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STERNSCHNUPPEN


Teil 1


Gewidmet meiner einzigen großen Liebe, die immer unglaubliche Geduld mit mir hatte.

Hi – ich bin Davy, eigentlich ja David, aber für meine Freunde einfach Davy. Meinen Namen habe ich meinem Vater zu verdanken, meinem echten Vater der sich vertschüsst hat, als ich noch SEHR klein war.
Aber dazu komme ich noch – irgendwann vielleicht.
Was das hier soll? Ganz einfach ich habe mich entschlossen, meine Lebensgeschichte zu schreiben, nicht die ganze, aber einen Teil davon. Keine Angst, ich will nicht mit dem erhobenen Zeigefinger drohen und falls jemand irgendwelche tiefsinnigen, moralisch korrekten Botschaften sucht, wird er wohl nicht fündig werden. Beim Stöbern auf dem Dachboden meines Elternhauses habe ich meine alten Tagebücher gefunden und hatte beim Lesen das eine oder andere AHA Erlebnis. An vieles konnte ich mich nicht, oder ganz anders erinnern. Eine ziemliche Weile hat mich die Sache schwer beschäftigt und ich ging allmählich mit der Idee schwanger, die Geschichten doch ins Reine zu bringen. Aber wie ? Die Antwort eines Freundes war: „Schreib es doch nieder!“. E voila.
Schreiben ist ein wenig wie ein Kind zu bekommen, denke ich mir zumindest. Zuerst wird man mit einem Gedanken befruchtet und es entwickelt sich etwas, von dem man nicht genau weiß, was es wird. Und dann kommt der Moment, wo dieses „Kind“ das Licht der Welt erblickt. Manchmal geht es einfach und erstaunlich schnell, ein anderes Mal mit vielen Schmerzen und nur unter großen Mühen.
Eines vorweg, die Namen sind (fast) allesamt geändert, und ich habe mir die Freiheit genommen die Eigenschaften und das Aussehen einiger Personen zu verändern. Was ich nicht möchte, ist hier irgendjemanden in Verlegenheit zu bringen. Wie heißt es doch so schön? „Etwaige Ähnlichkeiten mit toten oder lebenden Personen sind rein zufällig.“ Sollte jemand meinen, sich oder andere Personen zu erkennen, so soll er sich nur nicht zu sicher sein, dass er richtig liegt. Einige Personen in dieser Geschichte sind auch eingefügt worden um den Fluss der Erzählung voranzubringen und es anders zu langeilig oder zu umständlich gewesen wäre, die allgemeine Richtung nicht aus den Augen zu verlieren.
Meine Geschichte ist nichts Besonderes. Sie ergab – und ergibt sich noch immer, aus den unwägbaren Zufällen des Lebens, klugen und nicht so klugen Entscheidungen der handelnden Personen(eingeschlossen meiner Eigenen), den Zwängen des Alltags, denen man nicht auskommt und nicht zuletzt aus dem, was die Hormone mit einem anstellen (das ist der ganz gefährliche Teil!).
Die Geschichte beginnt an meinem 16. Geburtstag – das war 1990, einige Male muss ich zurückgreifen um zu erklären, wie es zu manchem Umstand gekommen ist, aber im Großen und Ganzen folge ich meinen Tagebuchaufzeichnungen, die ich von meinem 14. bis zum 23. Lebensjahr mehr oder weniger regelmäßig geführt habe. Aber ich folge ihnen nicht immer sklavisch. Einiges habe ich weggelassen, teils weil ich es selbst nicht mehr verstand, was ich damals gemeint habe oder weil es selbst mir zu intim wurde, anderes habe ich aus meiner Erinnerung ergänzt, wenn die Lücken in der Geschichte gar zu groß wurden. Ich war nicht immer sehr konsequent beim Führen meines Tagebuches, teils weil ich schlicht keine Zeit hatte, oder die Ereignisse sich dermaßen überschlagen hatten, dass ich emotional nicht dazu in der Lage war.

