seines Frühstücks sauber und machte es sich wieder in seiner Ecke bequem. Er würde schon noch rausfinden, was ihn störte, er hatte Zeit und genügend Mäuse gab es hier auch. Entschlossen prustend plusterte er sich auf um sich ein Verdauungsschläfchen zu gönnen.
Kurz nach der Dämmerung öffnete sich die Kirchentür und der Fünfte von vergangener Nacht betrat das Gebäude. Yuri zwinkerte die Müdigkeit weg. Jetzt war er aber gespannt. Der Mann trug einen langen grauen Mantel, nein, das war eine Priesterkutte, erkannte Yuri. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können und erkannte ein aufgesticktes Christenkreuz auf der Brust. Yuri blinzelte überrascht. Es war gar kein richtiges Christenkreuz, es ähnelte einer seltsamen Mischung aus dem Christenkreuz und dem Kreuz der orthodoxen Kirche. Unter dem zweiten Querbalken des Kreuzes waren zusätzlich der jüdische Davidstern und der islamische Halbmond angebracht.
Nun, dachte der Vogel zynisch. Immerhin drehen nicht nur die Katholiken durch. Die Juden, die Orthodoxen und die Moslems haben genauso einen an der Waffel.
Yuri musste sich eingestehen, dass ihn die ganzen heiligen Menschlingssymbole auf einer Kutte etwas nervös machten. Ein heiliger Krieg in dem sich zwei Religionen als Feinde gegenüber standen, war schon schlimm genug, wie die Geschichte sie alle lehrte, aber wenn sich offensichtlich vier davon zusammentaten und Ketzerei riefen …
Wenigstens sind sie sich mal einig, stellte Yuri bissig fest. Wenn die großen Könige schon damals gewusst hätten, dass es nur solch gottloser Kreaturen wie Wermenschen und Vampire benötigte um aus verbitterten Feinden Verbündete zu machen … Der Rabe erschauderte leicht. Dann hätte Phelans Heer einiges mehr zu tun gehabt. Und sie würden jetzt alle in einer wunderbar heiligen Welt leben. Naja, sie weniger, sie wären aller Wahrscheinlichkeit nach schon längst tot und zu Staub zerfallen … Yuri verkniff sich im letzten Moment ein abfälliges Schnauben.
Es war am Ende nichts anderes als eine hysterische Hexenjagd. Sie hatten schon einmal nur zu dritt so etwas niedergeschlagen, dann würden sie es auch wieder schaffen. Yuri verwettete seinen linken Flügel darauf, dass die meisten von diesen armen Irren sich sowieso schreiend in den Freitod stürzen würden, sollten sie einmal einem Wermenschen in seiner Kriegsform begegnen. Er verlor sich kurzzeitig in abfälligen Gedanken, als die Tür erneut geöffnet wurde und weitere Mitglieder dieser für Yuri jämmerlichen Truppe eintraten. Oh, er unterschätzte diese Verrückten da unten keine Sekunde lang; er wusste, dass sie gefährlich waren; er hielt nur nichts von ihren durchgedrehten Ideologien. Immer mehr Menschen betraten die Kirche, kein Wort der Begrüßung wurde gesprochen, man hörte nur das Rascheln der Kleider. Schließlich, als das kleine Gebäude beinahe bis zum Bersten voll war, gingen vier Männer zu dem Priester. In feierlichem Schweigen schritten sie zu dem steinernen Altar, packten ihn an den Ecken und zogen. Mit einem leisen Knirschen schob sich der schwere Stein zur Seite und gab einen Durchgang frei. Yuri triumphierte lautlos. Er hatte es gewusst! Er reckte den Hals um mehr zu sehen.
Jünger um Jünger stieg - angeführt von ihrem Priester -durch den Durchgang und verschwand unter dem Boden. Yuri blieb in seinem Versteck. Kurz überlegte er, hinterher zu fliegen, ihnen nachzugehen, doch er zögerte. Was, wenn er dort unten begraben wurde, weil er zu spät rauskam? Nein, nein, da blieb er lieber hier oben in Sicherheit und informierte Phelan von den letzten Entdeckungen.
Die halbe Nacht verbrachte Yuri allein in der alten verlassenen Kirche, starrte auf den Durchgang hinter dem Altar und fragte sich, was für eine Kirche das wohl gewesen sein mochte, wenn sie einen Keller beherbergte. Man musste kein Geologe sein, um zu wissen, dass es in New Orleans keine Keller gab, es sei denn sie waren magischen Ursprungs, so wie der Keller der Villa, in dem die Bibliothek innewohnte. War der Keller mit der Kirche entstanden oder schon vor ihr dagewesen; war die Kirche sogar darauf gebaut worden, in der Hoffnung, eine Teufelei zu verdecken? Waren dort unten vielleicht sogar welche von ihnen begraben worden? Womöglich lebendig? Yuri bremste seine wilden Gedanken aus und zwang sich zur Ruhe. Es nutzte keinem etwas, wenn er jetzt anfing, hysterisch zu werden. Nach drei Übungen Autogenem Training ging es ihm wieder besser. Seine Gedanken fokussierten sich auf die Tatsache, dass es in einer verlassenen Kirche mitten in einer Sumpfstadt einen Keller gab und dass ihr Feind sich diesen Keller als Versammlungsort ausgesucht hatte. Das war nicht gut, das hieß, dass die da unten wohl mehr über ihre Völker wussten, als sie angenommen hatten. Oder sie waren zufällig darauf gestoßen. Aber was, wenn sie genau wussten, gegen wen sie vorgingen, wen sie zu vernichten versuchten? Yuri hätte gern Hände gehabt, mit denen er sich durch die Haare hätte fahren können. Oder übers Gesicht. Diese Gesten hatten ihn immer beruhigt, ihn wieder klarer denken lassen. Stattdessen marschierte er Kreise in seiner Ecke.
Da sich diese Gruppe da unten in einem magischen Keller eingenistet hatte, musste er davon ausgehen, dass sie wirklich über sie Bescheid wussten. Griffen sie daher nur Einzelgänger an? Solange sie sich an Einzelgänger hielten, würde der Rat nichts unternehmen. Oder waren das nur Aufwärmübungen für einen größeren Plan? Arbeiteten sie sich einfach nur nach oben? Erst das Fußvolk, den Abschaum, den Pöbel, den keiner vermisste, nach dem keiner fragte. Und dann, langsam aber beständig, erst die Rudel und Clane, die nicht dem Rat angehörten, aber im Falle eines großen Angriffes als Verbündete beistehen konnten und würden. Die Wermenschen und Vampire waren nicht so viel anders als die Menschlinge. Auch für sie galt Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Es gab auch bei ihnen Zweckbündnisse gegen stärkere Gegner. Yuris Kreise wurden schneller. Was, wenn es eine weltweite Verschwörung war? Seine Gedanken rasten und hätte er nicht eine wichtigere Aufgabe gehabt, wäre er augenblicklich zurück zu Phelan geflogen um mit ihm zu reden. Das musste jetzt allerdings warten.
Er holte tief Luft, sammelte sich erneut, dann schmatzte er nachdenklich. Er hatte einen seltsamen Geschmack auf der Zunge. Der Rabe zog tief Luft in seine Lungen.
Es roch wie … es erinnerte ihn … Yuri schloss die Augen, ging in Geruch und Geschmack auf, versank darin.
Es roch wie die Schmutzwäsche im Heer.
Nach Wermenschen und Vampiren und nach ihren Menschenfreunden. Yuri erinnerte sich an die Worte von Julien. Dass es sich seltsam falsch angehört hatte, als die Angreifer geknurrt hatten. Dann musste er leise kichern.
Ihre Feinde rochen wie Schmutzwäsche. Genauer gesagt roch es wie verschwitzte Unterwäsche. Na, wenn das keine gute Beschreibung war. Er konnte sich bildlich die Gesichter von Raghnall und Dashiell vorstellen, wenn Phelan ihnen offenbarte, dass ihre Gegner nach dreckigen Unterhosen rochen. Aus dem Kichern wurde ein Glucksen und Yuri schaffte es mit letzter Kraft nicht laut loszukrächzen. Er ermahnte sich, nicht albern zu werden und fixierte einen unsichtbaren Punkt hinter dem Altar.
Drei Stunden vor der Morgendämmerung kamen sie alle wieder zurück an die Oberfläche, schoben den Altar an seinen Platz und verschwanden so stumm und schweigend, wie sie alle aufgetaucht waren.
Der seltsame Priester verließ als letztes die Kirche; er murmelte einige unverständliche Worte, Yuri tippte auf ein Gebet, und schloss die Tür hinter sich. Der Rabe lauschte angestrengt, schließlich hörte er in einiger Entfernung wie Motoren gestartet wurden.
Irgendwann würde er einem von ihnen folgen. Es konnte nie schaden, wenn man wusste, wo einer von ihnen hauste. Jetzt allerdings würde er sich ausruhen und Schlafen legen und wenn die Sonne aufgegangen war, würde er sich den Altar genauer ansehen, vielleicht fand er ja doch einen Weg nach dort unten. Vorher sollte er sich allerdings eine Taschenlampe besorgen, er war im Dunkeln so gut wie blind. Was seine Gedanken schon wieder auf Reisen gehen ließ. Sie überlegten sich, wie ein Rabe eine Taschenlampe halten und wo er eine herbekommen sollte. Mit einem schmatzenden Gähnen kuschelte er sich in seine Ecke und schloss die Augen.
Er könnte es ewig hier aushalten, wenn er vorhin richtig gehört hatte, gab es viele Mäuse in dieser Kirche. Er gähnte herzhaft.
Er mochte Mäuse. Und diese hier waren … schmackhaft … und hoffentlich nicht vergiftet oder gar verhext, um einen in einen Raben verwandelten Vampir zu töten …
Er schlief ein.
Er hatte sich eine Taschenlampe besorgt. Eigentlich war es so ein Ding, was man an seinen Schlüsselbund machte, um im Dunkeln das Haus- oder Autotürschloss zu finden, aber für Yuri reichte der kleine Lichtstrahl völlig aus. Mit seinem Diebesgut im Schnabel flog er durch das Loch in der Wand in seine Ecke, legte den Kopf schief und lauschte. Er und seine Lebendfutter waren allein hier. Sehr gut. So sollte das auch bleiben. Yuri lauschte trotzdem noch angestrengter, um sich wirklich sicher zu sein, dass sich kein anderes störendes Lebewesen außer ihm und den Mäusen hier aufhielt, dann segelte er von seiner Ecke zum Altar.
Na, dann wollen wir doch mal sehen, was ich herausfinden kann. Yuri hüpfte unternehmungslustig um den Altar, begutachtete ihn aufmerksam und sehr genau. In den Steinblock waren Bilder eingemeißelt, er hatte nicht die leiseste Ahnung wer die Menschen waren, aber er tippte auf irgendwelche Märtyrer. Eines der Bilder gefiel ihm ganz besonders. Dort wurde einer von ihnen mit einem Prankenhieb des Teufels - nichts anderes konnte das gehörnte Wesen darstellen - geköpft. Später, ermahnte er sich. Später würde er sich die Bilder ganz in Ruhe betrachten, aber nicht jetzt. Jetzt wollte er nachsehen, ob es einen Spalt im Boden gäbe, durch den er hindurch passte. Die erste Runde konzentrierte er sich auf Risse oder Spalten im Stein, in der zweiten Runde auf den Boden. Und er wurde fündig. Yuri krähte triumphierend, legte seine Taschenlampe beiseite und hackte so lange mit dem Schnabel auf die morsche Bodendiele ein, bis das Holz nachgab und absplitterte. Hartnäckig hackte er Stück für Stück aus dem Holz, und nach fast einer Stunde hatte er eine Lücke herausgeschlagen, durch die er gerade so durch passte. Der Rabe nahm seine Lampe wieder an sich, knipste sie umständlich an und leuchtete mit ihr in die Dunkelheit des Kellers. Grobe aus Stein gehauene Treppen führten in die Dunkelheit.
Also los, forderte Yuri sich selbst auf und wand sich durch das Loch. Der Strahl der Lampe huschte wackelnd hin und her, verzerrte und entstellte und ließ Yuri kurz übel werden. Er plumpste auf die oberste Stufe, verlor beinahe die Taschenlampe und rappelte sich auf. Yuri legte die Lampe auf den Boden, schob sie in die richtige Position und nahm sie wieder in den Schnabel. Interessiert ließ er sie in die Dunkelheit vor sich leuchten, hob den Kopf und betrachtete die Decke über sich. Festgestampfter Sumpf. Yuri machte ein geistiges „hm“, dann hüpfte er, angeführt von seiner mickrigen Leuchtquelle, nach unten in die Tiefe. Es roch nach seinen Schmutzwäsche-Freunden, Sumpf und nach alter, vergessener Magie. Er hatte es gewusst. Ohne Magie konnte man in New Orleans keine Keller bauen. Er musste es Phelan dringend mitteilen.
Er hüpfte tiefer und tiefer, die Erde dämpfte das Klicken seiner Krallen auf dem Stein. Schließlich war die Treppe zu Ende. Yuri ließ den Lichtstrahl wandern. Vor ihm erstreckte sich ein langer Gang. Boden und Wände waren aus dem Erdreich gehauen, breit genug für vier Männer und so hoch wie zwei. Yuri schätzte, dass er sich gut fünf Meter unter der Erdoberfläche befand, er drehte sich zur Treppe um und leuchtete nach oben. Der Lichtstrahl verlor sich in der Schwärze. Er reichte nicht einmal ansatzweise bis zur Hälfte der Strecke. Yuri würde auf dem Rückweg ein paar Berechnungen anstellen. Er wandte sich wieder nach vorn und hüpfte, seine Lampe hin und her schwenkend, weiter. Nach geschätzten drei Metern entdeckte er die ersten Halterungen für Fackeln an den Wänden. Sie waren leer. Yuri hüpfte weiter, dann stoppte ihn eine große zweiflüglige Tür. Der Vogel ließ seinen Strahl darüber wandern. Hieroglyphen, Runen, Götterzeichen und magische Symbole zierten die Türblätter. Darüber waren grob Christenkreuze, Orthodoxe Kreuze, islamische Halbmonde und Davidsterne eingeschnitzt, im Versuch, die heidnischen Bilder zu überdecken. Yuri entdeckte schwere Türgriffe. Er flog auf eine der beiden Klinken, versuchte sie mit seinem Gewicht herunter zudrücken und erstickte sich beinahe selbst mit seiner kleinen Lampe. Yuri fluchte herzhaft und flatterte zurück auf den Boden, um die Taschenlampe abzulegen. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er die außerhalb des Lichtkegels liegende Klinke, dann flog er wieder hinauf.
Unter tobenden Flüchen drückte und zerrte er mit aller Kraft an dem Türgriff ohne dass sich dieser auch nur einen Millimeter bewegte. Yuri flippte aus. Lautstark krächzend und krähend, in Gedanken Flüche und Verwünschungen auf die Geschlechtsteile und Hinteröffnungen aller Götter und Päpste, die ihm einfielen, wetternd, hüpfte er wie ein Tollwütiger auf dem großen Türgriff herum und landete unsanft auf dem Bauch im Staub, als die Klinke nachgab. Jetzt wurden die Flüche so gotteslästerlich, dass sie einem die Schamesröte ins Gesicht treiben würden. Yuri schnellte zurück zu diesem verfluchten Türgriff, packte ihn und zog wild daran, um die Tür zu öffnen.
Mit einem Knirschen gab sie einen kleinen Spalt frei.
Der Rabe schnaubte außer Atem, ließ von der Türklinke ab und holte sich seine Taschenlampe, bevor er eilig durch die Öffnung huschte.
Er trat in einen großen runden Saal.
Der Vogel ließ die Lampe die Wand entlang wandern. Die jetzigen Benutzer hatten große Banner mit ihren Glaubenssymbolen zwischen den Fackelhalterungen aufgehängt. Der Lichtstrahl wanderte weiter, erkundete die Halle. Ansonsten war sie, bis auf unzählige Fußabdrücke, leer. Yuri biss nachdenklich auf seiner kleinen Taschenlampe herum.
Sie würden, wenn sie den Raum betraten, im Dunkeln eintreten. Dann würden ein oder zwei von ihnen umhergehen und die Fackeln entzünden. Der Vogel schlenderte die Wand entlang, betrachtete sie eingehend, ließ den Blick schweifen, sah wieder zurück zu der Wand neben sich. Die Fackeln würden nur einen gewissen Teil der Halle erleuchten. Yuri hob den Kopf zu Decke. Wenn er es richtig erkannte, blieb diese im Dunkeln. Er wanderte weiter, ließ sich Zeit, umrundete die Halle ein ums andere Mal, dann flatterte er zurück zur Tür.
Er hatte genug gesehen.
Das Schließen der schweren Tür ging mit weiteren blumigen Schimpfereien vonstatten, Yuri drückte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das alte Holz und schob sie zurück ins Schloss. Laut keuchend sank er an der Tür hinunter. Für so etwas war er nicht geschaffen. Yuri schüttelte sich kurz, dann flog er zurück nach oben und spuckte die Taschenlampe durch seinen Einstieg, bevor er sich durch das Loch quetschte.
Jetzt würde er sich erst einmal einen kleinen Snack fangen und dann Phelan Bericht erstatten.
Phelan saß mit Julien in seinem Arbeitszimmer und brütete über einem Stadtplan, als er hochschreckte.
„Jemand ist hier“, stellte Phelan fest. Im nächsten Moment kroch ein Knurren in seiner Kehle hoch. Julien hob verwirrt den Kopf.
„Auf diesem Grundstück.“ Phelan sprang von seinem Stuhl auf und rannte aus dem Zimmer.
„Aber das ist nicht möglich“, wandte Julien überrascht ein.
„Es ist jemand auf meinem Grundstück!“, widersprach Phelan gereizt, zog im Rennen zwei Schwerter, die in ihren dekorativen Scheiden an der Wand im Flur hingen, und stürzte zur Tür.
„Das ist unmöglich! Durch dieses Wehr kommt niemand durch.“ Trotzdem nahm Julien einen Bogen und Pfeile und folgte Phelan zur Haustür.
„Ich weiß, was ich weiß!“, schnauzte Phelan gereizt, riss mit einem Brüllen die große Tür auf und stürzte hinaus.
„Was zum …“ Er stoppte entgeistert. Es waren mindestens fünfzig. Phelan knurrte tief und umfasste die Griffe der beiden Schwerter fester.
„Wie, verdammt …“ stotterte Julien hinter ihm.
Durch die Menge von Wermenschen und Vampiren traten zwei Gestalten. Phelan kannte sie beide. Der Erste war einer der Weisen, der mit an dem Blutwehr gearbeitet hatte, der zweite war Shane Ducote.
„Nicht, Heerführer. Wir wollen nichts Böses.“ Der Weise hob seine Hände, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war.
Was ist denn hier los? Conor trat neben Julien und fiepte fragend. Julien sah ihn an.
„Ich hab keine Ahnung, was sie hier wollen“, sagte er und ließ den Bogen sinken.
„Von jedem Weisen, der dieses Wehr erstellt hat, fließt dessen Blut durch“, fuhr der Weise fort.
„Mein Name ist Fernán Hernandez Salazar. Ich gehöre nicht dem Rat an, ich diene ihm nur, wenn er mich benötigt. Es wird dir also keine Strafe blühen, wenn du mit mir redest.“
„Was wollt ihr hier?“, fragte Phelan harsch.
„Deine Hilfe“, sagte Ducote. Phelan ließ die Schwerter sinken.
„Bitte“, Ducote machte einen Schritt nach vorn. „Bitte hör sie an.“
Phelan schloss die Augen und legte seine Hand, die noch den Griff des Schwertes umklammert hielt, an seine Stirn.
„Geht zur Hintertür bei der Küche“, grunzte er, drehte sich um und ging zur Haustür.
„Conor, zeig ihnen den Weg. Julien, du kommst mit“, befahl er Conor und Julien, die beide dem Befehl fügsam folgten. Phelan steckte die beiden Schwerter zurück in ihre Halterungen.
„Julien. Pack den Bogen weg und bring bitte Blut für unsere Gäste. Ich werde Wein bringen“, ordnete Phelan an. Julien nickte knapp, dann ging er den Bogen wegräumen.
Wenig später trat er auf die kleine Terrasse an der Küche und begann schweigend, Blut in die von Phelan bereit gestellten Kelche zu füllen. Die Höflichkeit gebot, Gäste zu bewirten, selbst wenn diese ungebeten kamen. Man zollte ihnen dadurch Respekt und zeigte, dass man gewillt war, sie anzuhören. Nachdem jeder ein Glas in der Hand hielt, stellte Phelan das Weinfass ab und lehnte sich an den Pfeiler des Verandageländers.
„So. Und jetzt will ich als erstes zwei Dinge wissen: Wieso ist Ducote hier und wieso ist der Weise Hernandez Salazar hier?“ Er fixierte Ducote mit eiserner Miene. Der trat vor.
„Sie kamen zu mir. Nicht alle, aber ein paar von ihnen, um mich um Hilfe zu bitten. Sie wissen alle, dass du sehr stark und mächtig bist und sie hoffen, dass du ihnen helfen kannst. Ich hab nichts gegen Einzelgänger, so lange sie keinen Ärger machen und das wissen sie“, begann er und hielt Phelans grimmigen Blick stand. Julien zollte ihm dafür Respekt. Es war schwer für einen Wolf, dem Blick eines mächtigeren, dominanteren Wolfes standzuhalten.
„Ich kenne Fernán von früher. Er hat unserem Rudel schon ein paar Mal geholfen. Ich dachte, er kann mir jetzt vielleicht auch helfen. Ich habe gehofft, dass er einen der Magier kennt, die an dem neuen Wehr mitgearbeitet haben oder dass seine Anwesenheit einfach nur reicht, dass du das Tor aufmachst und uns anhörst.“ Ducote verstummte und zuckte hilflos mit den Schultern. Phelans Blick wanderte von Ducote zu dem Weisen.
„Hernandez Salazar“, begann er hart. „Und dann hast du nichts anderes gewusst, als deine Macht zu missbrauchen und mein Grundstück zu betreten? -Ohne meine Erlaubnis?“
Hernandez Salazar verneigte sich ehrfurchtsvoll vor dem mächtigen Wolf.
„Heerführer“, begann er respektvoll. „Ich kenne deinen Namen. Ich kenne dein Heer. Ich kenne deine Taten. Du hast einem meiner Herrscher einst geholfen. Du hast ein hartes, aber gerechtes Herz. Du hast eine starke Hand. Ich weiß, dass du der Richtige bist, den man um Hilfe bitten kann.“
Er richtete sich wieder auf, den Blick fest auf Phelan gerichtet.
„Du hast einen Fehler begangen, aber du bist kein schlechter Mann“, fuhr er fort.
„Ich bin ein Verräter“, erwiderte Phelan schlicht. Der Magier lachte kurz auf.
„Du bist ein Dummkopf gewesen“, sagte er nur. Juliens Augenbrauen schossen nach oben. Das war mutig; Phelan einen Dummkopf zu nennen.
„Aber du bist treu. Und die Verräter sind andere, das weißt du.“ Hernandez Salazar trat einen Schritt vor.
„Heerführer …“
„Mein Name ist Phel…“ unterbrach Phelan leicht verärgert. Der Magier hob die Hand.
„Ich kenne deinen Namen!“, fuhr er Phelan an. „Ich kenne deinen jetzigen Namen und ich kenne den Namen, der die Welt zum Erzittern brachte!“
Phelan hob die Augenbraue.
„Dann hätten wir das also geklärt“, stellte er leicht süffisant fest.
„Ich bin nicht hier, um mit dir über Namen zu philosophieren. Namen sind bei uns, die ewig leben, nichts weiter als Schall und Rauch! Ich bin hier, um dich um Hilfe zu bitten.“ Hernandez Salazar streckte Phelan wie zur Versöhnung beide Hände entgegen, die Handflächen nach oben. Phelan nickte zustimmend.
„Nennt mir nur einen guten Grund, das zu tun“, bestimmte er und seine Stimme klang nicht mehr ganz so hart.
„Eliza Sanchez war meine Schwester.“ Einer der Vampire trat vor. „Unser Clan wurde bei einem Kampf um die Vorherrschaft vernichtet. Sie und ich waren die Einzigen, die überlebt hatten. Meine Mutter hat uns in einen Brunnenschacht geworfen und sie haben uns übersehen …“ Der Mann verstummte und schluckte hart.
„Sie war eine gute Frau“, schloss er leise.
„Wir sind nicht alle schlecht.“ Ein Wolf trat vor. „Wir sind nur manchmal nicht derselben Meinung wie unsere Alphas. Mein Name ist Eduard Kross. Ich komme aus Bayreuth in Deutschland. Ich wurde aus meinem Rudel verbannt, weil ich mich gegen die Pläne meines Alphas gestellt habe. Bin ich deshalb weniger wert als andere?“
„Genug von euch sind aufgrund von Abscheulichkeiten in der Situation in der sie jetzt sind. -Wieso sollte ich euch helfen?“, entgegnete Phelan und zündete sich eine Zigarette an.
„Was macht dich so viel besser als uns?“ Ein großer schwarzer Mann trat ins Licht. Es war ein Werlöwe, wie Julien erkannte. Phelan stieß sich von dem Pfeiler ab und Julien trat einen Schritt auf ihn zu, bereit ihn aufzuhalten, sollte der Wolf angreifen wollen.
„Wer sagt das?“ Phelan richtete sich zu seiner vollen Macht auf und Julien spürte, wie die Anwesenden vor Ehrfurcht erstarrten.
„Ich, Asad Ghedi Said, sage das”, antwortete der Löwe erhaben und hielt Phelans Blick stand. In Phelans Gesicht zuckte es. Julien spannte sich an.
„Du, Asad Ghedi Said der Löwe, sagst das“, wiederholte Phelan spöttisch. Das Zucken in seinem Gesicht wurde stärker, dann verzog es sich zu einem breiten Grinsen.
„Nichts macht mich besser, mein Freund. Nichts“, gestand er und neigte leicht das Haupt.
„Was tust du hier? Warum bist du nicht bei deinem Rudel in Somalia und führst es?“, fragte er.
„Ich wurde gestürzt und verstoßen“, antwortete Asad scheinbar unbekümmert.
„Dein Neffe?“, mutmaßte Phelan. Asad nickte.
„Entsprungen aus dem Schoß einer räudigen Hyäne. Sollen sie alle mit ihm untergehen“, fluchte er. Julien senkte den Blick. Verrat traf tief. Und Verrat aus der eigenen Familie oft so tief, dass die Verratenen sich nicht selten in den Freitod stürzten.
„Warum hat der Rat dir nicht geholfen?“, wollte Phelan wissen. Asad lachte hart auf.
„Warum hilft der Rat hier nicht?“, stellte er eine Gegenfrage. Phelan nickte nur.
„Was kann ich denn als Einzelner gegen sie tun? Wir wissen nicht einmal, was sie sind.“ Phelan gab seine erhöhte Position auf und setzte sich auf die Verandatreppe. Ein Vampir huschte herbei und überreichte ihm ein Glas mit Whisky. Julien beobachtete dieses kurze Schauspiel interessiert. Bis auf Ducote und den Magier waren es alles Verbannte und Ausgestoßene und doch hatte sich augenblicklich eine Rudelhierarchie gebildet. Sie sahen seinen Freund als Anführer an, ohne ihn zu kennen, ohne etwas von ihm zu wissen. Er nahm hinter Phelan Stellung. Conor legte den Kopf schief, nicht weniger fasziniert von dem Schauspiel, welches sich ihm hier bot, wie Julien.
„Wir können dir helfen. -Wenn du unsere Hilfe möchtest“, bot Asad an. Phelan betrachtete die Männer und Frauen vor sich.
„Lasst mich kurz nachdenken“, bestimmte er. Asad verneigte sich. Dann wandte er sich an einen Wolf.
„Du. Du nimmst sechs fähige Jäger mit und jagst genügend Essen. Du“, er deutete auf einen Vampir, „holst zusammen mit zwei anderen Holz für ein Feuer. Und vier von euch gehen zurück in die Stadt und jagen Menschlinge. Die anderen werden gehen und Trinken besorgen“, ordnete er an und tatsächlich, nach kurzer Unterredung, teilten sich die Gruppen auf und taten, was der Löwe ihnen aufgetragen hatte. Julien war jetzt ernsthaft beeindruckt. Ducote starrte den Mann mit offenem Mund an.
„Sein Rudel umfasste siebzig alte und starke Löwen. Wenn jemand Befehle geben kann, die unmissverständlich sind, dann er“, raunte ihm Phelan, der plötzlich neben ihm stand, ins Ohr. Ducote zuckte erschrocken zusammen.
„Wie viel hattest du?“, japste er irritiert. Er hatte den Wolf weder kommen hören, noch ihn gewittert. Phelan lächelte.
„Zweihundert“, antwortete er gelassen. „Zweihundert Männer und Frauen, die fast alle Vampire oder Wölfe waren. Löwen zu führen ist eine ganz andere Sache.“
Ducote schluckte hart. Sein Rudel umfasste vierzig Wölfe und das New Orleans-Rudel war eines der größten Rudel in den Staaten. Er starrte Phelan ungläubig an.
„Zwei… hun…“ Er verstummte.
„Die Alte Welt ist anders als deine, Shane. Sie ist älter, größer und mächtiger als ihr ahnt.“ Phelans Blick war sanft und geduldig, als ob er es einem jungen Welpen erklärte. Julien überlegte kurz. Genau genommen tat er das gerade. Shane Ducote war -verglichen mit ihnen - ein Welpe, ein Jungtier, dass erst noch erzogen und geformt werden musste um daraus den Wolf zu machen, der ein gutes und treues Mitglied werden würde. Er lächelte leicht. Auch wenn Phelan es immer stets verneint hatte, in ihm schlummerte eben dieser Lehrer, der das bewerkstelligen konnte.
„Löwen sind stark und stolz“, begann Julien und trat von der Veranda.
„Sie sind unabhängig. Ihre Welt ist hart und rau, bestimmt von der Glut der sengenden Sonne und der Gnade des spärlichen Regens. Willst du so ein Rudel führen, musst du stärker sein als die Sonne und gnädiger als der Regen.“ Julien schenkte dem Löwen ein respektvolles Lächeln, bevor er sich wieder Ducote zuwandte.
„Oh, mein Gott …“ wisperte der ergriffen und sank ins Gras.
„Zweihundert … Wölfe und Vampire?“ Sein Blick heftete sich ungläubig auf Phelan.
„Oh, ja, mein junger Freund. Zweihundert Vampire und Wölfe. Und Bären, zwei Löwen, drei Magier und Menschen“, bestätigte Phelan, packte Ducote an den Handgelenken und zog ihn wieder auf die Beine. Sacht führte er ihn zur Treppe, wo Ducote sich darauf fallen ließ.
„Wir ... wir kämpfen doch nicht zusammen …“ Sein Widerspruch war kläglich. Julien schnaubte. Wie ihn diese Vorurteile nervten!
„Normalerweise nicht so. Drüben, in der Alten Welt haben die Vampire ihre eigenen Heere und die Wermenschen haben ihre eigenen Heere. Aber diese Heere verbünden sich miteinander. Mein Heer bestand aus zweihundert der besten Krieger und Kriegerinnen von allen Völkern“, klärte Phelan ihn auf.
„Sie wurden dafür ausgelacht und verspottet“, mischte sich der Magier mit ein. Juliens Kopf schnellte herum. Er hatte ihn völlig vergessen. Hernandez Salazar lächelte.
„Das ist völlig normal. Wir wollen, dass wir übersehen werden“, scherzte er. Julien schnitt eine Grimasse.
„Da wir jetzt alle Zeit haben, lass mich dir ein wenig von ihnen erzählen ohne von ihnen zu erzählen, Shane“, begann der Magier, zog einen der großen Rattansessel heran und ließ sich mit einem genüsslichen Seufzen hinein sinken.
„Zu Beginn waren sie eine wilde Truppe. Keine Rüstung glich der anderen, sie waren wild, laut und dreist. Dann kam der junge Heerführer, sein Kopf voller fantastischer Visionen. Man würde vor ihnen erzittern, die Häupter senken und demütig vor ihnen stehen, schwor er ihnen in heißen Reden. Er ließ ihnen Rüstungen fertigen, schlichte Eisenpanzer, schwarz wie die Nacht und sie verschlangen jegliches Licht. Die Augen ihrer Rösser und Kampfhunde leuchteten rot wie Feuer und sie waren unerbittlich.
Sie kämpften, sie starben, sie siegten.
Sie standen unaussprechlichen Gegnern gegenüber und sie triumphierten. Aus Gelächter wurde Neid. Aus Neid wurde Hass. Hass mündete in Verrat. Doch die Zweihundert blieben sich treu.“ Der Magier schmunzelte und nippte an seinem Glas.
„Sie waren ein einziges Geheimnis, das kein Außenstehender je ergründen konnte. Und die Welt zitterte, wenn ihre Namen gesprochen wurden. -Alles vergangen“, endete er beinahe wehmütig.
Phelan schwang sich auf das Geländer der Terrasse.
„Gut gesprochen, Zauberer.“ Er zündete sich wieder eine Zigarette an und inhalierte genüsslich.
„Und nun genug von früher. Was wisst ihr über die Geschehnisse der letzten Zeit?“, wollte er wissen.
„Ich denke nicht, dass Nemours oder Burging etwas damit zu tun haben. Auch wenn die Gerüchteküche immer noch behauptet, die beiden Anführer würden nach und nach die Einzelgänger dezimieren, um Ordnung in ihre Stadt zu bringen. Keiner der Toten hat sich in irgendeiner Art auffällig verhalten. Im Gegenteil. Sie waren so unauffällig, dass ihr Ableben nur deshalb auffiel, weil es auffallen sollte.“ Asad nahm neben Ducote auf der Treppe Platz.
„Aber wer sie sind, was sie sind, das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob es Wermenschen sind oder Vampire oder Menschen. Ich weiß nur, dass ich Angst habe, Wolf“, gestand er. „Jeder von uns hat Angst. Wir haben niemanden, der uns schützt, der für uns einsteht, der mit uns kämpft. Es könnte jederzeit jeden von uns treffen.“
„Burging ist stinksauer“, ergriff Ducote das Wort. „Er redet immer noch davon, dass das alles von Nemours ausgeht. Er glaubt fest daran, dass Nemours Söldner angeheuert hat, die in seinem Auftrag töten und somit die Stellung des Rudels schwächen sollen. -Nemours hat so ziemlich denselben Gedanken, nur ohne Söldner. Er glaubt, das Burging uns schickt, um zu töten.“
Phelan schnaubte.
„Dummes Gewäsch!“, knurrte er abfällig. Ducote zuckte mit den Schultern.
„Was soll ich machen? Ihm sagen, dass er völlig durchdreht? Das er total falsch liegt? Wie will ich das beweisen?“, verteidigte er sich.
„Ich glaube nicht an das, was er sagt. Ich glaube nicht, dass Nemours Söldner bezahlt hat. Ich glaube, das sind andere Leute. Welche, die uns hassen und es nur nicht wagen, Rudel- oder Clanmitglieder anzugreifen, weil sie wissen, die würden gnadenlos Jagd auf sie machen.“
Ducote nagte nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. Julien hatte ein wenig Mitleid mit dem armen Kerl. Es war nicht angenehm, wenn man so wenig einer Meinung mit seinem Rudelführer war. Es konnte Wermenschen, vor allem Wölfe, die in engen Familienverbänden lebten, innerlich zerreißen. In einem akuten Anfall von Anteilnahme legte er eine Hand auf Ducotes Schulter. Er wusste, wie es sich anfühlte, wenn man sich in der eigenen Familie, im eigenen Clan, missverstanden fühlte. Es war ein kaltes Gefühl von Einsamkeit, welches Julien keinem wünschte. Naja, bis auf seinen Feinden. Ducote sah ihn dankbar an und Julien fühlte ein Gefühl in sich aufsteigen. Er begann, den Welpen zu mögen.
„Was, wenn die Einzelgänger für sie Aufwärmübungen sind?“, mutmaßte Asad nachdenklich. Phelan hob den Kopf.
„Würdest du dann nicht diskreter vorgehen? Was nützt es dir, wenn du schon beim Üben so viel Staub aufwirbelst, dass sich jeder auf den Angriff vorbereitet?“, wandte er ein. Asad schnaubte.
„Du hast recht“, knurrte er.
„Es sei denn …“, begann Julien. Conor hob den Kopf und bellte.
Es sei denn, es ist ihnen egal!, rief der Wolf.
„… es ist ihnen egal“, fuhr Julien fort, ohne zu wissen, dass Conor exakt denselben Gedanken hegte. Der starrte erst Julien, dann seinen Bruder an.
„Conor ist deiner Meinung, Iuls“, sagte Phelan. Julien wirbelte mit einem freudigen Aufschrei zu dem Wolf und packte dessen Gesicht mit beiden Händen.
„Das muss es sein. Wer auch immer sie sind, es ist ihnen egal, ob sie uns aufschrecken, weil …“
„… sie unglaublich mächtig sind“, mutmaßte Ducote.
„… sie viele sind“, warf Asad ein.
… es Profis sind, gab Conor zum Besten.
„Weil sie alles davon sind. -Und, sie glauben. Gegner, die glauben, für ein höheres Ziel zu kämpfen, fühlen sich unverwundbar“, schloss Julien und sah mit grimmiger Genugtuung in den Augen zu Phelan.
„Und aus diesem Grund konnten sie das Wehr passieren.“ Hernandez Salazar schnippte triumphierend mit den Fingern. Phelan sah ihn irritiert an.
„Klär mich auf, Zauberer“, forderte er. Der Magier richtete sich in seinem Sessel auf.
„Das alte Wehr hatte die Kraft, das nichts und niemand, der Schlechtes im Sinn hat, es durchschreiten kann. -Was aber, wenn dein Feind tief in seinem Inneren glaubt, dass das, was er tut, gut und gerecht sei?“ Er grinste zufrieden. Phelan knirschte mit den Zähnen.
„Dann ist so ein Wehr einen Dreck wert“, fauchte er verärgert.
„Und dann sind unsere Feinde weit gefährlicher, als wir dachten.“
Bedrückte Stille breitete sich aus. Die Verbündeten versanken in ihre eigenen düsteren Gedanken und Phelan betete inbrünstig, dass er Yuri nicht in seinen Tod geschickt hatte.
Julien wurde aus seinen trüben Gedanken gerissen, als er Schatten am Sumpfrand stehen sah. Hernandez Salazar erhob sich, schritt anmutig auf die Grundstücksgrenze zu und ließ die Jäger und Holzsammler herein. Die Tiere wurden gehäutet und ausgenommen, Feuer entzündet und schließlich kamen auch die anderen zurück und brachten Wein und Bier. Das Schweigen schlug auf die Neuankömmlinge nieder und erst, als das Essen gebraten und die Getränke verteilt waren, ertönten die ersten leisen Gespräche. Es waren belanglose, nichtssagende Alltagsthemen, die nur angesprochen wurden, um vom eigentlichen Thema abzulenken.
Kam ihnen der fremde Wolf zur Hilfe?
Nachdem Yuri auf Phelans Anweisung hin noch weitere zehn Tage die Vorgänge in der Kirche beschattet und genug Informationen gesammelt hatte, kam er wieder zurück in die Villa. Er hüpfte durch die Hundeklappe in die Küche und traf als erstes auf Julien, der geduldig vor der Kaffeemaschine stand und auf Phelan wartete.
Tataah, kniet nieder, euer geliebter Yuri ist zurück! Der Vogel machte einen Satz und flatterte auf Juliens Schulter.
„Hey, da bist du ja wieder!“ Julien lachte und kraulte seinen Vogelfreund am Hals. Der Rabe plusterte sich genüsslich auf und gab schnarrende Geräusche von sich.
„Oh, wieder zurück? -Was hat dich aufgehalten?“ Phelan trat gefolgt von Conor in die Küche. Yuri krähte erfreut. Phelan stellte sich neben Julien an die Kaffeemaschine, gab ihm mit der Hüfte einen leichten Stoß und brühte starken Kaffee auf.
„Hast du Hunger, alter Freund?“, fragte er und bereitete einen Milchkaffee für Conor zu.
Sieht der aus, als ob er Hunger hätte?, neckte Conor liebevoll. Phelan legte den Kopf schief und betrachtete den Vogel eingehend.
„Du hast etwas zugenommen“, stellte er fest. Julien prustete.
„Du bist fett“, korrigierte er und tippte gegen Yuris Bauch. Der Vogel flatterte wild mit den Flügeln.
Fett? FETT??? Du wagst es, mich fett zu nennen?, echauffierte er sich und flatterte lautstark krächzend auf die Dunstabzugshaube. Phelan lachte.
„Nun, zumindest hast du keinen Hunger gelitten. -Espresso, Yuri?“ Er wartete die Antwort des Vogels gar nicht ab, sondern bereitete ihm gleich eine Tasse starken Espresso zu.
Nachdem er für alle ein heißes Getränk gebrüht hatte, trug Phelan die Tassen zur Theke, setzte sich auf einen Stuhl und sah Yuri erwartend an.
„Und jetzt sprich; was hat du herausgefunden?“, wollte er wissen. Yuri wartete, bis Conor und Julien ebenfalls Platz genommen hatten, nahm einen Schluck aus seiner kleinen Tasse und schnurrte.
Nun, meine Lieben, so hört zu und lernt, begann er dramatisch. Julien verdrehte die Augen.
„Hör auf, anzugeben und komm zum Punkt“, drängte er amüsiert. Yuris Blick war strafend.
Crétin, beleidigte er pikiert. Also, hört zu, Freunde. Yuri räusperte sich, dann begann er zu erzählen.
Sie trafen sich drei Mal in der Woche, dienstags und donnerstags zu einer kleinen Messe, die knappe zwei Stunden andauerte und angefüllt war mit Psalmen und Chorälen, die von einer besseren, gläubigeren Welt handelten, von Heiligen, von denen Yuri noch nie gehört hatte und vom Segen, zu den Auserwählten zu gehören.
Die Sonntagsmesse war weitaus länger, lauter und frenetischer. Der Priester schrie seinen Schäfchen Verdammnis-Thesen entgegen, die eintreffen würden, falls man weiterhin tatenlos zusah, wie die Brut des Teufels über die Welt brach und sie fest in die Klauen des selbigen trieb. Er deklarierte Namen wie Kriegserklärungen, lobpries sie als Lichtbringer und Märtyrer, hetzte die Meute und Yuri, der sich hoch oben in der Decke der unterirdischen Halle versteckt hatte, konnte spüren, wie religiöser Wahn um sich griff, Wellen schlug und Resonanz in weit über einhundert Köpfen und Herzen fand. Und über allem schwebte beständig der Geruch nach schmutziger Unterwäsche, der Yuri völlig verwirrte.
Er klärte die anderen über die Beschaffenheit des unterirdischen Ganges auf, die Größe und Höhe der Halle, die Lage der Kirche. Er beschrieb den Priester und seine Anhänger bis ins letzte Detail und gab die Predigten beinahe wortwörtlich wieder.
Aber wisst ihr was das Merkwürdigste war?!, endete der Rabe seine Erzählung. Sie riechen nach der dreckigen Unterwäsche vom Heer.
Die drei anderen erstarrten in ihren Bewegungen. Julien spürte, wie sein rechtes Auge anfing zu zucken und zwinkerte es heftig weg. Neben ihm gab Conor erstickte Schnaublaute von sich.
„Nach was?“, fand Phelan als erster die Sprache wieder, bevor er anfing zu kichern.
Nach der dreckigen Unterwäsche im Heer, wiederholte Yuri gelassen. Julien brach in schallendes Gelächter aus. Wie konnte man einen Feind ernst nehmen, der nach Unterwäsche roch?
Yuri wartete geduldig, bis sich seine Freunde wieder beruhigt hatten, dann ergriff er erneut das Wort.
Kinder, wenn ihr fertig seid, euch totzulachen, könnten wir uns dann mal bitte darauf konzentrieren, dass wir es hier mit einer fanatischen Sekte zu tun haben, die es sich in den Kopf gesetzt hat, unsereins vom Antlitz der Erde zu radieren? -Und das außerdem riecht wie Wolf, Vampire und Mensch in einem? Der Rabe gab sich keine Mühe, den gereizten Unterton in seiner Stimme zu verbergen. Julien biss sich verlegen auf die Unterlippe. Yuri hatte recht. Um wieder Fassung zu erlangen nahm er einen kräftigen Schluck aus seiner Tasse und verbrannte sich prompt die Zunge dabei. Leise fluchend ließ er die Verbrennung heilen. Wenigstens war er jetzt wieder ernst. Phelan schaffte es ganz ohne Selbstverstümmelung sich wieder zu sammeln.
„Sag das noch mal“, verlangte er harsch.
Sie riechen wie Wolf, Vampir und Mensch, wiederholte Yuri ungeduldig. Phelan knurrte gereizt. Das klang nicht gut. Es klang beängstigend, es klang gefährlich.
„Kann es sein, dass sie … dass eure Forschung … dass es Mischlinge sind?“, fragte Julien zaghaft. Phelans Kopf schnellte zu ihm und der Blick, den er ihm zuwarf war Eis.
Nein. Sind sie nicht, korrigierte Yuri entschlossen. Ich bin vier von ihnen nach Hause gefolgt. Wenn man sie trennt, riecht einer nach Menschen-Wolf und der andere nach Menschen-Vampir. -Conor, wenn du nicht AUGENBLICKLICH aufhörst, zu lachen, ich schwöre dir bei Jupiters Schwanz, verpass ich dir eine, dass dir hören und sehen vergeht! Conors Schnauben endete schlagartig und sein Blick wurde treu.
Verdammt noch mal, das ist eine sehr, sehr ernste Sache, tadelte Yuri den Wolf. Jedenfalls, ich bin vier von ihnen nach Hause gefolgt und hab mich da dann ein wenig umgesehen. Will jemand von euch wissen, wie ich in ihre Wohnungen gelangt bin? -Nein? -Ich erzähl‘s euch trotzdem: Ist völlig simpel. Irgendwann macht jeder einmal ein Fenster auf, um zu lüften. Und da keinen von den Vieren in einer noblen Gegend wohnt, sind die Fenster alles andere als stabil. Ein kleiner Papierklumpen an der richtigen Stelle platziert und das Ding verriegelt nicht. Fragt mich mal, was das für eine Arbeit war, diese Fenster hoch zuschieben … Kinder ich kann euch sagen, das war hart ... deklarierte der Vogel dramatisch, bevor ihn ein ungeduldiges Räuspern von Phelan zurück auf den richtigen Weg brachte. Yuri verdrehte kurz die Augen, nuschelte etwas Undeutliches auf Russisch, dann fuhr er fort:
Sie leben unheimlich spartanisch, in den Wohnungen sieht es aus wie in Mönchszellen. Billige Standardmöbel in gedeckten Farben, keine Deko irgendwo, es sei denn, man zählt Kreuze und Gebetsteppiche und religiösen Schnickschnack als Deko-Artikel. Die Wohnungen bis hin zu ihren Bewohnern sind völlig unauffällig. Total banal und nichtssagend. Wenn man nicht weiß, nach wem man sucht, dann verschwinden sie in der Menschenmenge und sind unsichtbar. Es ist gruslig. Ich hatte immer nur einen irren Gedanken, als ich die vier observiert habe. Beige.
„Beige?“, hakte Julien nach. Phelans Augenbrauen schossen nach oben.
Beige. Gibt es eine nichtssagendere Farbe als beige? Nein, siehst du!? Genau das sind sie, wenn sie allein sind. Nichtssagend. Allerweltsgesichter. Austauschbar. Maschinen, zählte der Vogel auf.
„Die perfekten Soldaten“, wandte Phelan ernst ein. „Masse. Unauffällige Masse, die kein Gesicht hat.“
Julien erschauderte. Er brauchte etwas zum Aufwärmen, obwohl er eigentlich nicht frieren konnte. Aber diese Worte, die Bedeutung hinter diesen Worten, ließen ihn erschaudern. Er stand auf, griff sich die Tassen der anderen und Conors Kaffeeschale und brühte ihnen Kaffee auf.
„Also noch mal von vorn“, begann Phelan, als Julien ihm seine Tasse vor die Nase stellte.
„Sie riechen wie die Unterwäsche vom Heer, wenn sie alle beisammen sind. Einzeln riecht jeder von ihnen wie ein Wolf und ein Mensch. Mensch oder Menschling?“, hakte er nach.
Mensch. Glaube ich … keine Ahnung, sie riechen auf jeden Fall nach Kraft, antwortete Yuri und nippte an seinem Espresso.
„Dann sagen wir wie Wolf und Mensch also …“ Phelan blies die Backen auf.
Ja, so ein bisschen wie Amy als Baby, wenn du sie stundenlang in den Schlaf wiegen musstest. Oder wenn sie die ganze Nacht an Conor gekuschelt geschlafen hat, versuchte Yuri zu erklären. Phelan rubbelte sich hektisch mit den Händen über sein Gesicht.
Menschen-Wölfe. Menschen, die nach Werwolf rochen. Vampire, die nach Mensch rochen. Menschen-Vampire. Das überstieg seinen Horizont.
„Tag-Geborene?“, warf Julien in den Raum und war selbst völlig erstaunt über seinen Vorschlag. Phelan sah ihn nachdenklich an. Conor bellte zwei Mal.
„Tag-Geborene sind -anders“, widersprach Phelan lahm.
Tag-Geborene nehmen immer die stärkeren Gene an, erwiderte Yuri.
„Nein. Nicht immer“, entgegnete Phelan. „Beigan ist ein Tag-Geborener. Und er war die ersten sieben Jahre seines Lebens so was wie menschlich.“
Julien schnalzte leise mit der Zunge. Tag-Geborene waren die Kinder von Wermenschen oder Vampiren mit Menschen. Sie kamen selten vor, die meisten blieben bei ihren eigenen Rassen, und selbst wenn es Mischbeziehungen gab, entstanden noch seltener Kinder dabei. Meist suchten sich die Männer Menschenfrauen, selten anders herum, und wenn diese beiden einen Spross zeugten, war er wie sein Vater. Entweder ein Wermensch oder ein Vampir. Die ersten ein-zweihundert Jahre war er ein wenig schwächer als Reingeborene, aber das Kind war das, was sein Vater auch war. Bis auf Beigan.
Beigan Einarsson war ein Tag-Geborener. Seine Mutter war zum Zeitpunkt seiner Geburt eine Menschenfrau aus einer starken Linie im heutigen Norwegen gewesen, die dem hartnäckigen Werben eines Vampirmannes nachgegeben hatte. Nach neun Monaten gebar sie Beigan. Er war wie ein Mensch. Er konnte in die Sonne, er alterte wie die Menschenkinder, er aß feste Nahrung. Als er sieben Jahre alt war, biss ihn sein Vater und machte ihn zu einem vollwertigen Vampir. Dennoch war Beigan immer noch etwas Besonderes unter den Nachtgeschöpfen. Er konnte weinen. Und er konnte in die Sonne. Das allerdings nur, weil er seinen Kinderkörper so lange malträtiert hatte, bis dieser die Sonnenstrahlen auf seiner Haut ertragen konnte. Aber dennoch war Beigan, als er noch ein Tag-Geborener war, mehr Mensch als Vampir gewesen.
„Weshalb heißen sie eigentlich Tag-Geborene? Vampirmischlinge können trotzdem nicht in die Sonne, auch wenn ihre Mutter ein Mensch ist“, fragte Julien neugierig. Conor bellte.
„Weil die Vampirmischlinge immer am Tag auf die Welt kommen“, klärte Phelan Julien auf.
„Tatsächlich? So simpel?“ Das hätte Julien jetzt nicht erwartet. Sonst war alles irgendwie immer so furchtbar mystisch in Bezug auf ihre Rassen.
„Gilt das auch für die Wermischlinge?“, wollte er wissen. Conor bellte erneut.
„Nein. Es ist für uns auch nicht von Bedeutung, ob wir tags oder nachts geboren werden, wir können in die Sonne. Man hat den Namen einfach nur übernommen. Reine Faulheit, nehme ich an.“ Phelan zuckte mit den Schultern. Julien machte ein nachdenkliches „hmmm“ und lutschte auf seinem Kaffeelöffel herum. Sie verfielen in Schweigen und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Julien dachte an all die Tag-Geborenen, die er im Laufe seines recht langen Lebens kennengelernt hatte. Plötzlich schreckte er hoch.
„Und wenn das Mischlinge aus Menschlingen und unsereins sind?“ Er sah Yuri erwartungsvoll an. Der Rabe krächzte echauffiert.
Wer macht denn so was Abartiges? Da kommen ja nur Missgeburten dabei raus! Kleine schwächliche Krüppel, halb blind und taub, kränklich, kaum stärker als ein Mensch … er verstummte abrupt.
„Recht einfach kaputt zu machen, aber dennoch stark genug, um als kleine siebenköpfige Armee ungeübte Vampire oder Wermenschen zu töten“, änderte Phelan den Gedankengang. Julien fiel der Löffel aus Mund und Hand und landete scheppernd auf dem Tisch.
„Sie sind gezüchtet“, wisperte er in einer plötzlichen Erkenntnis. Er sprang halb von seinem Stuhl auf.
„Sie können nur gezüchtet sein!“Jetzt sprang er ganz auf und der Barhocker krachte hinter ihm auf die Fliesen. Conor knurrte verhalten. Er hatte ein leichtes Problem mit der Misshandlung seiner Möbel. Er wurde von den anderen ignoriert.
„Überlegt doch mal:“ Julien begann, um die Theke herum zu wandern. „Das ist doch völlig logisch! Da ist ein Irrer, der weiß um unsere Existenz und der ist der festen Überzeugung, wir sind Ausgeburten der Hölle. Er weiß, dass er keine Chance hat, dass ihm die restliche Welt das glauben wird. Er weiß, dass er eine Armee braucht, um uns zu vernichten. Er weiß vielleicht nicht wie viele es von uns gibt, aber er weiß, es sind einige. Und dass wir stark sind. Wie kann er uns vernichten? Es gibt einige Bücher von uns, die verloren gegangen sind. Was, wenn er eines davon in die Hände bekommen hat? Ein Unverfängliches zwar, aber dennoch eines, aus dem er lernen konnte. Und dann hat er gelernt. Er hat gelesen und Informationen gesammelt und dann kam ihm eine Idee. Er züchtet sich eigene Krieger. Aber keine, die so sind wie wir, um Gottes Willen, dann wären das ja genauso Ausgeburten wie wir! Nein, er züchtet Tag-Geborene. Vielleicht weiß er nichts von den Menschen, er weiß nicht, dass es sie gibt, also nimmt er sich gläubige Menschlinge. Er blendet sie mit seinen Visionen und verpaart sie mit unsereins!“ Er lachte auf und klatschte dabei begeistert in die Hände. Für Phelan wirkte er leicht wahnsinnig.
„Nein! Nein!“, widersprach sich Julien selbst. „Er hat Glück und unter seinen treuen Schäfchen finden sich ein-zwei Tag-Geborene, die ein schlechtes Gewissen haben, weil sie sind, was sie sind. Und die melden sich regelreicht freiwillig, um bei seinem Heiligen Krieg mitzumachen! Weil das ihre einzige Möglichkeit der Buße ist! Sie vögeln so lange mit den Menschlingen herum, bis die endlich schwanger werden und so züchten sie ihre eigene kleine Armee!“ Er klatschte wieder mit diesem leicht wahnsinnigen Lachen in seine Hände. Conor legte den Kopf schief. Das war so beknackt, das konnte sogar wahr sein.
„Um eine so große Armee zusammenzuvögeln braucht es allerdings viele Tag-Geborene mit schlechtem Gewissen“, bemerkte Phelan kritisch.
Nein. Nicht viele, widersprach Yuri konzentriert. Es braucht nur viel Zeit. Sie sind so schwach verglichen mit den Tag-Geborenen; ihre Linie ist schon so verwässert, dass sie sieben Mann brauchen, um einen von uns zu besiegen. Und dazu benötigen sie auch noch Eisenkrallen. Das brodelt nicht erst seit ein-zwei Generationen, das brodelt schon viel länger. Der Rabe schloss die Augen und klapperte nachdenklich mit dem Schnabel.
Ich würde fast behaupten, es gibt sie schon seit ungefähr dreihundert Jahren. Mindestens. Vielleicht sogar doch schon länger. Es ist schwer für unsereins, sich zu vermehren und sie sind hunderte. Je mehr Menschling und je weniger von uns umso einfacher die Fortpflanzung. Und jetzt sind es endlich genug, um zu zuschlagen. -Jungs, ich denke, das ist des Rätsels Lösung.
Phelan nagte gedankenverloren an seiner Oberlippe herum.
„Und jetzt?“, fragte er kritisch. Julien ging zurück zu seinem Platz, hob seinen Barhocker auf und setzte sich.
„Jetzt überlegen wir uns den nächsten Schritt“, bestimmte er mit Nachdruck. Er wandte sich an Yuri.
„Wir haben auch Neuigkeiten, Vogel“, verkündete er. Yuri krähte aufgeregt.
Was? Was?, wollte er hektisch wissen.
„Drei Tage nachdem du weggefahren bist, kamen Ducote, ein Weiser namens Fernán Hernandez Salazar und an die fünfzig Einzelgänger zu uns und haben uns um Hilfe gebeten“, begann Julien und fasste zusammen, was an diesem Abend geschehen war. Der Rabe hörte aufmerksam zu. Nachdem Julien geendet hatte, legte er den Kopf schief, dann wandte er sich an Phelan.
Und was hast du ihnen gesagt?
Phelan zuckte mit den Schultern.
„Dass ich ihnen erst etwas sagen kann, wenn ich mehr über die ganze Sache weiß“, antwortete dieser ehrlich und trank seinen Kaffee aus. Er erhob sich, um sich neuen zu machen.
Und was sagst du ihnen jetzt?, bohrte der Vogel nach. Phelan drückte sich um die Antwort, bis seine Tasse wieder aufgefüllt war und er sich eine Zigarette angezündet hatte. Er starrte nachdenklich den heißen Dampf an.
Eingeschlafen?, neckte Yuri liebevoll. Phelan drehte sich zu ihnen herum und bedachte jeden einzelnen von ihnen mit einem langen, ernsten Blick.
„Dass ich Krieger brauche, um diese Horde Halblinge zu vernichten. Und dass ich aus ihnen Krieger machen werde.“
„Tiefer. Noch tiefer. Cuilén, Welpe, du lässt deine Deckung fallen, wenn du angreifst. Geh in die Knie!“
Julien trat gerade noch rechtzeitig auf die Veranda um zu sehen, wie Phelan einem jungen Wolf mit wilder Frisur sein Knie in die Kniekehle rammte und ihn zu Fall brachte.
„Und beweg dich, verdammt noch mal! Bewegliche Zeile sind schwer zu treffende Ziele. Es sei denn, du stehst darauf, dir mit eisernen Fäusten den Kiefer brechen zu lassen!“
Phelans Ton war hart und gnadenlos und erinnerte Julien an eine Zeit vor vielen, vielen Jahrhunderten, als ein anderer Mann im selben Tonfall mit ihm gesprochen hatte. Er lachte leise und trat auf den Rasen.
„Du klingst wie Darragh“, scherzte er als er sich zu Phelan gesellte. Phelan schnaubte nur.
„Sie machen mich wahnsinnig“, knurrte er schlecht gelaunt und half dem Wolf auf die Beine. Der Welpe errötete und murmelte ein verlegenes „Danke.“.
„Bedank dich bei mir, wenn du überlebst. - Weiter.“ Phelan gab dem Jungen einen groben Schubs. Der Jungwolf taumelte und fand nach einigen Schritten sein Gleichgewicht wieder.
„Weiter“, herrschte Phelan ihn an und der Wolf griff an. Phelan trat einen Schritt zur Seite, um ihn ins Leere laufen zu lassen, doch sein Angreifer wirbelte herum, nutzte seinen eigenen Schwung und stieß Phelan in die Rippen. Phelan sank auf die Knie, der Wolf vollendete seine Drehung und hielt Phelan die Hand an die Kehle. Phelan grinste.
„Siehst du. Ich wusste, du kannst es.“
Der junge Wolf ließ von Phelan ab und trat einen Schritt nach hinten.
„Danke, Sir.“
Julien gluckste leise, als er sah, wie sich die Wangen des Jungen vor Stolz röteten.
„Hilf mir altem Wolf hoch, Jake“, bat Phelan und streckte dem Wolf Jake seine Hand hin. Jake ergriff sie, Phelan packte sein Handgelenk, zog mit einem kräftigen Ruck daran und der Wolf flog kopfüber über Phelan hinweg und landete mit einem dumpfen Aufprall hinter ihm auf dem Rasen. Julien grinste breit. Phelans Lehrstunde trug eindeutig Darraghs Handschrift. Dessen Auffassung zum Erlernen der Kampfkunst bedeutete im Groben: Je mehr es wehtut, umso mehr lernt man.
„Hast du gesehen, was ich getan habe?“, fragte Phelan und beugte sich über den Jungen. Jake nickte erschrocken.
„Hinknien. Lernen. Reich mir deine Hand.“ Phelan erhob sich, wartete, bis Jake kniete und streckte ihm dann seine Hand entgegen. Jake schnappte sich das Handgelenk und unter Phelans Anweisung warf er den großen Wolf auf den Rücken. Julien ging lachend weiter. Er hatte selbst einige Schüler, die er darin unterrichten sollte, sich mit Kurzschwertern nicht selbst zu töten. Er sah geringen Erfolg darin. Die meisten von ihnen waren - gelinde gesagt - katastrophal. Sie hatten vierzehn Männer vor sich, von denen sechs von sich behaupten konnten, sie hatten schon einmal bei etwas mitgekämpft, was man mit viel Phantasie als Schlacht bezeichnen konnte und das waren die sechs, bei denen Julien keine Angst hatte, dass sie sich mit ihren Kurzschwertern selbst erstachen. Und der Rest … Julien seufzte und ließ seinen Blick über die Trainierenden schweifen.
Der Rest bestand aus Dieben, Lügnern und Vergewaltigern und - am allerschlimmsten - zwei Felidae, die nie gelernt hatten, ihre Katzen zu beherrschen und bei der kleinsten Gelegenheit die Krallen ausfuhren und zum Angriff übergingen. An den beiden tobte sich im Moment Conor in seiner Zweibein-Form aus - wortwörtlich. Wenn Conor sich in dieser Gestalt befand, war er eine tödliche Kampfmaschine und das zeigte er den beiden gerade mit extremen Vergnügen. Aus den Augenwinkeln bemerkte Julien, wie einer der beiden Felidae in hohem Bogen gegen einen Baum knallte und wie ein nasser Sack daran herunterrutschte. Conors warnendes Knurren verursachte leichte Gänsehaut bei Julien. Der blonde Wolf wurde so langsam wütend und das würde mit gebrochenen Knochen enden.
Julien schnappte sich einen seiner besten Schüler - einen der Sechs, die man beinahe als Kämpfer ansehen konnte - und nahm ihn beiseite.
„Trainiert die letzte Folge, die ich euch beigebracht habe“, befahl er ihm. Der Mann nickte.
„Ich geh Verbandszeug für die Kitties holen.“ Julien seufzte resigniert und marschierte wieder zurück ins Haus. Er war noch keine zehn Schritte gegangen, als er das Brechen eines Oberschenkelknochens hörte, gefolgt von einem wütenden Schmerzensschrei, der in ein klägliches Wimmern überging. Julien drehte sich, wie der Rest der Truppe zu Conor und den beiden Felidae. Einer von ihnen lag mit einem seltsam verdrehten Bein auf dem Boden und starrte mit weit aufgerissenen Augen zu Conor hoch, der wild knurrte. Julien nickte zufrieden und nahm seinen Weg wieder auf. Spätestens bei Anbruch des Tages waren die beiden Katzen handzahm. Grinsend ging er die Arzttasche holen.
„Jake ist ein Rohdiamant. Er lernt schnell und er hat ein Gespür für den Kampf.“ Phelan nahm sich eine Zigarette aus seiner Schachtel und zündete sie sich an. Es waren knapp zwei Wochen vergangen, in denen sie jede Nacht trainiert hatten und es zeigten sich die ersten wirklich brauchbaren Ergebnisse.
„Und die beiden Katzen?“, hakte Julien nach. Er war müde und er war gereizt. Und er hatte beschlossen, dass er kein guter Lehrer war. Es zehrte ihm an den Nerven, dieses ewige und ständige Wiederholen und Wiederholen und zu sehen, wie es nicht fruchtete und wenn dann nur langsam. Er stöhnte laut auf und vergrub sein Gesicht in den Händen. Phelan lachte leise.
„Folgen Conor wie zwei Schoßhündchen“, antwortete er gut gelaunt, erhob sich und brühte Julien einen Kaffee.
„Er hat sie mittlerweile so weit, dass sie ihren Zorn zügeln und in die richtige Bahn lenken können“, fuhr Phelan fort, ging zu einem Hängeschrank und holte eine Flasche heraus.
„Er sagt, in maximal einer Woche hat er süße Kampfkätzchen aus ihnen gemacht.“
Phelan kam zurück zu Julien und schob diesem die Tasse unter die Nase. Julien schnupperte genüsslich.
„Wo ist meine Sahne?“, meckerte er grinsend. Phelan schnaubte.
„Geh ‘ne Kuh schütteln und schlag sie dir selber“, schlug er vor. Julien hob den Kopf und lachte los.
„Geh ‘ne Kuh schütteln?“ Er nippte kichernd an seiner Tasse.
„Und Irish Coffee trinkt man im Grog-Glas“, meckerte er weiter. Phelans stieß demonstrativ die Luft aus und sah ihn tadelnd an.
„Was machen deine Fortschritte? Mittlerweile weniger als neun Selbstverstümmelungen pro Nacht?“, frotzelte er leicht gehässig. Juliens Blick wurde vernichtend.
„Höchstens sieben. - Auch der größte Depp lernt irgendwann mal.“
Phelan lachte ungläubig auf.
„So viel Zeit haben wir leider nicht.“
„Und dazu noch zu wenig Talent“, fügte Julien missmutig hinzu. Er fragte sich, ob sie es überhaupt einmal schaffen würden, aus diesen ganzen … Julien stoppte in seinen Gedanken und grübelte nach einem Wort, welches nicht ganz so herablassend war, wie das erstbeste, was ihm in den Sinn gekommen war. Er fand keins. … aus diesen Versagern zumindest halbwegs brauchbare Kämpfer zu machen. Oder sie zumindest soweit zu trainieren, dass respektables Kanonenfutter hergaben, während Phelan und er den Rest erledigten. Er schmatzte nachdenklich und sehnte sich nach den Kriegern vom Heer. Solche Männer brauchten sie. Julien seufzte wehmütig, schwang sich vom Barhocker und ging zur Tür.
„Bin kurz pinkeln“, teilte er Phelan mit und schlenderte aus der Küche. Phelan gluckste amüsiert, rauchte seine Zigarette auf und erhob sich, um sich ebenfalls Whisky in den Kaffee zu gießen. Es war seine erste freie Nacht seit zwei Wochen und in der wollte er sich genüsslich betrinken um in seiner zweiten freien Nacht seinen schweren Kopf zu pflegen.
Neben ihm klapperte die Hundeklappe und Conor kam vom Verrichten seiner Notdurft zurück. Die Tür öffnete sich und ihm folgten Asad der Löwe und eine andere Gestalt, die die Kapuze ihres Sweatshirts tief ins Gesicht gezogen hatte.
Ich habe Besuch mitgebracht, trällerte der Wolf fröhlich und sprang elegant auf einen Hocker. Phelan lehnte sich an die Küchenzeile und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Das sehe ich“, stellte er fest. „Und womit haben wir den hohen Besuch verdie… -Was zur Hölle machst du hier? Bist du von allen guten Geistern verlassen?“ Phelan macht einen Satz nach vorn und riss der unbekannten Gestalt die Kapuze vom Kopf. Darunter kamen wilde schwarze Haare, blitzende braune Augen und ein breites Grinsen zum Vorschein.
„Ich dachte, ich sag mal Hi. Ist schon längst überfällig, finde ich.“ Desmonds Grinsen wurde eine Spur breiter. Phelans Hand zuckte und beinahe hätte er dem Sohn seines Freundes eine Ohrfeige verpasst.
„Hi, Onkel Phelan.“ Desmond grinste sein unbekümmertes Lausbubenlächeln, dann warf er sich gegen Phelans Brust.
„Du hast mir gefehlt“, murmelte der junge Wolf und schmiegte sich an ihn. Phelan rang kurz mit sich, dann erwiderte er die Umarmung.
„Welpe, was stimmt in deinem Kopf eigentlich nicht?“, murmelte er heiser und gab Desmond sanfte Küsse ins Haar. Wollte der Junge hier vor ihm mit aller Gewalt den Zorn des Rates auf sich ziehen?
„Nix stimmt in meinem Kopf nicht. In meinem Kopf ist alles klar“, wiedersprach Desmond lachend und sah Phelan fest in die Augen. Phelan ließ seinen Blick über Desmonds Gesicht wandern. Sybillas Sohn hatte dunkelbraune Haare, die er zu einer lässigen, kinnlangen Frisur geschnitten hatte. Seine spitze Nase lief zum Ende hin leicht nach oben und gab ihm ein unschuldiges Aussehen, welches im Kontrast zu seinem markanten Kinn stand. Um seine Augen hatten sich kleine Lachfältchen gebildet. Phelan lächelte leicht.
„Wir sind solche Idioten, Onkel Faol. Aber so was von Idioten.“ Desmond lachte, drückte Phelan einen dicken Kuss auf den Mund und kuschelte sich mit einem zufriedenen Seufzen an ihn. Er hatte ihn wieder. Seinen Onkel, seinen Heerführer, seinen Rudelführer. Desmond fühlte sich nach langer Zeit wieder richtig ganz. Auch wenn er das Rudel jederzeit sehen konnte, etwas fehlte in ihm, etwas Wichtiges, das, was es am Leben hielt, am Atmen, am Ganz sein. Phelan hatte gefehlt. Der Verlust eines Rudelmitglieds war hart für die Wölfe und wenn ein Rudel seinen Führer verlor, konnte es zerbrechen. Vor allem wenn es ein Rudelführer wie Phelan war. Und Desmond hatte nicht nur seinen Rudelführer verloren, sondern seinen geliebten Onkel. - Auch wenn Phelan nicht blutsverwandt mit ihm war.
„Desmond!“, kreischte Julien von der Tür aus. „Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“
Mit zwei großen Sätzen war er bei seinem Sohn, riss ihn aus Phelans Umarmung und dann tat er das, was sich Phelan erfolgreich verkniffen hatte. Er gab Desmond eine schallende Ohrfeige. Desmond taumelte nach hinten, bis er gegen Asad stieß.
„Dad …“ begann er. Auf seiner Wange prangte rot und deutlich Juliens Handabdruck.
„Wie blöd kann man denn eigentlich sein, huh? Wir sind Verbannte, du darfst nicht mit uns reden, geht das nicht in dein mickriges Hirn? Himmel, Arsch und Zwirn, es ist eine Sache, allen anderen vorzugaukeln, man sei zu blöd um auf drei zu zählen, aber sich dann auch noch wirklich so zu verhalten!“ Julien raufte sich die Haare. Er war drauf und dran seinen Sohn windelweich zu prügeln. Desmond ließ seine schmerzende Wange heilen, murmelte eine Entschuldigung an Asad, weil er diesen getreten hatte, und machte einen Schritt auf seinen Vater zu.
Und mit einem Mal wirkte er nicht mehr wie der leicht entrückte, unbekümmerte Chaot den er allen vorgab zu sein, er wirkte wie der Sohn einer großen Kriegerin und eines großen Kriegers, in deren Fußstapfen er eines Tages treten würde. Desmond streckte sich, sein Blick wurde ernst und er stemmte die Hände in die Hüften.
„Luft anhalten“, befahl er streng. Julien zwinkerte verwirrt -und schwieg tatsächlich.
„Schön, dass ihr beiden von mir denkt, dass ich zu blöd zum Scheißen bin“, begann er leicht pikiert.
„Ich dachte immer, ihr wüsstet es besser. -Und mal davon abgesehen; man muss sich fragen, wer hier blöd ist, oder bei wem was im Hirn nicht stimmt.“ Desmond verschränkte die Arme vor seiner Brust. Julien öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber ein scharf gezischtes „Scht!“ seines Sohnes ließ ihn diesen rasch wieder schließen.
„Jetzt denken wir alle mal ein bisschen nach“, schlug Desmond vor, ließ die Arme wieder sinken und das typische unbekümmerte Desmond-Grinsen erschien wieder auf seinem Gesicht. Mit diesem Grinsen brach er reihenweise Frauenherzen.
„Ich muss gleich vorab gestehen, ohne Asad hier, wäre ich nie darauf gekommen. -Zum Punkt: Ihr seit verbannt, ja. Das wissen wir alle. Ihr dürft mit keinem Ratsmitglied mehr reden oder mit einem Mitglied eines Clans beziehungsweise Rudels, das mit dem Rat verbündet ist. -Auch richtig“, schlussfolgerte Desmond und sein Grinsen wurde unverschämt breit. Julien nickte verwirrt und auf Phelans Gesicht lag ein spöttischer Ausdruck.
„Tja, dumm nur, dass ich nicht dem Rat angehöre.“ Desmond lachte auf.
„Ich hätte jederzeit mit euch reden können! Ich hätte dich besuchen können, Onkel Faol! Die ganze Scheiße von wegen, wir dürfen nicht miteinander reden, sonst gibt’s Ärger funktioniert hier nicht!“ Er klatschte begeistert in die Hände.
„Und jetzt darfst du dich für die Backpfeife entschuldigen und mich in den Arm nehmen“, schlug er seinem Vater vor und strahlte ihn an. Julien starrte seinen Sohn verwirrt an. Hatte er tatsächlich keinen Treueschwur an den Rat geleistet? Musste wohl so sein, nicht einmal Desmond in seinem Leichtsinn war so blöd und log in dieser Hinsicht und begab sich dadurch in ernst zu nehmende Gefahr. Er stieß einen ungläubigen Ton aus, überbrückte die kurze Distanz zwischen sich und Desmond und nahm seinen Sohn fest in die Arme.
„Die Ohrfeige tut mir leid“, entschuldigte er sich ehrlich. Desmond zuckte nur mit den Schultern.
„Schon vergeben und vergessen. Ehrlich. Hi, Dad. Lange nicht mehr gesehen.“ Desmond gab seinem Vater einen dicken nassen Schmatzer auf den Mund.
„Oh, ihr glaubt ja gar nicht, was ich für zwei Wochen hinter mir habe. Echt und ehrlich, Leute“, jammerte er dramatisch, löste sich aus Juliens Umarmung und schwang sich elegant auf einen freien Stuhl. Phelan schürzte die Lippen.
„Soso“, meinte er belustigt. Desmond ignorierte den Spott in Phelans Stimme und sah seinen Onkel treu an.
„Ich habe aus zuverlässiger Quelle gehört, hier gibt es den besten Kaffee in ganz New Orleans. -Na, wo ist er?“, verlangte er frech und schenkte Phelan sein unschuldigstes und strahlendstes Lächeln.
„Verzogenes Gör“, neckte der liebevoll.
„Kaffee, alter Löwe?“, fragte er Asad, der dankend annahm.
Desmond schaffte es unter größter Anstrengung, still und vor allem schweigend auf seinem Stuhl zu sitzen, bis Phelan ihm seine Tasse hinstellte.
„Also erst mal hat’s mich ja fast von meinem edlen Designerstuhl gehauen, als da auf einmal diese zerzauste Bande vor meiner Appartementtür stand. Und dann fingen die an, sie kommen von dem Wolf, der in der alten Villa im Sumpf wohnt, der hätte ihnen aufgetragen, zu mir zu kommen, damit ich sie im Kämpfen unterrichte. -ICH? Ich und unterrichten? Ich hab erst geglaubt, die verarschen mich, echt jetzt!“, lamentierte er los. Phelan verdrehte die Augen und fragte sich kurz, wem in dieser Küche er etwas vormachen wollte. Asad war zu klug, um auf Desmonds Gejammer hereinzufallen. Er war kein verzogenes Rotzgör, das Verantwortung aus dem Weg ging, das immer etwas neben der Spur wirkte, immer gedanken- und sorglos durch die Welt spazierte und dem man nicht einmal zutraute, eine Spinne von der Wand zu klatschen. Das war alles nur Tarnung.
Und diese Tarnung hatte Desmond im Laufe seines siebenhundert Jahre langen Lebens perfektioniert. Hinter dieser Farce steckten ein messerscharfer Verstand, ein herausragender Bogenschütze und ein gnadenloser Krieger.
„Jedenfalls“, riss Desmonds Stimme ihn aus seinen Gedanken.
„Jedenfalls, steh ich da wie ein Idiot. Und dann musste ich mir überlegen, wo trainiere ich die alle, ich mein, ich habe ein Appartement, kein Haus, ich musste ein Dojo besorgen, wo ich meine Ruhe habe, das hat mich eine verdammte Stange Geld gekostet, Onkel Faol, das kann ich dir sagen, das will ich wieder haben, da kannst einen drauf lassen, aber so was von will ich das Geld wieder haben, echt, und das ist vielleicht so was von mega-mäßig anstrengend, das ist, als ob man versucht, einem Baby das Fliegen beizubringen, echt, also manchmal bin ich fast ausgeflippt …“
Phelan klinkte sich geistig aus. Irgendwann war es für ihn genug von Desmonds Litaneien. Ab und an warf er ein „Hm? -Hm. -Aha.“ ein, aber er hörte schon lange nicht mehr zu. Er betrachtete lieber Juliens Mimik während der ausschweifenden Erzählung seines Neffens. Der zog die Augenbrauen hoch, zog sie im nächsten Moment zusammen, runzelte die Stirn, verdrehte die Augen, seufzte verhalten und hörte dabei doch schon längst nicht mehr zu. Der Einzige, der wirklich aufmerksam Desmonds Erzählung lauschte, war Conor. Seine Ohren wackelten wie kleine bepelzte Antennen, um ja kein Wort zu verpassen.
Asad nippte an seinem Kaffee und war ehrlich beeindruckt. Wo holte der Wolf vor ihm die ganzen Wörter her? Wann atmete er eigentlich? Atmete er beim Reden oder redete er beim Atmen? Der Welpe faszinierte ihn. Vor allem, seit er dessen wahres Wesen gesehen hatte, welches so völlig anders war, als der jammernde Kasper hier vor ihm. Ernst, diszipliniert, streng und vor allem -still.
„… und die Kampftechnik, meine Güte, Onkel Phelan, die ist grottig, wirklich nur grottig, kann ich dir sagen, ich musste da bei Null anfangen und da übertreibe ich wirklich nicht …“
Mit einem Mal schlugen Phelans Sinne Alarm. Er versteifte sich, legte den Kopf leicht schief und ein nervöses Grollen schlich sich in seiner Kehle hoch.
„… und es ist wirklich traurig zu sehen, dass das erst jetzt passiert, wo ich schon seit gefühlten Stunden rede und rede und rede …“
Phelan stieß einen erstickten Schrei aus, schnellte von seinem Barhocker und war mit zwei großen Sätzen an der Küchentür.
„… ich meine, es ist ja nun nicht wirklich sooooo lange her, seit du sie das letzte Mal …“
Phelan ignorierte weiterhin Desmonds Redeschwall, der nun offensichtlich ihm galt und riss die Tür auf.
„Verfluchte Scheiße, du wirst träge, Vetter. Was hat das so lange gedauert? Du solltest weniger Jambala essen und mehr jagen gehen, wie es scheint.“
Im nächsten Moment verlor Phelan den Boden unter den Füßen. Er wurde in zwei starke Arme gezogen, die ihn an eine breite Brust drückten und in die Luft hoben.
Juliens Gesicht fror ein. Dann stieß er einen Freudenschrei aus, sprang von seinem Stuhl und stürzte zur Tür.
Conor fiel wortwörtlich vom Hocker und landete hart auf dem Fliesenboden. Hektisch strampelte er sich auf die Beine und hetzte zu Julien und seinem Bruder, um die Ankömmlinge zu begrüßen.
„Kleiner Wolf“, hauchte der stattliche Mann erstickt und presste Phelan fester an sich, als hätte er Angst, seinen Vetter gleich wieder zu verlieren, sollte er ihn loslassen. Julien schlug sich die Hände vor den Mund. Dort vor ihm, an der Hintertür dieser Villa der Verbannten stand Eóin vom Braeden, Waffenbruder, Rudelbruder, Freund. Phelan schaffte es endlich, sich aus Ians inniger Umarmung zu befreien, nur um gleich in andere starke Arme gezogen zu werden.
„Du siehst jämmerlich aus“, bemerkte der Vampir Beigan Einarsson mit einer Sanftheit in der Stimme, die sonst nur seinem Bruder Borgúlfr vorbehalten war und schob seinen Heerführer eine Armlänge von sich um ihn zu mustern. Phelans Blick in die eisblauen Augen des Vampirs war in der Tat jämmerlich. Er kämpfte mit allem. Mit seiner Fassung, mit den Tränen, gegen die aufkeimende Hysterie.
„Er sieht träge aus“, behauptete der Werbär Borgúlfr, entriss Phelan seinem Bruder und nahm ihn nicht weniger herzlich in den Arm. Julien bemerkte gerührt, dass sein Freund ernsthaft mit den Tränen kämpfte.
„Faul sieht er aus“, meinte Tariq, der große, nubische Vampir-Krieger, als Borgúlfr seinen ehemaligen Heerführer an ihn weitergereicht hatte und drückte ihn an sich.
„Wie ein verschissener, verwöhnter Ziegenschiss, der sich mit weichen Daunen den Arsch wischt“, dröhnte Darragh von den Klippen und schnalzte mit der Zunge. Jetzt rann Phelan eine Träne über die Wange. Sein Lachen klang mehr wie ein gequälter Schrei als Phelan von dem großen Wolfs-Krieger an die Brust gezogen wurde.
„Dar …“, wisperte er erstickt.