Ein Hinweis noch, der sich auf die Zeit bezieht, in der die Geschichte spielt:
Die Gesellschaft Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre war beim Thema Homosexualität zu einem großen Teil intolerant, extrem konservativ und teilweise sogar rücksichtslos. Die Couming out Bewegung war gerade erst im Entstehen und AIDS erreichte seinen ersten traurigen Höhepunkt, was die Vorurteile nur noch förderte. Es war für Schwule und speziell für junge oder gar sehr junge Schwule ganz und gar nicht leicht zu entdecken, dass sie NICHT wie die anderen sind, nicht Mädchen hinterher gaffen und irgendwelche Bräute wie Trophäen durch die Gegend schleppen. Es gab das Internet als weltweite Wissensdatenbank noch nicht, wo man sich informieren konnte, alles was man wusste, kam vom Hörensagen oder vielleicht auch weil man irgendwo einen Artikel gefunden hatte oder es ausnahmsweise im Fernsehen einen Bericht zu dem Thema gab. Allerdings hatten diese Berichte eher den Touch des Exotischen (wenn es gut ging) oder des Perversen, Abartigen, was eher der Normalfall war.
Wenn dies hier einen Sinn hat, dann vielleicht den es uns vor Augen zu führen um wie viel besser die Situation in den letzten 20 Jahren geworden ist. Wo heute ein Coming out zwar nicht unbedingt leicht, aber noch lange nicht zwingend Existenz gefährdend ist, war es damals noch oft genug Grund für soziale Verelendung, Ausschluss aus der Gesellschaft bis hin zum Grund für Selbstmord.

Ach ja – noch was – eine Warnung. Es wird Stellen geben, die vielleicht etwas (zu?) heftig sind, aber diese sind nicht zur voyeuristischen Erbauung gedacht – auch wenn sie sich möglicherweise dafür eignen – sie dienen mehr dazu gewisse Dinge zu unterstreichen. Außerdem gehören sie einfach zur Geschichte dazu. Was wäre eine Geschichte über ein junges Leben, das sich gerade im Wechsel vom Kind zum Erwachsenen befindet, ohne Sex? Zumindest unehrlich, finde ich.
Sollte jemand aus meiner Geschichte eine tiefergehende moralische Lehre ziehen können, dann bitte ich ihn, mir diese Umgehend zukommen zu lassen, denn mir ist das nicht gelungen.
So, jetzt möchte ich aber niemanden mehr langweilen, los geht es!


Wien - 2010

EMOTIONEN

„BEEEEEEN“. Ich fahre aus dem Schlaf auf und sitze kerzengerade im Bett. Ich schwitze wie ein Schwein und kann nicht sagen ob ich den Namen wirklich laut geschrien habe oder ob der Schrei noch zu dem Traum gehört hat. Hat außer mir noch jemand etwas gehört? Ich lausche, aber in der Wohnung rührt sich nichts.
Ich versuche den Traum festzuhalten, aber gleichzeitig verblasst die Erinnerung so schnell, dass nur Gefühle und Bruchstücke von Eindrücken zurückbleiben. Ich weiß nicht warum ich den Namen gerufen habe, aber eines ist klar, es war nicht Wut oder Hass. Aber was dann – es war ein Gefühl von unendlicher Traurigkeit und der Einsamkeit.
Draußen ist es schon hell, ein Sonnenstrahl fällt durch einen Spalt zwischen Vorhängen und zeichnet einen hellen Streifen voller Licht auf den Boden des sonst dunklen Zimmers. Ein Blick auf den Weckern zeigt mir 6:30. Und das am Samstag. An meinem Geburtstag.
Es ist wieder einmal so weit. Der 28. August. Und ich werde 16. Mein Stiefvater hat mir gestern noch eine Rede gehalten von wegen „Schwelle zwischen unbeschwerter Jugend und beginnendem Erwachsensein mit zugehöriger Verantwortung und das ich mich in Zukunft mehr in die Familie einbringen müsste“. Mutter ist natürlich mit wichtigem Gesicht dabei gesessen. Ich war heilfroh, als mein Vater endlich fertig war und ich mich trollen durfte. Allerdings lässt dieser Vortrag nichts Gutes für die Zukunft ahnen.
„Ben“ Wieso „Ben“ ? Und was war das für ein komisches Gefühle dabei? Scheiße, Ich bin total verwirrt und beschließe, dass mir eine Runde Joggen helfen wird um den Kopf wieder klar zu kriegen. Also rein in die Sportklamotten und ab ins Gelände.
Nach zwei Stunden laufen und einer ausgiebigen Dusche ist mein Kopf wirklich wieder klar und ich habe den Traum fast vergessen. Nur in meinem Hinterkopf nagt da noch was.