„Grund Gütiger, Junge. Reiß dich zusammen, sonst enden wir hier alle noch als plärrender Haufen“, tadelte Darragh ihn, küsste ihn sanft auf die Stirn und wischte Phelan wie einem kleinen Kind die Tränen aus dem Gesicht.
„Was du auch getan hast, mein Junge … was immer du auch getan hast …“, flüsterte er rau und küsste Phelan auf beiden Wangen.
„Grund Gütiger, wie alt seid ihr eigentlich? Was seid ihr eigentlich? Plärrende Waschweiber oder die größten Krieger, die je auf Gottes schöner Erde gewandelt sind?“
Die Stimme jagte Julien heiße Schauer der Verzückung über den Rücken.
Erst sah er nur flammend rotes Haar. Dann zwei schlanke aber kräftige Hände, die unsanft die Männer auseinandertrieben, dann tauchte aus dem Dunkel der Veranda Sybilla Aresy auf. Die eine, die einzige Sybilla. Niemand wusste, woher sie kam, Phelan hatte sie immer seine gefährliche Amazone genannt und sie hatte es nie korrigiert. Sie war ein wunderschönes, tödliches Mysterium. Desmonds Mutter. Eine gefährliche Wölfin. Und sie war Juliens Frau.
„Julien Delano. Schön wie eh und je.“ Sybilla lächelte ihn an. Julien lächelte zurück, trat auf sie zu und schlang seine Arme um sie.
„Sybilla Aresy. Schön und gefährlich wie eh und je“, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie lachte leise auf, dann gab sie ihm einen sanften Kuss auf den Mund. Julien erschauderte. Wie machte es diese Frau nur, dass er sie immer noch so anziehend fand? Er hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken, Sybilla wurde ihm entrissen und er fand sich statt an ihrer weichen Brust an der harten Männerbrust von Beigan wieder, der ihn innig umarmte.
„Vögelt später miteinander. Sag mir erst Hallo“, bestimmte er mit einem zotigen Grinsen im Gesicht und gab Julien einen dicken Schmatzer auf die Wange.
„Arschloch“, zischte Julien bissig und drückte ihn an sich.
„Hier sind wir wieder alle da, wo wir hingehören. Und unser Schönling ist auch mit dabei.“ Julien wurde das zweite Mal aus einer Umarmung gerissen, dieses Mal von Borgúlfr.
„Leck mich, fetter Bär“, knurrte er glücklich. Das hier war seine Familie. Phelans Heer war seine einzig richtige Familie. Sie liebten und akzeptierten ihn so wie er war, bei ihnen war er gleichwertig, bei ihnen war er behütet und beschützt, ohne eingeengt zu werden. Julien taumelte von Umarmung zu Umarmung bis er sich schließlich wieder neben Phelan fand, der ihm fast beschützend einen Arm um die Schultern legte und ihn an sich drückte. Phelans Glück strahlte ihm aus allen Poren, Julien glaubte fast, es anfassen zu können.
„Siehst du, Onkel Faol? Mit meinem Kopf ist immer noch alles in bester Ordnung“, wisperte Desmond ihm ins Ohr. Phelan ließ von Julien ab, wirbelte auf dem Absatz herum und schlang seine Arme um Desmond.
„Du verrückter Hundesohn“, flüsterte er ergriffen und drückte ihn fest an sich.
„Naja, nachdem ich mich ziemlich lang mit Asad unterhalten habe, kamen wir irgendwie auf das Thema Rat und Schwüre zu sprechen und da ist mir dann eingefallen, dass ich dem Rat nie einen Schwur geleistet hab. Ich hab meine Mutter angerufen und sie gefragt, ob wir eigentlich dem Rat unterstehen, so ganz ohne Schwur und sie hat nur gelacht“, erzählte Desmond leicht verlegen.
„Und ich habe meinem Sohn gesagt, dass ich nur einem Mann meine Treue schwöre: und das ist mein Heerführer.“ Sybilla stemmte anmutig die Hände in die Hüften.
„Und dann hat mein Sohn mich einmal mehr überrascht indem er mich gefragt, hat, ob die anderen auch keinen Treueschwur dem Rat gegenüber eingegangen seien.“ Sie hob anerkennend die Augenbrauen. Phelan kam die Erkenntnis und er schloss leise lachend die Augen.
„Habt ihr nicht. - Nur Ian“, stimmte er zu. Wie hatte er es nur vergessen können? Er war all die Jahre so in seinem Selbstmitleid versunken gewesen, in seiner Scham, seinen Vorwürfen, sein Rudel hintergangen und im Stich gelassen zu haben … Er schüttelte ungläubig den Kopf. Er war so ein Idiot.
„Ich bin ausgetreten“, bemerkte Ian lapidar, zwängte sich an Conor vorbei zur Küchenzeile und öffnete wahllos die Schränke auf der Suche nach einer Kaffeetasse.
„Wo sind denn in dem Saustall hier die Tass… Ah, hier!“ Erfreut holte er einen großen Kaffeebecher aus dem Schrank. Julien stellte mit leichter Genugtuung fest, dass Ian sich an seiner Kaffeemaschine bediente.
„Wow, Faol, findest du zwei Kaffeemaschinen nicht etwas übertrieben? Eine hätte es doch auch getan. Oder kannst du dich von dem Fossil nicht trennen?“, feixte Ian während er sich im Kühlschrank nicht nur an der Milch bediente. Julien kicherte leicht boshaft.
„Julien ist zu blöd, meine Maschine zu bedienen“, antworte Phelan stoisch, erntete dafür einen entrüsteten Blick von Julien und lehnte sich an die Theke.
„Ausgetreten?“, hakte er nach. Falls Ian mit dieser Kaffeeshow versucht hatte, von seiner lässig dahingeworfenen Bemerkung abzulenken, war es schief gegangen. So schnell ließ sich Phelan nicht ablenken. Ian drehte sich zu ihm und grinste sein breites, unbekümmertes Grinsen.
„Ja. Was soll ich da noch ohne euch?“ Er prostete Phelan gut gelaunt zu, bevor er einen kräftigen Schluck aus seiner Tasse nahm. Phelan schüttelte ungläubig den Kopf.
„Ich werd einfach nicht weiter darüber nachdenken“, beschloss er abwertend und wandte sich an seine Krieger.
„Habt ihr eine Übernachtungsmöglichkeit?“, wollte er wissen.
„Wir sind alle erst seit ungefähr zwei Stunden hier“, verneinte Darragh. Phelan nickte wissend.
„Julien. Bestell Essen und sorg für Blut. -Meinetwegen auch Menschlinge. Ich werde die Schlafzimmer herrichten“, ordnete Phelan an. Julien griff zum Telefon.
„Irgendwelche besonderen Wünsche? Ich bestell Pizza“, fragte er und wählte die Nummer des Pizzaservice.
„Salami, Anchovis, extra Käse, Käserand, Familiengröße. -Ich helfe Phelan”, bestellte Sybilla, gab erst Julien, dann ihrem Sohn einen Kuss auf die Schläfe und sah dann erwartungsvoll zu Beigan und Tariq. Ersterer verdrehte entnervt die Augen.
„Oh, das ist nicht dein ernst, Weib!“, entrüstete er sich und riss die Arme in die Höhe. „Nur weil wir nichts essen, müssen wir doch nicht immer die verdammte Hausarbeit für die Köter machen!“
Sybillas Blick sprach Bände.
„Du willst nicht wirklich eine Antwort hören, oder?“, hakte sie nach. Tariq lachte kurz auf, schlug Beigan unsanft auf die Schulter und folgte Phelan, der schon die Treppe nach oben stieg.
„Hör auf zu heulen, Nordmann, und beweg deinen knochigen Arsch her“, befahl sie gut gelaunt. Beigan fauchte Sybilla an und stapfte wütend aus dem Zimmer. Julien grinste.
„Mit deinem Geschnurre kannst du mich nicht wirklich beeindrucken, Blondie“, entgegnete Sybilla ungerührt. Beigan schenkte ihr einen undeutlichen Fluch, während er lautstark die Treppe hochtrampelte. Borgúlfr schüttelte in gespielter Fassungslosigkeit den Kopf.
„Wer von euch will Kaffee?“, bot er den anderen an. Julien, der eifrig die Bestellung an den Pizzaservice weitergab, hob bestätigend die Hand.
Es war seltsam. Sie waren seit über dreihundert Jahren getrennt und doch stellte sich augenblicklich wieder eine Harmonie ein, ein Gefühl der Vertrautheit, als wären sie nie getrennt gewesen. Julien grinste glücklich in seinen Telefonhörer.
Ian ging neben Conor in die Hocke und nahm sanft den Wolfskopf in die Hände.
Wie geht es euch?, fragte er Conor in Gedanken.
Besser, antwortete der Wolf ehrlich. Ian legte den Kopf schief und starrte intensiv in die bernsteinfarbenen Augen.
Wie schlimm war er?
Conor stieß ein lautloses hartes Lachen aus.
Gut, dass du ihn nicht gesehen hast, Ian, gestand Conor. Er war so … dunkel und hart. Und ich hatte Sorge, dass er sich was antut. Wirklich, Ian, es hat nicht viel gefehlt und Phelan hätte eine Dummheit begangen. Er hatte seit Ewigkeiten nicht mehr gelacht oder gelächelt oder Freude an irgendetwas gehabt. Er verkniff sich im letzten Moment ein Fiepen.
Und dann kam Julien, mutmaßte Ian und kraulte seinen Vetter liebevoll hinter den Ohren.
Es hat nicht einmal einen Tag gedauert und er hat Phelans Abwehr eingerissen wie ein Kartenhaus. Es ist so schön, ihn wieder lachen zu sehen. Er macht Scherze, er genießt wieder, er fühlt wieder, er lebt endlich wieder. Conor seufzte glücklich. Ian lächelte.
Das ist gut, oder? Haben sie euch gesagt, wie lange Julien hierbleiben wird?, wollte er wissen.
Das weiß keinen außer den beiden Alten. Ich hoffe, es dauert ewig. Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem Julien uns wieder verlassen muss. Ich weiß nicht, was dann mit Phelan passiert.
Denk nicht darüber nach, Con. Noch ist es noch nicht so weit. Noch ist er hier. Großvater hat zwar nichts Genaues verlauten lassen, aber ich denke mal, er wird noch eine ganze Weile hierbleiben. Er hat es dieses Mal richtig verbockt. -Zum Glück. Ian zwinkerte seinem Cousin zu, dann küsste er ihn auf die nasse Nase.
„Ich schlafe bei dir, falls es dich nicht stört“, entschied er und ließ von Conor ab. Der bellte zustimmend.
„In ungefähr einer Stunde ist das Essen da“, verkündete Julien und wählte gleich eine neue Nummer. Pizza und Pasta und Nachtisch für die feste Nahrung zu sich nehmenden war bestellt, jetzt musste er Diner für sich, Tariq und Beigan ordern. Er rief seinen Blutdealer an, feilschte mit ihm hartnäckig um den Preis und rang dem das Versprechen ab, in einer Stunde einen gesunden, gutgebauten Mann und eine Frau zu liefern. Heute hatte er Lust auf Frisches.
Als er sich wieder den anderen zuwandte, sah er noch, wie Ian und Conor die Küche verließen. Er sah zu Darragh und Borgúlfr, die als einzige noch bei ihm Zimmer waren.
„Wo sind Teller und Besteck und wo essen wir?“, fragte Darragh. Julien grinste ihn an.
„Teller sind im linken Hängeschrank und Besteck in der Schublade vor dir. Essen tun wir im Salon“, antwortete er glücklich.
Darragh nickte knapp, öffnete die Schublade und zählte Besteck ab, während Borgúlfr Teller holte. Julien schwang sich von seinem Hocker und ging vor.
Anderthalb Stunden später saßen sie alle zusammen an dem großen Tisch im Salon, aßen, tranken und erzählten sich Geschichten von früher. Sie mieden den Grund ihres Hierseins genau so wie den Verbannungsgrund ihres Heerführers.
Julien hörte ein Klappern, dann ein Rumpeln und schließlich ein aufgeregtes Krähen. Schuldbewusst sah er zu Phelan, der am Kopfende des Tisches saß und sich angeregt mit Darragh unterhielt. Phelan hob fast augenblicklich den Kopf und wandte sich zu Julien.
„Yuri“, sagte Julien. Phelan stieß ein „Oh, verdammt.“ aus, erhob sich und hastete in die Küche. Die Gespräche verstummten. Julien hörte Phelans Stimme, dann ein lautes Krächzen, Phelans Stimme, die leicht gereizt klang und dann schoss ein schwarzer Pfeil in den Salon und landete elegant auf dem Tisch.
Verneigt euch, ihr Kröten! Euer geliebter Yuri ist wieder hier. Was zum Teufel habt ihr hier zu suchen? Habt ihr Sehnsucht nach den Kerkern der alten Trutzburg?, krächzte er und hüpfte zu jedem einzelnen und ließ sich Kraulen.
„Du warst als Mann schon hässlich, aber als Vogel kann man dich kaum ansehen, ohne dass einem schlecht wird“, behauptete Beigan lachend, als er den Raben am Hals kraulte.
Habe ich schon erwähnt, dass ich Killermilben im Gefieder habe, die dir deinen hässlichen kleinen runzligen Schwanz abfallen lassen?, gab Yuri gut gelaunt zurück. Beigan warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend.
„Scheiße noch mal, das hat mir gefehlt“, gluckste er vergnügt, nahm den Vogel in beide Hände und küsste ihn auf den Kopf.
Phelan, der mittlerweile wieder in den Raum gekommen war, stand hinter seinem Stuhl und betrachtete seine Kameraden am Tisch.
Ian O’Braeden, Darragh von den Klippen, Tariq bin Asim bin Kadin Al-Assuan, die beiden Einarsson-Brüder Borgúlfr und Beigan, Sybilla Aresy, Yuri, sein Bruder Conor und natürlich Julien. Vor ihm saßen diejenigen, denen Phelan ohne zu zögern sein Leben anvertrauen würde. Seine Obersten. Mit ihnen hatte er jede Schlacht, die er geschlagen hatte, vorher geplant, jede Entscheidung diskutiert und abgewogen. Und jetzt saßen sie nach all den langen Jahren wieder an seinem Tisch.
Er lächelte versonnen und ließ seinen Blick schweifen. Streifte dabei einen neuen Verbündeten und einen alten, der ihm bewiesen hatte, dass er nicht mehr der kleine Welpe von einst war, sondern ein erwachsener Mann, der den Namen seines Vaters und seiner Mutter mit Stolz tragen konnte.
Heute würden sie ihr Wiedersehen feiern und morgen würden sie sich in Schlachtpläne stürzen. Mit einem leisen Lachen nahm er Platz und griff sich ein Stück Pizza. Morgen war noch fern. Heute war jetzt und das würde er mit jeder Faser seines Körpers genießen.
Er kam zu einem Bissen, als er zur Verwunderung aller sein Pizzastück wieder zurück auf den Teller legte und sich mit ernster Miene erhob.
„Entschuldigt mich“, bat er, bevor er den Salon verließ. Alle Blicke wandten sich zu Julien, der genau so überrascht war und nur mit den Schultern zuckte. Warum glaubten sie immer, dass er Phelans Gedanken lesen könnte?
„Ich habe keine Ahnung was er hat. Ich kann nicht in seinen Kopf sehen“, rechtfertigte er sich leicht gereizt. Darragh grinste spöttisch.
Sie lauschten.
Phelan verließ das Haus durch die Tür in der Küche.
Nur wenig später öffnete sich diese Tür wieder und Phelan trat zurück ins Haus. Neben seinen Schritten waren welche zu hören, die von nackten Fußsohlen stammten. Julien zog die Stirn kraus. Erwarteten sie noch jemanden?
Sie hörten ein undeutliches Murmeln, dann kamen die Schritte näher.
„… wirklich, danke für die Hose. Ich konnte ja kaum mit Klamotten aus dem Haus gehen, wenn ich behaupte, rennen zu gehen. Burging ist in letzter Zeit ziemlich ... nun ja … misstrauisch ist schon fast untertrieben …“ Shane Ducote verstummte schlagartig, als er hinter Phelan in den Salon trat und neun Augenpaare auf sich gerichtet sah. Regelrecht verschreckt starrte er auf Phelans Gäste.
„Ich … störe …?“, mutmaßte er unsicher. Plötzlich fühlte er sich klein, schwach und in Phelans zu großer Jogginghose zu allem Übel auch noch völlig underdressed. Verlegen biss er sich auf die Unterlippe.
„Tut mir leid, ich wusste nicht, dass du … Besuch hast … ich … äh ... ich … oh, man … Aus der Alten Welt?“, fragte er hilflos. Phelan nickte.
„Shane. Darf ich dir vorstellen? - Darragh von den Klippen.“
Phelan legte Shane die Hand auf die Schulter und führte ihn zu einem hochgewachsenen Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und säuberlich gekämmten, kinnlangen dunkelblonden Haaren. Darragh erhob sich von seinem Stuhl und nickte knapp. Der Blick aus dessen grau-blauen Augen schien in jeden noch so kleinen Winkel von Shanes Sein zu kriechen. Dieser Wolf war mächtig. Etwas anderes fiel ihm nicht ein.
„Darragh“, stellte der Wolf sich ihm vor und streckte Shane die Hand hin. Dieser ergriff sie und fand sich in einem festen Griff wieder. Sehr mächtig, korrigierte Shane sich in Gedanken.
„Shane“, wisperte er unsicher. Darragh nickte wieder dieses knappe Nicken und setzte sich zurück auf seinen Stuhl. Phelan führte ihn zum Nächsten. Es war beinahe ein Riese, mit Haut, schwarz wie die Nacht. Sein Haar hatte er in kurzen Zöpfen an den Kopf geflochten. Seine Statur war schlank und seine Bewegung, als er aufstand war von raubtierhafter Geschmeidigkeit.
„Tariq bin Asim bin Kadin Al-Assuan“, sagte Phelan hinter ihm. Der Vampir verneigte sich leicht vor Shane.
„Nenn mich Tariq.“ Der tiefe Bass seiner Stimme brachte Shanes Blut zum Vibrieren und er nickte hastig. Phelan führte ihn weiter zu einem wahren Kraftpaket. Ein Hüne, der nur aus Muskeln zu bestehen schien, schob seinen Stuhl nach hinten. Sein flachsblondes langes Haar war wie sein Ziegenbart zu einem Zopf geflochten. Er grinste Shane warm an und dessen Angst und Unsicherheit verschwand schlagartig.
„Borgúlfr Einarsson. Ein Bär.“
Im ersten Moment begriff Shane nicht, dann verstand er. Borgúlfr Einarsson war ein Werbär. Er schenkte dem Mann vor sich ein zaghaftes Lächeln.
„Shane“, sagte er, dann quetschte eine raue Pranke seine Hand.
„Borgúlfr. Schön, dich kennenzulernen“, erwiderte Borgúlfr mit warmer Stimme.
„Schleimscheißer.“
Shane Ducote zuckte schuldbewusst zusammen. Hatte er etwas falsch gemacht? Der Bär drehte sich beinahe träge um und bedachte den Mann hinter sich mit einem sanft-tadelnden Blick.
„Beigan, bitte. Wir haben Besuch“, mahnte er geduldig. Der als Beigan angesprochene Mann verdrehte seine eisblauen Augen und schnitt eine genervte Grimasse. Er war schlank, beinahe zierlich und sein weißblondes Haar fiel ihm bis fast an die Hüften. Er stieß sich von seiner Sitzfläche ab, gab dem Bären einen groben Knuff in die Rippen und drängte sich an Borgúlfr vorbei zu Shane. Es war ein Vampir. Und er war schön. Und gefährlich.
„Jetzt kennst du Beigan Einarsson“, bemerkte Phelan hinter ihm. Shane wusste nicht, ob das jetzt gut oder schlecht war. Er wusste nur, dass er sich diesen Vampir niemals zum Feind machen wollte. Er strahlte etwas leicht Wahnsinniges aus.
„Hi“, sagte Beigan Einarsson leicht mürrisch.
„Mach dir nichts draus, mein Bruder ist ein Arschloch.“ Borgúlfrs Pranke landete auf Shanes freier Schulter und tätschelte sie überraschend vorsichtig.
„Bruder?“, fiepte Shane verwirrt. Der Bär grinste.
„Seine Mutter hat meinen Vater geheiratet. Da waren wir beide schon geboren“, erklärte er freundlich. Shane begann, den Bären zu mögen. Was an Beigan kalt und abweisend wirkte, war bei ihm warm und freundlich. Phelan schob ihn hartnäckig weiter und stellte ihn vor eine der schönsten Frauen, die Shane je gesehen hatte. Er zwinkerte drei Mal, um sich zu fangen.
„Sybilla Aresy. Desmonds Mutter“, hörte er Phelan dumpf sagen und nickte mechanisch.
„Hallo, Fremder.“ Ihre Stimme ließ Shane Schauer über den Rücken jagen, die direkt in seiner Körpermitte landeten.
„Hallo“, krächzte er und räusperte sich energisch. So langsam begann er sich wie ein kompletter Idiot zu fühlen. Er war immer stolz auf seine Unerschütterlichkeit gewesen, aber hier, inmitten all dieser alten und mächtigen Wermenschen und Vampiren, kam er sich klein und schwach und hilflos vor. Diese Kraft, die sie alle ausstrahlten, erschlug ihn beinahe.
„Sybilla, pack deine Titten wieder ein und hör auf, den armen Welpen hier völlig verrückt zu machen. - - Dein Mann sitzt mit am Tisch.“
Bevor Shane auch nur blinzeln konnte, flog ein Messer durch die Luft und sauste auf einen breit grinsenden Kerl zu. Der lehnte sich nur leicht zur Seite, ließ das Messer an sich vorbeifliegen und lachte herzhaft.
„Und das ist Ian O‘Braeden. Mein Cousin.“ Phelan seufzte leise. Besagter Ian erhob sich, ging auf Sybilla zu und gab ihr einen dicken Schmatzer auf die Wange, was ihm eine kräftige Kopfnuss von der Frau einfing.
„Ich liebe wilde Wölfinnen“, schnurrte er völlig unbeeindruckt, bevor er sich an Shane wandte.
„Sei gegrüßt Fremder. Tritt ein und sei unser Gast.“ Ian verneigte sich tief. Mit einem herzhaften Lachen schüttelte er Shanes Hand. Und damit hatte er ihn eingenommen. Shane konnte nicht anders, er musste mitlachen. Ehe er sich versah, hatte Ian O’Braeden einen Arm um ihn geschlungen und führte ihn an den Tisch.
„Setz dich, Shane, und iss mit uns. Und dann will ich wissen, wer du bist und warum du die Hosen meines Vetters trägst.“ Er zwinkerte Shane eindeutig zweideutig zu und seine blauen Augen leuchteten schelmisch.
„Ian, benimm dich“, rügte Phelan scharf und nahm wieder auf seinem Stuhl Platz.
„Das ist Shane Ducote, der Dritte vom hiesigen Wolfsrudel“, stellte Phelan klar. Ian, der immer noch seinen Arm um Shane gelegt hatte, zuckte mit den Schultern.
„Deshalb kann ich trotzdem wissen, warum er deine Sachen trägt.“
„Weil ich zu meinem Rudelführer gesagt habe, ich gehe rennen. Und das ist nicht glaubhaft, wenn ich dann in Jeans das Haus verlasse“, klärte Shane auf. Hier, neben diesem fröhlichen Wolf mit der wilden Kurzhaarfrisur und einer Haarfarbe, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie rot oder blond sein wollte, fühlte er sich wohl.
„Recht hat er“, bemerkte Darragh zustimmend.
„Ian, hör auf ihn zu bedrängen und lass ihn essen. - Bedien dich, Shane, es ist genug für alle da.“ Phelan macht eine ausladende Geste die den gesamten mit Essen beladenen Tisch einschloss. Etwas schüchtern griff Shane zu einem Stück Pizza und knabberte darauf herum.
„Ich will euch nicht die Stimmung versauen …“, begann er abwehrend.
„Zu spät“, spottete Beigan. Im nächsten Moment schrie der Vampir schmerzgepeinigt auf.
„Du dämlicher Scheißbär! Das hat wehgetan!“, kreischte er wütend und rieb sich hektisch eine Stelle am Oberarm. Wenn Blicke töten könnten, wäre Borgúlfr augenblicklich vom Stuhl gefallen.
„Reiß dich zusammen. Sonst reiß ich dir den Arm aus“, drohte der Bär unbeeindruckt. Beigan fluchte die gotteslästerlichsten Flüche, die Shane jemals in seinem Leben gehört hatte und von denen verstand er nur die Hälfte, das meiste zeterte der Vampir in einer Sprache, die Shane nicht verstand.
„Das-war-ein-Scherz, du dämlicher Schiss einer noch dämlicheren Scheiß-Ziege“, fauchte Beigan beleidigt und rutschte mit seinem Stuhl von seinem Bruder weg.
„Blöder Hund“, knurrte er noch, dann grapschte er sich sein Trinkglas und stürzte den Inhalt hinunter.
Phelan schloss die Augen und atmete tief ein.
„Beigan. - Schluss. Borgúlfr; an meinem Tisch werden keine Arme ausgerissen. Höchstens ein paar Haare“, befahl er streng. Beigans Blick schoss zu seinem Bruder.
„Wenn du es auch nur wagst, meine Haare anzufassen …“, drohte er grimmig. Borgúlfr gab ein Schmatzen von sich, hob die Hand - und tätschelte Beigans Kopf wie den eines Hundes. Julien nahm schnell einen großen Schluck Wein, bevor er so etwas Unüberlegtes tat, wie Lachen. Beigan hockte neben seinem Bruder und nickte resigniert.
„Ja. Danke. Hör auf. Hör auf! Nimm deine Pfote von meinem Kopf! Sofort!“, zischte er, aber er klang nicht wirklich wütend dabei. Sybilla warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend los. Desmond kicherte in seine Nudeln und selbst bei Darragh zuckten die Mundwinkel.
„Ihr seid doch alle scheiße“, stellte Beigan frustriert fest, dann grinste er. Shane war fasziniert. Binnen Sekunden hatte die Stimmung gewechselt und war warm und familiär. Er versuchte, sich diese Situation in seinem Rudel vorzustellen, wenn Burging mit am Tisch saß und stellte fest, dass es nicht ging. Es wäre anders verlaufen. Es wären Strafen gefallen, kein Lachen. Fasziniert beobachtete er, wie Beigan seinen Bärenbruder in den Arm nahm, an sich drückte und ihm eine liebevolles „Scheißbär.“ zuflüsterte. Borgúlfrs Antwort war ein sanfter Stups auf die zierliche Nase des Vampirs.
Shane wurde mit einem Mal klar, dass so Rudel sein mussten. Liebevoll. Herzlich. Innig. Er wurde neidisch und wünschte sich unwillkürlich, ein Teil dieser Gruppe zu sein. - Für ungefähr fünf Sekunden, denn dann riss ihn Ians Frage wieder in die harte Realität:
„Jetzt, da er uns gesehen hat und da er weiß, dass ich dein Cousin bin und du Held mich auch noch mit vollem Namen vorgestellt hast und er demzufolge herausfinden kann, wer du bist, soll ich seinen Kadaver in den Sumpf werfen oder hinter dem Haus vergraben?“ Ians Tonfall war so nett und freundlich und der Blick, den er Phelan zu warf so treu und ergeben … Shane spürte, wie ihm der Angstschweiß ausbrach. Er öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, er würde jeden Schwur auf der Welt schwören, der nötig war, nur um nicht als Leiche versenkt oder vergraben zu werden.
Darragh hob gebieterisch die Hand und fixierte Shane mit eisernem Blick.
„Still, Welpe“, gebot er und Shane schloss tatsächlich seinen Mund wieder.
„Sieh mich an.“
Shane leistete dem Befehl augenblicklich Folge und starrte mit weit aufgerissenen Augen Darragh an. Dessen Miene wurde hart.
„Dieser Mann dort, der am Kopf des Tisches sitzt, ist Fáelán vom Braeden, Sohn des Conlaoch vom Braeden, Sohn der Morrigan von Schottland. Er hat Gegner besiegt, die als unbesiegbar galten. Er ist gegen Gefahren angetreten, die vor ihm keiner überlebt hat. Er ist ein Kriegsheld. Er ist der Beste aller Krieger. Seine Feinde haben vor ihm gezittert“, begann er aufzuzählen.
Und trotzdem wurde er verbannt, schoss es Shane durch den Kopf, hütete sich aber, diesen Gedanken auszusprechen. Er nickte hastig.
„Und er ist ein dummer Ziegenschiss“, endete Darragh lapidar und biss von seiner Pizza. Shane holte verwirrt Luft.
„Er ist jung, dumm, impulsiv, störrisch wie ein Esel …“Darragh tätschelte liebevoll Phelans Nacken. Der lächelte unbehaglich.
„Dar, du verwirrst ihn“, bemerkte er verlegen.
„Darragh verwirrt jeden, wenn er redet“, wandte der nubische Vampir ein. Shanes Augen huschten von einem zum anderen und schließlich ging ihm ein Licht auf. Scherze. Sie trieben hier Scherze mit ihm. Er wagte es, schief zu grinsen.
„Ach, schau her. Er kann ja doch mehr, als nur wie ein verschrecktes Kaninchen glotzen“, rief Beigan theatralisch aus und ging augenblicklich vor Borgúlfrs Hand in Deckung. Wo sein Bruder ihn verfehlte, traf ihn Sybilla. Sie gab ihm einen unsanften Klaps gegen den Hinterkopf.
„Hör jetzt sofort auf, den Welpen zu ärgern, Beigan Einarsson, sonst gehen wir beide Mal vor die Tür!“, drohte sie ihm wütend. Der schnitt ihr nur eine Grimasse.
„Süße, du magst den meisten Männern feuchte Träume verursachen, aber, Schätzchen, ich steh nicht auf Mösen. Nicht mal auf deine“, feixte er. Sie knurrte ihn warnend an. Beigan verdrehte die Augen.
„Herr Gott ja, meinetwegen!“, gab er klein bei. „Aber ich werd mich nicht entschuldigen!“, fügte er trotzig hinzu.
„Wird Burging nicht misstrauisch, wenn du alleine rennen gehst?“, wechselte Julien das Thema. Shane schüttelte verneinend den Kopf.
„Nein. Ich geh oft allein rennen. Wenn ich den Kopf freikriegen muss, kann ich keinen von den anderen dabei gebrauchen“, erwiderte er. Ian sah ihn erstaunt an.
„Was sind denn das für Töne? Und er lässt dich gehen? Einfach so?“, hakte er nach. Shane nickte.
„Ja“, antwortete er leicht verwirrt.
„Ein Traum“, warf Phelan sehnsüchtig ein. „Sag, Shane, wie ist es, wenn man in Ruhe allein rennen kann, ohne dass einen gleich das halbe Rudel verfolgt, aus Angst, man könnte von einem Kaninchen gefressen werden?“, ätzte er eindeutig in Darraghs Richtung. Darraghs Blick war tadelnd. Shane legte den Kopf schief, sah von Phelan zu Darragh und dann zu Ian.
„Ich bin nur der Dritte im Rudel. Du warst ihr Rudelführer. Den Rudelführer lässt man nicht allein rennen.“, fiel er Phelan in den Rücken. Der knurrte frustriert.
„Der Welpe hat mehr Verstand als du“, stellte Darragh fest, lächelte Shane wohlwollend an und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Essen.
„Jeder Ziegenfurz hat mehr Verstand als Phelan“, wandte Beigan ein. Shane fragte sich kurz, ob dieses Rudel eine Ziegenmanie hatte. Neben ihm kicherte Ian.
„Jeder Ziegenfurz ist männlicher als Beigan“, konterte Phelan gelassen. Ian prustete laut los. Beigan schnappte entrüstet nach Luft.
„Wollen wir uns ein Zimmer nehmen und ich zeig dir, wie männlich ich bin, Pups?!“, reizte er. Phelan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und grinste den feingliedrigen Vampir breit an.
„Vorsicht, Beigan, nicht dass ich dir zeige, wie männlich ich bin.“
Schallendes Gelächter hallte durch den Raum, sogar Beigan lachte laut mit und deutete anerkennend auf Phelan.
„So gefällst du mir besser, Knirps. Viel besser. Es ist gut, dass unser Schönling bei dir ist“, bestimmte er grinsend. Julien nuschelte verlegen irgendwelche Laute in sein Glas und Phelan zuckte mit den Schultern. Beide blieben eine Antwort schuldig.
„Bevor wir uns hier in unseren Albernheiten verlieren; was treibt dich eigentlich hier her, Shane Ducote? Bestimmt kein Stelldichein mit unserem geliebten Heerführer“, wandte sich Ian an Shane. Der schluckte hastig seinen Bissen hinunter und legte die Pizza auf seinen Teller.
„Entschuldigung, das habe ich völlig vergessen.“ Er wischte sich die Hände an seiner Hose ab.
„Wir haben die Namen von den letzten Toten herausgefunden. Und dank der Adressen, die du mir hast zukommen lassen, habe ich herausgefunden, wo diese … diese … die arbeiten.“
Shane lächelte kurz.
„Aber ich kann auch alles einfach nur aufschreiben und wieder verschwinden. Ich denke, du willst dich heute Abend nicht mit so was herumschlagen.“ Er machte Anstalten, sich zu erheben, doch ein Einwand von Beigan ließ ihn in der Bewegung erstarren.
„Du vertraust ihm?“, fragte er Phelan. In seiner Stimme schwang keinerlei Spott mit. Er klang völlig ernst. Shane sah erwartungsvoll zu dem Angesprochenen.
„Ian vertraut ihm“, erwiderte der nur. Beigan hob die Augenbrauen. Shane musste trotz allen Umständen und der Tatsache, dass er nicht auf Männer stand, eingestehen, dass diese Mimik unheimlich sexy aussah.
„Er vertraut mir?“, wiederholte Shane überrascht und wandte seinen Blick zu Ian, der nur breit grinste.
„Sonst hätte er dir keinen Platz angeboten. -Vor allem nicht neben sich“, klärte Phelan ihn auf. Shane setzte sich wieder hin.
„Aha“, sagte er nur. Ian klopfte ihm auf die Schulter.
„Der Welpe hat was, was ihn vertrauensselig macht“, meinte er schulterzuckend. Shane fühlte sich unendlich erleichtert.
„Ab wann vermisst dich dein Rudelführer?“, wollte Darragh wissen. Shane sah kurz auf die große Standuhr.
„Nicht vor vier Stunden“, antwortete er. Darragh schüttelte verständnislos den Kopf. Mochte wer-auch-immer wissen, was im Kopf dieses Rudelführers vorging, dass er seinen Dritten im Rudel stundenlang allein durch die Gegend rennen ließ ohne ihn zu vermissen.
„Dann bleib sitzen, iss etwas, trink mit uns und genieß die Zeit“, schlug Phelan vor. Shane ließ den Blick schweifen, doch alle sahen ihn zustimmend an. Er zuckte mit den Schultern.
„Okay. - Danke.“
„Und wenn du es morgen noch einmal schaffst, dich aus deinem Rudel zu schleichen, wären wir dir sehr dankbar, wenn du kommen würdest und uns mitteilen, was du herausgefunden hast, Shane.“Darragh hob sein Glas und prostete ihm zu. Shane nickte und schwor sich, alle Hebel in Bewegung zu setzen um am nächsten Tag wieder herkommen zu können.
Sie saßen schon seit mehreren Stunden zusammen und brüteten über den gesammelten Informationen, als Phelan den Kopf hob.
„Shane kommt“, sagte er, dann verließ er das Zimmer. Julien glotzte ihm ungläubig nach.
„Hat der ein eingebautes Shane-Radar?“, fragte er verwundert. Vom Flur hörte er Phelan lachen.
„Nein, Iuls. Eine kleine wispernde Stimme macht Kratz-kratz in meinem Kopf. Zu mehr ist Shane nicht fähig. Burging lässt die geistigen Fähigkeiten seiner Leute schwer schleifen“, erwiderte er belustigt. Julien verfluchte die guten Wolfsohren, die viel zu viel hörten.
„Naja, genau genommen ist ein kein Kratz-kratz, sondern eher ein leises Sumpf. Mehr als ein Wort bekommt er nicht hin“, strahlte Phelan, der noch mal den Kopf durch die Tür gesteckt hatte, und schenkte Julien ein gut gelauntes Zwinkern. Ian beugte sich zu Conor.
Ich sehe, was du meinst, teilte er seinem Cousin mit. Der Wolf grunzte zustimmend ohne von den Papieren vor sich aufzusehen.
Du glaubst gar nicht, wie schlimm es war. Ich hatte wirklich Angst, ihn kurz allein zu lassen, weil ich befürchtete, er tut sich etwas an. Der Wolf sprang von seinem Stuhl, hockte sich auf den Boden und kratzte sich ausgiebig hinter dem Ohr. Ian schnalzte mit der Zunge.
Es ist hart für ihn, hier eingesperrt zu sein. Er ist ein Wanderer. Er ist nicht dafür geboren, lange an einem Platz zu bleiben. Und ihr seid hier schon verdammt lang. Seit fünfundsechzig, richtig?, hakte er nach. Conor gab einen zustimmenden Ton von sich.
Irgendwann lässt er euch wieder ziehen, meinte Ian hoffnungsvoll.
Es ist alles in Ordnung, so lange Julien hier ist. Ich hoffe nur, er bleibt sehr, sehr lange. Conor hatte sich fertig gekratzt und sprang wieder auf seinen Stuhl.
Du solltest ihn hören, wenn er mit seinem Vater spricht. Er klingt, als ob er gleich eingeht. Es ist ja so schlimm hier, Phelan ist ja so streng mit ihm. Jammer, jammer, jammer. Und dann legt er auf, strahlt einen an und ist zufrieden, weil Dashiell ihn getadelt hat. Er lachte in Gedanken und Ian grinste breit. Oh, ja, Ian wusste sehr wohl, wie gut Julien Delano jammern konnte, wenn es sein musste. Vor allem, wenn er etwas von seinen Eltern bekommen wollte.
„Was hast du eigentlich angestellt, Julien?“, wollte er wissen. Julien schnaubte.
„Hab Blutparties geschmissen“, nuschelte er. Darraghs Augenbrauen schossen wie Pfeile nach oben.
„Genauer“, verlangte er. Julien hob den Kopf und sah Darragh an.
„Ich habe Blutparties geschmissen. So richtig schön mit Blutregen, Blut im Swimmingpool … Und ich wurde dabei erwischt“, gestand er.
„Oh. So wie in dem einen Vampirfilm mit dem Tag-Geborenen?“, wollte Beigan wissen, schwang sich elegant auf die Arbeitsfläche und nippte an einem Becher dampfenden Met.
„Von dem Film hab ich die Idee ja her. Ich dachte nur, ich mach’s ein wenig … opulenter.“ Julien wedelte mit der Hand in der Luft herum. Beigan lachte leise auf. Er hatte eine leise Ahnung, was Julien mit opulenter meinte. Partys schmissen die anderen, bei Julien waren es eher Orgien.
„Und weshalb hast du so einen Blödsinn gemacht?“, verlangte Darragh zu wissen. Julien lachte hart auf.
„Weil mir verdammt langweilig war! Weil ich in den letzten Jahren nur schmuckhaftes Beiwerk meiner Eltern war. Weil ich nur schön und nett und adrett sein durfte und sonst nichts. Weil mein Vater mich in den Delano-Clan gesperrt hat und die mich in vergoldete Watte gepackt haben, aber um Gotts Willen, bloß nicht mit dem abgeben, der sympathisiert mit Wölfen und Bären und Löwen … Und der hat in diesem seltsamen Heer gedient und das freiwillig!“ Juliens Stimme nahm denselben affektierten Tonfall an, in dem die Clanmitglieder über ihn gesprochen hatten - hinter hervorgehaltener Hand selbstverständlich. Dass Julien nicht nur freiwillig in diesem seltsamen Heer gedient hatte, sondern dort auch gelernt hatte, sich irgendwo unbemerkt anzuschleichen, wussten diese blasierten Herrschaften allerdings nicht. Er hatte jedes Wort über ihn gehört. Jedes. Und er hatte sie sich alle gemerkt.
„Ich habe es dort gehaßt“, spie er aus.
„Es ist deine Familie“, wandte Tariq sanft ein. Juliens Kopf schnellte zu ihm und seine Augen blitzten wütend.
„Es ist aber nicht mein Rudel!“, fauchte er aufgebracht. Darragh schmunzelte leicht.
„Soso“, meinte er. „Es ist nicht dein Rudel. Wer dann?“
„Die Wölfe sind mein Rudel!“, brauste Julien auf. „Und das weißt du ganz genau.“ Er schob trotzig den Unterkiefer vor. Darragh legte seinen Arm um Juliens Schultern und drückte ihn an sich.
„Ja, das weiß ich ganz genau. Ich wollte es einfach nur noch mal hören“, gestand er bevor er Julien auf die Schläfe küsste. Julien seufzte leise. Das hatte es im Clan auch nicht gegeben. Die ständigen Berührungen. Nichts wirklich großes, nur ein Schulterstreifen hier, ein Finger durch die Haare gleiten lassen dort. Nähe, Geborgenheit. Vor seiner Zeit bei den Wölfen hatte Julien so etwas nicht gekannt, es war unglaublich befremdlich für ihn gewesen, so oft von irgendjemandem berührt zu werden und dann, als er von seinem Vater in den Clan verfrachtet worden war, hatte Julien sich noch fremder gefühlt als in seiner ersten Zeit im Heer. Es war unecht gewesen, falsch. Und er hatte die kühle Distanz, die Vampire an den Tag legten, hassen gelernt. Er schmiegte sich an Darragh und schloss die Augen.
„Willkommen daheim, Julien“, flüsterte der große Wolf. Julien nickte. Ja. Das waren die Wölfe. Sein Zuhause.
„Hi, Leute.“
Shanes Gruß riss ihn aus seiner Träumerei. Für Sentimentalitäten war keine Zeit. Sein Verstand wurde hier gebraucht. Er wand sich aus Darraghs Umarmung. Es war an der Zeit; Taten sprechen zu lassen.
„Wir sind vollzählig?“, hakte er nach. „Dann lasst uns anfangen. Wir haben einen Krieg zu gewinnen.“
Yuri hatte erfolgreiche Spionagearbeit geleistet. Er war jeden Tag in der Stadt gewesen und hatte die Halblinge, wie er sie irgendwann getauft hatte, ausgekundschaftet. Er war ihnen nach Hause gefolgt, hatte ihre Wohnungen durchsucht, ihre simplen Gewohnheiten herausgefunden und Shane hatte heimlich hinter dem Rücken seines Rudelführers Fäden gezogen und die gesellschaftlichen wie beruflichen Hintergründe in Erfahrung gebracht.
Sie wussten immer noch nicht genau, gegen was sie kämpfen würden, woher kamen sie, wer waren sie? Von keinen von ihnen konnte Shane etwas über die Eltern erfahren. Welch glücklicher Zufall es doch war, dass sie alle aus irgendwelchen gut situierten Waisenhäusern kamen. So sehr es Yuri auch fuchste, dass er nicht in Erfahrung bringen konnte, woher sie kamen und was sie waren, so praktisch war es im Gegenzug, denn so würde keine besorgte Mutter das Verschwinden ihres Sohnes beklagen. Yuri hockte auf einer Stuhllehne und putzte sich nachdenklich.
Früher war es weitaus einfacher gewesen.
Man kam, zog in die Schlacht, tötete, gewann und dann gab es eben mal eine ganze Ortschaft nicht mehr. Man schob es auf die Pest oder andere zu der Zeit grassierenden Seuchen und kein Hahn krähte mehr danach. Heutzutage musste man Geschichten erfinden, die glaubhaft waren, damit kein Menschling auf die Idee kam, nachzuforschen. Yuri empfand diese Entwicklung der Dinge als äußerst lästig.
Und so verfassten sie Kündigungen, planten vorab Wohnungsauflösungen und Shane glänzte mit Kontakten, die solche Dinge diskret und vertrauenswürdig abwickeln würden.
Es schien kein Ende zu nehmen.
Phelan flüchtete sich nach drei Tagen voll Geschichtenerfindung und Kampflehrstunden auf die Veranda hinter dem großen Ballsaal und starrte rauchend in den dunklen Sumpf. Sein Schädel dröhnte und seine Augen brannten vom endlosen Starren auf den Computerbildschirm. Er war kein Freund von solchen Dingen, er war mehr ein Mann der Tat. Schlachten schlagen, handeln, und fast immer siegen, das war seine Welt. Planen, analysieren, Informationen sammeln, das war Juliens Metier, dafür fehlte ihm schlichtweg die Geduld und Muse. Und Krieger lehren war etwas für Darragh und Tariq. Er hasste es, unendliche Reden zu schwingen, immer und immer wieder dieselben Worte, dieselben Sätze, dasselbe Thema. Er lehnte seine Stirn an einen Pfeiler und seufzte wehleidig.
„Kneifst du schon wieder, kleiner Wolf?“
Phelan drehte sich zum Besitzer der Stimme und erblickte Beigan, der mit zwei Gläsern Met an der geöffneten Flügeltür stand.
„Ich kneife nicht, ich habe Kopfschmerzen“, knurrte Phelan und schnippte Asche ins Gras. Beigan lachte auf und trat ungefragt näher.
„Natürlich“, feixte er, drückte Phelan eines der beiden Gläser in die Hand und schwang sich anmutig auf das Verandageländer.
„Ziemlich düster hier“, bemerkte der Vampir und nippte von seinem Met.
„Es ist Nacht“, erwiderte Phelan schmunzelnd. Beigan verdrehte die Augen.
„Idiot“, fauchte er. „Du weißt, was ich meine.“
Phelan lachte auf und lehnte sich neben Beigan an das Geländer.
„Man gewöhnt sich daran. Irgendwann.“
Beigan nickte nachdenklich.
„Wenn du es wünscht, bleiben wir“, bemerkte er beiläufig. Phelan lachte auf.
„Das geht nicht. Das weißt du.“
„Man hat über vieles gesagt, dass es nicht geht. -Wir haben das Meiste davon widerlegt.“ Beigans Blick war triumphierend, als er von seinem Glas nippte. Phelan schürzte die Lippen.
„Stimmt. Und was treibt dich hier ins Düstere? Wohl kaum deine unstillbare Nächstenliebe“, scherzte er. Beigan lachte auf.
„Darragh vollzieht da drin gerade sein Kreuzverhör. Erst hat er sich Conor und Yuri gekrallt. Wieso habt ihr getan, was ihr getan habt?“, ahmte der Vampir schrecklich falsch Darraghs Stimme nach.
„Dann kam Julien an die Reihe: Und du? Fällt dir nichts Besseres mit deiner Zeit ein, Julien Delano? Jetzt hat er gerade den armen Welpen am Wickel. Shane Ducote. Ich hoffe, du bist dir im Klaren, dass wenn du hier mit uns weitermachst und dein Rudelführer es erfährt, du am besten deinen Sachen packst und so schnell wie möglich verschwindest.“ Beigan verstummte kurz, um zu kichern.
„Und was macht der Welpe!? Obwohl er sich fast ins Hemd pisst, sieht er Darragh fest in die Augen und sagt: Ich sitze schon die ganze Zeit auf gepackten Koffern.“ Beigan schlug sich lachend auf den schlanken Schenkel, als wäre es der beste Witz, den er je gehört hatte. Phelan grinste. Wer glaubte, dass Shane Ducote ein Duckmäuser war, täuschte sich gewaltig. In dem jungen Wolf steckte viel Potential. Er sagte es Beigan.
„Ich find ihn lustig“, meinte der nur gutgelaunt und leerte sein Glas in einem Zug. Dann sah er Phelan ernst an.
„Wir bleiben wirklich“, wiederholte er. Seine hellen Augen wirkten dunkel und Phelan glaubte, Trauer darin zu sehen.
„Wir werden sehen“, wich er aus und drückte sanft Beigans Oberschenkel. Der Vampir grinste mit einem Schlag anzüglich und schnurrte genüsslich. Phelan verdrehte die Augen, ließ seine Hand allerdings dort, wo sie war.
„Ich bin neugierig, kleiner Wolf; wie läuft es mit Julien?“, wechselte Beigan das Thema. Phelan zuckte mit den Schultern.
„Gut. Was erwartest du? Du kennst ihn. Er ist nicht so, wie er sich anderen zeigt.“
Beigan stöhnte auf.
„Das meinte ich nicht, Phelan“, zischte er. Der Wolf hob den Kopf und blickte ihm direkt in die Augen.
„Nein, Beigan. Ich denke, es ist vorbei. Es … es gibt … das gibt es nicht mehr zwischen uns.“ Phelan senkte den Blick und starrte die goldfarbene Flüssigkeit in seinem Glas an. Es gab kein uns mehr, kein wir, im Sinne eines Paares. Es gab diese beiden Wörter nur noch als Freunde. Er trank einen großen Schluck, ließ die Aromen auf seiner Zunge ausbreiten und schluckte hart.
„Wir sind nicht mehr dieselben“, fügte er noch hinzu. Beigan schnaubte ungläubig.
„Faol“, begann er und sein Tonfall war schnippisch, „du bist ein Idiot.“
Er sprang vom Geländer und schlenderte zur Terrassentür.
„Und jetzt beweg deinen Heerführerarsch wieder hier rein. Immerhin planen wir einen Krieg“, herrschte er Phelan an, bevor er im Haus verschwand. Phelan seufzte leise, dann folgte er Beigan ins Innere.
Warum konnte keiner verstehen, dass es zwischen ihm und Julien nicht mehr funkte, nicht mehr funktionierte, es nicht mehr konnte? Phelan trank sein Glas aus. Selbst wenn das Unmögliche eintreffen sollte, und Julien immer noch mehr für ihn empfinden sollte, als reine Freundschaft; dachte auch nur einer von ihnen darüber nach, wie es für ihn, Phelan, sein würde, wenn sie kommen und Julien wieder mit sich nehmen würden? Wenn er an der Tür stehen müsste und gezwungen wäre, hilflos dabei zuzusehen, wie sie ihm seinen Liebsten wegnehmen würden?
Dass er allein zurückbleiben würde?
Gefangen in dieser Stadt?
In diesem Haus?
Er seufzte verhalten. Er wollte sich das nicht ausmalen und deshalb würde es kein uns und kein wir mehr geben.
Basta.
Ende der Diskussion.
Vor allem der inneren.
Überraschungen zogen nur weitere Überraschungen mit sich, lernte Julien an diesen Tagen. Die erste Überraschung war das Auftauchen von Phelans Treuesten seiner Treuen gewesen, dann hatte ihn Shane Ducote in mehr als nur einer Hinsicht überrascht und in diesem Moment fragte er sich ernsthaft, ob ihm seine Menschenkenntnis völlig abhanden gekommen war. Das einzige, was ihn etwas tröstete, war, dass Phelan genauso schockiert war, von dem Bild, welches sich ihm in der Eingangshalle bot, wie er selbst.
Keine zehn Minuten, nachdem Phelan mit Beigan wieder zurückgekommen war, hatte Conor die Villa betreten. Durch die große Haustür. Und er war nicht allein gekommen. Neben ihm standen Allister Nemours und sein ältester Sohn Vincent. Und sie boten ihre vollste Unterstützung an. Julien bemerkte, dass er kurz davon war, ein nervöses Augenzucken zu bekommen. Es war zu viel Stress für ihn. Eindeutig. Er zwang das Augenzucken nieder, klammerte sich stattdessen an seinem Whiskyglas fest und bewunderte Phelan für seine Schauspielkunst. Der Wolf wirkte nicht im Mindesten überrascht.
„Du bietest uns deine Hilfe an?“, hakte der gerade nach. „Weshalb?“
Phelan verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an die Wand neben der er stand. Nemours lächelte offen. Er war völlig verändert. Nichts war von dem überheblichen, aufgeblasenen Vampir zu sehen, der sonst durch die nächtlichen Straßen von New Orleans schritt.
„Weil ich nicht euer Feind bin“, begann er und sogar seine Stimme klang völlig anders. Wärmer. Ehrlicher.
„Ich bin kein Feind der Wermenschen. -Shane kann es bezeugen. Er geht bei uns seit Jahren ein und aus und ist ein immer gern gesehener Freund. Meine Eltern haben mir von Geburt an beigebracht, dass wir alle nur dann sicher leben und überleben können, wenn wir zusammen halten. - Ganz wie in der alten Welt, von der sie aufgebrochen sind. Sie haben mir viel von Europa erzählt. Viel über den Rat. Und sie haben mir nahegelegt, sollte ich einmal den Clan übernehmen, ihn nach diesem Vorbild zu führen. Bis Burging das Rudel übernommen hat, haben die Wölfe und mein Clan in Frieden miteinander über diese Stadt gewacht. Jetzt muss ich so tun, als ob sie meine Feinde wären, weil dieser Emporkömmling nicht mehr Verstand in seinem Schädel besitzt als eine Bohne.“ Zorn huschte über Allister Nemours Gesicht. Er schloss kurz die Augen und holte tief Luft.
„Jetzt stellt euch vor, Burging würde erfahren, dass ich ein Freund der Wermenschen bin“, fuhr er fort. Julien runzelte die Stirn, unsicher, worauf Nemours hinauswollte.
„Burging ist ein Amerikaner wie aus dem Bilderbuch. Mit Waffen groß geworden, nie weiter blickend, wie über seinen Tellerrand. Ein starker Wolf, der hinter allem und jedem eine potenzielle Gefahr oder sogar eine Verschwörung sieht. Was glaubt ihr, was geschehen würde, wenn er erfahren würde, dass ich ein Wolfsfreund bin?“ Nemours sah Phelan fest in die Augen.
Julien hörte, wie hinter ihm Darragh schnaubte.
„Der Verrückte würde losziehen und laut „Krieg!“ und „Verrat!“ schreien“, bemerkte Darragh abfällig. Nemours wandte sein Gesicht zu ihm.
„Ja, das würde er. - Das hat er bei einer kleinen Gruppe Felidae getan, die ihn friedlicher Absicht in die Stadt kamen, um zu fragen, ob sie sich dem New Orleans-Rudel anschließen dürften. Er hat sie massakriert, ihre Leichen in den Sumpf geworfen und behauptet, sie hätten ihn verraten wollen“, erzählte er bitter.
„Ich bin keine Gruppe Katzen. Ich lasse mich nicht vertreiben. Mich gibt es schon länger hier als ihn“, stellte er klar und der Ton, der in seiner Stimme schwang, sagte Julien alles. Sollte Burging auf die Vampire losgehen, würden diese sich wehren. Mit allen Mitteln. Er legte den Kopf schief und betrachtete den Anführer der Vampire von New Orleans.
„Die Stadt würde im Chaos versinken“, stellte er fest. Nemours wandte sich Julien zu.
„Ja. Und ich würde dafür sorgen.“
„Was wäre das für eine Gaudi“, bemerkte Beigan feixend und gab seinem Bruder einen Knuff in die Rippen. Borgúlfr grunzte nur.
„Die Alten würden ausflippen, die Amis würden Terroranschläge schreien und wenn alles so richtig tief in der Scheiße stecken würde, würden die Menschlinge uns entdecken und dann …“ Beigan blies die Backen auf und zeichnete mit seinen Armen einen großen Kreis in die Luft.
„BUMM!“, endete er kichernd. Julien fragte sich, warum ihm nie aufgefallen war, wie durchgeknallt sein Freund war. Wie hatte ihm diese Art der Gespräche gefehlt.
Vincent Nemours nickte.
„Genau“, stimmte er Beigan zu und riss Julien aus seiner Glückseligkeit, seine Rudelmitglieder wieder um sich zu haben.
„Es hätte einen Vorteil;“ beteiligte sich Tariq urplötzlich an dem Gespräch. Alle Köpfe schnellten zu dem Nubier. Wenn dieser Mann das Wort ergriff, dann war es ernst.
„Sie würden Phelan, Conor und Yuri aus ihrer Verbannung lösen, um den Schaden einzudämmen und wir hätten sie wieder.“
Die anderen konnten ihn nur wie Schafe anglotzen. Der erste, der in schallendes Gelächter ausbrach, war Borgúlfr. Er schlug Tariq mit seiner kräftigen Pranke auf die Schulter und schüttelte sich vor Lachen. Langsam dämmerte dem Rest, dass der schwarze Vampir einen seiner rar gesäten Scherze gemacht hatte. Phelan brachte sie mit einem energischen Räuspern zurück in die Realität.
„Danke, Tariq. Wirklich. Alter Scherzkeks.“ Er schüttelte lächelnd den Kopf.
„Gut. Also, du willst uns helfen!? - Wie?“, wollte Phelan von Nemours wissen.
„Einige von Shanes Kontakten habe ich ihm vermittelt. Ansonsten gebe ich euch, was ich habe und was ihr davon benötigt“, bot der Vampir an und verneigte sich vor Phelan.
„Wie steht es mit Bier?“ Ian schob sich neben Julien. Vater und Sohn tauschten kurz einen verwirrten Blick aus, bevor sich Allister zu Ian drehte.
„Bitte?“, hakte er nach.
„Habt ihr Bier? Gutes, europäisches. Am besten irisches. Oder meinetwegen auch deutsches. Ich nehm sogar englisches Ale. Alles ist besser als dieses widerliche Gesöff, das sie einem hier andrehen!“
Phelan schloss die Augen und massierte sich die Nasenwurzel. Er kannte sie. So waren sie. Er wusste, dass sie so waren und dennoch … er stieß ein genervtes Knurren aus. Julien verdrehte die Augen, langte nach hinten und gab Ian einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf.
„Wir haben ein wichtigeres Problem als dein scheiß Bier!“, schnauzte er Phelans Vetter an. Der grinste nur breit und rieb sich den Kopf.
„Aua“, behauptete er gutgelaunt.
„Also bitte: Es gibt kein dringenderes Problem als gutes Bier“, behauptete Ian stur. „Ein Wolf aus dem Hause Eóin vom Braeden braucht gutes, starkes, bitteres Bier um gut funktionieren zu können …“
Phelan hörte auf, seine Nase zu massieren, öffnete die Augen und sah Allister Nemours leicht resigniert an.
„Haben dir deine Eltern zufällig auch von den Zweihundert erzählt?“, wollte er wissen. Der nickte zustimmend. Als Knabe hatte er die Geschichten über dieses wilde Heer geliebt und war seine Mutter Nacht für Nacht auf die Nerven gegangen, ihm doch noch mehr von den Wölfen vom Braeden zu erzählen.
„Bitteschön, Allister. - Hier stehen die neun besten von ihnen vor dir“, stellte Phelan mit einer ausschweifenden Geste vor. Allister blinzelte überrascht. Er ließ seinen Blick über die Männer und die eine Frau schweifen und sah dann wieder zu Phelan.
„Dann … bist du …“ Er verstummte. Der Ausdruck auf seinem Gesicht wandelte sich von Überraschung in Ehrfurcht.
„Ja“, sagte Phelan.
„Glaube nie einem der Zweihundert, dass zu sein, was er dir zeigt, zu sein“, klang Vincents Stimme durch die Halle.
„Das hat Großmutter immer gesagt, wenn sie mir Gute-Nacht-Geschichten erzählt hat.“ Er lächelte leicht spöttisch. Und als würde diesen Worten ein geheimer Zauberspruch innewohnen, beendete Ian sein Streitgespräch mit Julien über Bier und grinste hart.
„Deine Großmutter war eine kluge Frau“, stellte er fest. „Und sie hat keinen Idioten großgezogen“, fügte er hinzu, trat zu Vincent und legte ihm einen Arm um die Schulter.
„Also ein Geborener. Selten in diesem Teil der Welt. Ihr macht sie euch lieber. Geht schneller. Und einfacher. So ein Biss. - Lass uns was trinken, Vincent-Geborener, so viel reden macht durstig“, beschloss Ian, während er Vincent in den Salon schob.
„Cuilén! Welpe!“, brüllte er in die Küche, in der Shane neben Conor auf dem Boden saß und stumm dem Schauspiel zugesehen hatte.
„Komm her, wir trinken!“
Shane erhob sich seufzend. Vincent wusste es noch nicht, aber das Trinken würde nichts anderes werden, als eine Befragung. Er sprach das aus eigener, alkohollastiger Erfahrung.
„Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus“, wisperte Julien in Phelans Ohr. Phelan schnaubte nur, ohne von seinen Unterlagen vor ihm aufzusehen. Es sollte nichts anderes heißen wie, ich auch nicht, sprich weiter.
„Dass ich mich so in Nemours täuschen konnte, unfassbar. Und mit ihm sind wir noch zwanzig mehr.“ Julien schüttelte ungläubig den Kopf.
„Dürfen wir so viel Glück haben?“
Jetzt hob Phelan den Kopf und sah Julien fest in die Augen. In Juliens Magen begannen augenblicklich Schmetterlinge zu flattern. Falsche Zeit! ermahnte er sich. Reiß dich zusammen.
„Wir sollten so viel Glück haben. - Es geht hier um viel mehr, als nur um verfeindete Herzogtümer.“ Phelan schnitt eine Grimasse um den Worten die Härte zu nehmen.
„Werden wir es schaffen?“, fragte Julien leise.
„Ja“, antwortete Phelan ernst.
„Weil wir keine andere Wahl haben?“, hakte Julien nach.
„Ja.“
„Wir werden sie vernichten“, bestimmte Julien entschlossen. Es war mehr um sich selbst Mut zu machen, denn eine Aussage.
„Ja, das werden wir“, stimmte Phelan ihm zu.
Und Julien glaubte ihm. So wie er ihm immer geglaubt hatte. So wie Phelan sie immer in den Sieg geführt hatte, wenn er ihn ihnen versprochen hatte. Und dann tat Phelan etwas, von dem Julien gedacht hatte, er würde es nie wieder tun. Phelan streckte sich und küsste Julien auf die Stirn. Julien schloss die Augen und unterdrückte ein wehmütig-sehnsüchtiges Seufzen.
„Wir werden siegen“, Phelan lächelte ihn aufmunternd an. Julien nickte schwerfällig.
„Ja.“
Es war Sonntag, kurz nach der Dämmerung.
Sie schritten den dunklen Gang entlang, ihr Weg wurde von vier Fackeln erleuchtet, die die ersten und die letzten in den Händen hielten. Sie schwiegen in Demut, es war nur das Rascheln ihrer Kleidung und die Sohlen ihrer Schuhe, die über das festgetretene Erdreich scharrten zu hören. Die letzten der aus weit über hundert Männern bestehenden Prozession schoben den Altar wieder zurück über den Eingang und folgten ihren Brüdern ins unterirdische Dunkel.
Ihr Priester ging voran, stoppte vor der alten Eichentür und stieß sie ehrfürchtig auf.
Sie verteilten sich in der großen Halle, die Fackelträger entzündeten drei weitere Fackeln, steckten ihre vier mitgebrachten in Halterungen und wandten sich ihrem heiligen Priester zu.
Heute würden sie nicht nur den Herrn preisen; ihr Priester würde ihnen mitteilen, wer auserwählt worden war, um dem heidnischen Dämon aus dem Sumpf endgültig zurück in die Hölle zu schicken. Sein neues Hexenwehr gab dieses Mal kein Durchkommen, also würden sie ihn abfangen, wenn er es verlassen würde.
Es war eine große Nacht.
Sie alle wussten es.
Diese Nacht würde Geschichte schreiben.
Die Luft in der alten Halle vibrierte vor Anspannung, vor Erwartung, vor Krieg.
„Wenn ihr mich töten wollt, wäre jetzt der beste Moment dazu.“
Der Priester wirbelte herum.
Im tiefen Dunkel der weiten unterirdischen Halle bewegten sich die Schatten und wurden zu der Silhouette eines großgewachsenen Mannes. Fáelán vom Braeden trat aus der Schwärze in den matten Schein der sieben Fackeln.
„Oder verlässt euch jetzt der Mut?“ Sein Blick fixierte den Priester und hielt ihn gefangen.
Die Jünger bewegten sich und stoppten abrupt, als sich weitere Schatten bewegten und hinter dem Wolf Männer aus dem Dunkel traten.
„Tötet sie“, befahl Phelan ruhig und zog mit einer eleganten Bewegung sein langes Schwert aus der ledernen Scheide. Wolfstöter war schon seit Jahrhunderten sein treuer Begleiter in Gefechten. Es war ein langer Anderthalbhänder, mit einer nachtschwarzen scharfen Klinge. Er nahm es in beide Hände, fühlte das vertraute Gewicht der Waffe. Das schwarze Leder mit dem das Heft umwickelt war, war an manchen Stellen vom unzähligen Halten abgegriffen. Phelan griff noch einmal nach und spürte die Kraft, die von seinen Finger ausging.
„Bis auf den Pfaffen. Der gehört mir.“
Er macht zwei große Schritte auf den Priester zu; sein Schwert schwang nach oben und teilte den Halbling links des Priesters in zwei Hälften. Der Prediger zuckte zusammen, als ihm Blut und Eingeweide ins Gesicht spritzen. Wolfstöter bohrte sich tief in die Augenhöhle eines zweiten Halblings der mit einem Kreischen zu Boden stürzte.
Dann war der Moment der Überraschung verstrichen und der Priester floh.
„Tötet sie! Tötet die Brut!“, kreischte er, während er sich durch seine Anhänger zur Tür drängte.
„Im Namen des Herrn, vernichtet sie!“ Der Priester packte einen seiner Jünger am Arm und schleuderte ihn in Phelans Richtung. Phelan fing ihn auf, durchbohrte ihm das Herz und ließ ihn achtlos zu Boden fallen.
Man musste den Halbingen eines zugutehalten; sie verfielen nicht in Panik.
Selbst als ihr Priester davonlief wie ein feiger Hase.
Selbst als die ersten von ihnen tot am Boden lagen.
Allerdings kam ihre Gegenwehr spät.
Sie waren gedrillt worden, um im Verborgenen zu meucheln, aber wie ein Kampf Aug in Aug mit dem Feind verlief, kannten sie nur aus Filmen und Büchern und ihr Angriff kam planlos und zögernd. Die ersten ballten ihre mit Eisenhandschuhen verstärkten Hände zu Fäusten, brüllten „Michael!“ und stürmten ihnen entgegen. Weitere folgten, zogen ihre dünnen Dolche oder Schusswaffen.
Das Gemetzel begann.
Phelans Schwert sauste auf die Halblinge herab wie ein Inferno, trennte Muskeln und Knochen, durchbohrte Organe, hieb Köpfe von den Hälsen und hinterließ eine Schneise des Todes während er sich rücksichtslos einen Weg bahnte, um den flüchtenden Priester einzuholen.
Neben Julien stieß Beigan ein kaltes Lachen aus. Er zog seine beiden saxähnlichen(1) Schwerter, dann warf er sich hinter seinem Heerführer in die Schlacht.
Dafür lebten sie.
Dafür atmeten sie.
Dafür waren sie geboren.
Julien grinste glücklich, als ihn der Rausch des Kampfes übermannte. Er stürzte vor, bohrte einem Halbling seine schlanken Kurzschwerter in den Leib und schnitt ihn in drei Teile. Blut, Eingeweide und Knochen besprengten sein Gesicht und er lachte.
Keine Gnade.
Sie würden ihnen keine Gnade gewähren, außer vielleicht der eines schnellen Todes.
Borgúlfr walzte sich an Juliens Seite. Er knurrte zufrieden, als er die Klinge seiner kleinen Streitaxt tief in den Hals eines Halblings trieb und diesen enthauptete. Julien blinzelte, als ihm das Blut in die Augen spritzte und lachte lauter.
„Heute ist ein guter Tag zum Töten“, bestätigte Ian, als er zu ihnen aufschloss und dabei einem Halbling mit dem Kopf seiner Axt den Unterkiefer zerschmetterte. Mordlust stieg in Julien hoch und sein Lachen wandelte sich in eine grimmige Grimasse.
Die Halle war erfüllt mit Todesschreien.
Die kleine Armee der Wermenschen und Vampire metzelte sie gnadenlos nieder.
Julien sah sich auf der Suche nach Phelan um, rammte einem männlichen Halbling, der sich auf ihn stürzte, seinen Schwertknauf so kräftig ins Gesicht, dass er hörte, wie der Wangenknochen zersplitterte und hastete weiter. Der Mann brach bewusstlos zusammen und kaum dass er den Boden berührt hatte, stürzte sich einer von Nemours‘ Vampiren auf ihn und riss ihn mit seinen scharfen langen Klauen in Fetzen. Blutige Klumpen trafen Julien am Rücken, bevor sich der Ring Kämpfender um ihn schloss. Der Vampir hockte auf dem zerfetzten Leichnam, Blut und Muskelfleisch fielen von seinen langen Krallen und mit einem gefährlichen Fauchen sprang er einem weiteren Halbling ins Gesicht.
Ein Schuss ertönte irgendwo in Juliens Nähe und bevor er die Richtung ausmachen konnte, durchzuckte ihn ein brennender Schmerz in der Hüfte. Er sah nach unten. Blut floss aus einem Einschussloch direkt unter seinem Hüftknochen aus seinem Körper. Er fluchte gereizt, ließ den Schmerz und den Blutfluss eilig verebben, fand den Schützen direkt vor sich und stieß ihm mit einem wütenden Schrei seine Schwerter tief in den Leib.
Ein anderer Halbling sprang ihn von hinten an, Julien wirbelte herum und warf sich mit ganzer Kraft auf den Boden. Eingequetscht zwischen hartgetretener Erde und dem Gewicht von Juliens Körper brachen die Rippen wie Streichhölzer und bohrten sich tief in die Eingeweide des Angreifers. Er spuckte Julien Blut und Speichel in den Nacken. Juliens Bein schnellte in die Höhe und traf einen weiteren Angreifer hart im Schritt. Der Mann grunzte schmerzgepeinigt. Mit einem triumphierenden Aufschrei sprang Julien wieder auf die Beine und enthauptete ihn mit einem schnellen Hieb.
Tariqs Säbel funkelte schwarz im Licht der Fackeln, Blut flog wie Regen von der geschwungenen Klinge, bevor sie einen Schädel in zwei Hälften spaltete.
Asad der Löwe riss einen Halbling mit bloßen Händen in zwei Hälften und schleuderte mit einem bebenden Brüllen die beiden Teile seinen noch lebenden Kameraden entgegen.
Darragh wütete durch die Menge wie eine Dampflok, unaufhaltsam hieb und stach er mit seinem mächtigen Langschwert zu und nahm Leben um Leben.
Sybillas schlanke, beinahe zierliche Kampfäxte bohrten sich bis zum Schaft in den Rücken eines Halblings, Blut stob aus den Wunden und traf sie im Gesicht.
Weder Phelan noch Beigan waren in dem Getümmel auszumachen.
Julien kämpfte sich eisern zur Tür durch, wich Angriffen aus, verwundete, tötete.
Dann tauchte Phelan am Türbogen auf.
Er taumelte rückwärts, stolperte über einen Leichnam, der auf dem Boden lag und fiel nach hinten. Seine freie Hand war fest gegen die blutende Schulter seines Schwertarmes gepresst. Trotz der dämmrigen Dunkelheit konnte Julien erkennen, dass Phelan unnatürlich blass war und feine Schweiftropfen über seine Stirn perlten. Julien schrie bestürzt auf und rannte los. Wo war Beigan? Wo war Beigan, der in der Schlacht Phelan deckte? Wo war Beigan? Julien verlor kostbare Sekunden, als er mit zwei Halblingen rang, die ihm den Weg versperrten.
Ein Riese von einem Mann walzte sich seinen Weg frei, in seinen massigen Händen hielt er eine fast monströse Axt. Phelan riss die Augen auf, auf seinem Gesicht lag eine Mischung aus Angst und Erstaunen. Der Koloss stapfte unbeirrt auf Phelan zu, der hilflos am Boden lag und zu nichts anderem fähig war, als den riesigen Gegner mit weit aufgerissenen Augen anzustarren. Der Riese wehrte mit einer beängstigenden Leichtigkeit Ians Angriff ab. Der Wolf flog gegen den Türrahmen und sackte bewusstlos auf den Boden. Julien schrie auf.
Die scharfe Klinge seiner Axt funkelte im flackernden Licht der Fackeln, als der Halbling sie über seinen Kopf hob. Der triumphierende Siegesschrei des Hünen ließ die Wände leicht erzittern und die Axt sauste unaufhaltsam nach unten, um Phelan den Schädel zu spalten. Julien erstarrte. Die Welt um Julien erstarrte.
Phelan keuchte auf, dann, als auf dem Gesicht des riesigen Mannes über ihm eine siegessicheres Grimasse erschien, blitzten seine Augen auf. Er nahm die Hand von der verletzten Schulter, hob mit einem knurrenden Brüllen sein Schwert und Wolftöters scharfe Klinge schnitt sich durch Fleisch und Knochen.
Phelan drehte leicht den Kopf zu Seite als die am Ellbogen abgetrennten Arme auf ihn zufielen und die Axt sich nur wenige Zentimeter neben ihm in den harten Lehmboden bohrte. Die Siegesgewissheit im Gesicht des großen Mannes wich ungläubigem Erstaunen, als er erkannte, dass sein Opfer nie sein Opfer gewesen war; dann schlug ihm Phelan den linken Unterschenkel vom Bein. Der Riese stieß ein heulendes Brüllen aus, er wankte wie ein Baum im Sturm und kippte schließlich vornüber. Im letzten Moment riss Phelan Wolfstöter in die Höhe, dann wurde er unter dem massigen Leib begraben. Seine Rippen knirschten und er ächzte, als ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde.
„Gottverd… Scheiße!“, fluchte er verhalten, strampelte und drückte und schob den massigen Körper von sich und schaffte es schließlich, ein Bein unter dem Riesen anzuziehen. Er legte seine ganze Kraft in den Tritt, der den Leichnam letztendlich von ihm herunterrutschen ließ. Wolfstöter steckte tief im Burstkorb des Riesen, auf dessen Gesicht immer noch der ungläubige Blick lag. Phelan stemmte sich auf die Beine, zerrte sein Schwert aus dem Fleisch, zischte, als seine kaum verheilte Hiebwunde an der Schulter protestierte und ließ eine weitere Welle seiner Heilkräfte darüber gleiten. Er ließ prüfend seinen Arm kreisen, entschied, dass die Wunde genug verheilt war, und sprang mit einem Satz durch die Tür zurück in den Gang und war verschwunden. Ian rappelte sich auf, schüttelte die Benommenheit ab wie ein nasser Hund und entwand den toten Fingern die Axt. Blut rann ihm vom Hinterkopf in den Nacken, doch der Wolf kümmerte sich nicht um seine Verletzung, sondern wog das Gewicht der schweren Waffe ab, grinste grimmig und folgte mit einem Knurren seinem Heerführer.
Julien rannte ihm nach.
Dort, auf der anderen Seite der Tür wurde Julien als erstes der Stille bewusst. Er ging weiter, der Lärm der Schlacht, der in der Halle tobte wurde leiser. Er stieg über einen Toten hinweg und erkannte mit leichtem Bedauern einen von Nemours‘ Vampiren. Ihm war der Schädel zertrümmert und das Herz aus dem Leib gerissen worden. Vor sich hörte Julien das Klingen von Stahl. Er konzentrierte sich, schärfte seine Augen und sah in der Dunkelheit vor sich Ian im Kampf gegen drei Halblinge. Irgendwo weiter hinten flackerte der Schein einer zu Boden gefallenen Fackel. Dort fochten weitere Gestalten einen Kampf, bei dem eine von beiden mit einem leisen Schrei zu Boden fiel. Ian wischte mit einem Grunzen das Blatt seiner Axt sauber. Er hob den Kopf, als er Juliens Anwesenheit spürte und grinste wild.
„Komm, kleiner Bruder“, flüsterte er fast lautlos, dann rannte er auf den Fackelschein zu.
„Bevor sie alle ohne uns töten.“
Julien packte die Hefte seiner Schwerter fester, folgte ihm und wäre nach nur wenigen Schritten beinahe in Ian hineingerannt.
„Du von links, ich von rechts. Wäre doch gelacht, wenn wir den Fels nicht niederrennen könnten“, wisperte der Wolf mit einem irren Leuchten in den Augen und deutete mit dem Kopf vor sich ins Dunkel. Juliens Augen weiteten sich, als sich ihm ein Mann näherte, der beinahe genauso riesig war, wie der, den Phelan so mühsam besiegt hatte. Er nickte leicht und brachte sich in Position. Er konnte gegen Zweibeiner bestehen, dann würde er ja wohl kaum bei einer Halblingsmissgeburt versagen!
Mit einem lauten Schrei stürmten die beiden Männer vor.
Julien duckte sich unter den auf ihn zufliegenden Armen durch, zerschnitt die Haut des Hünen, bohrte ihm die Spitze seines Schwertes in die Seite. Der Riese heulte vor Schmerz auf und fiel auf die Knie, als Ians Axt in seine Kniekehle fuhr.
„Für uns Ausgeburten!“, zischte Julien, als er dem Halbling ein Schwert in die Schläfe stieß.
„Für die Freude am Töten!“, lachte Ian und enthauptete ihn mit einem kraftvollen Schlag. Julien schüttelte nachlässig den Kopf von seinem Schwert. Er sah kurz zu Ian, dann rannten sie weiter, auf den Fackelschein und ihren Heerführer zu.
Phelan stand am Fuß der Treppe. Unter ihm, mit der Schwertspitze an der Kehle, lag der Priester mit weit aufgerissenen Augen. Er hatte eine Platzwunde über der rechten Braue, Blut lief ihm ins Auge, doch er wagte nicht, es wegzublinzeln. Julien konnte riechen, dass sich der Mann, der bis zu diesem Zeitpunkt so flammende Hassreden auf ihresgleichen gewettert hatte, sich eingenässt hatte.
„Sprich, Pfaffe. Wer sind deine Befehlshaber? Wer steckt noch dahinter?“, fragte Phelan harsch. Der Geistliche reckte sich und hob in trotzigem Aufbegehren das Kinn, sein Blick huschte von Phelan über Julien und streifte Ian und Beigan.
„Der Herr wird euch mit seinen göttlichen Blitzen erschlagen, Dämonen!“, spie er ihnen entgegen.
„Sag mir, wer sind deine Befehlshaber und stirb einen gnädigen Tod, Wurm“, forderte Phelan erneut.
„Ihr werdet uns nie besiegen, wir sind allmächtig, wir stehen unter Gottes Gnaden, der Heilige Michael hält schützend seine Hand über uns! Wir werden euch Dämonenbrut vernichten! Wir sind überall!“, kreischte der Geistliche voll religiösem Wahn. Phelan drückte ihm als Warnung die Spitze seines Schwertes gegen den Kehlkopf. Es ritzte die Haut auf und helles Blut rann an seinem Hals hinunter.
„Wer gehört noch zu euch?“, wiederholte Phelan hart. Der Pfarrherr verzog sein Gesicht zu einer wilden Grimasse.
„Wir werden euch vernichten. Wir sind überall. Überall … Heiliger Sankt Michael ...“, kreischte er, dann packte er mit beiden Händen die Klinge und trieb sie sich tief in den Hals, bevor Phelan reagieren konnte. Mit einem wütenden Aufschrei riss er den Priester an sich und blickte ihm wütend in das sterbende Gesicht.
„... Tod ...“, spie der Pfarrer seine letzte Drohung, Blutstropfen landeten auf Phelans Gesicht, dann war der Mann tot. Phelan zog Wolfstöter aus dem Geistlichen und ließ ihn achtlos auf den Boden fallen.
„Verflucht.“ Phelan unterdrückte den Drang, die Leiche zu treten.
„Gottverflucht!“, brüllte er und gab dem Kadaver schließlich doch einen so kräftigen Tritt, dass er mit einem klatschenden Geräusch gegen die Wand prallte.
„Bringen wir die restliche Brut um“, beschloss er verärgert, wandte sich von dem Toten ab und marschierte entschlossen zurück zur Halle. Beigan folgte ihm breit grinsend.
Phelan schritt durch die Leichen und betrachtete sie genau, als hoffte er, irgendeine Antwort von ihnen zu erhalten. Darragh trat zu ihm. Er war etwas blass um die Nase und seine Haut glänzte leicht vom Schweiß.
„Wie geht es dir?“, fragte Phelan besorgt.
„Nichts, was nicht schon längst verheilt wäre“, erwiderte der große Mann leichthin.
„Im Gegensatz zu dir lasse ich alle meine Wunden heilen und nicht nur die, die mich in dem Moment beim Kämpfen behindern“, fügte er tadelnd hinzu. Phelan knurrte missmutig. Er war alt genug, um zu wissen, wann er welche Verletzungen heilen lassen konnte, und wann nicht. Er brauchte kein Kindermädchen, welches ihn daran erinnerte.
„Geh und fahr zurück zur Villa“, schickte er Darragh weg und ob er wollte oder nicht, er klang leicht trotzig dabei. Darragh lachte auf, ohne sich von der Stelle zu rühren.
„Wir haben neun Tote und mehr als zwanzig Verletzte und von ihnen werden mindestens drei den Tag nicht überleben“, teilte er Phelan mit. Der schluckte seinen Stolz hinunter und nickte.
„Nehmt unsere Toten mit. Die Verletzten werden so schnell wie möglich in die Villa gebracht. Fernán wartet dort mit Allisters Heiler und wird sich um sie kümmern. Er soll einen Hexer herschicken. Wir werden diesen Versammlungsort verschwinden lassen“, befahl er müde. Darragh nickte knapp und wandte sich ans Gehen, als Phelan ihm sanft seine Hand auf den Arm legte.
„Die, die es nicht schaffen werden; bettet sie weich“, bat er leise. Darragh legte seine Hand auf Phelans und drückte sie leicht.
„Sie haben in Ehren gekämpft und werden in Ehren von uns gehen. - Ich werde Holz suchen lassen“, versprach er. Phelan sah ihm nach, wie er zu Tariq ging und mit ihm redete, dann wandte er sich wieder den Leichen zu.
So viele Tote. Er seufzte leise.
Und wenn er den Worten des Pfaffen Glauben schenkte, würden es noch viele mehr werden.
„Was machen wir mit denen?“ Ian, dessen einzige Verletzung die schon verheilte Platzwunde an seinem Hinterkopf war, trat neben seinen Vetter und stieß einen der Toten mit der Stiefelspitze an.