Geburtstag: Gerüchteweise freuen sich ja alle auf diesen Tag. Ich nicht. Hab ich noch nie, auch nicht auf Weihnachten. Bei uns bedeute so ein Ereignis verklemmtes Familienessen bei den Großeltern und viel Stress. Meistens eskaliert das Ganze in einem Streit zwischen meiner Mutter und meinen Großeltern, denn Großvater ist eben der typische Familienpatriarch, der immer und überall seinen Willen durchsetzen muss und Großmutter ist eine zwar liebenswerte, aber oft zynische alte Frau. Und meine Mutter kommt viel zu sehr nach ihrem Vater, als dass diesen beiden Megaegos sich längere Zeit im gleichen Raum aufhalten könnten, ohne dass es kracht.
Einer der wenigen Lichtblicke in meinem Leben ist Maria. Jedes Jahr feiern wir meinen Geburtstag noch einmal bei ihr zu Hause, was ein wirklich nettes welches eines ist. Ein schönes Haus mit einem großen Vorgarten und einem wunderschönen Garten hinter dem Haus.
Maria ist meine beste Freundin. Sie war im März 18 und hat ihren Geburtstag mit den Worten kommentiert: „Jetzt bin ich volljährig und kann endlich machen was ich will, endlich raus hier.“
Ich hatte schon Angst, dass sie mich hier wirklich alleine lässt und wirklich sofort ihre Sachen packt und irgendwo hin geht, weit weg, aber bis jetzt hat sie die Drohung nicht wahr gemacht. Und da ist dann noch Chris, ihr Bruder. Nicht dass ich ihren Bruder nicht mag, aber manchmal ist er eben einfach unausstehlich. Er ist nur um ein paar Monate älter als ich und wir krachen immer wieder aneinander. „Testosterongesteuerte Revierkämpfe“ nennt Maria das.