„Am liebsten würde ich ihnen die Köpfe abhaken und diese als Warnung aufspießen oder an die Kirchenmauern nageln“, knurrte Phelan schlecht gelaunt.
Wenn dieser Priester wirklich die Wahrheit gesprochen hatte, und es noch mehr von ihnen gab, dann wäre so eine Tat eine gute Abschreckung für die anderen. Und vor allem eine Warnung, die verheißen würde, dass sie einen ernst zunehmenden Gegner hatten. Allerdings bezweifelte Phelan, dass es eine gute Idee war, in der heutigen Zeit Köpfe so zur Schau zu stellen. Er rieb sich in einer frustrierten Geste die Augen. Diese heutige Zeit war so verdammt kompliziert. Er sah Ian an und seufzte herzhaft.
„Sie bleiben hier. Fernán wird uns einen Hexer schicken, der den Zauber hier bricht. Sollen sie im Schlamm verrotten.“ Er wandte sich von den Toten und seinem Vetter ab und schritt zur Tür.
„Ich gehe nach Conor und Yuri sehen. Ich ersticke hier unten.“
Phelan durchquerte langsam die Halle, schritt den Gang entlang und erklomm schwerfällig wie ein alter Mann die Stufen nach oben. Er trat durch den Durchgang, der Altar war zur Seite geschoben worden. Die hölzernen Bodendielen der verlassenen Kirche waren schmutzig von blutigen Stiefelabdrücken. Conor hockte mit Yuri auf der Schulter neben dem Eingang und sah seinen kleinen Bruder besorgt an. Er war zusammen mit dem Raben auf Phelans Befehl hin oben geblieben und hatte den Ausgang bewacht. Sehr zu Conors Leidwesen. Er war in Schlachten nicht gerne von seinen Bruder entfernt, doch wenn sein Heerführer befahl, gehorchte er.
Wie geht es dir?, fragte Conor leise. Phelan strich ihm mit einer blutverschmierten Hand über den Kopf und hinterließ rote Strähnen auf dem Fell.
„Gut. Geht mit Darragh und den Verletzten mit“, bat er. Conor nickte und trottete zur Kirchentür.
Du solltest dich verarzten lassen, bemerkte der Wolf fast beiläufig. Phelan macht eine abwertende Handbewegung, die Conor nur zu gut kannte. Sein kleiner Bruder würde erst dann dieses Schlachtfeld verlassen, wenn er sich sicher war, dass alle Spuren davon verwischt waren. Und wenn er dabei verbluten würde, wäre es eben so. Warum er überhaupt gesagt hatte, dass Phelan ärztliche Hilfe brauchte … Es war wohl die Macht der Gewohnheit, auch wenn es nichts brachte. Conor sprang auf den Beifahrersitz eines Vans, in dessen Heck vier Verletzte saßen und ließ sich zusammen mit ihnen und Yuri zurück in die Villa fahren.
(1)Sax: ein einschneidiges Hiebschwert, welches bis ins Hochmittelalter in Mitteleuropa und Nordwesteuropa verbreitet war -näheres auf Wikipedia
Schweigen bedeckte die Villa wie ein schweres Tuch.
Man hörte nur das leise Huschen der Füße, jede Bewegung war darauf bedacht, nicht zu viel Lärm zu verursachen, um den Verletzten nicht die Konzentration zur Heilung zu nehmen, und die, die sterben würden nicht in ihrem Todeskampf zu stören.
Julien lag mit heruntergelassenen Hosen auf seinem Bett und ächzte verhalten.
„Fester, Julien, ich kann sie schon sehen“, trieb Ian ihn an. Er zog Juliens Schussverletzung an dessen Hüfte mit zwei Fingern auseinander und hielt in der freien Hand eine kleine Operationszange. Langsam kroch die Kugel, die in Juliens Fleisch steckte, an die Oberfläche.
„Jetzt!“, knurrte Ian entschlossen, stieß die Zange vor, packte die Kugel und riss sie mit einem kräftigen Ruck aus dem Fleisch. Julien keuchte auf. Ian grinste wild. Er hielt triumphieren die Zange in die Höhe, zwischen den kleinen Greifern schimmerte eine blutverschmierte Pistolenkugel.
„Hör auf zu jammern. Es braucht hunderte mehr von den Dingern, um dich ernsthaft zu verletzen“, bemerkte er gut gelaunt, ließ die Kugel in eine Schale fallen und klapperte mit der Zange.
„Sonst noch wo angeschossen worden?“, wollte er wissen. Julien schüttelte verneinend den Kopf.
„Gott sei Dank nicht, du bist ein brutaler Arzt, Ian“, jammerte er, während er die Schussverletzung heilen lies. Ian zuckte nur mit den Schultern.
„Meine Tiere beschweren sich nie“, meinte er lapidar und zerrte sich die Handschuhe von den Händen. Julien stöhnte auf.
„Die armen Viecher“, meinte er mitfühlend. Es hatte Julien nicht wirklich überrascht, zu erfahren, dass Ian einen Doktortitel in Tiermedizin besaß, immerhin war Ian O’Braeden der Führer der Kampfhunde des Heeres gewesen. Er züchtete die großen wolfsähnlichen Tiere immer noch. Julien beobachtete Ian dabei, wie dieser seine Instrumente reinigte und zurück in die Arzttasche verstaute.
„Eine Platzwunde am Hinterkopf!?“, bemerkte er bissig. Ian hob den Kopf und sah ihn entrüstet an.
„Unglaublich oder? So schwer wurde ich noch nie bei einer Schlacht verletzt!“, empörte sich der Wolf allen Ernstes. Julien lachte auf.
„Du hast schon mal zwei Finger verloren“, wandte er ein. Ian verdrehte die Augen.
„Das zählt nicht, das war keine normale Schlacht“, behauptete er und verschloss die Tasche. Es gab etwas an Ian O’Braeden, was Julien faszinierte. Dieser Mann stürzte sich mit Begeisterung in jede Schlacht, war immer dort zu finden, wo diese am wildesten tobte und er wurde dabei nie verletzt. Von Platzwunden am Hinterkopf oder oberflächliche Kratzer abgesehen.
„Die anderen Wunden?“, fragte Ian. Julien machte eine abwertende Handbewegung.
„Kleinkram. Das meiste ist schon verheilt“, antwortete er unbekümmert. Ian nickte leicht.
„Jaja. Das kennen wir. Lass sehen“, verlangte er grinsend. Julien stöhnte theatralisch auf, schlüpfte aber doch aus seinem Hemd und zeigte Ian seine Wunden, von denen die meisten tatsächlich schon beinahe verheilt waren.
Phelan war müde.
Er hockte in einem Sessel vor dem Kamin und starrte in die flackernden Flammen. Vor wenigen Minuten waren zwei seiner Mitstreiter gestorben. Ein Vampir von Nemours und ein Einzelgänger. Mindestens zwei Weitere würden ihnen noch folgen.
Er rieb sich müde über das Gesicht.
„Wir sind überall“, murmelte er völlig in seine Gedanken versunken, ohne überhaupt zu merken, dass er laut sprach.
„Wo ist überall?“, fragte er das flackernde Kaminfeuer.
„Da sitzt der Held. Allein vor dem Kamin. Ich hätte es mir denken können.“
Phelan schreckte aus seinen Gedanken und hob den Kopf. Beigan stand mit einem leichten Lächeln an der Tür. Unter seinem linken Auge leuchteten die schwachen Überreste eines dicken Blutergusses. In ein paar Minuten würde nichts mehr davon zu sehen sein. Sie hatten einen unnatürlichen Vorteil gegenüber den Halbwesen gehabt. Sie waren unsterblich, sie waren in der Lage, sich selbst zu heilen, sogar Gliedmaßen wieder nachwachsen zu lassen. Die Halbwesen waren nichts anderes als sterbliche Menschen gewesen. Schwach und hilflos verglichen mit ihnen. Phelans Gedanken drifteten wieder ab.
„Erde an Phelan, bitte melden. Sie laufen Gefahr, unseren Orbit zu verlassen“, neckte Beigan freundlich, trat humpelnd zu ihm und schnippte ihm vor dem Gesicht herum. Phelans Blick wurde klar.
„Lass das“, knurrte er ungehalten. Beigan richtete sich auf, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sie gleich wieder sinken, als die Stichverletzung zwischen seinen Rippen die Berührung mit Schmerz quittierte.
„Hast du dich schon versorgen lassen?“, wollte der Vampir wissen, obwohl er sehen konnte, dass Phelan sich noch nicht einmal das Blut aus dem Gesicht gewaschen hatte.
„Beigan. Der Pfaffe sagte, sie seien überall“, antwortete Phelan ernst. Beigan verdrehte die Augen.
„Irgendwann bringst du dich noch mal selbst um, weil du dich nie um dich kümmerst. Warum vergisst du immer dich selbst? - Wenn ich dich über jeden Einzelnen fragen würde, wie es ihm geht, könntest du mir für jeden eine Antwort darauf geben. - Aber welche Verletzungen hast du selbst?“, warf er seinem Freund und Heerführer vor. Phelan runzelte die Stirn.
„Nichts Ernstes, nur ein paar ... Kratzer“, sagte er und ein leichtes Lächeln trat auf sein Gesicht.
„Nur ein paar Kratzer. - Phelan, es ist auch für dich an der Zeit, sich auszuruhen. Ich weiß nicht, worüber du sinnierst, aber dabei hast du sogar vergessen, diese Stichwunde heilen zu lassen. Oder hast du etwa vor, dich ausbluten zu lassen?“, fragte Beigan bissig. Phelan hob erstaunt den rechten Arm und betrachtete die dünne Stichwunde unterhalb seines Rippenbogens. Sie blutete tatsächlich noch ein wenig. Er lachte kurz auf.
„Wenn du jetzt Oh sagst, bringe ich dich um“, drohte Beigan leicht gereizt.
„Na so was“, sagte Phelan stattdessen und ließ die Wunde heilen.
„Lass mich nach dir sehen, kleiner Wolf“, bat Beigan sanft und ohne auf eine Antwort von Phelan zu warten, zerrte er diesem sein Hemd über den Kopf. Er streifte sich Latexhandschuhe über und untersuchte mit sanften Berührungen seinen Freund.
„Dieser Riese hat dir ganz schön zugesetzt. - Von mir mal ganz abgesehen“, meinte er leicht besorgt, als er über Blutergüsse, Kratzer und gebrochene Rippen tastete. Phelan zuckte nur mit den Schultern. Dort wo sich die Axt des Hünen in seine Schulter gebohrt hatte, war nur noch ein weißer Strich frisch verheilter Haut zu sehen, die sich langsam an die Bräune seines restlichen Körpers anpasste. Allerdings musste Phelan sich eingestehen, dass die hastige Heilung dieser Wunde ihn viel Kraft gekostet hatte. Er war froh gewesen, dass ihn Beigan danach nicht mehr aus den Augen verloren hatte. Er hatte ihn einige Male helfend eingreifen müssen.
„Hast fast einen Arm verloren“, bemerkte Beigan beiläufig und nahm sich lange Zeit, um Phelans Schulter genau zu untersuchen.
„War hart, es heilen zu lassen“, gestand Phelan. Beigan grunzte verhalten. Daran zweifelte der Vampir keine Sekunde lang. Der Hieb war so tief gewesen, es war erstaunlich, dass Phelan es überhaupt allein geschafft hatte, ihn heilen zu lassen. Allerdings war Phelan in so manchen Dingen erstaunlich.
„Schussverletzungen?“, fragte Beigan, als er sich vergewissert hatte, dass alles an der Schulter wieder so zusammengewachsen war, wie es sollte.. Mit gekonnten Berührungen tastete er über Phelans Wirbelsäule und renkte einen verschobenen Wirbel zurück an seinen Platz.
„Nur Streifschüsse“, antwortete Phelan ehrlich und begann seine Rippen heilen zu lassen. Es gab unangenehm laut knackende Geräusche, als sich die Knochen wieder an ihren angestammten Platz schoben. Beigan verzog leicht das Gesicht.
„Er und seine beiden Brüder warenmächtige Kämpfer“, gab Phelan zu und faltete die Hände in seinem Schoß.
„Aber sie waren eine Ausnahme. Es gibt nicht viele, die ihre Kraft besitzen. Sie waren etwas Besonderes bei ihnen.“
Beigan, der die frisch verheilte Stichwunde genau in Augenschein nahm, hob den Kopf.
„Was macht dich so sicher, kleiner Wolf?“, hakte er nach. Es war vergeblich, seinen Heerführer nach einer Schlacht zur Ruhe zu bewegen. Noch Stunden später musste dieser sture Hund darüber sinnieren und nachdenken und abwägen und wussten die Götter was noch alles. Also gab er sich geschlagen und half seinem geliebten Freund beim Grübeln. Auch wenn ernsthaftes Sinnieren nicht gerade zu Beigan Einarssons Lieblingsbeschäftigungen nach einem Kampf gehörte. Ihn zog es eher zu Met und derben Witzen. - Und zu Männerhintern.
„Sie waren zu sehr von sich und ihrer Unbesiegbarkeit überzeugt. Sie hatten diesen gewissen Ausdruck von Arroganz in den Augen, den nur verwöhnte und bevorzugte Menschen haben“, fuhr Phelan fort.
„Also so wie Julien?“, scherzte Beigan gut gelaunt. Phelan sah ihn tadelnd an.
„Das war nicht fair, Beigan“, mahnte er sanft.
„Nein, das war ein Witz“, fügte der Vampir grinsend hinzu und zog Phelan die Hose aus. Er schnurrte genüsslich, als er Phelans kräftige Oberschenkel freilegte.
„Was für ein Anblick.“ Beigan hob den Kopf und grinste Phelan frech an. „Du wirst Morgen erst mal einen ordentlichen Muskelkater haben, weiches Fleisch, das nur noch auf der Couch sitzt und frisst, und dann bist die wieder ganz der Alte“, prophezeite er während seine Finger fachmännisch die Muskeln und Knochen abtasteten. Phelan lachte leicht entrüstet.
„Du bekommst gleich mächtig Ärger mit mir, Mäuseschwanz, dann werden wir sehen, wer von uns beiden hier weiches Fleisch hat!“, behauptete er glucksend. Beigans Blick wurde entrüstet.
„Mäuseschwanz?“, echauffierte er sich. „Ich geb dir gleich einen Mäuseschwanz!“, behauptete er, zog Phelan auf die Beine und dessen Hose wieder nach oben und schob ihn unnachgiebig aus dem Salon hinaus, die Treppe nach oben.
„So. Jetzt wirst du dich erst mal waschen, bevor ich dir noch das ganze Blut vom Körper lecke und danach gehst du schlafen“, bestimmte der Vampir energisch und verfrachtete Phelan in sein Badezimmer. Der Wolf drehte sich zu ihm und setzte zu einem Einwand an, doch Beigan hob in einer strengen Geste die Hand und Phelan schloss seinen Mund wieder.
„Ich weiß, es werden heute noch einige sterben, aber sie sterben auch wenn du neben ihnen sitzt. Sie brauchen dich nicht dabei. Aber du, du brauchst Schlaf“, fuhr er Phelan an. Phelan seufzte ergeben.
„Danke, Beigan“, murmelte er leise.
„Halt den Mund und steig jetzt endlich unter deine verdammte Dusche“, schnauzte Beigan ihn an und warf die blutigen Handschuhe mit mehr Wucht als nötig in den Mülleimer.
„Ich werde in zehn Minuten mit Essen wiederkommen und dann bist du sauber und liegst entspannt in deinem Bett“, fauchte er, dann verließ er humpelnd das Bad.
Phelan seufzte erneut, stieg unter die Dusche und stellte das Wasser an. Er schloss mit einem dritten Seufzer die Augen und genoss die prickelnde Kälte auf seinem Körper.
Entspannen. Wie sollte er sich entspannen, wenn doch immer noch so viele Probleme auf eine Klärung warteten?
Ihre alten Freunde verließen sie nach fünf Tagen und ließen eine Leere zurück, die Julien beinahe in den Wahnsinn trieb. Das ganze verfluchte Haus roch noch nach ihnen. Nachdem sie den dritten Tag wieder allein waren, hielt es Julien nicht mehr aus. Er schnappte sich das Telefon, bestellte einen Reinigungstrupp in die Villa und ließ sie das komplette Haus von Grund auf reinigen. Danach holte er einen Gärtner, der sich um das Grundstück kümmerte. Als der Garten Juliens Vorstellung entsprach bediente er sich noch ein letztes Mal an Phelans Kreditkarte und holte ein Bauunternehmen, welches die Fassade erneuerte und das Dach reparierte.
Schließlich erstrahlte die Villa innen wie außen in neuem Glanz und Julien wusste wieder nicht wohin mit sich. Phelan, der die Grundsanierung gelassen über sich hatte ergehen lassen, lümmelte auf dem Sofa und pausierte das Kriegsspiel, welches er auf einer seiner Spielkonsolen spielte. Er legte leicht den Kopf schief und beobachtete Julien dabei, wie dieser begann, die edlen Kristallgläser in der Vitrine neu anzuordnen.
„Julien“, sagte er sanft. Julien wirbelte auf dem Absatz herum und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Er wirkte auf Phelan ein wenig wie ein Kaninchen, das einem Fuchs gegenüberstand.
„Was ist in letzter Zeit los mit dir?“, fragte der Wolf. Julien entspannte sich und ließ die Schultern hängen.
„Ich … keine Ahnung … ich … es … sie fehlen mir“, gestand er leise. Phelan nickte mitfühlend.
„Wollen wir um die Häuser ziehen?“, schlug er vor. Julien schnitt eine Grimasse.
„Nein. Auf die Idee bin ich auch schon gekommen. Ich hab die Lust schon an der Garagentür verloren.“ Julien stellte das Glas weg und warf sich dramatisch neben Phelan auf die Couch.
„Lust gegen mich in einem fairen Wettstreit zu verlieren?“ Phelan wedelte mit dem Controller vor Juliens Gesicht herum. Der zog die Nase kraus.
„Meinetwegen“, stimmte er schließlich zu. Phelan erhob sich, steckte den zweiten Controller in die Konsole und startete das Spiel neu.
„Na dann“, sagte er, warf Julien den Controller zu und schmiss sich neben ihn.
„Bereit, zu verlieren?“, neckte er grinsend. Julien stieß nur einen schnaubenden Ton aus, machte sich mit der Steuerung vertraut und dann bewegten die beiden sich die nächsten Stunden nur von der Couch, um kurz auf die Toilette zu gehen.
Julien hatte hart gekämpft und verloren.
Jetzt hockte er griesgrämig auf seinem Hocker in der Küche und starrte düster Phelans Rücken an, der sich gutgelaunt eine monströse Portion Rührei briet.
„Hör auf zu grinsen“, fauchte Julien und warf mit einem Serviettenbällchen nach ihm.
„Ich grinste doch gar nicht“, behauptete Phelan, doch der Ton seiner Stimme strafte seinen Worten Lüge. Julien schnaubte ungläubig.
„Ich hab mich nicht dämlich angestellt“, protestierte er mürrisch. Phelan gluckste.
„Nein, überhaupt nicht.“ beteuerte er belustigt, schob sein Rührei auf einen Teller und warf Speck in die Pfanne.
„Ich habe noch geübt“, behauptete Julien aufgebracht.
„Ja. Und dich dabei gleich mal selbst erschossen.“ Phelan brach in Gelächter aus.
„Ich wusste nicht einmal, dass man das kann“, presste er lachend hervor.
„Arschloch“, knurrte Julien und beschloss, den blöden Wolf an seinem noch blöderen Herd einfach zu ignorieren. Conor trabte beschwingt in die Küche. Julien beobachtete die beiden, wie sie stumm miteinander redeten, und wurde neidisch.
„Das ist scheiße.“
Phelan schniefte, wischte sich Lachtränen aus den Augenwinkeln und sah Julien erstaunt an.
„Was ist scheiße?“, hakte er nach und kicherte verhalten.
„Dass ich der Einzige hier bin, der nicht mit Conor reden kann“, schnaubte Julien und zog eine Flunsch. Conor bellte einmal, dann trabte er vor Julien und setzte sich.
„Was wird das, Faol?“, hakte Julien kritisch nach, als der Wolf starr wie eine Statue da hockte und ihn regelrecht hypnotisierte. Phelan legte den Kopf schief.
„Er versucht, mit dir zu reden. Er sagt, wenn ich es geschafft habe mit Yuri reden zu können, dann müsst ihr beide es doch wohl auch schaffen, denn ihr beide seit die klügsten Lebewesen, die auf diesem Planeten wandeln und jetzt soll ich den Mund halten, ich störe seine Konzentration“, antwortete er glucksend.
Julien sah ihn verwundert an.
„Und was soll ich jetzt machen?“, fragte er verwirrt.
„Öffne deinen Geist wie bei einer Meditation. Konzentriere dich auf meinen Bruder. Lade ihn ein. Lass ihn herein. Und auch wenn du ihn nicht ganz so verkrampft anstarren musst, wie er dich, Augenkontakt hilft. Und seit bitte nicht enttäuscht, wenn es nicht sofort klappt“, meinte Phelan aufmunternd und widmete seine Aufmerksamkeit wieder seinen Speckstreifen.
Julien leckte sich nervös über die Lippen und rutschte von seinem Hocker.
„Das schaffen wir“, ermutigte er sich selbst und nahm im Schneidersitz vor dem blonden Wolf Platz.
Julien rutschte nervös auf seinem Hintern hin und her und erwiderte Conors starren Blick. Die Augen des Wolfes glänzten wie flüssiges Gold und klare blaue Sprenkel schwammen darin, Julien erinnerte sich an die strahlenden Augen von Conor, dem Mann. Er versank darin. Ließ sich tragen von dem leuchtenden Gelb, dem warmen Gefühl, welches sich in ihm ausbreitete. Die Welt um ihn herum verschwand, sein Kosmos bestand nur noch aus Gold und blau. Julien wartete. Er wartete und hoffte und wartete. Öffnete seinen Geist, bat den Wolf um Einlass.
Wieder.
Und wieder.
Und erhielt nur Stille als Antwort.
Schließlich war es Conor, der mit einem frustrierten Schnauben aufgab.
„Er sagt, ihr macht morgen weiter, ihm tut der Kopf weh“, schreckte Phelans Stimme Julien auf. Er blinzelte verwirrt und richtete sich auf. Sein Rücken knackte und Julien spürte Anzeichen von Muskelkater. Ein Blick durch das Fenster zeigte ihm, dass es später Nachmittag war.
„Wie lange haben wir denn hier gesessen?“, fragte er erstaunt. Phelan lachte und sah auf die Küchenuhr an der Wand.
„Seit … hmmm … neun Stunden ungefähr“, antwortete er. Julien entdeckte, dass sein Freund schon wieder etwas aß, dieses Mal einen üppigen Schokoladenkuchen.
„Neun … neun Stunden?“, hakte er fast schockiert nach. Er hatte alles um sich herum vergessen und völlig sein Zeitgefühl verloren.
„Jup. - Und? Frustrierend, was?“, stellte Phelan zwischen zwei großen Bissen Kuchen fest. Julien runzelte die Stirn.
„Woher weißt du das?“ Er rieb sich den steifen Nacken und rappelte sich auf die Beine.
„Glaubst du, Yuri und ich haben uns von Anfang an unterhalten können? - Nein, so nett waren die Alten nicht. Die standen nicht da und haben beschlossen, dass wir alle schön miteinander reden können. Das mussten wir uns selbst mühsam beibringen. Unsere Geister öffnen, in Einklang bringen, das Nasenbluten heilen lassen …“ Phelan lachte dumpf und kaute genüsslich.
„Will ich wissen, wie lange es bei euch gedauert hat?“ Julien schnappte sich ungefragt Phelans Kaffeetasse und nahm einen großen Schluck.
„Bei Yuri und mir fast zwei Wochen. Bei Conor und Yuri acht Tage.“ Phelan leckte sich Schokoladencreme vom kleinen Finger.
„Na dann.“ Julien seufzte herzhaft. Conor war ein mental starker Mann, Phelan sowieso und Yuri war ein meisterhafter Manipulator. Wenn das bei ihnen schon so viele Tage gedauert hatte, bis sie ihre Geister so weit in Gleichklang gebracht hatten, um den mentalen Abstand zwischen den Völkern zu überwinden, wie lange würde es dann bei ihm dauern?
Wermenschen konnten leicht mental miteinander reden und Vampire untereinander ebenso, aber völkerübergreifend, das war eine ganz andere Sache. Manche behaupteten, dass eine tiefe Verbundenheit reichen würde, damit ein Vampir und ein Wermensch sich auf diese stumme Art miteinander unterhalten konnten. Raghnall und Dashiell war dabei ihr liebstes Beispiel. Die beiden kannten sich ihr ganzes Leben lang und sie konnten sich schon seit über tausenden von Jahren geistig miteinander unterhalten. Daneben gab es allerdings genug Beispiele von vergleichsweise genauso lange andauernden gemischten Freundschaften, die dieses besondere Geschenk nicht miteinander teilten. Julien und Phelan zum Beispiel.
Julien seufzte wieder inbrünstig und beschloss, sich schlafen zu legen. Er wollte ausgeruht sein, wenn er und Conor es wieder versuchen würden.
Juliens Augen brannten, sein Kopf schmerzte, seine Beine waren eingeschlafen und in seinem Rücken machte sich ein unangenehmes Stechen breit. Er konnte nicht wirklich sagen, wie lange er schon da saß und sich in Conors gold-blauen Augen verlor. -Und nichts hörte.
Und das Schweigen breitete sich in ihm aus und schien ihn zu verschlingen. Und dann, nach schierer Unendlichkeit hörte er ihn.
...ien… klo…f… ju…
Da war etwas. Es kratzte an seinem Gehirn und trat sich hartnäckig einen Weg in Juliens Bewusstsein. Er zwinkerte den aufkeimenden Schmerz weg.
…ien… klopf…. ien…
Oh Gott! Er war drin! Conor war in seinem Kopf drin! Julien atmete tief ein und langsam aus, um ruhig zu bleiben.
Julien? Klopf-Klopf. Julien? Klopf-Klopf. Julien? Klopf-Klopf.
Julien lachte laut. Er konnte Conor hören! Er sprang auf, nur um gleich wieder unsanft auf dem Boden zu landen. Ächzend rieb er sich seine tauben Beine.
„Ich hör ihn!“, brüllte er nach Phelan und massierte seinen rechten Oberschenkel.
„Faol, komm schnell her, ich kann ihn hören!“
„Du musst nicht brüllen, Iuls, ich sitze hier.“
Juliens Kopf schnellte nach oben. Neben ihm, auf einem der Barhocker saß Phelan und grinste breit. Yuri lehnte an seinem Unterarm und dem abgehackten Krächzen, welches er ausstieß, nach zu urteilen, lachte der Rabe sich gerade halb tot. Julien wünschte dem Vogel spontane Flügellähmung an den Hals.
„Sexy Abgang. Unglaublich elegant, mein Freund“, witzelte Phelan gut gelaunt. Julien schnitt ihm eine Grimasse.
„Und, was hat er gesagt?“, wollte Phelan wissen. Julien strahlte augenblicklich wieder. Er wandte seinen Kopf zu Conor, der breit hechelnd vor ihm hockte.
„Er sagt …“ Julien stockte. „Wir machen hier gerade das Weltbewegendste, was mir in meinem bisherigen Leben passiert ist, und dir fällt nichts anderes ein, als eine Szene aus einer dämlichen Nerd-Fernsehserie zu zitieren?“, japste er entrüstet und knuffte den Wolf an die Brust. Der Wolf blieb wie ein dummer Hausköter auf seinem Fellhintern sitzen und hechelte mit einem tumben Grinsen im Gesicht.
„Wieso? Was hat er gesagt?“, wiederholte Phelan neugierig und nippte an seiner Tasse. Julien sah wieder zu seinem Freund hoch.
„Hast du die ganze Zeit hiergesessen?“, fragte er erstaunt.
„Ich bitte dich; was werde ich vier Tage lang hier herum sitzen. Ich war auch mal auf der Toilette und im Bett“, tat Phelan entrüstet. Julien blinzelte überrascht.
„Vier Tage? Ich sitz hier seit vier Tagen? Ach du Schande.“ Er begann, seinen linken Oberschenkel zu kneten. Kein Wunder waren seine Beine taub.
„Also, was hat er jetzt gesagt?“, fragte Phelan ein drittes Mal, packte Julien unter der Schulter und hob ihn mühelos hoch. Mit einem lauten Stöhnen schob sich der Vampir auf einen Barhocker.
„Du kennst die Serie mit den Physikern? Die, wo der normalste von den Freaks in die Kellnerin-Nachbarin verknallt ist?“, fragte er. Phelan nickte.
„Dann weiß du vielleicht, wie einer von denen immer anklopft? Das hat dein Bruder zu mir gesagt. Julien? Klopf-Klopf. Julien? Klopf-Klopf. Julien? Klopf-Klopf. Ist das zu fassen?“ Julien schüttelte ungläubig den Kopf. Phelan lachte schallend los.
Sehr geehrter Freund, Iulius Delanius Kahor-Ra min Waset, es erfreut mich zu tiefst, dass ich es endlich nach so langen, zähen Versuchen geschafft habe, in Euer mickriges Gehirn hinein zu kopulieren und mich an der erregten Ekstase darin ergötzen darf, säuselte der Wolf äußerst gut gelaunt. Julien schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
Was willst du, kleiner Bruder!? Es ist ein einfaches, leicht zu wiederholendes Mantra. Conor kratzte sich lässig hinter dem Ohr. Julien musste ihm widerwillig zustimmen.
„Um hineinzukommen muss man sich leichte Sätze ausdenken, am besten einen kurzen Reim oder ein Wortspiel. Etwas, was sich in deinem eigenen Kopf schnell festsetzt und es dir so sehr einfach macht, es immer und immer wieder zu wiederholen, bis es beinahe unterbewusst geschieht. So kann sich der bewusste Teil deines Verstands darauf konzentrieren, zu dir vorzudringen“, klärte Phelan Julien auf. Julien nickte nachdenklich.
„Was hat Yuri zu dir gesagt?“, wollte er wissen. Phelan lachte.
„Er? Nichts. Ich. Rabenkind, flieg geschwind. Dauernd und dauernd und dauernd, bis ich sogar davon geträumt habe. Und schließlich hat er es gehört.“ Phelan kraulte liebevoll Yuris Brust.
‚Rabenkind, flieg geschwind, bring die Kunde vom Krieg.‘ Ist ein altes Kinderlied aus meinem Heimatland. Und ein trauriges noch dazu. Der Rabe seufzte herzhaft und plusterte sein Gefieder auf, damit Phelan ihn besser kraulen konnte.
„Rede mit ihm, Iuls. Übe. Die nächsten Tage ständig. Ihr müsst euch aneinander gewöhnen. Und ihr habt euch viel zu erzählen.“ Phelan rutschte von seinem Barhocker, gab erst Julien einen Kuss auf die Stirn, dann bückte er sich zu Conor und küsste diesen auf die nasse Nase.
„Ich gehe jetzt ins Bett. - Viel Spaß euch beiden“, verabschiedete er sich und verließ gemeinsam mit Yuri die Küche. Julien sah ihm glückselig nach.
Machst du mir bitte einen Kaffee? Ich habe tierischen Durst, bat Conor mit jämmerlicher Leidensmiene. Julien lachte und erhob sich auf immer noch wackligen Beinen.
Ich kann es noch gar nicht glauben. Nur vier Tage, jubilierte Julien im Geist. Ich dachte, wir würden mindestens doppelt so lange dafür brauchen. Er begann, für Conor Kaffee zu brühen.
Ich hab Kopfweh, jammerte der Wolf wehleidig. Julien lachte auf.
Meiner wummert auch ein wenig, gestand er und stellte Conor eine Schale vor die Pfoten.
Wir waren vor ungefähr zweihundert Jahren in Florenz in der großen Schriftenhalle der Weisen. Hast du die schon einmal gesehen? Räume über Räume voller heiliger Schriften. Dort sind ihre ganzen Tränke aufgeschrieben. Der Wolf seufzte wehmütig. Julien hob die Schale wieder hoch und trug sie zusammen mit seiner Kaffeetasse ins Wohnzimmer.
Komm, lass uns wo weiterreden, wo‘s bequemer ist, schlug er vor. Der Wolf sprang auf die Beine und trippelte ihm hinterher.
Die nächsten beiden Wochen bestanden aus genüsslicher Langeweile und telepathischem Reden. Und Julien und Conor hatten sich wirklich viel zu erzählen. Sie redeten dauernd. Über Gelehrte, über Philosophen, über Politiker. Über Geschehnisse der letzten dreihundertfünfzig Jahren.
Phelan und Yuri hielten sich in dieser Zeit diskret im Hintergrund. Phelan arbeitete die meiste Zeit daran, sein beachtliches Vermögen noch zu vergrößern und Yuri hockte die auf dessen Schreibtisch und tat weiß Gott was.
Nach zweieinhalb Wochen fand Julien Phelan im alten Ballsaal, wie dieser aus den Fenstern sah und auf den Sonnenaufgang wartete.
„Darf ich?“, fragte Julien zögernd. Phelan drehte sich halb zu ihm um.
„Natürlich.“
Julien trat ein und stellte sich neben ihn.
„Hast du deinen Schatten verloren?“, neckte Phelan freundlich. Julien schnitt ihm eine Grimasse.
„Haha. Witzbold. Nein. Wir haben vorerst wohl fertig geredet. Conor hat sich oben für ein Nickerchen hingelegt“, antwortete er und schob seine Hände in die Hosentaschen. Phelan lachte auf.
„Noch Kopfschmerzen wenn ihr redet?“, wollte er wissen. Julien schüttelte verneinend den Kopf. Die ersten Gespräche waren schmerzhaft für beide gewesen, denn nach nur wenigen Sätzen hatten beide stechende Kopfschmerzen bekommen. Conor hatte ihm erklärt, dass das völlig normal sei und Phelan und Yuri hatten seine Aussage bestätigt. Während Conor Julien beinahe schon eine medizinische Abhandlung über diese Reaktion vortrug, fasste Phelan es weitaus simpler, wenn auch effizienter zusammen. Es dauerte einfach, bis sich die beiden Geister an einander angepasst hatten. Und so lange es noch Reibungen gab, gab es Kopfschmerzen. Julien liebte Phelans Erklärungen komplizierter Sachen. Kurz und prägnant und dabei doch so treffend. Ihr Schweigen dehnte sich aus. Schließlich räusperte sich Julien nervös.
„Spuck’s aus, Iuls“, forderte Phelan sanft.
„Wenn … wenn es bei Conor und mir klappt … meinst … vielleicht klappt es ja auch mit uns. - Also das Reden.“ Julien senkte den Blick. Es machte ihn so unglaublich verlegen, Phelan das zu fragen.
„Vielleicht“, erwiderte Phelan immer noch mit dieser sanften Stimme.
„Möchtest du es … versuchen?“, schlug Julien zaghaft vor. Phelan lächelte.
„Gerne. - Aber nicht sofort. Dein Kopf hat schon genug Arbeit mit Conor. Lass ihn sich daran gewöhnen und dann werden wir es versuchen.“ Er tippte Julien leicht gegen die Stirn. Julien schob die Hände in die Hosentaschen und nickte ergeben. Wenn es sein musste, würde er auch Jahre warten.
„Was im Rudel geschieht …“ begann er und nun klang seine Stimme weder zaghaft noch verlegen. Phelan lachte auf.
„… bleibt im Rudel?“, beendete er den Satz fragend. Julien nickte mit Nachdruck.
„Gut“, sagte Phelan nur und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Sonnenaufgang zu.
Zwischenspiel III - Der Rat
Der Rat bestand aus einhunderteinundfünfzig Mitgliedern.
Er war aufgeteilt in je fünfundfünfzig Vampire und Wermenschen sowie siebenundzwanzig Magier, die sich selbst Weise nannten. Rassen- und herkunftsunabhängig gab es dann noch die vierzehn Rangobersten, bestehend aus den vierzehn ältesten ihrer aller Rassen. Menschen waren keine Mitglieder auch wenn sie in manchen Dingen als zusätzliche Berater fungierten.
Innerhalb des Rates herrschte Demokratie, die allerdings von den beiden Ratsältesten außer Kraft gesetzt werden konnte, doch dies war in den letzten dreitausend Jahren nur vier Mal vorgekommen. Dennoch wogen die Worte von Raghnall vom Braeden und Dashiell Delano schwerer als die aller anderen mit Ausnahme der einer Frau namens Lyria. Lyria von Theben war stolz, klug, wunderschön und gefährlich und wer sie nicht respektierte, der fürchtete sie zumindest.
Die meisten Dinge konnten innerhalb des kleinen Rats gelöst werden, dann nahmen nicht alle Ratsobersten teil, nur die vierzehn Ratsältesten und die direkt betroffenen Clane, Rudel oder Zirkel und es gab Ratsdinge, welche die Anwesenheit aller Mitglieder bedurfte.
Und jetzt war wieder eine Situation eingetroffen, in der Boten in alle Teile dieser Erde geschickt worden waren, um zu einer großen Versammlung zu laden.
Es war ein äußerst delikates Anliegen, weshalb sie gerufen wurden und Raghnall vom Braeden hätte am liebsten die Regeln übergangen und die Angelegenheit auf seine Weise erledigt, aber ein großes Amt innezuhaben hieß nicht nur Ruhm und Macht, sondern auch Pflichten zu haben, auch wenn er sie wie in diesem Moment sehr gerne abgegeben hätte. Er stand vor einem mannshohen Spiegel und betrachtete sein Ebenbild. Er war ein großer blonder Hüne mit dichtem Haupt- und Barthaar und stahlblauen Augen, die im Moment ernst unter den buschigen Brauen hervorblickten. Seine Statur war die eines Mannes, der die meiste Zeit seines Lebens auf Schlachtfeldern verbracht hatte und manchmal fehlte ihm diese Art der Konfliktregelung. Er war kein geduldiger Redner, der Probleme stunden- oder sogar tagelang beredete, das war mehr Dashiells Art der Konfliktlösung, er war ein Mann der Tat und manchmal schien seine Aufgabe als Ratsältester eine zermürbende, sich zu Tode redende Arbeit zu sein.
Raghnall vom Braeden strich mit der bedächtigen Bewegung eines alten Mannes den Kragen seines maßgeschneiderten Anzugs zurecht. Die Bewegung trotzte seinem Aussehen und seiner körperlichen Verfassung. Er war alt. Fünftausend Jahre und ein paar unwichtige Jahre dazu, doch sein Aussehen war das eines Mannes Anfang fünfzig, der sich immer noch sehr gut gehalten hatte und den man eher auf Ende vierzig schätzte. Raghnall ließ von seinem Kragen ab und mit einem Mal sang in seinem Geiste eine junge Frau mit klarer heller Stimme ein altes irisches Kriegslied, welches begann, in dem es von einer Schlacht in einem breiten, dunklen Tal handelte.
Sie sang von den vielen tapferen Männern, die in dieser Schlacht ihr Leben gelassen hatten, von dem Erlöschen des großen Sternes und von dem Erstrahlen eines neuen Sterns. Sie sang von einem viel zu jungen Heerführer und bat Gott den Allmächtigen, dass er diesem jungen Mann immer gut gewillt sein möge. Er hatte dieses Lied seit über fünfhundert Jahren nicht mehr gehört geschweige denn daran gedacht und jetzt kam es ihm wieder in den Sinn. Er erinnerte sich mit einem Mal daran, wie dieses Lied nach jeder großen Schlacht in der großen Burg gesungen worden war, wie die klare Stimme einer Frau durch die große steinerne Halle geklungen und die Heimkehr der Krieger begleitet hatte. Der Barde hatte es geschafft, das Lied so zu schreiben, dass, wenn es im richtigen Moment begonnen wurde, der Sänger die Namen der Krieger nannte, wenn diese das große Tor zur Burg passierten. Raghnall hatte diesem Schauspiel mehr als nur einmal in seinem Leben beigewohnt. Frauen hatten vor Freude geweint, Männer gejubelt. Kinder rannten kreischend neben den mächtigen Kriegsrössern her und im Inneren der Burg, in der großen steinernen Halle stand eine junge Sängerin mit einer Stimme so klar und rein wie ein Gebirgssee und sang die Namen derer, die das Tor passierten.
Raghnall ordnete seine Krawatte, legte sich seinen schweren knöchellangen Umhang aus Wolfsfell um die Schultern, richtete sich auf und ging mit energischen Schritten zur Zimmertür.
„Bei allen Göttern, möge dieser Abend doch schon zu Ende sein“, murmelte er leise und schloss die Tür hinter sich, immer noch dieses alte, fast vergessene Lied in seinen Gedanken.
Julien fiel aus allen Wolken, als Phelan ihm mit ernster Miene eine Schriftrolle entgegenstreckte, die ein Bote gebracht hatte. Ohne den Inhalt zu lesen, wusste er, was darin stand.
„Sie wissen es also“, flüsterte er rau. Phelan gab ihm nur ein Nicken als Antwort. Julien schluckte hart, entrollte die Schriftrolle und las mit angespannter Miene.
„Morgen schon!“, rief er entsetzt aus. Wie sollte er es schaffen, in weniger als zwanzig Stunden genügend Sachen zu packen und zu flüchten? Leichte Panik überkam ihn. Phelan legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Keiner ist allein“, tröstete er Julien mit einem sanften Lächeln. Julien nickte nervös.
„Ja“, nuschelte er undeutlich. Trotzdem durfte er doch Todespanik haben, oder!?
Was war eigentlich die Steigerung von Panik, fragte sich Julien und tigerte rastlos durch das Wohnzimmer, während er auf seine drei Mitbewohner wartete. Da er kein Wort dafür in seinem Wortschatz fand, beschloss er, dass es an der Zeit war, dass irgendein kluger Kopf sich dafür bitteschön ein Wort auszudenken hatte, immerhin war er im Moment in diesem Gemütszustand. Julien räusperte sich laut und legte den Kopf in den Nacken. Er konnte eigentlich froh sein, dass es so lange gedauert hatte, bis sie eine Versammlung dazu einberufen hatten, immerhin waren seit dem Kampf in der vergessenen Halle unter der alten Kirche nun schon vier Wochen vergangen. Oder war es einfach nur Taktik gewesen, damit sie sich in Sicherheit wogen? Jetzt begann er leicht paranoid zu werden, Julien rief sich zur Vernunft.
Er war nicht allein.
Keiner ist allein, hatte Phelan ihm gesagt, keiner ist allein. Dieser Satz wirkte normalerweise sofort beruhigend auf ihn. Zumindest damals, bei den Wölfen vom Braeden, hatte er immer gewirkt, wenn Phelan es zu ihm gesagt hatte. Keiner ist allein. Gemeinsam würden sie vor den Rat treten, gemeinsam würden sie sprechen und gemeinsam würden sie die Entscheidung des Rates anhören und akzeptieren müssen. Er seufzte und ergab sich seinem Schicksal.
Sie warteten in einer riesigen unterirdischen Halle, die beinahe so alt war, wie die Sterne, gebaut von Männern und Frauen, die schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilten. Einst war es eine Halle gewesen, in der ihre Ahnen zu ihren Göttern gebetet und Rituale zelebriert hatten, jetzt war es einer von vielen Versammlungsorten auf der Welt, wo sich der Rat traf und beriet.
Gegenüber dem zweiflügligen Tor, in dessen fast versteinertes Holz magische Runen und Schutzzeichen geritzt waren, saßen Raghnall O‘Braeden und Dashiell Delano auf ihren steinernen Thronen. Der Saal war angeordnet wie ein römischer Senat und in den obersten Reihen saßen die Ratsobersten, in den untersten die Schriftführer der Clane, Rudel und Zirkel. Die schier endlosen Wände waren geschmückt mit den prunkvollen Wappen der Mitglieder.
Sie umringten mit ihren steinernen Sitzreihen einen großen sandigen Platz. Dort, auf der freien Fläche, umringt von den Ratsmitgliedern standen die, die den Grund für das Zusammentreffen verursacht hatten.
Schweigen breitete sich aus, selten hörte man das Rascheln von Stoff oder wie die Kissen, auf denen die Mitglieder saßen, zurechtgerückt wurden.
Die Anspannung war beinahe greifbar.
Dann, als man glaubte, die Luft beginne schon zur sirren, wurde das versteinerte Tor geöffnet und sie traten ein. Fast alle hielten die Luft an, für einige von ihnen war es das erste Mal, dass sie Fáelán vom Braeden sahen, und für den Rest war es einfach ein ehrfürchtiger Moment. Er ging voran, nicht dass er es bestimmt hätte, aber man betrat so einen Ort nicht vor Fáelán vom Braeden, er war der Heerführer der Wölfe vom Braeden gewesen, er war der, vor dem die Welt gezittert hatte. Er hatte Kriege beendet, die endlos zu sein schienen, hatte Gerechtigkeit zu Orten gebracht, wohin sich keiner gewagt hätte, hatte bei Völkern Bündnisse entstehen lassen, die keine Bündnisse eingingen. Er war der Stern des Braeden gewesen. Phelan trug einen langen schweren Mantel aus glänzendem schwarzen Bärenfell, das einzige Geschenk seines Großvaters, das er mit Freuden entgegengenommen hatte, Raghnall wusste nicht, ob sein Enkelsohn ihn trug, um ihn zu ehren oder zu verletzen, vermutete aber eher Letzteres.
Julien ging zu seiner Rechten, erhobenen Hauptes aber unverkennbar nervös, Conor der Wolf zu Phelans Linken. Yuri der Rabe saß auf Phelans Schulter.
Sie schritten zur Mitte des Platzes, die Blicke fest auf Raghnall und Dashiell gerichtet. Hinter ihnen fiel das schwere Tor ins Schloss und Julien verkniff sich mit Mühen, sich zu der verschlossenen Tür umzudrehen.
Zeig ihnen keine Furcht. Sie sind es nicht wert, sie zu erkennen, hatte Phelan ihm eingeschärft und seine Stimme hatte bitter geklungen. Julien tat sich schwer, sich daran zu halten. Er schluckte hart.
„Sprecht“, verlangte Dashiell und seine klare kräftige Stimme wurde von den Wänden zurückgetragen und hallte wie ein Donnern durch die Halle.
Phelan trat einen weiteren Schritt vor und ließ seine Freunde hinter sich.
„Ich bin Fáelán vom Braeden, Sohn des Conlaoch vom Braeden, Sohn der Morrigan von Schottland. Neben mir steht Conaire vom Braeden, Sohn des Conlaoch vom Braeden, Sohn der Morrigan von Schottland. Auf meiner Schulter sitzt Yuri Borondin, Sohn des Vladimir Borondin, Sohn der Ana Borondina.“ Er trat zurück und stellte sich neben Conor und Julien. Julien leckte sich hastig über die Lippen, hoffte, dass seine Stimme nicht versagen würde, und trat vor.
„Ich bin Iulius Delanius Kahor-Ra min Waset, Sohn des Dasiellos Delanious, Sohn der Iihria-Amun min Waset“, stellte er sich vor und ging hastig wieder nach hinten.
Erneut entstand Schweigen.
Taktik, wisperte Yuri in Juliens Kopf. Die wollen einen mürbe machen.
Julien stellte fest, dass es bei ihm außerordentlich gut funktionierte. Schließlich erbarmte sich sein Vater und setzte zum Sprechen an.
„Habt ihr allen Ernstes geglaubt, wir würden es nicht herausfinden?“, fragte er tadelnd. Julien senkte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe. Geglaubt hatte er es nicht, eher gehofft, aber er schwieg, denn sein Vater wollte nicht wirklich eine Antwort von ihnen hören.
„Habt ihr tatsächlich geglaubt, wir würden es nicht herausfinden?“, hakte Dashiell nach. Wieder schwiegen die vier auf dem sandigen Platz.
„Einhundertsiebenundvierzig Männer, die alle in einer Nacht urplötzlich verschwinden?!“ Dashiells Stimme wurde schärfer.
„Haben wir dir nicht erst bei unserem letzten Besuch eingeschärft, dass du dich unauffällig zu verhalten hast, Fáelán vom Braeden?“, warf er Phelan vor. Der hob trotzig den Kopf.
„Nennst du das etwa unauffällig?“, donnerte Dashiell los. Phelan wartete, bis der Hall seiner Stimme verklungen war, bevor er einen Schritt vortrat.
„Hätte ich weiterhin zusehen sollen, wie sie unsereins einen nach dem anderen töten?“, erwiderte er kühl.
„Vier Wochen sind seit diesem Vorfall vergangen und es gab in keiner Zeitung und in keiner Nachrichtensendung einen Bericht über sie. Bei keiner Behörde wurde eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Ich wage also zu behaupten, dass ich meine Arbeit gut und äußerst bedeckt vollzogen habe.“
Bevor einer einen Einwand erheben konnte, trat Phelan einen weiteren Schritt vor. Seine schwarzen Augen funkelten angriffslustig.
„Oder hätte ich gar zulassen sollen, dass sie mich töten?“
Es war eine Provokation, gerichtet an die, denen Phelan nicht einmal einen Kieselstein anvertraute, gerichtet an die, von denen Phelan zu wissen glaubte, dass sie nicht das waren, was sie vorgaben zu sein, gerichtet an die, die seinen Tod herbeisehnten. Unruhe machte sich breit und mit einem kurzen triumphierenden Aufleuchten in seinen Augen fuhr Phelan fort.
„Hätte ich zulassen sollen, dass sie den Einzigen töten, der die Bibliothek verwalten kann? Wen hättet ihr als Nachfolger genommen?“
„Es stellt sich mir hier die Frage, wie du auf die Idee kommst, dass sie ausgerechnet dich töten wollten“, wandte einer der vierzehn Ratsältesten ein. Phelan drehte ihm das Gesicht zu und lächelte kalt.
„Weil ich einen ihrer Brüder getötet habe, als ich von ihnen angegriffen wurde. Sie sind sehr nachtragend, musst du wissen“, klärte er geduldig auf. Sein Blick wurde beinahe sanft.
„Das Einzige, was ich also getan habe, das Einzige, was ihr mir hier also tatsächlich vorwerfen könnt, ist die Tatsache, dass ich genau das getan habe, was ihr von mir verlangt habt. - Ich schützte die Bibliothek mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln“, erklärte er erhaben. Julien verkniff sich ein Grinsen, als er die teils kritischen, teils zustimmenden, teils ungläubigen Gesichter um sich herum sah. Ja, dachte er, zufrieden mit sich selbst, dieser Einwand war eine meiner Glanzleistungen.
Julien war auf halber Strecke zum Versammlungsort eingefallen, dass sich Phelan keinerlei Verfehlung zuschreiben lassen musste. Er hatte sich verteidigt und somit auch die Bibliothek. Ganz so, wie es von ihm verlangt worden war. Wenn auch auf Phelans Weise. Mit einem großen Knall und einer noch größeren Wirkung. Er hatte die Dauer des Fluges dazu genutzt, Phelan eine kleine Rede einzubläuen, die sich gewaschen hatte. Julien wünschte sich, dass sie noch weiter nachbohrten, denn die Argumente, mit denen Phelan dank Juliens Wortgewandtheit auftrumpfen konnte, waren seiner Meinung nach beinahe genial.
„Wer hat euch dabei geholfen?“, knurrte Raghnall gereizt. Egal was er selbst darüber dachte, ob er gut hieß, was seine Enkelsöhne und deren Freunde getan hatten oder nicht, er durfte es weder zeigen, noch laut aussprechen, was seine Laune nicht wirklich hob. Julien unterdrückte ein frustriertes Fauchen, als der alte Wolf das Thema wechselte. Er hätte gerne ihre Gesichter gesehen, wenn Phelan diese sagenhafte Rede geschwungen hätte.
„Niemand“, antwortete Phelan prompt. Dashiell stieß einen ungläubigen Ton aus.
„Phelan“, warnte er ärgerlich. „Halt mich nicht zum Narren. -Wer hat euch dabei geholfen?“, wiederholte der alte Vampir und zwang sich zur Ruhe.
„Namenlose Einzelgänger.“
Dashiell schloss die Augen. Die Ratsmitglieder begannen zu tuscheln, er konnte Ärger in den Stimmen hören.
„Fáelán vom Braeden, ich warne dich; ich werde dich jetzt ein letztes Mal fragen und dieses Mal verlange ich eine ehrliche Antwort: Wer hat eu…“
Vor dem steinernen Tor konnte Dashiell einen Tumult hören, der ihn abrupt verstummen ließ.
„Es sieht jetzt sofort einer nach, was zum Teufel da draußen los ist!“, blaffte er einen Wachmann an, der zackig salutierte und zur Tür hastete. Er streckte gerade die Hand zur Klinke aus, als das Tor aufschwang und ihm so kräftig gegen das Gesicht knallte, dass der arme Kerl bewusstlos mit einer gebrochenen Nase in sich zusammensackte. Dashiell war kurz davor, einen Wutausbruch zu bekommen.
Unter dem nun geöffneten Durchgang stand Ian O’Braeden.
Er grinste breit, verneigte sich leicht vor den Anwesenden und trat dann ungefragt und unaufgefordert ein. Ihm folgten Darragh und Tariq, Beigan und Borgúlfr und zuletzt Sybilla und ihr Sohn Desmond. Julien stöhnte leise auf. Das würde in einer Katastrophe enden. Das konnte nur in einer Katastrophe enden.
Raghnall blinzelte ungläubig.
„Was zur Hölle wollt ihr hier?“, schnauzte er die Neuankömmlinge an. Ian trat unbeeindruckt näher.
„Großvater. Onkel Dashiell“, grüßte er artig und verneigte sich erneut. Bevor er allerdings mit seinem losen Mundwerk ein mittleres Desaster anrichten konnte, trat Darragh vor.
„Dashiell. Raghnall“, fuhr Darragh Ian ins Wort. „Wir sind hier, um zu sprechen. Und wir sind hier um hinter unserem Heerführer zu stehen.“
„Er ist nicht mehr euer Heerführer“, fauchte einer der Ältesten empört und sprang auf. Darragh wandte ihm gelassen den Kopf zu.
„Vor vier Wochen war er es“, korrigierte er ruhig. Dann wandte er sich wieder Raghnall und Dashiell zu.
„Ich bitte euch. Weswegen stehen wir wirklich hier?“, fragte er. Julien fiel aus allen Wolken. Darragh stellte hier vor der großen Versammlung eben diese infrage? Er schloss die Augen und verabschiedete sich von der Villa und vor allem von Phelan. Es stand völlig außer Frage, dass sein Vater ihn nicht wieder dorthin gehen ließ.
„Wenn ihr Phelan, Julien, Conor und Yuri anklagt, etwas getan zu haben, dann müsst auch uns anklagen, denn wir waren dabei und haben sie unterstützt.“ Darragh machte eine knappe Bewegung, die die hinter ihm einschloss. Phelans spöttischem Lächeln schenkte er einen knappen warnenden Blick, augenblicklich damit aufzuhören, und tatsächlich wurde dessen Miene schlagartig ernst und verschlossen. Darragh nickte ihm zufrieden zu.
„Trotzdem möchte ich, dass ihr mir vorher beantwortet, weshalb hier alle versammelt sind. Und weshalb alle so tun, als ob wir diejenigen wären, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht hätten. Nicht wir haben unsere Brüder und Schwestern ermordet und es eine heilige Tat genannt. Nicht wir haben die Augen davor verschlossen und gehofft, dass sich die Wogen von allein wieder glätten. Nicht wir haben angegriffen, wir wurden angegriffen. Eure Bibliothek, eure heilige Bibliothek war in Gefahr und ihr habt nichts getan, um sie in Sicherheit zu bringen!“ Darraghs Stimme wurde weder lauter, noch klang sie vorwurfsvoll, aber die Ratsmitglieder verstummten eingeschüchtert.
„Euer Bibliothekar war in Gefahr. Sie hatten geplant, ihn zu töten, und ich will nicht wissen, was sie mit unseren Großen Schriften getan hätten, wären sie ihnen in die Hände gefallen! Nicht wir haben geschwiegen und gewartet und gehofft, dass sich alles von allein in Wohlgefallen auflöst! Nicht wir standen untätig da und haben weiterhin zugelassen, dass unsere Chroniken in Gefahr geraten! Wir haben das getan, was getan werden musste: Wir haben unseren wertvollsten Schatz beschützt und verteidigt. Und wir haben gesiegt!“
Es war eine ungeheure freche Rede, die der große Wolf hielt.
Ein weiterer der vierzehn Ältesten schoss in die Höhe.
„Wie kannst du es wagen, Klippensohn?“, zischte die alte Vampirin. Sie wirkte, als ob sie von ihrem erhobenen Sitz springen und sich auf Darragh stürzen wollte.
„Ich wage es, weil es die Wahrheit ist“, erwiderte dieser kühl. Unruhe machte sich breit.
„Still!“
Raghnall donnerte seine flache Hand auf die Lehne seines Thrones und augenblicklich herrschte Stille in der Halle.
„Ich will jetzt ganz genau wissen, was dort passiert ist. Und zwar jedes einzelne verfluchte Detail. Angefangen beim ersten Toten bis hin zu eurem Abflug! SOFORT!“, verlangte er schneidend.
„Und ihr packt eure verdammten Ärsche augenblicklich wieder auf eure Sitze oder ihr könnt gehen! - Und kümmert sich vielleicht einmal jemand um den armen Idioten vor der Tür oder soll er verbluten?“
Kurz wurde es hektisch in den Rängen. Hastig wurde sich wieder auf die Plätze gesetzt und der Wachmann mit seiner gebrochenen Nase wurde von zwei anderen Wachen auf die Beine gezerrt und aus der Halle gebracht. Raghnall wartete noch kurz ab, ob die Ruhe wirklich von Dauer sein würde, dann wandte er sich an Julien.
„Da du für alle hörbar reden kannst, Iulius, wirst du reden“, bestimmte er schließlich. Julien verneigte sich ergeben. Er warf einen fragenden Blick zu Phelan, der zustimmend nickte, dann trat er vor und begann zu erzählen. Er ließ nichts aus und nannte, nachdem Yuri ihm das gedankliche Einverständnis von Phelan gegeben hatte, alle Namen und endete mit der Abreise seiner Freunde.
„Das war alles?“, hakte Raghnall nach, als Julien geendet hatte.
„Ja“, stimmte Julien zu.
„Möchte noch einer von euch etwas hinzufügen?“, wollte Dashiell wissen und ließ seinen Blick schweifen. Keiner trat vor.
„Gut. Ihr könnt gehen. Wir werden uns jetzt beraten und dabei habt ihr nichts verloren“, entließ er die kleine Gruppe unter sich.
Phelan deutete ein steifes Nicken an, bevor er sich umdrehte und aufrecht und erhobenen Hauptes zur großen Tür schritt. Die anderen verneigten sich ebenfalls, bevor sie ihrem Heerführer folgten.
Vor der Tür warteten neue Wachen, die alten, die die sieben ungeladenen Gäste bewusstlos geschlagen hatten, um sich Eintritt zu verschaffen, waren verschwunden, wahrscheinlich hatte man sie weggebracht, wo sie sich um ihre Verletzungen kümmern konnten. Wortlos wurden sie flankiert und den langen, gewundenen Gang stetig nach oben geführt. Schließlich endete ihr Marsch an einer unscheinbaren Holztür. Der vorderste Wachmann trat vor, klopfte energisch und wartete, bis die Tür von außen geöffnet wurde. Eine weitere Wache stand dort. Es fand eine stumme Konversation zwischen den beiden Wachmännern statt, dann wurden sie durchgelassen. Sie betraten den Keller eines riesigen Anwesens.
Auf der Erdoberfläche stand ein altes Schloss, umringt von einem parkähnlichen, gut eingezäunten Garten. Raghnall hatte vor Jahrhunderten den Grund in seinen Besitz gebracht; zum einen, um eine Unterkunft zu haben, die bei Versammlungen Platz für die wichtigsten Ratsmitglieder hatte, zum anderen, um zu vermeiden, dass unerwünschte Personen diesen Versammlungsort entdeckten oder gar betraten.
Die Wachen verteilten sie in verschiedene Zimmer und postierten sich vor den Türen. Keine zehn Minuten, nachdem sich hinter Phelan die Tür geschlossen hatte, wurde sie jedoch wieder geöffnet und seine Kameraden und Freunde traten ein. Phelans Blick war tadelnd.
„Keine Panik, großer Heerführer, sie leben alle. - Noch“, wiegelte Beigan lapidar ab und stellte zwei Flaschen Whiskey auf die Kommode. Desmond stellte Gläser daneben und begann sie mit dem Whiskey zu füllen. Phelan lächelte schief.
„Wollt ihr jetzt etwa alle hier schlafen?“, neckte er. Borgúlfr trat an Phelans Bett und testete mit der Hand die Matratze.
„Nein. Dein Bett ist zu hart für mich“, behauptete er ernst. Ian grinste breit und Julien kicherte. Phelans Blick fiel auf ihn.
„He, ich wurde aus meinem Zimmer gekidnappt. - Von meinem eigenen Sohn sogar!“, verteidigte er sich mit Unschuldsmiene. Desmond grinste Phelan teuflisch an während er ihm ein Glas in die Hand drückte.
„Hier kommt Essen.“ Ian schob mit seinem Hintern die Tür weiter auf und rollte einen Berg Speisen auf einem Servierwagen herein. Phelan beschloss, dass er nicht wissen wollte, wie sein Vetter das so schnell organisiert hatte.
„Ich denke nicht, dass es die richtige Zeit für ein Fest ist“, wandte er halbherzig ein.
„Wer redet von feiern? Ich hab Hunger“, behauptete Ian und schlug die Tür mit seinem Fuß zu. Phelan verschränkte trotz dem Glas in der Hand die Arme vor der Brust.
„Kinder“, mahnte er tadelnd.
„Nenn mich nicht, Kind, kleiner Wolf, ich habe deine Windeln gewechselt und deine dreckigen Hände gehalten, als du Laufen gelernt hast“, warnte Darragh streng. Phelan stieß einen Frustseufzer aus und verdrehte die Augen.
„Freunde“, versuchte er es erneut und als keiner reagierte, beschloss er, auf eine andere Art zu versuchen, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Er holte tief Luft und stieß einen ohrenbetäubenden Pfiff aus. Augenblicklich verstummten alle. Juliens Ohren klingelten und er wusste, dass es den anderen genauso ging. Mit einem bösen Blick auf Phelan steckte er sich einen Finger ins Ohr und wackelte damit herum, in der Hoffnung, das Klingeln wegzukriegen. Borgúlfr knurrte missmutig.
„Was sollte das denn?“, motzte Beigan gereizt und versuchte, einen Unterdruck in seinem Ohr herzustellen, der das Klingeln beenden würde.
„Ganz einfach. Wir haben schon genug Ärger, müssen wir uns unbedingt noch mehr davon einhandeln?“, fragte Phelan ruhig. Sybilla schnalzte mit der Zunge.
„Herzchen“, begann sie lächelnd, „was haben wir immer gesagt?“
Phelan runzelte verwirrt die Stirn.
„Was im Heer geschieht, bleibt im Heer?“, wollte er wissen. Die Wölfin verdrehte mit einem Aufstöhnen die Augen.
„Ja, du Idiot, das auch. Aber das ist wohl kaum hilfreich im Moment. - Nein, du großer Dummkopf. Den anderen Satz“, fuhr sie ihn an. Desmond kicherte verhalten und Ian gab ihm einen groben Stoß in die Rippen, der ihn schlagartig verstummen ließ.
„Sie meint: Keiner ist allein, du Ziegenschiss.“ Beigan machte einen Satz und sprang Phelan grinsend auf den Rücken. Er gab ihm einen dicken Schmatzer auf die Wange.
„Dann verbannen sie uns eben auch. Drauf geschissen, wir waren sowieso nie abhängig von denen. Auf sie alle geschissen, wenn es sein muss“, behauptete er gut gelaunt und hing an Phelan wie ein langer schlaksiger Affe.
„Hör auf, dir einen Kopf zu machen. Wir feiern hier keine Pyjama-Party, kleiner Wolf, wir sitzen zusammen und analysieren. - Wenn jemand das Zimmer betreten sollte.“ Darragh zerzauste Phelans Haare, dann griff er sich eine Handvoll Häppchen vom Servierwagen und setzte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer.
„Meinetwegen. Geh von mir runter, Beigan, ich will mich hinsetzen“, seufzte Phelan ergeben und schüttelte Beigan ab. Der Vampir landete mit einem breiten Grinsen elegant auf dem Boden.
„Erzählt, Freunde. Was habt ihr so getrieben?“ Phelan warf sich auf sein zu hartes Bett und nippte an seinem Glas.
„Och, ich bin seit ein paar Jahren Schönheits-Chirurg“, meinte Beigan lässig, bevor er sich auf das Fußende vom Bett setzte. Julien verschluckte sich an seinem Whiskey.
„Du bist Arzt?“, japste er schockiert. Jeder, der von Beigan einmal seine Wunden versorgt bekommen hatte, nahm danach laut um Hilfe schreiend Reißaus, wenn der Vampir seine Hilfe anbot. Er war - gelinde gesagt - brutal. Und Beigan genoss es, seinen Patienten Schmerzen zuzufügen.
„Du quälst Menschlinge und wirst dann auch noch dafür bezahlt? - Die Welt ist ein Scheißpfuhl.“ Julien lachte ungläubig. Beigan lachte laut los.
„Ich LIEBE diesen Job! Ehrlich, Leute. Und wisst ihr, was mir am meisten gefällt!? - Nasenoperationen! Da nehm ich diesen klitzekleinen Hammer und dann hämmer ich mich fröhlich durch die Knorpel; es knackt und knirscht und dann ist ein Stückchen abgeschlagen und das zieh ich dann ganz langsam raus …“
„Oh, bitte! Danke! Das reicht!“, rief Julien angeekelt und hielt sich die Ohren zu.
„Danke für die freundliche Beschreibung, Beigan Einarsson“, bemerkte Darragh trocken. Beigan verneigte sich leicht vor ihm.
„Immer wieder gerne. - Wartet mal, bis ich euch Fettabsaugungen erzähle“, grinste er breit.
„Danke, verzichte. Wie hältst du das mit dem ganzen Blut aus? Willst du da nicht irgendwann mal zu beißen?“, wollte Julien wissen.
„Man gewöhnt sich daran. Und ich war noch nie so blutgeil wie ihr. Mich macht viel Blut nicht kirre.“ Beigans Blick war eindeutig triumphierend. Julien schnitt ihm eine Grimasse.
„Danke, dass du mich als Blutrausch-anfällig bezeichnest“, knurrte er. Beigan warf ihm einen Handkuss zu.
„Immer wieder gerne, mein wunderschöner Freund“, flötete er charmant. Julien grunzte leicht beleidigt.
Phelan zog die Beine an und stellte sein Glas auf einem Knie ab. Mit einem wehmütigen Lächeln auf dem Gesicht betrachtete er seine Freunde. Borgúlfr neckte Desmond, der wie ein kleines Kind kicherte, Ian erzählte Yuri und Conor einen garantiert zotigen Witz. Julien und Beigan diskutierten über Beigans Berufswahl. Tariq machte Sybilla die verschiedenen Häppchen schmackhaft. Er sah zu Darragh, der ihn mit einem warmen Lächeln auf den schmalen Lippen wissend ansah und erwiderte es. Sie hatten ihm gefehlt. Jeder Einzelne von ihnen hatte ihm gefehlt. Auf die Strafe geschissen, Beigan hatte recht. Wer wusste, wie viel Zeit ihnen noch miteinander blieb, sie sollten jede Sekunde davon gemeinsam genießen. Er leerte sein Glas. Kaum hatte er es wieder abgesetzt, stand Desmond neben ihm und schenkte ihm nach. Phelan lächelte dankbar, streckte den Arm aus und Desmond schmiegte sich wie ein kleines Kind an ihn.
Er liebte sie. Sie waren, wie sie waren. Wild, laut und dreist. Und es war sein Heer.
Seine Familie.
Sein Rudel.
Phelan lag angezogen auf seinem Bett und lauschte der Stille des Hauses. Niemand war gekommen und hatte seine Freunde wieder zurück in ihre Zimmer geführt. Weder Raghnall noch Dashiell waren vorbeigekommen und hatten sie gerügt. Es hatte keinen gestört, dass sie sich wiedersetzt hatten - und zwar gewaltsam - und ihre Zimmer verlassen hatten, obwohl es eindeutig gewesen war, dass sie dort zu bleiben hatten. Getrennt. Phelan fragte sich, ob ihn das in irgendeiner Art beunruhigen sollte.
Ein leises Kratzen erklang an seiner Tür.
Phelan erhob sich und öffnete. Auf dem Boden hockte Yuri und glotzte zu ihm hoch.
Ich hab sie gefunden. Bist du dir sicher, dass es eine gute Idee ist?, fragte der Vogel kritisch.
„Nein, ich denke eher es ist keine gute Idee, aber es ist die einzige, die mir einfällt. Wenn du einen besseren Vorschlag hast, dann darfst du ihn mir gerne mitteilen. Ich bin für jede Idee offen“, erwiderte Phelan, fuhr sich durch die Haare und verließ lautlos sein Zimmer.
„Zeig mir den Weg.“
Yuri flog voran und lotste Phelan ein Stockwerk nach unten ans Ende eines langen Flures.
Hier, sagte er und Phelan klopfte an.
Nach wenigen Sekunden wurde die Tür von innen geöffnet und Lyria von Theben stand vor ihm. Sein Herz begann, bei ihrem Anblick schneller zu schlagen.
Sie war eine wunderschöne Frau, nein, sie war einer Göttin gleich. Ihre zarte Haut hatte den Farbton von heller Bronze, ihr Gesicht war ebenmäßig und voll ästhetischer Schönheit. Ihre Lippen waren voll, ihre Nase schmal und gerade, ihre großen schwarzen Augen mit den langen Wimpern hatte sie mit Kohle umrahmt. Ihr hüftlanges nachtschwarzes Haar fiel offen über ihre zarten Schultern. Phelans Blick wandere unwillkürlich ihren langen Hals hinab, glitt über ihre grazile Figur, streifte die vollen Brüste und ruhte nur kurz auf ihrer schmalen Taille, bevor er über die geschwungenen Hüften an ihren schier endlosen Beinen entlang an ihren zarten Füßen stoppte.
„Was willst du hier?“, fragte sie kalt.
„Ich muss mit dir reden. Es ist wichtig“, antwortete Phelan sanft. Lyria presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und fixierte ihn eindringlich. Er hielt ihrem Blick stand. Er hatte nichts vor ihr zu verbergen. Schließlich nickte sie und gab ihm den Weg ihn ihr Gemach frei. Phelan trat ein und schloss hastig die Tür hinter sich.
„Ich werde dich nicht lange belästigen“, begann er und schritt unaufgefordert in die Mitte des Zimmers, wo sich ein großer Diwan befand. Er nahm Platz und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
„Hör mich an, Lyria. Versuch zu ignorieren, wer mit dir spricht und höre nur auf meine Worte. Es ist wichtig, dass etwas geschieht. Der Rat muss handeln. Der Pfarrherr, der die Halbwesen angeführt hat, hat mir gesagt, sie seien überall und sie würden uns vernichten. Wenn er wirklich recht hatte, dann sind wir alle in großer Gefahr.“ Phelan erhob sich wieder und tigerte unruhig Auf und Ab. Mit einem Ruck wirbelte herum und hastete auf Lyria zu, die mit verschränkten Armen wie eine Statue an der Tür stand. Ihr Blick war kalt.
„Ich habe kein Wort mehr im Rat, aber du. Auf dich werden sie hören, sie hören immer auf dich“, beschwor Phelan sie und fiel vor ihr auf die Knie.
„Lyria, um deines Sohnes willen! Um seiner kommenden Söhne willen! Es geht nicht um dich oder um mich, es geht um unsere Völker! Sie waren nicht dabei, dort unten in dem Gewölbe, sie haben nicht gegen sie gekämpft! Aber ich habe es! Lyria, sie sind eine meisterhafte Armee voller Märtyrer die ihren eigenen Tod nicht scheuen! Sie sind uns regelrecht in die Schwerter gerannt! Und sie haben Elitekrieger, die beinahe so stark und wendig sind wie Viktor!“ Phelan senkte den Kopf und legte die Hände in seinen Schoß.
„Es ist Eile geboten, Lyria. Der Rat muss handeln und herausfinden, ob die Worte des Priesters der Wahrheit entsprechen. Es müssen ihre Bauten ausfindig gemacht und sie vernichtet werden. Ich habe keine Beweise für meine Worte, ich weiß nicht, ob sie viele dieser Elitekämpfer haben oder nicht, ich weiß nicht, wie viele es noch von ihnen gibt und wo sie sich verstecken, ich weiß überhaupt nichts, außer dem Geschwafel eines wahnsinnigen Pfaffen, der mir entgegen gespien hat, sie seien überall und sie würden uns vernichten und der sich dann in mein Schwert stürzte. Das ist der einzige Beweis, den ich habe. Das und mein Gefühl. Mein Gespür warnt mich davor, eine große Dummheit zu begehen und diese Drohung zu ignorieren. Hilf uns, Lyria. Ich flehe dich an, bitte hilf uns.“ Er hob den Kopf und sah ihn ihr wunderschönes Gesicht. Er sah in ein Gesicht, das Kriege ausgelöst und Männer um den Versand gebracht hatte. Sie sah ihn ohne Regung an. Er wartete geduldig.
„Und warum kommst du mit deinem Gejammer zu mir?“, fragte sie ihn schließlich. Nicht nur ihr Körper war wunderschön, ihre Stimme war warm und klar und schien in seinen Fasern zu vibrieren und ihn zum Erzittern zu bringen. Ein Wort, gesprochen mit dieser Stimme, konnte einen Mann in den Untergang stürzen. Sie hatte ihn selbst schon beinahe in den Untergang gestürzt.
„Weil du klug bist. Und weil du ... weil du nicht so bist wie sie, weil ... weil du anders bist, weil du hinter die Dinge sehen kannst, weil du nicht zögerst zu handeln. Und weil du sie als Einzige davon überzeugen kannst, etwas zu unternehmen“, gestand er leise. Und vielleicht war er auch zu ihr gekommen, weil sie sich vor langer Zeit einmal geliebt hatten. Phelan senkte wieder den Blick und hoffte, sie würde ihm helfen. Lyria sah auf ihn herab, wie eine grausame Todesgöttin, nichts wies darauf hin, dass seine Worte etwas in ihr bewegt hätten.
„Was ist in den Gängen in New Orleans geschehen, Fáelán vom Braeden?“, wollte sie wissen.
„Wir haben auf sie gewartet. Als ihr Pfarrherr uns sah rief er zum Angriff und floh. Wir haben sie getötet. Ich hoffte, mit ihm reden zu können, doch das Einzige, was er sagte, war, dass sie überall seien und sie uns vernichten würden. Ich fragte ihn nach seinen Befehlshabern, doch er schrie nur, dass sie allmächtig seien und unter Gottes Gnaden stünden und der heilige Michael seine Hand über sie halten würde. Dass sie uns Dämonenbrut vernichten würden. Dass sie überall seien. Dann warf er sich in mein Schwert. Dort waren Krieger, Riesen größer als zwei Meter, mit Schultern, die einen Türrahmen sprengen würden. Sie waren schnell und unglaublich stark. Sie sind zu nichts anderem gezüchtet worden, als um brutal zu töten. Sie waren etwas Besonderes unter ihnen, man konnte es ihnen ansehen, dass sie regelrecht verehrt wurden, weil sie so unglaublich stark waren. Einer von ihnen hat seine Axt mit nur einem Hieb so tief in meine Schulter geschlagen, dass mein Arm nur noch an ein paar Sehnen und Hautfetzen hing. Er hätte mich beinahe besiegt“, erzählte er heiser.
„Sag an, dann hattest du also beinahe deinen Meister gefunden“, spottete sie hart. „Seltsam, ich hätte gedacht, es werde einmal ein Wolf sein, der dir das Wasser reichen kann und nicht ein jämmerliches Halbwesen. Wie ich sehe, ist deine Wunde jedoch gut verheilt, oder trägst du eine Prothese?“, höhnte sie, schritt anmutig zu einem Tischchen und goss sich frisches Blut in ein mit Edelsteinen verziertes Glas. Phelan schluckte den Spott hinunter und erhob sich langsam.
„Glaub mir, Lyria. Sie sind gefährlich. Ich sage es nicht gern, aber sie könnten unseren Untergang bedeuten.“ Seine schwarzen Augen sahen sie voller Trauer und Ernst an.
„Wirst du nicht ein wenig dramatisch, Phelan?“ Lyria stellte das geleerte Glas auf den Tisch zurück. Phelan packte sie fest an den Oberarmen.
„Lyria, das hat nichts mit Dramatik zu tun, verdammt noch mal!“, knurrte er. Lyrias Augen schossen Blitze.
„Lass mich sofort los, Fáelán vom Braeden!“, zischte sie drohend. Kein Wesen auf dieser Welt fasste sie ohne ihre Erlaubnis an. Statt ihr zu gehorchen, glitten Phelans Hände von ihren Oberarmen zu ihren weichen Händen und legten sich sanft um ihre langen schmalen Finger. Wie von selbst bogen sich ihre um die seinen. Sie hasste sich für diese Reaktion.
„Lyria, Lyria, hör mich an. Bei allem, was dir einst an mir wichtig und von Wert war“, flehte er bittend und sank wieder vor ihren Füßen zu Boden. Sollte sie von ihm denken, was sie wollte, sollte sie ihn für einen Jammerlappen halten, es war ihm egal. Es gab Moment im Leben eines jeden starken Mannes, wo es von Nöten war, seinen Stolz zu vergessen, und das hier war einer dieser Momente. Viele unschuldige Leben hingen allein von der Entscheidung dieser Frau ab, wenn er es schaffte, sie dazu zu bringen, ihm zuzustimmen, wenn er es schaffte, sie zu überzeugen, würde sie es schaffen, den Rat zum Handeln zu bewegen. Er legte seine Lippen auf ihre kalten Handrücken.
„Lyria ...“
Sie hasste ihn, wie sie noch keinen Mann zuvor gehasst hatte. Lyria von Theben schloss die Augen, um sich zu sammeln. Die Berührung seiner Lippen fuhr ihr in alle Glieder. Sie wollte ihn nicht anhören. Sie wollte ihn nicht anhören und ihn in seiner Nähe haben. Und doch wünschte sie sich nichts mehr, als seine Anwesenheit zu spüren, seine Lippen auf ihrer Haut zu fühlen, seine Stimme zu hören. Und dafür hasste sie sich.
Er hatte sie geschwächt, ohne je zu wissen, wie sehr. Er hatte Mauern durchbrochen und sie nackt und verletzlich zurückgelassen und sie hatte es zugelassen und war verletzt worden.
Nicht von ihm. Er hatte sie auf Händen getragen, ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Er hatte ihr das Gefühl gegeben, das wertvollste Lebewesen auf der Welt zu sein. Und sie, sie hatte sich von ihrer eigenen Angst und Feigheit leiten lassen und dafür hatte sie bitter büßen müssen. Lyria öffnete die Augen wieder und sah ihn an.
„Was soll ich deiner Meinung nach tun, Fáelán vom Braeden?“, höhnte sie. „Mich vor den beiden Alten auf die Knie werfen und betteln, deinen Worten Glauben zu schenken?“
Der Wolf ignorierte den harten grausamen Spott in ihrer Stimme.
„Nein. Bitte sie, über das nachzudenken, was wir ihnen erzählt haben. Bitte, Lyria. Bitte denk darüber nach. Versprich mir, wenigstens darüber nachzudenken. Ich weiß, dass ihr euch morgen noch einmal zusammensetzen wollt. Bitte, Lyria. Bitte.“ Phelan drückte mit sanftem Nachdruck ihre Hände. Was sollte er noch tun? Mehr als Bitten und Flehen konnte er nicht. Versuchen, sie zu bestechen wäre nicht nur sinnlos, sondern würde auch den Sinn seines Anliegens verfälschen. Er konnte nur hoffen, dass sie ihm ein wenig entgegen kommen würde. Phelan kam in den Sinn, dass er der Falsche gewesen war, um zu ihr zu kommen. Er hätte Julien schicken sollen. Auf ihn hätte sie gehört. Ihn hätte sie ohne Vorurteile angehört. Ihm glaubte sie selbst Lügen.
Phelan senkte den Kopf und erhob sich. Er hatte getan, was er hatte tun können. Jetzt lag es an dieser Frau, zu tun, was sie für richtig hielt.
„Danke, dass du mich angehört hast.“ Er ließ ihre Hände los. Lyria presste sie an ihren Bauch und bemerkte, dass ihr die Wärme seiner Haut fehlte. Die rauen Handflächen, die so zärtlich liebkosen konnten. Lyria schnaubte gereizt und schalt sich eine dumme Närrin. Sie sah Phelan nach, wie er aufrecht und stolz zu ihrer Tür schritt und fragte sich, ob es etwas gab, was diesen Mann den Stolz rauben konnte, etwas, was ihn wirklich zerbrechen ließ. Er hatte eben vor ihr gekniet und sie angefleht und trotzdem war er würdevoller als alle Männer die Lyria kannte.
„Du hättest meinen Sohn schicken sollen“, meinte sie kühl, als Phelan die Klinke ergriff. Phelan öffnete die Tür und trat auf den Flur.
„Ich kann nicht von anderen verlangen, meine Arbeit zu tun“, erwiderte er, als er sich noch einmal zu ihr umdrehte. Phelan verneigte sich leicht.
„Lyria“, verabschiedete er sich.
„Ich werde darüber nachdenken“, rief sie ihm nach, bevor er die Tür ins Schloss gleiten ließ, und dann verfluchte sie sich, weil sie sich schwach angehört hatte, vor allem in ihren eigenen Ohren.
Lyria saß auf dem Diwan auf den sich Phelan unaufgefordert gesetzt hatte und dachte tatsächlich über dessen Worte nach, als es erneut an ihre Tür klopfte. Sie stieß einen unterdrückten Fluch aus, und beschloss, ihre Wut auf das Zusammentreffen mit dem Wolf und vor allem ihre darauf folgende Aufgewühltheit an dem ungebetenen Besucher auszulassen. Mit energischen Schritten war sie an der Tür und riss sie auf.