Wie immer an meinem Geburtstag besuche nach dem obligatorischen Familientreffen, das diesmal nicht ganz katastrophal, aber auch nicht besonders fröhlich war, Maria – das gehört zur Tradition.
Wir gehen in den Garten hinter dem Haus, indem im die großen alten Bäume stehen, auf denen wir früher herumgeklettert sind und ihre Eltern mit tollkühnen Kunststücken fast in den Wahnsinn getrieben haben. Es ist herrlich dort – es riecht frisch, kühl und nach feuchter Erde. In der Nacht hat es geregnet, aber jetzt scheint die Sonne durch die Blätter der alten Bäume und malt grandiose Schatten auf den Rasen. Unser ganz privates Eichhörnchen ist auch da. Wir haben es letztes Jahr quasi adoptiert und durch den Winter gefüttert. Es sitzt im Gras und putzt sich. Als es uns bemerkt, verharrt es kurz in totaler Bewegungslosigkeit und kommt dann vorsichtig zu uns rüber und schnuppert an unseren Händen, ob wir auch Nüsse oder Obststücke haben. Leider wir haben heute nichts dabei und so verschwindet es auf dem nächsten Baum. Von dort schaut es noch eine Weile zu uns herunter und trollt sich dann ins Geäst.
Wir setzen uns an den Gartentisch, die Stühle sind noch etwas feucht. Maria greift unter die Tischplatte und fördert zwei Päckchen hervor und hält sie mir hin. Ich bin hin und weg: In einem sind die Musikkassetten, die ich mir schon ewig wünsche und im anderen zwei SF-Bücher von Isaac Asimov. Ich bin ganz verrückt auf diesen SF-Kram.
Ich liebe Maria einfach. „Ich weiß doch worauf du stehst“ sagt sie und zwinkert mir zu. Während ich mit zunehmend feuchten Augen das Billet lese („Dem besten Freund, den man sich wünschen kann“), sieht sie mich mit ihrem typischen „was ist mir dir“ Blick an. Ich schaue nur fragend zurück.
„Komm schon, du schaust schon den ganzen Tag wie durch den Wind geschossen drein und dass hat nicht nur deiner Geburtstagsfeier zu tun.“ Ohne den Blick von mir abzuwenden redet sie weiter “Außerdem hab ich dich zufällig heut Morgen gesehen, bevor du Laufen gegangen bist – hast ausgesehen, als wärest du einem Gespenst begegnet“
„Zufällig?“ frage ich „um halb sieben Morgens. Sag nicht, du bist erst heimgekommen. Deine Mutter trifft der Schlag, wenn das rauskommt.“ Ihre Mutter ist eine bigotte Frau, die seit Jahren nur mehr Ihre Religion kennt, die hart zu sich selbst und allen anderen ist und deswegen auch sehr viel von Regeln und sehr wenig von Freiheiten hält.
Sie setzt Ihre beste Unschuldsmiene auf „Ich weiß von nichts!!“
Ich grinse sie nur an: „Klaus?!“
„Ja, Klaus! Zuerst im Alexander’s und dann bis vier im P1.“. Das Alexander’s ist ein Pub, nicht weit von meiner Schule, wo wir uns seit Jahren treffen. Dort gibt es mehrere Billardtische und zwei Flipperautomaten. Es ist fast immer jemand von uns dort. Man kann fast behaupten, dass dort zeitweise mehr Schüler zu finden sind, als in den diversen Klassen.
Ich kenne Klaus. Maria hat ihn schon mal eingeladen, als ich auch im Haus war. Es war das totale Fiasko – Ihre Mutter hat nur Stress wegen ihm gemacht. Klaus ist 21, Werbedesigner und ein total lockerer Typ. Ich hab mich prächtig mit ihm verstanden, aber er ist leider auch DER Anti-Schwiegersohn für ihre Mutter. Als hat er dann noch eine Diskussion über die Nutzlosigkeit der katholischen Amtskirche vom Zaun gebrochen hatte, war die Angelegenheit erledigt. Genauso gut hätte er sich einsargen lassen können. Marias Mutter hat ihn ganz ruhig mit den Worten „Junger Mann, jemand wie sie hat in meinem Haus nichts verloren“ rausgeschmissen. Nachher gab’s noch tierisch Zoff zwischen ihr und Maria. Sie wollte ihr jeden weiteren Umgang mit Klaus untersagen. Allerdings lässt Maria sich von niemanden etwas verbieten. Ihr Vater stand nur da und hat unglücklich geguckt. Ich hab mich auch noch eingemischt und Partei für Maria ergriffen – was mir fast einen ähnlichen Rausschmiss wie Klaus beschert hätte.