„Kann eine Frau nicht einmal fünf Minuten für sich ... Oh! Du bist es, mon chèr.“
Julien stand an der Tür und lächelte seine Mutter liebenswürdig an.
„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Maman“, begrüßte er und ignorierte ihre schlechte Laune. Er kannte seine Mutter und er kannte ihre Launen. Und die meisten ihrer Launen verflogen, wenn man nicht darauf einging.
„Wer ist dir jetzt schon wieder über die Leber gelaufen?“, fragte er trotzdem höflich und trat ein. Lyria machte eine abwertende Handbewegung.
„Niemand von Belang“, wiegelte sie gereizt ab. Julien zuckte desinteressiert mit den Schultern. Wenn sie es ihm nicht sagen wollte, wollte er es auch nicht wissen. Sie sollte sich nur hüten, ihre schlechte Laune an ihm auszulassen. Er warf sich auf den Diwan und schlug die Beine übereinander.
„Können wir reden?“, bat er ernst. Lyria setzte sich neben ihren Sohn. Ihre schlechte Laune und Gereiztheit waren schlagartig verschwunden. Sie musterte Julien eingehend, empfand, dass er äußerst elegant gekleidet war, und bemerkte, dass er etwas abgespannt wirkte.
„Kannst du ihn ertragen?“, stellte sie eine Gegenfrage. Julien war zwar der Meinung, dass es jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um über sein Exil bei Phelan zu sprechen, fügte sich aber. Kurz wägte er ab, was er seiner Mutter erzählen sollte. Das Gejammer, welches er immer bei seinem Vater ablieferte, um diesen Glauben zu machen, seine Strafe sei auch wirklich eine Strafe würde bei ihr nicht funktionieren. Und die Wahrheit; wenn er ihr die Wahrheit erzählte, würde er schneller wieder dort ausgezogen werden, wie er blinzeln konnte. Julien entschied sich für etwas zwischen Wahrheit und gedehnter Wahrheit.
„Es geht. Er hängt nur manchmal den Heerführer raus und das nervt. Julien, mach die Wäsche; Julien, du hast Küchendienst; Julien, es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Feiern zugehen ...“, leierte er gespielt genervt herunter. Dass Phelan weder den Heerführer spielte, noch zu irgendeinem Zeitpunkt solche Forderungen an Julien gestellt hatte, musste seine Mutter nicht wissen. Sie sollten alle ruhig denken, dass es eine Bestrafung für Julien war und er dadurch was auch immer lernte, er kannte die Wahrheit und nur das zählte.
„Ein paar Mal waren wir schon aus, aber du kennst ihn ja; er ist alles andere als ein Partytier, ganz im Gegenteil. Trinken nur in Maßen, Feiern nur in Maßen, keinerlei Ausschweifungen ... Alles immer so ernst und pflichtbewusst ...“ Julien schmiss sich rücklings in die Kissen und seufzte ergeben.
„Und dann fing die Sache mit den Halblingen an und da war dann augenblicklich Schluss mit Weggehen. Er hat mir verboten, in die Stadt zu fahren. Nicht mal mehr jagen durfte ich. Er hat Frischfleisch in die Villa liefern lassen, damit ich auch ja nicht auf die Idee komme, das Haus zu verlassen.“ Julien schnaubte und verdrehte auch dieses Mal die Wahrheit. Es war seine eigene Idee gewesen, sich einen Menschling als Nahrungsquelle in die Villa kommen zu lassen, damit er nicht jagen gehen musste und das hatte rein gar nichts mit den Morden zu tun gehabt. Es war schlichte Faulheit gewesen. Da fiel ihm ein, jemand musste das arme Ding dringend füttern, sonst wäre es verhungert und verdurstet, bis sie wieder zurückkamen. Julien nahm sich vor, das als allererstes von Ducote erledigen zu lassen, wenn er mit dem Gespräch bei seiner Mutter fertig war.
„Was allerdings wirklich richtig Spaß gemacht hat, war die Jagd nach ihnen. Das war beinahe so wie früher im Heer. Deshalb bin ich auch hier, Maman.“ Julien richtete sich auf dem Diwan auf und sah seine Mutter ernst an.
„Maman“, begann er, nahm Lyrias Hände in seine und streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken. Lyria ertappte sich dabei, wie sie die Berührung ihres Sohnes an die von Phelan erinnerte.
„Es ist ein viel größeres Problem, als wir alle dachten. Ihr Priester hat Phelan gesagt, dass es nochmehr von ihnen gibt. Überall auf der Welt. Was wenn er wirklich recht hat? Ich glaube, sie zu unterschätzen ist ein großer Fehler. Ich denke, ihr solltet sie als ernst zunehmende Gefahr ansehen. Wirklich, Maman, du hättest sie kämpfen sehen sollen. Sie haben sich uns furchtlos entgegen gestellt, obwohl ihr Priester davongelaufen ist, wie ein Hase. Für sie ist das Märtyrertum. Sie leben für den Kampf gegen uns!“ Julien drückte die Hände seiner Mutter, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Lyria schwieg und sah ihrem Sohn fest in die Augen.
„Du glaubst an das, was du sagst?“, hakte sie nach. Sie musste sich sicher sein, dass nicht Phelan aus ihrem Sohn sprach, sondern er selbst. Julien nickte knapp.
„So wie sie glauben, etwas Gerechtes zu tun, indem sie uns jagen und vernichten“, antwortete er.
„Sie konnten das erste Wehr der Villa durchdringen“, fügte er noch hinzu.
„Maman, überleg doch einmal. Dieses Wehr war so konzipiert, dass niemand mit Schlechtem im Sinn es passieren kann. Sie konnten es. Was sagt dir das über sie? Sie glauben fest daran, etwas Gutes zu tun. Glaubst du, das ist nur etwas, was in New Orleans passiert? Und denkst du nicht auch, dass es weiß Gott bessere Städte als New Orleans gibt, um gläubigen Unfug zu verbreiten? Denkst du nicht auch, dass New Orleans nicht die perfekte Stadt ist, um so etwas im Testlauf zu starten?“ Julien verstummte kurz, um seine Worte wirken zu lassen.
„Wenn ich vorhätte, alle Vampire und alle Wermenschen zu vernichten, dann wäre New Orleans der perfekte Ort, um meine Vorgehensweise zu testen, um zu üben. Nirgend wo sonst auf dieser Welt findet man so viele Einzelgänger auf einem Fleck, wie in dieser Stadt. Nirgend wo sonst kann ich testen und probieren, Wege finden und Rückschläge einstecken, ohne dass es jemanden ernsthaft stört. Burging und Nemours können den Scharen Einzelgängern gar nicht Herr werden, die täglich in die Stadt strömen. Selbst die besten unserer Anführer würden dort kapitulieren. Wenn ich also so eine Großoffensive gegen unsere Völker vorhätte, ich würde dort erst einmal testen, ob meine Strategie überhaupt aufgeht. Ob meine Krieger zu etwas taugen. Wenn sie jemanden erledigen, dann vermisst ihn keiner und wenn ein Einsatz schiefgeht, dann fällt auch das nicht weiter auf. New Orleans ist ein Pfuhl des Chaos und das haben sie ausgenutzt. Und als sie wussten, sie sind auf dem richtigen Weg, haben sie uns deutlich gezeigt, dass sie da sind. Sie haben uns rotzfrech unsere toten Artgenossen vor die Füße gelegt und uns gezeigt, dass da jemand ist, vor dem wir zittern müssen. Jemand, der unser Feind ist. Jemand, der uns kennt, den wir aber nicht kennen.“ Julien holte tief Luft.
„Wir wissen nichts über sie. Aber sie über uns alles“, endete er schließlich.
„Phelan war auch schon bei mir“, gestand Lyria nach einer Weile des Schweigens. Julien hob erstaunt die Augenbrauen.
„Er hat so etwas Ähnliches auch schon gesagt. Nur mit knapperen Worten bemessen.“
„Ich komme nicht von ihm“, bekräftigte Julien ernst. Lyria verdrehte die Augen.
„Das habe ich auch nicht gesagt“, fuhr sie ihren Sohn an. „Ich habe ihm versprochen, über seine Worte nachzudenken. Sag ihm, ich werde morgen für euch reden. Mehr allerdings nicht. Ich werde vortragen, was ihr mir vorgetragen habt und es als meine Sorgen klingen lassen. Was sie dann damit tun, bleibt ihnen überlassen und ich werde mich nicht anbiedern und betteln, dass sie Hirngespinsten nachjagen.“
Julien öffnete den Mund, um zu protestieren, dass es alles andere als Hirngespinste waren, vor dem sie sich in Acht nehmen mussten, doch Lyria hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen.
„Still“, herrschte sie ihren Sohn an. „Ich tu, was ich tun kann. Mehr nicht.“
Sie erhob sich und strich ihr Kleid glatt.
„Und nun lass deine alte Mutter ruhen, sie hat morgen einen anstrengenden Tag vor sich“, verabschiedete sie ihren Sohn. Julien stand hastig auf.
„Danke, Maman.“ Er küsste sie sanft auf die Wange.
„Wirklich. Vielen Dank. Und ich weiß, du kannst sie überzeugen.“ Julien ging zur Tür.
„Wenn nicht du, wer dann!?“
Lyria stand noch mit verschränkten Armen in ihrem Zimmer und starrte finster auf die Türklinke, als Julien schon längst wieder in seinem eigenen Zimmer verschwunden war.
„Niemand“, bekräftigte sie in die Leere, ging zu ihrem Beistelltisch und goss sich Blut ein.
„Wenn ich es nicht schaffe, dann schafft es niemand.“
Lyria saß auf ihrem Platz eine halbe Stufe unter den beiden steinernen Thronen Raghnalls und Dashiells und schlug mit einem unterdrückten Gähnen die Beine übereinander. Seit Stunden saßen sie nun schon wieder hier und alles, was diese tumben Narren taten, war sich über den Wolfskrieger und seine Verfehlung zu echauffieren. Sie strich sich mit steigender Gereiztheit eine Strähne ihres lackschwarzen Haares aus dem Gesicht. Es war schlichtweg ermüdend. Kurz lauschte sie dem Ratsältesten aus Italien, ein kleiner drahtiger Kerl, dessen Hände beim Reden nervös durch die Luft flatterten.
Wie kleine närrische Schmetterlinge, dachte Lyria bissig und drapierte den langen Rock ihres Kleides über ihren schlanken Beinen. Mit halbem Ohr lauschte sie den Vorwürfen, dass man dem Wort eines Verräters nicht trauen dürfe und dass die Strafen der drei damals viel zu gnädig ausgefallen seien und als sich die Gespräche nicht mehr um die vergangenen Morde drehten, sondern von der Verfehlung der Braeden-Brüder und des Borondin-Raben und ob die Bestrafung nicht neu aufgesetzt werden sollte, schnellte Lyria vom Theben aus ihrem Sitz und warf mit einer kräftigen Bewegung die Wasserkaraffe ihres Nebenmannes auf den leeren Platz neben sich. Augenblicklich herrschte verwirrte Ruhe.
„Ihr seid dumme, träge, dämliche Hornochsen!“, beleidigte Lyria die Anwesenden und bevor einer dieser Idioten auf die Idee kam, ihr in irgendeiner Art zu widersprechen, fuhr sie mit harter Stimme fort:
„Ihr dämlichen Schafe auf euren viel zu weichen Kissen habt den Sinn und Zweck dieser Sitzung wohl nicht wirklich verstanden. Ich hocke nicht hier in dieser verdammten Höhle, weil ich nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen weiß, als eurem jammernden Geschrei nach scheinheiliger Vergeltung eines längst bestraften Verrates anzuhören! Das ist ein Thema, das beschlossen und abgeschlossen ist, egal, wie lange und wie oft ihr noch darüber lamentiert! Und ihr alle habt damals dem Beschluss zugestimmt, also haltet verdammt noch mal eure Schandmäuler und konzentriert euch in drei Teufels Namen verdammt noch mal auf unser eigentliches Problem!“ Eine zweite Wasserkaraffe fiel Lyria zum Opfer, sie zerschellte an der weit entfernten Wand hinter dem italienischen Ratsältesten. Er zuckte erschrocken zusammen, seine nervös fliegenden Hände erstarrten in der Luft.
„Verfluchte Idioten! Manchmal möchte ich euch alle die Hälse umdrehen ob eurer Blödheit!“, zischte sie beleidigend. Raghnall hob belustigt die Augen.
„Haben wir heute unseren charmanten Tag, meine Liebe?“, scherzte er unbeeindruckt. Er kannte Lyria. Er hatte sie kennengelernt, als sie noch ein junges Mädchen vor ihrem ersten Erblühen gewesen war. Schon damals war sie hitzköpfig und aufbrausend gewesen. Doch sie war es niemals ohne guten Grund.
„Ach, halt deinen Schnabel, Tal-Wolf!“, raunzte sie Raghnall an ohne sich zu ihm umzudrehen. „Ihr heult und greint über die Strafe des Wolfes und dabei sollten wir uns seine Worte verdammt noch mal zu Herzen nehmen.“ Ihre Stimme wurde weniger herablassend, dafür umso schneidender. Es gab wenig auf der Welt, was Lyria vom Theben hasste; eines war endloses Herumreiten auf beschlossenen Sachen. Sie reckte ihr Kinn in die Höhe und die Erhabenheit, die sie ausstrahlte, und der Stolz, ließen die Ratsmitglieder weiterhin schweigen.
„Vergesst nur einen Moment den Mann, der dort unten gestanden hat und denkt nur an seine Worte; was, wenn sie wahr sind? - Freunde. Brüder und Schwestern. Gefährten. Was, wenn diese Worte der Wahrheit entsprechen? Was, wenn es weit mehr sind, als diese Brüder in der Sumpfstadt? Was, wenn wir wirklich in Gefahr sind?“ Sie verstummte und ließ ihre Worte in den Köpfen der Verbündeten wirken.
„Dummes Gewäsch“, knurrte ein alter Wolf auf den niederen Rängen abfällig. „Hysterische Worte, die in hysterischen Ohren Widerhall finden.“
Es brauchte drei große Sätze über die Köpfe niederer Ratsmitglieder und Lyria stand vor dem Wolf und bohrte ihren langen Zeigefinger in sein Brustbein.
„Ich bete zu deinen jämmerlichen Göttern, dass du nicht mich mit hysterisch gemeint hast, alter Wolf“, fauchte sie gefährlich.
„Als er noch neben mir auf seinem Platz saß, hast du an seinen Lippen gehangen wie ein Säugling an den Nippeln seiner Mutter und jetzt willst du uns einreden, er sei hysterisch? - Und wenn die ganze verfickte Welt wie in der christlichen Apokalypse untergeht, dann ist er der Letzte, der hysterisch werden wird. Dann wird er noch stehen wie ein Fels, während ihr alle in eure feinen Leinen pisst und nach eurer Amme schreit. Er hat noch nie gelogen. Er hat uns noch nie belogen! Er war er ehrlichste Mann, der je den Sand der Arena betreten hat. Weshalb sollte er uns ausgerechnet jetzt anlügen?“ Lyria nahm ihren Finger vom Brustbein des Wolfes und reckte sich.
„Was, wenn sie da draußen lauern? Wenn sie von langer Hand gezüchtet wurden. Wenn das, was in der Sumpfstadt geschehen ist, nur eine kleine Vorwarnung war? Was, wenn sie wirklich recht haben?“ Lyria trat die Stufen hinunter und auf den Sandplatz in der Mitte der Reihen. Man konnte immer noch die Fußabdrücke der Braeden-Krieger sehen. Lyria ließ ihren Blick wandern.
„Wann haben wir aufgehört, zuzuhören und begonnen, uns in unseren Hallen zu verstecken? Die meisten von uns sind Krieger und Kämpfer. Und doch benehmen wir uns wie jammernde Waschweiber und verschließen unsere Augen und Ohren vor allem, was uns von unseren warmen Feuern holen könnte“, begann sie leidenschaftlich.
„Ob wir es nun wollen oder nicht; wir müssen darüber reden, ob er die Wahrheit gesprochen hat oder nicht. Und wir müssen uns damit auseinandersetzten, dass er die Wahrheit gesagt haben könnte.“
„Und was denkst du?“, fragte Dashiell interessiert. Lyria sah ihn mit gelassener Miene an, doch innerlich jubilierte sie. Er war so berechnend. Sie schenkte dem Vater ihres Sohnes ein sanftes Lächeln.
„Es wird dich in deinen Grundfesten erschüttern, mein lieber Dasiellos, aber ich glaube seinen Worten“, gestand sie. Dashiell nickte.
„Und ich teile seine Sorgen.“ Es kostete weitaus weniger Überwindung, das vor allen Anwesenden zu gestehen, als sie gedacht hatte.
„Wir sollten ernsthaft damit beginnen, uns mit diesen Aussagen auseinander zusetzen“, entschied Dashiell milde.
„Und du komm wieder hier hoch“, befahl er Lyria tadelnd. „Und lass verdammt noch mal die Wasserkannen auf dem Boden. Wenn sie zum Fliegen gemacht worden wären, hätten sie Flügel“, unkte er leicht gehässig. Lyria schenkte ihm einen vernichtenden Blick, bevor sie die Stufen nach oben zu ihrem Platz zurücknahm.
„Deine Scherze waren auch schon lustiger“, beleidigte sie Dashiell, als sie Platz nahm. Der grinste nur unbekümmert. Dann hob er den Kopf.
„Ihr hattet genug Zeit, um nachzudenken. - Was haltet ihr von den Geschehnissen? Und was haltet ihr von der Aussage Fáeláns vom Braeden und seinen Verbündeten? Und letztendlich; soll eine Strafe angesetzt werden?“
Lyria lehnte sich zurück und verschränkte ihre Beine übereinander. Nun, sie hatte ihr Versprechen gehalten. Alles Weitere hing jetzt vom Rat ab.
Wachen des Rates hatte sie mitten in der Nacht aus ihren Zimmern geholt.
Sie wurden in ein Auto gesteckt, zum Flughafen gefahren und einen Tag später standen sie kurz nach der Dämmerung wieder in New Orleans in der alten Villa und lauschten der Stille. Es schien Ewigkeiten her zu sein, als sie das große Haus verlassen hatten. Julien stieg nach oben in sein Zimmer. Er musste sich vergewissern, dass die Soldaten, die in ihrer Abwesenheit die Bibliothek bewacht hatten, ihre dreckigen Pfoten von seinen wenigen Habseligkeiten gelassen hatten. Er hörte, wie Phelan unten durch die Zimmer ging und wahrscheinlich genau dasselbe tat. Julien zog sich einen neuen Anzug an, bevor er sein Zimmer verließ, um Phelan dabei zu helfen.
Er war wohl zu langsam gewesen, oder Phelan hatte sich nur auf wenige Zimmer beschränkt, als er seinen Freund suchte, fand er den Wolf in der Küche, wo der hastig etwas auf einen Zettel kritzelte. Julien klopfte an den Türrahmen, trat ein und stellte sich demonstrativ vor die alte Kaffeemaschine. Phelan lachte auf, legte den Kugelschreiber auf den Zettel und schwang sich vom Barhocker. Mit einem breiten Grinsen stellte er sich neben Julien, gab ihm mit der Hüfte einen leichten Schubs und brühte beiden Kaffee.
„Hast du bestimmte Wünsche? Ich schreibe gerade einen Einkaufszettel. - Dein Lebendfutter lebt übrigens noch. Die Soldaten haben es gefüttert“, bemerkte Phelan und häufte Zucker in seinen Kaffee. Julien sah ihn schuldbewusst an. Er hatte vergessen, Ducote anzurufen.
„Haben sie davon gegessen?“, wollte er wissen. Phelan zuckte mit den Schultern.
„Gut möglich.“
„Dann will ich ein Neues. - Ich esse ungern von gebrauchten Sachen.“ Julien schüttelte sich. Wenn er nur daran dachte, dass er sein Essen mit Raghnalls Soldaten teilen sollte … Das war gänzlich gegen seine Prinzipien. Nicht, dass er ein Problem damit hätte, mit anderen zu teilen, er hatte nur ein Problem damit, mit diesen Soldaten seinen Proviant zu teilen. Wäre er auf Nahrung angewiesen, würden sie ihm garantiert nichts von ihrem anbieten. Also wollte er nichts haben, in das sie ihre Zähne geschlagen hatten.
„Ich lass ihn laufen“, beschloss Julien und nippte an seinem Kaffee.
„Das Große Heer hinterlässt immer so einen abgestandenen Geschmack“, frotzelte er bissig. Phelan grinste.
„Ich besorg dir ein Neues“, versprach er.
„Was geschieht jetzt?“, wollte Julien wissen. Phelan zuckte mit den Schultern.
„Sie werden beraten. Und beraten. Und beraten. Und sich streiten. Und vielleicht erfahren wir irgendwann, wie es ausgegangen ist. - Spätestens, wenn einer der Schreiberlinge kommt und es in die Bücher einträgt.“ Der Wolf nahm sich eine Zigarette und zündete sie sich an. Genüsslich nahm er einen tiefen Zug, dann widmete er sich wieder seiner Einkaufsliste.
„Und irgendwann werden wir auch erfahren, was mit uns geschieht“, fügte Phelan nach einer Weile hinzu. Julien schnaubte missmutig und beobachtete Phelan, wie dieser seinen Einkaufszettel vervollständigte und sich dann erhob um sich ein Sandwich zu machen.
„Willst du Wein? Wir haben einen guten Jahrgang hier“, schlug Julien vor und rutschte von seinem Hocker. Phelan lachte auf.
„Natürlich. - Ist ja auch von deinem Weingut.“ Er zwinkerte Julien zu, während er die Brotscheiben belegte.
„Natürlich guter Jahrgang oder natürlich nehme ich ein Glas?“, hakte Julien nach.
„Beides“, antwortete Phelan. Mit einem zufriedenen Schnurren klappte er ein Sandwich zusammen und betrachtete es eingehend. Nach kurzer Überlegung entschied er, dass er mit seiner Kreation zufrieden war, räumte das Essen weg und setzte sich an die Theke. Julien bemerkte, dass er niemanden kannte, der ein Sandwich belegen so zelebrierte, wie sein Freund. Der Wolf summte meistens sogar dabei, runzelte immer wieder die Stirn, schob Wurstscheiben und Salatblätter so lange hin und her, bis sie für ihn perfekt auf den Broten lagen, nahm Beläge wieder herunter, nur um sie in einer anderen Reihenfolge wieder zu stapeln. Es schien, als ob er Kunstwerke erschaffen würde, statt simplen belegten Broten. Es gefiel ihm.
Julien strahlte Phelan an, als er ihm ein volles Glas Wein hinstellte.
„Danke.“ Phelan erwiderte das Strahlen etwas verwirrt. Er hatte keine Ahnung, was ihm dieses breite Grinsen bescherte, aber er mochte es. Er aalte sich in dem wohligen Gefühl, welches in ihm aufstieg als Julien ihm beim Essen zusah. Sie schwiegen in beidseitigem Einverständnis. Es war noch nie wirklich schwer oder unangenehm gewesen, wenn sich die beiden angeschwiegen hatten. Im Gegenteil. Julien genoss diese stillen Momente mit Phelan, obwohl er ein Mann war, der gerne und viel redete und gerne und viele Gespräche führte. Doch mit Phelan zu schweigen schien die beiden immer einander näher zu bringen, als zu Reden. Julien erhob sich, um eine zweite Flasche Wein zu holen, als er innehielt. Er legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. Julien spürte, wie er nervös wurde und sich ein Kribbeln von seinem Nacken aus ausbreitete.
„Phelan“, wisperte er unbehaglich. Der hob den Kopf.
„Vor dem Tor steht jemand“, sagte er. Phelan witterte.
„Einzelgänger“, stellte er fest. Dann verdüsterte sich sein Gesicht. Er warf Julien einen finsteren Blick zu, den dieser erwiderte.
„Ein Verräter bleibt ein Verräter“, meinte Julien nur und zog sein Jackett aus. Gelassen trat er auf den Flur und betrachtete eingehend die Waffen, die dort hingen. Für Unwissende mochte es den Anschein haben, der Bewohner dieses Hauses war ein Fan alter Schwerter, allerdings war jede einzelne Klinge rasiermesserscharf und jede einzelne dieser Waffen hing so, dass sie im Rennen zur Tür aus ihren Scheiden gezogen werden konnte. Julien entschied sich für die beiden Kurzschwerter, die ihm schon einmal gute Dienste geleistet hatten und griff sich gleich noch den großen Langbogen, der seinen alten Platz in Phelans Arbeitszimmer verloren und dafür einen neuen in der Nähe der Tür erhalten hatte.
„Was hast du vor?“ Phelan lehnte sich an den Küchentürrahmen.
„Nach was sieht das hier wohl aus?“, fragte Julien und spannte den Bogen.
„Sie können hier nicht rein. Das Blutwehr“, erinnerte Phelan ihn geduldig. Julien drehte sich zu ihm. Sein harter Blick stand im Gegensatz zu seinen gelassenen Bewegungen mit denen er sich bewaffnete.
„Wir haben für sie gekämpft und geblutet. Nicht wenige sind für sie gestorben. Und so danken sie es uns. In dem sie uns, kaum dass wir wieder hier sind, angreifen wollen? - Oder glaubst du, sie wollen uns zum Kaffeekränzchen einladen?“ Julien schulterte einen Beutel Pfeile und marschierte zur Tür.
„Worauf wartest du? Auf die Verstärkung?“, spottete Julien. Phelan seufzte ergeben, nahm seinen Anderthalbhänder Wolfstöter von der Halterung und legte sich die scharfe Klinge über die Schulter.
„Vielleicht müssen wir ja gar nicht kämpfen“, meinte er halbherzig. In diesem Moment hörten sie vor den Toren das Heulen. Phelan schaltete die Überwachungsanlage an und betrachtete das Geschehen auf dem Bildschirm. Vor der Mauer standen Zweibeiner. Sie heulten, rüttelten am Tor und rannten auf der Mauer herum wie tollwütige Hunde. Innerhalb des Wehrs waren sie in Sicherheit, aber was, wenn sie das Grundstück verlassen mussten? Was, wenn jemand zu ihnen kam? Phelan knurrte verhalten, als einer der Einzelgänger sein Bein hob und auf die Mauer pisste. Er würde den Teufel tun, sich hier von Verrätern einsperren zu lassen.
“Conor. Yuri.“ Obwohl Phelan seine Stimme nicht gehoben hatte, hallte sie durch die Villa. Julien grinste diabolisch und ließ seine beiden Schwerter in den Händen kreisen. Kurz wünschte er sich, seine Kameraden wären auch hier, dann riss er die Tür auf. So blieben schon mehr für ihn übrig.
„Möge mein Schwert nie sein Ziel verfehlen“, begann er feierlich und trat auf die Veranda.
„Möge mein Arm nie schwach werden.“
Hinter ihm trat Phelan auf die Veranda.
„Möge mein Herz nie zögern“, fuhr Julien fort.
Conor erschien. Die Luft flirrte und ein riesiger zweibeiniger Werwolf stand neben seinem Bruder.
Mögen mich meine Augen nie täuschen, erwiderte Conor. Yuri flatterte auf seine Schulter.
Mögen unsere Feinde uns fürchten, sagte der Rabe.
Phelan trat von der Veranda und schritt auf das Tor zu. Julien, Conor und Yuri folgten ihm.
Sie hatten ihnen geholfen, als sie in Not waren, doch kaum war diese Not verschwunden, hatten sie ihre Hilfe vergessen und strebten erneut auf das zu, was sie hofften, hinter dieser Mauer zu finden. Reichtum und vielleicht sogar Macht. Genug von beidem, um sich bei irgendeinem Rudel oder Clan einzukaufen. Genug von beidem, um die, die bisher reicher und mächtiger waren, heraus zu fordern. Genug von beidem, um sich ein besseres Leben zu ermöglichen.
Wenn diese armen Narren wüssten, was sie in Wahrheit so verbissen zu erkämpfen versuchten, würden sie ihre Anstrengungen verdreifachen. Denn wertvoller und mächtiger als die Großen Schriften in der Bibliothek war kaum etwas anderes in dieser Welt.
Phelan spuckte auf den Rasen, als er das Tor erreichte. Julien wusste, es war nicht, weil sein Freund zu viel Speichel im Mund hatte, sondern zum Herabsetzen.
„Was wollt ihr hier? Verschwindet“, herrschte der Wolf die Eindringlinge an. Im nächsten Moment machte er einen Satz zur Seite, um nicht von einem dicken Strahl gelben Urins getroffen zu werden. Julien holte zischend Luft. Einen Augenblick später hallte ein gellender Schrei durch den nächtlichen Sumpf und vor Juliens Füße fiel ein langer blutiger Penis auf den Kies. Von Wolftöters Klinge tropfte Blut. Yuri warf den Kopf in den Nacken und lachte gackernd. Dann schnellte der Rabe in die Luft, schoss wie ein riesiger schwarzer Pfeil auf das Gesicht eines Zweibeins zu und grub seine langen Krallen in dessen Augen.
„Tötet sie“, knurrte Phelan und war mit einem Satz auf der Mauer. Er trennte einem Einzelgänger mit einem kräftigen Hieb den Kopf von den Schultern, dann sprang er auf der anderen Seite mitten in die Meute. Conor folgte seinem Bruder mit einem wilden Knurren. Julien steckte die Schwerter weg und nahm den Bogen zur Hand. Er grinste breit, steckte den ersten Pfeil an die Sehne und begann, die Einzelgänger am eisernen Tor zu beschießen.
Julien erinnerte sich an die Frage des Löwen Asad, was Phelan so viel besser machte, als die anderen Einzelgänger. Phelan hatte geantwortet, dass nichts ihn besser machte. Sein Freund hatte unrecht gehabt. Es gab etwas, was Phelan besser machte, als diese Brut, viel besser; Phelan war treu. Er würde seinen Verbündeten nicht in den Rücken fallen, vor allem nicht, nachdem sie ihm das Leben gerettet hätten. Er wäre ihnen treu geblieben.
Julien warf seinen Bogen zur Seite und zog die Schwerter.
Oh, es waren nicht alle ihre ehemaligen Verbündeten, aber einige von ihnen. Er wusste nicht, was schlimmer für ihn war; die Enttäuschung über den Verrat oder dass seine Befürchtungen, dass sie sie verraten würden, sich bestätigt hatten. Mit einem wütenden Schrei packte Julien die Streben des Metalltors und schwang sich daran hoch.
Heute würde es eine wunderbare Blutnacht werden.
Er trennte einem Werwolf die Arme vom Leib und johlte vor Freude. Dann bekam seine gute Laune einen Dämpfer. Es waren zu viele.
Er verschaffte sich in den wenigen Augenblicken, in denen er nicht angegriffen wurde, einen Überblick und musste feststellen, dass sie keine Chance hatten. Sie würden es nicht schaffen. Sie konnten es nicht schaffen. Scharfe Krallen bohrten sich in seine Taille und schlitzten ihn auf. Julien schrie vor Schmerzen, als Haut und Fleisch zerfetzt wurden und sank auf die Knie. Sein Gegner bäumte sich über ihm auf, hob den Arm zu einem letzten tödlichen Hieb und Julien riss sein Schwert in die Höhe und schlug es dem Wolf in das Gesicht. Mit einem Knirschen spaltete er den Kopf des Zweibeins. Knochensplitter, Blut und Gehirn landeten auf ihm. Julien keuchte, rappelte sich wieder auf die Beine, ließ seine Verwundung fahrlässig heilen und schluchzte auf.
Es kamen noch mehr.
Aus dem Dunkel des Sumpfes rannten sie auf sie zu. So viele.
Und Julien wurde mit einem Mal klar, dass er heute Nacht sterben würde. Und dass es wohl keinen Sänger geben würde, der von diesem Kampf ein Heldenlied singen würde. Wütender Grimm durchflutete ihn. Dann sollte es so also enden. Julien packte seine Schwertgriffe fester. Er war bereit.
Die Neuankömmlinge rasten in einem unglaublichen Tempo heran, als könnten sie es kaum erwarten, sie zu zerfleischen. Ein Brüllen, welches die Erde zum Erbeben brachte ertönte, die Luft vibrierte und Phelan verwandelte sich in seine Kriegsform. Blut spritzte aus seinen Wunden, als sich träger als sonst Knochen und Muskeln verschoben und der Wolf brüllte erneut, dieses Mal vor Schmerzen.
Der große goldene Löwe, der aus der Dunkelheit schoss, antwortete.
Dann sprang er.
Überwand die letzten Meter, die sich noch zwischen ihm und dem Wolf befanden und seine riesigen Fangzähne gruben sich tief in das weiche Fleisch der Kehle. Mit einem kräftigen Ruck riss der Löwe ein Loch in den Hals des Wolfes, der mit einem Gurgeln zu Boden sank. Blut spritzte im Takt seines schwächer werdenden Herzschlags aus dem klaffenden Loch seiner Kehle, dann fiel er tot mit dem Gesicht voraus in das Gras. Der Löwe brüllte erneut, änderte seine Gestalt und wandelte sich vom vierbeinigen Raubtier in ein zweibeiniges Kriegsuntier. Mit blau leuchtenden Augen wandte er sich seinem nächsten Gegner zu, um ihn zu zerfleischen.
Und Julien begriff, dass die Neuankömmlinge keine Feinde waren, sondern Verbündete. Dann musste der Tod wohl doch noch auf ihn warten. Mit neuem Mut stürzte er sich einem Zweibein entgegen. Der große schwarze Wolf knurrte ein tiefes grollendes Knurren und sprang in eine Traube Einzelgänger; zerriss, zerfetzte, tötete.
Und er siegte schließlich.
Phelan verwandelte sich wieder in einen Mann zurück und stöhnte leise auf, als ihn Schmerzen an seine zahlreichen Verletzungen erinnerten. Mit den Augen suchte er das Schlachtfeld ab. Er fand Julien, der versuchte mit nur einer Hand sein Schwert aus den Innereien eines toten Einzelgängers zu ziehen. Die andere hielt er sich fest an den Körper erpresst. Conor humpelte auf ihn zu, legte seine blutverschmierte Pranke auf Juliens Hand und zog einmal kräftig.
Der schlanke Vampir verlor den Boden unter den Füßen, als der Leichnam unerwartet seine Waffe hergab und er baumelte an Conors Hand einige Zentimeter über dem Boden in der Luft herum, bevor dieser ihn wieder absetzte. Julien kicherte etwas hysterisch, während er die Klinge an dem Toten säuberte. Phelans Blick wanderte weiter und fand Yuri, der sich seinen ausgerenkten Flügel wieder einrenkte. An seinen langen Krallen hingen Haut- und Fleischfetzen.
Phelan setzte sich langsam in Bewegung und kam vor dem Löwen Asad zum Stehen. Asad sah ihn schweigend an. Seine rechte Gesichtshälfte hing in blutigen Fetzen, ebenso seine rechte Schulter. Phelan erwiderte seinen Blick, dann stürzte er sich dem Löwen entgegen und nahm in fest in den Arm.
„Ihr habt uns das Leben gerettet, alter Löwe“, flüsterte Phelan dankbar. Asad legte ihm seine unverletzte Hand auf den Rücken.
„Ich schulde dir noch viel mehr Leben“, erwiderte er ernst.
„Du bist nicht für sie verantwortlich. Keiner von ihnen ist dein Rudel. Und von den meisten wurdest du verraten“, entgegnete der Wolf müde. Asad strich ihm sanft über das Haar.
„Dasselbe gilt für dich, Heerführer.“ Und dann, einem Wispern gleich: „Fáelán vom Braeden, Sohn des Conlaoch vom Braeden.“
Phelan schloss mit einem matten Lachen die Augen. Natürlich kannte der Löwe ihn. Und natürlich kannte er auch seinen Namen.
„Du bist verletzt, Löwe“, wechselte er das Thema. Asad grinste ihn breit an.
„Du ebenso, Wolf.“ Er knuffte Phelan leicht gegen den Oberarm, erntete ein schmerzerfülltes Zischen von Phelan und drehte sich dann in die Nacht.
„Heiler!“, dröhnte seine Stimme über das Jammern und Wehklagen der Verwundeten und Sterbenden. Aus der Nacht trat Fernán Hernandez Salazar begleitet von zwei jungen Männern. Der Weise nickte Phelan kurz zu, dann trat er an den ersten Sterbenden heran. Er erkannte, dass es keiner seiner Verbündeten war, und überließ ihn seinem Schicksal. Für Verräter hatte er keine Heilung übrig.
Phelan verließ den Löwen und humpelte über das Kampffeld, zwischen Toten und Verwundeten hindurch um sich einen Überblick zu verschaffen, so wie er es schon immer nach einem Kampf getan hatte und es auch immer tun würde und fiel schließlich vor einer liegenden Gestalt auf die Knie.
Ein wehklagendes Seufzen, das nicht den Schmerzen seiner Verletzung galt, entwich seinen Lippen, als er seine rechte Hand unter den Kopf des Mannes schob und ihn sanft auf seinen Schoß zog. Der Blick in den grau-blauen Augen war gebrochen. Phelan wischte fürsorglich das Blut aus seinem Gesicht. Seine Kiefer mahlten.
„Dummer Welpe …“ wisperte er erstickt und schluckte hart.
„Du dummer, dummer Idiot …“ Phelan küsste Shane Ducote sanft auf die Stirn. Er hatte schon mit seiner Hilfe bei den Halblingen seine gesamte Existenz aufs Spiel gesetzt. Er hatte alles riskiert und schließlich hier, vor den Mauern der alten Villa, alles verloren. Phelan schloss seine Augen. Dieser Kampf war nicht Shanes Kampf gewesen und er hätte es auch nie sein sollen. Seine Kehle war zerfetzt und sein Brustkorb aufgerissen. Vor einigen Monaten, als sie in den sumpfigen Gängen unter der alten Kirche gekämpft hatten, hatte Shane sich gut geschlagen, aber das waren Halblinge gewesen, keine wilden Zweibeiner. Phelan drückte seinen jungen Freund kurz an sich, dann schob er seine Hände unter ihn und erhob sich mit Shanes leblosen Körper auf den Armen. Er schloss die Augen und schwankte leicht, als das zusätzliche Gewicht Messerstiche durch seine Verletzungen jagte, dann fasste er noch einmal nach und zwang sich, nicht zu humpeln, als er auf Conor und Julien zuging, die ihn betroffen ansahen. Phelan hörte, wie Asad einen lauten Klagelaut ausstieß, als der Löwe erkannte, wen Phelan zum Tor trug. Viele seiner Mitstreiter fielen mit ein und als er Julien und seinen Bruder passierte, hallte mehrfaches Wehklagen durch die Nacht.
„Wir müssen Holz sammeln“, entschied Phelan streng. Die, die für ihn gekämpft hatten und gestorben waren, sollten ein Begräbnis erhalten, wie es guten Männern zustand. Die anderen würden sie in den Sumpf werfen.
„Bringt unsere Toten auf das Grundstück. Die Verletzen kommen ins Haus. Die anderen schmeißt zu den Alligatoren“, befahl er an Conor gewandt, dann schritt er weiter erhobenen Hauptes zur Villa.
„Und der Letzte macht das verdammte Tor zu“, knurrte er harsch, bevor er außer Hörweite war. Phelan zwang sich, nicht zu humpeln, auch wenn es ihm seine Beinverletzung schwer machte, es nicht zu tun, aber sein Stolz und sein Rang verboten es ihm, den anderen das wahre Ausmaß seiner Verletzungen zu zeigen. Er wusste nicht, wie weit er diesen Einzelgängern vertrauen konnte und Schwäche zu zeigen wäre jetzt der falsche Moment.
Als Phelan an die Eingangstür trat, liefen ihm Schmerzenstränen die Wangen hinunter. Er schluckte hart, drückte mit seinem malträtierten Rücken die Tür auf und schob sich durch den Spalt nach innen. Mit einem erschöpften Seufzer kämpfte er sich ins obere Stockwerk in das Badezimmer, welches der Treppe am nahesten war, um Shane zu waschen.
Er hatte beinahe unerträgliche Schmerzen.
Sein rechter Oberarm war regelrecht aufgeschlitzt worden, ebenso sein linker Oberschenkel, dessen Knochen gebrochen war und den er mehr schlecht als recht hatte zusammenwachsen lassen. Sein Rücken war übersät mit tiefen Kratzern und noch tieferen Stichwunden, die zu nässen begannen, da sie nicht ausgewaschen worden waren, bevor er sie hatte heilen lassen. Fernán würde ihm den Knochen wieder brechen müssen, damit er gerade zusammenwachsen konnte und er würde ihm auch die ganzen Wunden wieder aufschneiden, um sie zu säubern.
Doch erst hatte er etwas zu erledigen.