„Und dann?“ Ich kann nicht anders – ich muss einfach nachhaken.
„Was glaubst du wohl, du kleiner Lüstling, dass ich dir alles erzähle??“ sagt sie in gespieltem Entsetzen und stemmt die Hände in Hüften.
„Aber wir reden hier eigentlich von dir. Was war mit dir heute Morgen los?“ – So viel zu meinen Ablenkungsversuch.
„Ich hab nur mies geträumt. Das ist alles und wohl kaum ein Grund sich über irgendwas Sorgen machen zu müssen“
„Hab ich gehört und registriert, aber der Traum muss dich ja ganz schön erschreckt haben, sonst wärst du ja wohl nicht mitten in der Nacht auf und davon um Laufen zu gehen.“
„Erstens war es nicht mitten in Nacht, sondern knapp vor Sieben und zweitens gehe ich oft am Wochenende laufen.“
Sie sieht mich nur ruhig an und nimmt meine Hände in die Ihren: „Sag mal, was ist los mit dir – seit du trainierst bist du irgendwie anders. Noch unruhiger als sonst, irgendwie gehetzt. Und da ist noch was...“
JETZT wird es spannend. Ich habe so eine Ahnung was sie meint, aber ich warte ab und sag mal gar nichts.
„Ich hab gestern deine Meike im Alexander’s getroffen. Sie hat mich richtig ausgefragt was mit dir los ist. Du gehst ihr in der Schule anscheinend aus dem Weg, beantwortest Ihre Anrufe nicht und wie hat sie gesagt? ‚Ich glaub er mag mich nicht mehr so wie früher’“
Ich bin ein wenig erstaunt – und auch sauer – mir hat sie gestern in der Schule noch gesagt, dass sie am Abend zu Hause sein muss und dann geht sie ins Alexander’s.
„Was willst du? Ich bin gerade mal 16. Sie glaubt doch nicht wirklich, dass wir jetzt für immer zusammen sind! Ich mag sie ja, aber sie klammert sich total an mich. Das kann ich nicht ab.“ Noch während ich das von mir gebe, weiß ich, dass es nur die halbe Wahrheit ist. Aber damit kann ich nicht so einfach rausrücken!
„Das kann ich nicht ab?? Was sind denn das für seltsame neudeutsche Ansagen??“ Und wieder dieser Blick der mir bis in die Seele schaut.
„Sag mal, hast du schon mit ihr geschlafen?“
„öhmm… “, lautete meine wenig geistreiche Antwort auf diese Frage
„Ja und nein- und wer ist hier jetzt der Lüstling?“ höre ich mich nach einigen Sekunden Schweigen sagen. Was rede ich denn nur für Blödsinn?
Der verdutze Blick von Maria ruft ein schallendes Gelächter bei mir hervor. Sie versucht ernst zu bleiben, aber zuerst zucken ihre Mundwinkel und dann lacht sie mit. Zuerst leise, aber dann immer lauter. Bis ihr Vater die Verandatür aufschiebt „Deine Mutter lässt auch sagen, ihr sollt doch bitte ein wenig leiser sein.“ Diese Frau schafft es doch immer jedem die gute Laune zu verderben.
„Was hat euch den so erheitert“ Er schaut uns mit seinen dunklen, traurigen Augen.
„Nichts besonders Paps“, sagt Maria „Gespräche unter Freunden“. Vater nickt „dann will ich euch nicht weiter stören“ und zieht die Verandatür von innen wieder zu.
„Ja und Nein? Was soll denn das heißen?“ Sie schaut mich wieder an und schüttelt den Kopf.
Ich winde mich wie ein Aal, die Situation war mir damals, als es geschehen ist schon mehr als peinlich und ich habe noch mit Niemand darüber gesprochen, Meike sichtlich auch nicht, wofür ich Ihr zutiefst dankbar bin.

Es war bei Ihrer Geburtstagsfeier im Mai. Wir kennen und schon seit der ersten Klasse in der HTL, sind aber irgendwann nach den letzten Sommerferien enger zusammengekommen. Ihre Eltern haben ihr für eine kleine Feier die Wohnung überlassen und sind am Abend ausgegangen. („Wir sind so gegen 12 wieder zurück“). Ich war erstaunt wie verständnisvoll Eltern sein können – ich kenne so was jedenfalls nicht.
Um 7 hatten Meike eine ganze Meute von Freunden eingeladen. War eigentlich ganz spaßig. Wir haben getanzt du auch wenig über den Durst getrunken und so gegen 10 versuchte Meike die Wohnung wieder leer zu bekommen. War nicht so leicht und es hat eine halbe Stunden gedauert alle raus zu befördern. Danach hab ich Heike dabei geholfen die Wohnung wieder so herzurichten, dass ihre Eltern nicht schon in den ersten Minuten einen Schlaganfall bekommen. Wir hatten, so wie alle anderen auch, doch einiges getrunken und die Stimmung war eigenartig, unwirklich. Es lag eine Art Abwarten in der Luft, was denn da nicht noch alles kommen mag. Irgendwie, nach wirklich nicht allzu langer Zeit lagen wir auf einmal auf dem Bett Ihrem Zimmer und fingen an herumzufummeln – und - ich konnte nicht. Da war nichts. Gar nichts. Es war als hätte mir jemand eine Lokalanästhesie in der Körpermitte verpasst. Ja, wir hatten schon des Öfteren geschmust und auch so was Ähnliches wie Petting gemacht, aber das war’s auch schon. Bei diesen Gelegenheiten hatte ich auch einen Ständer gehabt, aber jetzt, wo es zur Sache ging und wirklich ernst werden sollte war da überhaupt nichts. Meike war toll. Sie hat mich getröstet und versucht mein angeschlagenes Selbstwertgefühl wieder aufzubauen. „War wohl der Alkohol“ meinte sie und nervös wäre ich wohl auch gewesen – keine guten Voraussetzungen für das erste Mal.
Was blieb uns also übrig? Wir haben uns wieder angezogen und die Wohnung fertig aufgeräumt. Kaum waren wir fertig als auch schon Ihre Eltern bei der Tür hereinkamen. Ihre Mutter sah sich um und sagte nur „Respekt, entweder wart ihr die ganze Zeit allein, oder ihr habt ihr habt bewiesen, dass man sich auf euch verlassen kann.“ Meikes Vater grinste zuerst mich und dann Heike an: „Hast du von unserer Prinzessin und Ihren Freunden was anderes erwartet?“ Ich hatte Ihre Eltern zuvor erst einmal gesehen, aber ich fand die Beiden einfach toll.
Ich hab mich so schnell ich konnte verabschiedet und irgendwas von „letzter Straßen-Bahn erwischen“ gemurmelt“. Ich war eigenartig erleichtert, dass der Abend so verlaufen war und nicht anders. Ich wusste auch warum, was ich nicht genau wusste war, wieso ich mich überhaupt mit Meike eingelassen hatte. Liebe ich sie wirklich? Na ja – ich mag sie, dass steh fest, aber ich hatte kein Herzklopfen, wenn ich sie sah oder wenn wir nicht zusammen waren, habe ich sie da vermisst? Nein, eigentlich nicht. Was ist denn nun mit mir? Ich schlenderte so in Gedanken Richtung Heimat, aber eigentlich kannte ich die Antwort auf all diese Fragen ja schon, aber ich wollte sie wohl nicht hören.

Daheim gab’s wieder Zoff mit Frau Mutter, von wegen „Fortbleiben nach 22 Uhr“ und so.
Vater hat wieder schweigend/leidend dabeigestanden und nichts gesagt. War also alles in allem ein richtig toller Abend. Ich bin auf mein Zimmer gestürmt und hab mich aufs Bett geschmissen. Am nächsten Morgen gab’s draußen sehr viel Regen und in meinem Kopf Gewitter vom Vorabend.