Phelan lenkte den Hummer auf die Straße, in der Frederick Burging sein Haus stehen hatte und fuhr die lange gewundene Einfahrt hinauf. Er fand es etwas befremdlich, dass das Haus eines Rudelführers kein Tor hatte, das man verschließen konnte, dann entdeckte er die Sicherheitsanlage, die es vom technischen Standard mit der eines Hochsicherheitsgefängnisses aufnehmen konnte. Als er das Haus erreicht hatte, standen Beau Lambert, der Zweite des Rudels, zusammen mit einigen rangniederen Wölfen an der Tür. Sie waren alle mit Maschinengewehren bewaffnet. Phelan stoppte den Hummer knapp einen Meter vor ihnen. Er stellte den Motor ab, stieg aus und öffnete die hintere Autotür. Hinter sich hörte er, wie die Gewehre entsichert und angelegt wurden. Er ignorierte sie und holte fast liebevoll seine traurige Fracht vom Rücksitz. Mit Shanes gewaschenem Leichnam in den Armen wandte er sich Beau Lambert zu. Schweigend sah er ihn an und wartete. Einer der Rangniederen wirbelte auf dem Absatz herum und rannte ins Haus. Beaus Waffe glitt ihm aus der Hand und mit einem heiseren Aufschrei sprang er auf Phelan zu. Frederick Burging stürzte aus seinem Haus, sein Gesicht war eine ungläubige Maske. Beau Lambert packte den Kragen des Hemdes, welches Phelan Shane angezogen hatte und riss Phelan mit einem weiteren Aufschrei mit sich zu Boden, als ihm die Knie nachgaben und er auf den Asphalt sank. Phelan, der unfreiwillig vor ihm kniete, immer noch Shane fest in den Armen, legte ihm sacht seinen Rudelbruder auf den Schoß. Beau schrie wieder auf, dann presste er Shane fest an sich und begann zu weinen. Phelan stemmte sich wieder auf die Beine und sah zu Burging, der erstarrt hinter seinem Zweiten stand und Phelan fassungslos ansah.
Phelan presste kurz aber fest die Kiefer zusammen.
„Ich habe keine Ahnung, was er bei meiner Villa verloren hatte …“ begann er, verstummte kurz, als Beau Lambert laut aufschluchzte und fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung über das Gesicht. Sein Kniefall hatte ein wahres Feuerwerk an Schmerzen entfacht und nahm ihm kurz die Luft zum Atmen.
„Ich wurde von Zweibeinern angegriffen. Ich habe ihn in der Nähe meines Grundstücks gefunden …“ Phelan verstummte erneut, dieses Mal, weil ihm die Worte fehlten. Er musste lügen. Er musste Shane als einen Idioten hinstellen, der auf eigene Faust etwas getan hatte, was für ihn tödlich geendet hatte. Er musste Shanes Tod als einen dummen Unfall hinstellen, obwohl er genau wusste, dass Shane bis zu seinem letzten Atemzug tapfer gekämpft hatte, auch wenn er es nicht gesehen hatte.
„Ich habe ihn gewaschen“, sagte er schließlich und fühlte sich schrecklich hilflos. Eigentlich hatte er vorgehabt wütend zu sein, Burging dafür verantwortlich zu machen, dass Shane tot war, ihm vorzuwerfen, seine Leute in Gefahr zu bringen, indem er sie allein losschickte, um ihn zu bewachen, aber als er Beau Lambert gesehen hatte, als er den Schmerz im Gesicht des grobschlächtigen Wolfes gesehen hatte, konnte er diese Worte nicht mehr hervorbringen.
„Was hat er dort zu suchen gehabt?“, krächzte Burging fassungslos. Für Phelan glich diese Frage wie ein Schlag ins Gesicht. War sie doch das passendste Stichwort, um seinen gelogenen Vorwurf auszusprechen.
„Hast du ihn nicht zu mir geschickt, um mich zu überwachen?“, herrschte er ihn an und der harte Tonfall ließ nichts von seinen Schmerz um den Tod des Welpen erahnen. Burgings Kopf schnellte zu Phelan. Er starrte den eigenbrötlerischen Wolf aus der alten Sumpfvilla verwirrt an.
„Wieso sollte ich …?“, stammelte er. „Du … ich … was, warum sollte ich ... was sollte ich von dir wollen?“
„Weshalb war er dann da draußen? Willst du mir jetzt sagen, dass er von sich aus beschlossen hat, mich zu beschatten wie in einem schlechten Spionagefilm?“, warf Phelan ihm vor und er hätte sich am Liebsten übergeben. Was Shane Ducote da draußen getan hatte? Er hatte für ihn gekämpft und dabei sein Leben verloren. Er war ein treuer Freund gewesen. Er war ein ehrenhafter Mann gewesen. Phelan spürte, wie bittere Galle seinen Hals hochkroch.
„Bestatte ihn gut“, knurrte Phelan erstickt, dann drehte er sich hastig um und ging mit steifen Schritten zurück zu seinem Auto. Er stieg ein, startete den Motor und fuhr rückwärts die Einfahrt hinunter zurück zur Straße. Beau Lambert kniete immer noch auf dem Boden, weinte um seinen Rudelbruder und wiegte den Leichnam in seinem Armen, als Phelan aus der Einfahrt in die Straße bog. Burging stand immer noch hinter ihm und starrte schockiert auf Phelans Auto. Mit einem grunzenden Knurren rammte Phelan den ersten Gang ins Getriebe und fuhr ein wenig schneller als erlaubt die Straße hinunter. Er fühlte sich, als ob er vor einer Verantwortung fliehen würde, obwohl er keinerlei Verantwortung Shane gegenüber trug. Nie getragen hatte, nie tragen konnte. Sein Tod tat weh.
Phelan wäre am Liebsten geblieben.
Doch so sehr es ihn auch schmerzte, was mit Shane geschehen war, so gerne er dem Rudel geholfen hätte, ihn zu bestatten, in seiner Villa warteten Verbündete darauf, ebenso würdevoll bestattet zu werden, wie das New Orleans-Rudel es bei Shane machen würde.
Achtundvierzig Tote, davon neun, die die Villa und ihre Bewohner verteidigt hatten.
Phelan stand neben Julien und starrte in die hellen Flammen. Leise, tief im Sumpf konnte er die Alligatoren hören, wie sie sich um ihr nächtliches Mahl stritten. Er sehnte sich nach einer Krücke, aber er würde weder eine bekommen, noch nach einer bitten. Wenn in einem Rudel die Hierarchie noch nicht ganz geklärt war, taten die Anwärter auf das Amt des Anführers alles, um keine Schwäche zu zeigen. Und eine Krücke zu benötigen, wäre in diesem Fall eine Schwäche gewesen, die sich Phelan nicht erlauben konnte. So sehr er es auch wollte, er konnte ihnen nicht vertrauen, und deshalb konnte und durfte er ihnen nicht zeigen, wie schwer seine Verletzungen waren, denn wenn sie sich gegen ihn stellen würden, dann wenn sie glaubten, leichtes Spiel mit ihm zu haben. Deshalb biss er die Zähne zusammen und verlagerte sein Gewicht so gut es ging auf sein weniger verletztes Bein. Er zwinkerte den Schmerz weg, froh die Tränen in seinen Augen auf die fliegende Asche schieben zu können. Natürlich hätten sie hinter dem Schutz des Wehres bleiben können. Genau genommen hätten sie es bleiben müssen, aber sie vor dem Tor stehen zu sehen, wo sie noch vor knapp zwei Monaten auf derselben Seite gekämpft hatten, hatte ihn rasend vor Wut gemacht. Manchmal übernahm bei ihm die Torheit eben die Führung.
Schlimmer empfand er allerdings, dass sich sein Leben schlagartig ändern würde. Er konnte es nicht allein schaffen, die Bibliothek zu verteidigen, wenn sie sich in so großen Gruppenverbänden zusammenrotteten. Er würde Unterstützung brauchen und das würde heißen, er müsste es Raghnall und Dashiell sagen und die beiden würden dann Männer aus ihren Heeren abstellen und diese Männer wollte und konnte Phelan nicht in seiner Nähe ertragen. Er wandte sein Gesicht zu Asad, der auf Phelans anderer Seite stand. Wenn der Löwe und die anderen ihnen nicht zu Hilfe gekommen wären, hätten sie diesen Kampf kaum überlebt, so traurig es auch klang.
Als die Feuer heruntergebrannt waren ergriff Phelan das Wort.
„Asad. Woher wusstet ihr von dem Angriff?“, wollte er wissen. Auf dem Gesicht des Löwen erschien ein bitteres Grinsen.
„Ich habe den wenigsten von ihnen vertraut“, antwortete er.
„Also habe ich sie von denjenigen, denen ich vertraue, beschatten lassen. So haben wir davon erfahren. - Verzeih, dass wir nicht früher gekommen sind.“ Asad drehte sich zu Phelan und verneigte sich vor ihm. Phelan knurrte.
„Erheb dich augenblicklich wieder“, fauchte er den Löwen an. „Nicht du hast dich vor mir zu verneigen. Wenn sich einer verneigen muss, dann bin ich das!“, stellte er klar.
„Du stehst weder unter meinem Kommando, noch in meiner Schuld.“
Asad richtete sich wieder auf.
„Heerführer“, begann er ernst. „Du hast uns geholfen. Du hast unzählige Leben von unseresgleichen gerettet. Das hättest du nicht tun müssen. Du hast uns verteidigt und beschützt. Jetzt ist es an der Zeit, dass wir dich beschützen.“
Julien benötigte einige Sekunden, sich diese Worte durch die Schmerzen und die Müdigkeit durchgearbeitet hatten und er sich deren Bedeutung bewusst wurde. Asad stellte sich Phelan zu Diensten. Der Löwe stellte die Einzelgänger Phelan zu Diensten. Er blinzelte brennende Asche aus seinen Augen.
„Ein Heer darfst du haben, alter Wolf. Ein Heer ist kein Rudel“, wandte Julien ein und beugte sich zu Phelan und Asad. Seine aufgeschlitzte Seite protestierte. Julien fluchte die Schmerzen heraus und richtete sich wieder auf.
„Du musst nichts sagen, Heerführer. Es sind Wachen vor der Mauer abgestellt und sobald die Verwundeten transportfähig sind, werden wir sie zurück in die Stadt fahren. Keiner wird erfahren, dass wir hier sind“, versprach der Löwe feierlich. Phelan öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Im Moment fühlte er sich dazu nicht wirklich in der Lage.
„Meinetwegen“, knurrte er nur. Julien fing seinen Blick ein und grinste schief.
„Dann hast du jetzt wohl wieder ein Heer“, stellte er amüsiert fest. Phelan schnaubte und stieß dann einen Seufzer aus.
„Scheint wohl so“, meinte er nach einer Weile. Er wandte seinen Blick auf das kleiner werdende Feuer. Dann hatte er wohl wieder ein Heer. Ob er wollte oder nicht.
Es war ein seltsames Gefühl, zu wissen, dass man nicht mehr allein war, dass vor den Mauern der Villa Männer wachten. Julien fühlte eine Mischung aus Sicherheit und eingesperrt sein, wenn er daran dachte. Ihre Verletzungen heilten, ihr Tagesablauf war wieder derselbe, wie vor den ganzen Ereignissen. Sie lachten zusammen, sie diskutierten miteinander, ab und zu gingen sie zur Mauer und redeten mit ihren neuen Beschützern und alles verlief ruhig und erholsam. Manchmal ertappte sich Julien, wie er auf ein Klingeln des Telefons wartete, auf einen Anruf aus der alten Welt, der ihm eine Entscheidung mitteilte, doch dieser Anruf kam nie. Er hoffte auf das Eintreffen eines Schreiberlings, der ein Buch aktualisieren musste, indem er eine Entscheidung eintragen musste, doch auch der traf nie ein. Schließlich, nach fast drei Monaten gab er die Hoffnung auf und verdrängte sie. Er ertappte sich, wie er mutiger im Umgang mit Phelan wurde. Dass es einfacher für ihn wurde, dem Wolf einen Knuff zu geben, oder ihm die Hand auf die Schulter zu legen.
Und Julien war glücklich.
Er wusste, dass dieses Gefühl nicht wirklich beabsichtigt war, immerhin war er zu Phelan geschickt worden um eine Strafe abzusitzen, aber dennoch fühlte er sich glücklich hier.
Zuhause.
Zufrieden.
Völlig mit sich im Reinen.
Julien gähnte genüsslich und rekelte sich auf der Couch wie eine satte Katze, rieb seinen Rücken ausgiebig an der Lehne und kam auf dem Bauch liegend träge schmatzend zur Ruhe. Phelan stand mit zwei Bierflaschen in der Hand unter dem Türrahmen und sah ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Erstaunen an.
„Will ich wissen, warum du riskierst, dein Armani-Hemd zu zerstören und mein Sofa mit deiner Duftnote markierst?“ Phelan trat in den Salon, stellte eine der Bierflaschen auf den Tisch und warf sich in einen der beiden großen Ohrensessel. Julien grinste breit und erinnerte Phelan immer mehr an einen dicken, faulen Kater.
„Es geht mir gut“, schnurrte der Vampir zufrieden. Phelan lachte auf.
„Wenn du anfängst, vor Wohligkeit meine Möbel zu zerkratzen, lass ich dich kastrieren und kauf dir einen Kratzbaum“, behauptete er gut gelaunt. Julien blinzelte verwirrt, dann verstand er und stieß einen entrüsteten Ton aus.
„Du kannst mich nicht kastrieren. Naja, kannst du schon, aber es wächst wieder nach“, erwiderte er triumphierend. Phelan zuckte mit den Schultern.
„Ich hab genug Geld um es immer und immer und immer wieder zu tun“, behauptete er vergnügt und nippte an seinem Bier. Julien zog die Augenbrauen zusammen, fauchte und ahmte die Bewegung einer Katze nach, die nach etwas schlägt.
„Dann beiß ich dich!“, warnte er gefährlich.
„Dann stirbst du“, konterte Phelan lässig.
„Du aber auch!“ Julien warf sich auf den Rücken und streckte sich, bis die Knochen knackten.
„Mist. Stimmt. Schwein gehabt. Wirst doch nicht kastriert“, gab Phelan nach. Juliens Blick war triumphierend.
„Sag mal, meinst du, die haben mich hier vergessen?“, wechselte er plötzlich das Thema. Phelan hob überrascht die Augenbrauen.
„Ernsthaft, Faol. - Mein Vater hat schon seit Wochen nicht mehr angerufen. Raghnall lässt sich nicht mehr blicken. Kein Arsch interessiert sich für uns. Das Telefon hat seit wir wieder da sind noch kein einziges Mal geklingelt“, zählte Julien an den Fingern auf. Phelan antwortete ein nachdenkliches „Hm“.
„Nicht dass es mich stören würde …“ Julien grinste Phelan schelmisch an.
„Ganz im Gegenteil sogar, es fängt nur an, mich ein bisschen nervös zu machen.“
Phelan legte den Kopf an die Sessellehne und dachte nach.
„Es ist in der Tat merkwürdig“, gestand er nachdenklich ein.
„Aber ganz ehrlich!? - Mir soll es recht sein. Wahrscheinlich streiten sie sich immer noch da unten in der Höhle über das, was wir gesagt haben. So was kann sich mitunter über eine sehr lange Zeit ziehen.“ Phelan setzte sich auf und hob seinen rechten Zeigefinger.
„Erstens: Diskutieren, ob der verbannte Verräter-Wolf, also ich, überhaupt die Wahrheit gesagt hat. Zweitens:“, Phelan streckte seinen Mittelfinger zu seinem Zeigefinger dazu, „ist die Strafe der drei Verräter, also Conors, Yuris und meine, eigentlich nicht viel zu milde ausgefallen und sollte man sie nicht nachträglich in irgendeiner Weise verschärfen?“ Phelan hielt mit dem Aufzählen inne, um einen Schluck Bier zu trinken.
„Und drittens: Ach, da war ja noch was mit den ganzen Toten … das müssen wir jetzt mal ganz genau durchdiskutieren, aber so was von ganz genau“, beendete er frotzelnd.
„Ich frage mich manchmal, ob ich den Übergriff hätte melden sollen. Auch wenn Asad da draußen Wachen aufgestellt hat und jeden noch so kleinen Versuch uns anzugreifen seitdem unterbunden hat; eigentlich hätte ich es Raghnall und deinem Vater melden sollen“, grübelte Phelan nachdenklich und schwang lässig seine Beine über die Armlehne. Julien unterdrückte ein sehnsüchtiges Seufzen, als er den Wolf so lümmeln sah.
„Wozu? Wir haben gewonnen und da draußen steht dein neues Heer und beschützt uns. Nach den toten Einzelgängern fragt kein Schwein, die meisten von ihnen werden nicht mal Papiere haben. Und Burging und Nemours werden sich bestimmt nicht beschweren, nur weil jetzt weniger Arbeit für sie zu tun ist. Obwohl, Burging vielleicht doch, aber das ist eher etwas Persönliches.“ Er zuckte mit den Schultern. Burging war nach Shanes Tod auf einen Rachefeldzug gegangen. Er war wie eine Lok durch die Einzelgänger geprescht und hatte auf blutige Art und Weise demonstriert, dass er es nicht hinnahm, wenn jemand eines seiner Rudelmitglieder tötete. Julien gestand sich ein, dass er Shane irgendwie vermisste. Er hatte den jungen Wolf doch recht gern gehabt.
„Ist das mein Bier?“, wechselte er das Thema und zeigte auf die einsame Bierflasche auf dem Tisch.
„Nein, die steht da nur zur Deko“, behauptete Phelan mit todernster Miene. Julien schnitt ihm eine Grimasse, schnappte sich die Flasche und setzte sie an seine Lippen. Er hatte noch nicht einmal Bier im Mund, als sein Handy klingelte. Der Klingelton ließ ihn erstarren.
„Das ist meine Mutter“, nuschelte er alles andere als begeistert, stellte die Flasche wieder ab und holte sein Handy aus der Hosentasche.
„Maman?“, fragte er lustlos. Phelans tat, als ob ihn das Etikett seiner Bierflasche unheimlich interessierte, doch es war schwer, das Gespräch nicht zu belauschen. Julien hätte genauso gut auf Lautsprecher umstellen können, Phelan verstand jedes Wort, was Lyria sprach. Er erhob sich mit einem Aufstöhnen und verließ das Wohnzimmer.
„… Wo bist du? - Wieso dass denn? ... Weil … Nein, Mutter, er lauscht nicht, das hat er nicht nötig, er hört dich auch ohne Lauschen!“, knurrte Julien gereizt. Phelan ging zur Überwachungsanlage der Villa und starrte auf den Bildschirm. Vor dem Tor stand eine große schwarze Limousine und wartete auf Einlass. Kurz spielte er mit dem Gedanken, sie noch ein wenig länger warten zu lassen, allerdings empfand er es als nicht fair, seine Scherze von Julien ausbaden zu lassen. Der arme Kerl wurde jetzt schon von seiner Mutter angeschnauzt. Mit einem resignierten Seufzer öffnete er das Tor und machte die Haustür einen Spalt weit auf.
Im Wohnzimmer beendete Julien mit einem Grunzen das Gespräch.
„Was will sie hier?“, empörte er sich gereizt. Er liebte seine Mutter, aber manchmal, vor allem, wenn er derjenige war, an dem sie ihre schlechte Laune ausließ, dann würde er sie am Liebsten erwürgen.
„Was fragst du mich? Das ist deine Mutter“, gab Phelan zurück, leerte seine Bierflasche und ging in die Küche, um sich eine neue zu holen.
„Verdammte Scheiße“, knurrte Julien missmutig und ging zur Tür. Er beobachtete, wie die Limousine die Auffahrt heraufkam, vor der Treppe hielt und der Chauffeur hastig ausstieg um die hintere Tür zu öffnen. Heraus kam der Traum aller Männer. Fleischgewordener Sex-Appeal.
Seine Mutter.
Und sie hatte schlechte Laune.
„Jetlag?“, frotzelte Julien und kam ihr entgegen. Der Blick, den sie ihm schenkte, hätte ihn eigentlich töten müssen.
„Halt deinen vorlauten Mund, Iulius“, schnauzte sie ihn an und schob sich an ihm vorbei in die Villa.
„Meiner Treu, ich frage mich jedes Mal, weshalb er freiwillig in diesen verfluchten Sumpf gezogen ist“, stellte sie fest. Zielstrebig marschierte sie ins Wohnzimmer und nahm auf der Couch Platz, auf der sich Julien noch vor wenigen Minuten wohlig geräkelt hatte.
„Möchtest du etwas trinken, Maman?“, bot er höflich an.
„Espresso, mein Herz. - Wo ist der Köter?“ Sie sah sich demonstrativ suchend um und es hätte Julien nicht gewundert, wenn sie unter dem Tisch nachgesehen hätte.
„Der Köter ist in der Küche und betrinkt sich, denn nüchtern ist er nicht in der Verfassung, dem Dreckstück gegenüber zu treten“, murmelte Phelan leise, aber nicht leise genug, dass Lyria es nicht hören konnte.
„Du lebst noch? - Schade, ich hatte Hoffnung, sie hätten dich aus dem Weg geräumt.“ Lyria schlug elegant ihre Beine übereinander und ließ ihren Blick schweifen. Julien wusste nicht, wie er es schaffte, den Schein zu wahren, und brühte mit leicht zittrigen Händen einen Espresso. Sie wusste Bescheid! Sein Herz begann zu rasen. Wie um alles in der Welt hatte sie davon erfahren? Julien holte tief Luft und zwang sich zur Ruhe.
„Damit es dir besser geht!? - Träum weiter, Hexe.“ Phelan verließ mit seiner dritten Flasche Bier in der Hand die Küche und stellte sich unter die Wohnzimmertür. Auf der einen Seite war er ehrlich überrascht, dass Lyria von dem Angriff wusste, auf der anderen Seite war ihm diese Tatsache völlig klar. Diese Frau hatte überall ihre Spione und sie war verdammt besitzergreifend. Niemals hätte sie ihren Sohn ohne eigene Leute, die ihn überwachten, nach New Orleans gehen lassen. Er sah sie betont herablassend an, obwohl sein Zorn anstieg. Er zwang sich, an etwas anderes zu denken, als daran, wie seine Eltern Julien bewachen ließen, als wäre er ein kleiner hilfloser Junge. Als wäre er nicht in der Lage, auf sich selbst aufzupassen. Er räusperte sich demonstrativ, um sich zu beruhigen.
„Was willst du hier, Weib? - Außer mich zum Kotzen zu bringen?“, wollte er wissen. Lyria überging die Beleidigung.
„Es geht um den letzten Angriff der Einzelgänger auf die Villa“, begann sie, dann wartete sie mit der weiteren Erklärung, bis Julien mit ihrem Espresso zurückkam und ignorierte den Wolf, der so verdammt beherrscht an der Tür lehnte und bei dem sie nicht erkennen konnte, wie es ihn ihm vorging. Phelan nuschelte nur ein abfälliges „Ach?“ in seine Bierflasche.
„Ich war in Sorge. Ich habe gehört, es war ein schwerer Angriff?“
Allein durch die Tatsache, dass sie ihre Feststellung wie eine Frage an ihn richtete, ließ Zorn in Phelan aufwallen. Er unterdrückte ihn mühsam.
„Es waren neununddreißig“, antwortete er knapp.
„Zuviel für dich?“, höhnte sie und nippte an ihrer Tasse. Phelan war versucht, sie ihr ins Gesicht zu rammen. Julien bemerkte den Zorn, der in Phelans hochkroch. Er legte ihm sanft die Hand auf den Unterarm und spürte, wie sich die harten Muskeln unter seinen Fingern langsam entspannten. Trotzdem ließ er seine Hand auf Phelans Arm ruhen. Diese leichte Berührung beruhigte nicht nur den Wolf, ihm selbst spendete sie Mut.
„Zuviel für uns. Schon mal gegen so viel Zweibeiner und wilde Vampire gekämpft?“, erwiderte Phelan süffisant. Sie verdrehte leicht genervt die Augen. Sie hasste es, wenn er so viel Dramatik in seine Worte legte.
„Nun, jedenfalls sind wir zum Entschluss gekommen, dass es hier zu gefährlich für Julien wird“, eröffnete sie und stellte die Tasse auf den Tisch. Julien blinzelte.
„Wir?“, hakte er nach.
„Ich“, sagte Lyria mit Nachdruck. „Ich habe keine Lust, meinen Sohn an eine verlauste Horde Köter zu verlieren, nur weil sein Freund hier nicht abschätzen kann, wann ein Gegner zu stark für ihn ist. Julien, du wirst packen. - Sofort.“
„Nein.“ Julien schüttelte vehement den Kopf. Das war ja jetzt wohl nicht ihr ernst. Seine Mutter hatte sie an Raghnall und Dashiell verraten? Er konnte es nicht fassen. Selbstverständlich hatte sein Vater sofort verlangt, dass sein armes, hilfloses Kindchen augenblicklich aus dieser unsäglichen Gefahrenzone herausgenommen wurde. Er presste fest die Kiefer zusammen. Und so wie es schien, hatte Lyria diese Aufgabe mit Freuden übernommen. Sie liebte es, Phelan auf jedwede Art zu verletzten.
„Ich sagte, du wirst packen, Iulius“, wiederholte Lyria und ihre Stimme nahm einen dunklen Tonfall an. Julien leckte sich über die Lippen und trat einen Schritt vor.
„Mutter, nein“, blieb er stur.
„Wir werden hier jetzt keine Diskussion starten, Iulius Delanius Kahor-Ra min Waset, hast du mich verstanden!? - Es hätte nicht viel gefehlt und du hättest wie ein Stück Scheiße hier vor diesem gottverfluchten Haus dein Leben gelassen!“, fauchte sie und erhob sich elegant. Dann wirbelte sie zu Phelan herum.
„Und korrigier mich, oh, du großer Heerführer“, spie sie Phelan entgegen, „Hat der Zorn dich mal wieder übermannt, als du meintest, allein gegen vierzig kämpfen zu müssen? Es ist mir verdammt noch mal völlig egal, wenn du dich umbringen willst, aber zieh meinen Sohn da nicht mit hinein, du hündischer Scheißkerl!“ Sie hackte Phelan ihren perfekten Zeigefinger ins Brustbein. Phelan sah sie schweigend an.
„Glaubst du etwa, ich lasse ihn hier, wo er von einer Horde Streunern bewacht wird? Oder denkst du etwa, ich hätte die Brut da draußen nicht gesehen, wie sie vergeblich versucht haben, sich vor mir zu verstecken? Glaubst du etwa allen Ernstes, ich lasse meinen Sohn von solchen Amateuren bewachen? Ich werde ihn mitnehmen. Und du: Du wirst hierbleiben.“ Auf ihrem Gesicht erschien ein grausames Lächeln. Phelan erwiderte ihren Blick ohne eine erkennbare Regung. Sein Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt, sein Herzschlag blieb weiterhin ruhig und gleichmäßig. Nichts ließ erahnen, wie sehr ihn Lyrias Worte trafen. Lyrias Blick war voller Triumph. Er wollte sie am Liebsten schlagen.
„Pack deine Sachen oder geh ohne sie“, warnte sie Julien ein letztes Mal. Phelan presste kurz die Kiefer zusammen, bevor er sich zu Julien drehte.
„Geh deine Sachen packen, Julien. Du kannst nach Hause.“ Er versuchte ein Lächeln und hielt auf halbem Wege inne. Ihm war nicht nach Lächeln zumute. Julien starrte ihn ungläubig an.
„Phelan, ich …“, begann er, doch Phelans Kopfschütteln ließ ihn verstummen.
„Wir wussten doch beide, dass es nicht von Dauer sein wird.“ Der Wolf legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie kurz. Juliens Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
So plötzlich. Gerade eben noch war es eine wundervolle Nacht gewesen und mit einem Mal war alles dahin. Und Phelan warf ihn auch noch mehr oder weniger hinaus. Ein Ruck ging durch Julien. Er richtete sich auf, räusperte sich leise und nickte kurz.
„Aber gerne doch. Ich gehe packen“, sagte er tonlos und schritt zur Treppe. Er schaffte es, die Fassung zu wahren, bis er seine Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, dann sackte er daran hinunter auf den Boden.
Er wollte nicht gehen.
Hier gehörte er hin.
Und er wollte, dass sie endlich aufhörten, ihn wie ein dummes Kind zu behandeln. Er wollte, dass sie aufhörten, immer über sein Leben zu bestimmen. Er war verdammt noch mal erwachsen! Julien fauchte leise.
Sein ganzes verdammtes Leben lang hatten seine Eltern über ihn bestimmt. Ihn in einen goldenen Käfig gesperrt, weit weg von allem Bösen dieser Welt. Julien erhob sich und räumte den Kleiderschrank aus.
Wo Phelan auf Reisen ging, um das Kriegshandwerk zu lernen, wurde er von Gelehrtem zu Gelehrtem geschleift, in die hintersten Winkel der Welt, versteckt in leeren Einöden und hatte Weisheiten und Sprachen gelernt. Es hatte ihn drei Jahre all seiner Überredungskunst und Betteleien gekostet, bis sein Vater zugestimmt hatte, dass er in das Heer seines Onkels gehen durfte. Er hatte verdammt noch mal betteln müssen! Nicht argumentieren, keine logischen Einwände, mit kindischer Bettelei hatte er seinen Vater davon überzeugen können, dass er erwachsen genug war, um wie ein Mann kämpfen zu können. Indem er wie ein kleines Kind gebettelt hatte!
Julien stieß einen schmerzerfüllten Ton aus, während er seine Sachen in den Koffer pfefferte.
Dann hatte Phelan es geschafft, ihn in sein Heer zu holen, zu den Wölfen, und dort war er das erste Mal in seinem Leben wirklich frei gewesen. Er wurde nicht mehr wie ein dummer Junge behandelt, sondern wie ein Mann. Er beging Fehler und musste für diese Fehler selbst einstehen. Er macht etwas gut und wurde dafür gelobt. Wollte er etwas, musste er es sich erarbeiten. Und er musste nie betteln wie ein räudiger Straßenköter! Er erreichte Dinge durch Argumentation, durch logische Einwände, durch harte Arbeit. Julien hob den Kopf und lächelte wehmütig.
Alles aus uns vorbei. Phelan war verbannt worden und Julien wieder zum bestbehütetsten Erwachsenen auf der ganzen Welt. Umringt von diskreten Bodyguards - als ob er sich nicht selbst verteidigen könnte - und natürlich immer irgendwo in der Nähe seiner Eltern. Selbst als er Phelan nachgereist war, war seine verfluchte Mutter immer in der Nähe gewesen, anscheinend, weil sie zufällig am selben Ort Geschäfte zu erledigen hatte. Julien schnaubte abfällig. Natürlich hatte sie dort Geschäfte zu erledigen gehabt, natürlich nur rein zufällig. Am Arsch, rein zufällig. Drauf geschissen, auf ihr rein zufällig. Auf sie alle geschissen.
Julien knallte den Kofferdeckel zu und schüttelte sich angewidert. In diesen Momenten hasste er seine Eltern. Er war nicht aus Zucker. Er war auch nicht aus Glas. Er war ein Mann, kräftig und kampferprobt und das einzige, was sie ihn sein ließen, war hübsch und höflich und nett und ach-so zuvorkommend zu sein.
Mit einem wütenden Knurren schleuderte er den zweiten Koffer auf sein Bett und lud ihn voll.
Dass er überhaupt alleine jagen gehen durfte, grenzte ja fast schon an ein Wunder. Dass sie ihm so etwas überhaupt zutrauten. Er würde seinen Hintern darauf verwetten, dass sie ihn sogar da heimlich beobachten ließen. Selbstverständlich alles nur zu seinem Schutz. Sie waren doch ach-so liebe und zuvorkommende Eltern, die es ihrem Sohn an nichts mangeln ließen. Außer an Freiheit.
Julien hob den Kopf und sah sich in dem Raum um, der bis eben sein Zimmer gewesen war. War es ihm am Anfang so furchtbar altmodisch erschienen, so lieb hatte er es gewonnen. Ob er je wieder hierherkommen würde? Hätte er Tränen weinen können, hätte er es jetzt getan.
Sein Herz schmerzte und am liebsten würde er sich unter die Bettdecke verkriechen und heulen. Er rieb sich hektisch über das Gesicht.
Schlimmer, als das gehen müssen war für Julien, dass Phelan ihn kampflos gehen ließ. Weil er ihn gehen lassen musste. Weil er keine andere Wahl hatte.
Julien nahm seine beiden Koffer und ging zur Tür.
Hier würde immer sein Zuhause sein, schwor er sich grimmig.
Unten stand seine Mutter an der Haustür, die Klinke bereits in der Hand. Conor hockte mit eingekniffenem Schwanz neben Phelan und hatte die Ohren hängen lassen. Yuri saß auf Phelans Schulter. Sein Gefieder wirkte stumpf und matt. Julien schaffte es nicht, in Phelans Gesicht zu sehen. Er schob sich an den Dreien vorbei zur Tür, stellte seine Koffer auf die Veranda und holte tief Luft. Dann drehte er sich wieder um und hastete auf Conor zu.
„Du wirst mir fehlen, alter Freund“, wisperte er und schlang seine Arme fest um den Wolf. Conor fiepte gequält. Julien richtete sich auf und sah Yuri an.
„Du auch, Nebelkrähe.“ Er hob vorsichtig den Raben von Phelans Schulter und drückte ihn an seine Brust. Yuris Krächzen klang nicht weniger gequält als das Fiepen von Conor. Julien setzte den Vogel auf einem Beistelltischchen ab. Er wandte sich zu Phelan.
„Es … war schön hier …“, flüsterte er heiser. Phelan nickte schwach.
„Du … du …“, begann Julien, dann machte er einen hektischen Schritt und landete in Phelans starken Armen.
„Ja“, flüsterte der Wolf heiser und presste Julien fest an sich. Julien schluckte hart. Er spürte Phelans schnellen, harten Herzschlag an seiner Brust, das einzige, was Phelans Gefühlszustand verriet und schloss die Augen. Sog Phelans Geruch in sich auf, versuchte, ihn tief in sich zu speichern.
Lyria räusperte sich demonstrativ gelangweilt.
Julien presste die Kiefer zusammen und löste sich widerstrebend aus Phelans Umarmung.
„Bis bald“, versprach er, drehte sich mit einem Ruck um und ging an seiner Mutter vorbei zur Tür.
„Phelan“, verabschiedete sie sich hoheitsvoll von ihm und verneigte sich mit einem spöttischen Blitzen in ihren Augen. Phelan starrte sie schweigend an, sein Gesicht eine regungslose Maske.
„Beeil dich, Julien. Der Flieger geht in eineinhalb Stunden“, scheuchte sie ihren Sohn, bevor sie an ihm vorbeistolzierte und sich elegant auf den Rücksitz der Limousine schob.
In solchen Momenten hasse ich sie alle, sagte Conor, der zusammen mit Phelan und Yuri zur Tür getreten war.
„Ja“, sagte Phelan tonlos und betrachtete mit starrem Blick, wie sein Freund die Treppen der Veranda hinab zum Fahrzeug stieg.
Julien ignorierte den Chauffeur, als dieser ihm seine Koffer abnehmen wollte und trug sie selbst zum Kofferraum. Mit einem unwirschen Fauchen scheuchte er den armen Fahrer weg, als dieser versuchte, ihm die Koffer zumindest in den Kofferraum zu heben, und schleuderte sie eigenhändig hinein. Er sah noch einmal zur Villa, wo seine Freunde standen, hob die Hand und lächelte kläglich. Phelan nickte ihm leicht zu, dann stieg Julien zu seiner Mutter ins Heck des Wagens.
Phelan stand unter der Eingangstür und sah der Limousine nach, wie sie die lange Auffahrt wieder hinunterfuhr, das Tor passierte und schließlich von der Nacht verschluckt wurde.
Conor sah fragend zu seinem Bruder hoch, der keine Anstalten machte, sich zu bewegen. Yuri landete vor dem Wolf.
Lass ihn allein, bat der Vogel und flatterte auf Conors Kopf. Der Wolf seufzte leise, erhob sich und tapste lustlos zurück ins Haus.
Phelan starrte zum immer noch geöffneten Tor.
Er war weg.
Er hatte es gewusst. Er hatte gewusst, dass sie ihn holen und wieder mitnehmen würden. Er hatte von Anfang an gewusst, dass es nicht von Dauer war.
Sie hatten ihn einfach so wieder mitgenommen. Ohne Vorwarnung. Ohne Zeit für einen richtigen Abschied.
Er hatte es gewusst. Seine Kiefer mahlten.
Und jetzt war er weg. Der Verlust traf Phelan hart wie eine Faust und ließ ihn mit einem leise würgenden Geräusch zusammensacken. Kein Lachen mehr, keine grauen Augen, kein Julien. Phelan würgte erneut. Wieder wie früher. Wieder wie davor. Er presste fest die Augen zusammen, zwang sich tiefe Atemzüge zu nehmen, sich zu sammeln, und richtete sich auf.
Der Mann, der jetzt die Auffahrt hinab sah, war ernst, kalt und stoisch.
Es war wieder wie zuvor.
Er hatte Conor.
Er hatte Yuri.
Und er war allein.
Der Bibliothekar legte seinen ausgefransten Federkiel beiseite und massierte sich sein schmerzendes Handgelenk. Er war es nicht mehr gewohnt, so viele Seiten auf einmal zu füllen, aber die Zeit drängte, und es gab noch weitere Lebensbücher, die er aktualisieren musste, die Chroniken mussten immer auf dem neuesten Stand sein.
Mit einem leisen Seufzen griff er nach einem neuen Federkiel, spitzte ihn sorgfältig an und fuhr mit seiner Geschichte fort.
Ende Teil 1
Akteure & Namen
Das Heer der Wölfe vom Braeden / der „Zweihundert“
Phelan [Fay-lawn] Vallée (Geburtsname: Fáelán vom Braeden) - Wolf
zweitgeborener Sohn von Conlaoch vom Braeden, einstiger Kriegsherr der Wölfe vom Braeden
Julien [franz. Aussprache] Delano (Geburtsname: Iulius Delanious Kahor-Ra min Waset) -Vampir
Lebemann, wird später den Platz seines Vaters im Rat einnehmen, bester Freund von Phelan
Conor vom Braeden (Geburtsname: Conaire vom Braeden) - Wolf
erstgeborener Sohn von Conlaoch vom Braeden, einstiger Bibliothekar des Rates
Yuri Borondin - Vampir
Wissenschaftler, Freund von Conor
Beigan Einarsson - Vampir
Wikingerkrieger im Heer der Wölfe vom Braeden, Stiefbruder von Borgúlfr
Borgúlfr Einarsson - Bär
Wikingerkrieger im Heer der Wölfe vom Braeden , Stiefbruder von Beigan
Darragh [Dai-re] Aill [aiell] (Geburtsname: Darragh von den Klippen) - Wolf
nach Conlaoch Heerführer der Wölfe vom Braeden, später Hauptmann unter Phelan
Ian O‘ Braeden (Geburtsname: Eóin vom Braeden) - Wolf
Cousin von Conor und Phelan, Anführer der Hunde des Braeden
Sybilla Aresy - Wolf
Kriegerin im Heer der Wölfe vom Braeden, Desmonds Mutter und ehemalige Geliebte von Julien
Tariq [Tarik] bin Asim bin Kadin Al-Assuan - Vampir
nubischer Krieger im Heer der Wölfe vom Braeden
Desmond Aresy-Delano - Wolf
Sohn von Sybilla und erster Ziehsohn von Julien
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Die Ratsältesten, Verwandte & Verbündete:
Dashiell Delano (Geburtsname: Dasiellos Delanious) - Vampir
Ratsältester, Vater von Julien und Viktor, bester und ältester Freund von Raghnall
Raghnall [Rae-nal] O‘Braeden (Geburtsname: Raghnall vom Braeden) - Wolf
Ratsältester, Großvater von Conor und Phelan, bester und ältester Freund von Dashiell
Lyria von Theben (Geburtsname: Iihria-Amun min Waset) - Vampir
Mutter von Julien und ehemalige Geliebte von Phelan mit dunkler Vergangenheit
Amy O'Néall - Mensch
Ziehtochter von Phelan, Familienmitglied des O’Néall-Clans, des am engsten mit den Braeden verknüpften Menschenclans
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Das New Orleans-Rudel:
Frederick Burging - Wolf
Rudelführer des New Orleans-Rudels
Beau Lambert - Wolf
2. im New Orleans-Rudel
Shane Ducote - Wolf
3. im New Orleans-Rudel
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Der New Orleans-Clan:
Allister Nemours - Vampir
Clanführer New Orleans
Vincent Nemours - Vampir
Erstgeborener Sohn von Allister Nemours
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Des Weiteren:
Asad Ghedi Said - Löwe
Löwe aus Somalia, der beim Putsch seines Neffens sein Rudel verloren hat
Fernán Hernandez Salazar - Weiser
Gehört nicht dem Rat an, hat beim Bau des Blutwehrs mitgeholfen
Benjamin Leblanc - Wolf
Geschäftsführer vom Loup in New Orleans
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Das ganz kleine Wörterbuch:
Braeden (sprich: Bräd-den) - Nachname / Ortsbetitelung für die Heimatgegend der Braedens
(hier: großes, weites Tal)
Cuilén (sprich: Cul-jian) - Welpe
eascann (sprich: aaskonn) - Aal
Faol (sprich: Fwayl) - Wolf
Text: Emme DeVille
Images: A. M. Creatives / Emme DeVille
Publication Date: 12-05-2013
All Rights Reserved