Und jetzt fragt auch noch Maria danach – vielleicht nicht direkt, aber doch.
„Und, willst du mir das Rätsel auflösen oder lieber doch nicht?“
Warum nicht, sag ich mir und erzähl ihr die Geschichte. Na ja fast die ganze Geschichte.
Sie schaut mich lange an bevor sie wieder was sagt: „Deswegen mach dir doch keine Sorgen. Bei meinem ersten Mal brauchten wir vier Anläufe in fünf Wochen bis es wirklich geklappt hat – allerdings aus anderen Gründen. Er war, wie sag ich am besten, immer ein wenig zu schnell. Eigentlich viel zu schnell - fertig mein ich.“
„Na toll“, ruf ich „soll mich das etwa trösten? Der KONNTE wenigstens. Pffff“ Ich bin kurz vorm hochgehen.
„Hmmm – noch ein bisserl lauter und du kannst gleich Plakate drucken und aufhängen lassen. Aber es geht doch nicht darum warum es diesmal nicht geklappt hat, sondern darum, dass es sicher klappen wird. Capisce? Kann ja auch sein, das du sexuell nicht so auf Meike stehst – vielleicht brauchst du ganz was anderes, das dir in die Höhe hilft “
Das war sie wieder, meine Maria – sagt in einem Satz mehr, als ich in ganzen Büchern schreiben könnte. Anscheinend ist sie mir wieder meilenweit voraus.
Ich denke über den Satz nach und mir wird auf einmal heiß und kalt, meine Gedanken fahren Achterbahn als mir ein Gedanke kommt. „BEN“ – der Traum – auf einmal sind wieder Einzelheiten da, so als hätte das harmlose Geplauder von Maria ein Tor geöffnet. Ich schaue sie nur mit offenem Mund und großen Augen an und bringe kein Wort heraus.
Ich kann auf einmal nicht mehr sitzen bleiben – ich muss weg.
„Ich, ich muss, …“
„Ja, schon ok“, sagt sie „du musst weg, ich weiß. Aber du weißt hoffentlich auch, dass du jederzeit mit mir reden kannst. Ich bin da, falls du mich brauchst“.
Mir schießen die Tränen in die Augen bis ich so gut wie nichts mehr sehe. Was hat sie gesagt? „Es hat alles mit dem Ringen angefangen?“ Ich versuche mich zu erinnern, was damals eigentlich war.
Es stimmt schon, aber eigentlich hat es schon früher begonnen.

Zwei Jahre zuvor:

Familienurlaub. „Sommerfrische“ wie Großmutter es als Reminiszenz an alte Zeiten zu nennen pflegt. Vier Wochen Landleben.

Wir sind wie jedes Jahr in **** - einem kleinen, verträumten Dorf in mitten grüner Hügel, Wälder, Weingärten, Felder, weit verstreuter Bauernhöfe und schroffer Vulkankegel. Auf dem höchsten dieser Kegel hatten die Menschen des Mittelalters eine der „stärksten Festen der Christenheit“ erbaut, wie mein Großvater jedes Jahr aufs Neue nicht müde wird zu wiederholen.
Mit den Kindern des Großbauern, bei dem wir wohnen, unternehme ich weit ausgedehnte Ausflüge, gehe ich schwimmen oder wir machen die unglaublichsten Phantasiereisen bei denen der Bauernhof, eigentlich ein Gut, zu einer Burg, zu einer Flotte von Piratenschiffen oder zu einem riesigen Raumschiff wird. Es sind diese Sommer, an die man sich gerne erinnert. Es ist die Zeit der Unschuld, der harmlosen Vergnügungen. Alles ist Spaß. Alles ist vollkommen harmlos.
Am besten verstehe ich mit Klaus, dem ältesten Sohn des Bauern. Er ist genau zwei Wochen älter als ich und jetzt schon um gut zehn Zentimeter größer.
Und es gibt noch Peter – den Jungknecht am Hof. Er ist siebzehn oder achtzehn, aber wenn er Zeit hat, zieht er mit uns durch die Gegend.
Ich merke erst in diesem Sommer, dass zwischen den beiden eine seltsame Art der Eifersucht besteht. Beide wetteifern darum, wer mit mir schwimmen geht, wer in den Wald Pilze suchen, oder einen Ausflug auf die große Burg macht. Ich verstehe es nicht ganz. Ich mag beide gleich gerne und es trübt die Tage auch nicht, denn es ist mehr spielerische Konkurrenz zwischen den Beiden, als ernsthafter Streit.
Ich habe schon vor Jahren bemerkt, dass ich es seltsam aufregend finde, älteren Buschen beim Baden zu zusehen oder mir vorzustellen, wie sie wohl nackt aussehen mögen. Aber das war etwas, über das ich nie reden oder irgendjemanden auch nur ein Sterbenswörtchen sagen würde.
Jedenfalls ergibt es sich, dass Peter an einem jener heißen Sommertage, die zu jener Zeit die Regel und nicht die Ausnahme waren, nur mit Unterhosen vor dem großen Heuschober steht und sich aus der alten Viehtränke Wasser über den Kopf und den Körper gießt um sich abzukühlen und den Staub abzuwaschen. Ich bin im meinem Zimmer und lehne am offenen Fenster. Ich sehe das Wasser in Rinnsalen an ihm runterfliesen und wie es sich in kleinen Pfützen am Boden rund um ihn sammelt. Er ist glatt, braun und fast haarlos. Nur ein dünner Streifen blonder Haare zieht sich von seinem Bauchnabel in Richtung Unterhose um dort zu verschwinden.
Er scheint für mich nur aus Muskeln zu bestehen, nicht in der Art, wie sie Bodybuilder haben, sondern in der Art wie sie dauernde körperliche Arbeit schafft. Plötzlich senkt er den Kopf und sieht mir direkt in die Augen. Ich bin wie festgenagelt, will mich eigentlich verstecken, oder so tun, als hätte ich die Schwalben am Himmel beobachtet, aber sein Blick nagelt mich fest. Ich rechne damit, dass er schreit, tobt, irgendetwas ganz Fürchterliches oder Schreckliches tut, aber sieht mich an und beginnt zu lächeln. Kein böses oder verächtliches, sondern ein nettes, aufrichtiges Lächeln, das mir kalte und heiße Schauer durch den Körper jagt, meinen Bauch verkrampfen und die Beine weich werden lässt.
Er lächelt noch immer, als er sich umdreht und in Richtung Scheune geht. Am Eingang nimmt er sein Hose und sein Hemd, zieht sich beides an, schlüpft in seine Schuhe und verschwindet in Richtung Maschinenhalle, wo die Traktoren und der Mähdrescher stehen. Minuten später tuckert er mit einem Traktor Richtung Felder.

Es ist Sonntag. Außer mir sind fast alle im Dorf und in der Kirche. Es sind nur mehr Peter und die alte Magd, die schon seit Jahren im Ausgedinge ist, am Hof.
Ich habe keine Ahnung wo die Beiden sind und ich mache, was ich schon öfter in diesem Fall gemacht habe. Ich gehe in den Heuschober, ziehe mich komplett aus und lege mich auf die mitgebrachte Decke vor die große Öffnung, ganz oben, knapp unter dem Dach, wo sonst das Heu in den Heuboden rein und raus gebracht wird, in das angenehm duftende Heu und lasse mir die Sonne auf den Bauch scheinen.
Irgendwann schlafe ich wohl ein. Als ich aufwache, sitzt mir Peter gegenüber im Heu, hat einen Halm im Mund und sieht mich an.
„Brauchst nicht erschrecken – ich tu dir nichts“ sagt er und setzt wieder dieses Lächeln auf, das mich erstarren lässt. Irgendwie schaffe ich es zurück zu lächeln, will mir aber die Badehose überziehen, als könnte ich damit verstecken, was die Situation mit mir anstellt.
Ich will aufstehen, aber auf einmal ist Peter direkt vor mir und sieht mich direkt an. Ich will weg, ich will bleiben. In meinem Bauch fliegen tausend Schmetterlinge und ich bin unfähig mich zu bewegen.
Peter kommt immer näher und dann berühren sich ganz sanft und leicht unsere Lippen. Jetzt habe ich das Gefühl, dass es genau das ist, was ich immer wollte – das und nichts anderes. Einem anderen Jungen so nahe wie nur irgend möglich zu sein. Er weicht leicht zurück, als ich nicht reagiere, aber diesmal bin ich es der seine Lippen sucht und ihm ganz zart auf die Lippen küsse. Sie sind einen Spalt offen und ich spüre seine Zungenspitze, wie sie sanft versucht zwischen meine Lippe zu kommen.
Er drückt mich zurück auf die Decke und in das Heu! Irgendwas in mir ruft „HALT – DAS DARFST DU NICHT!“, aber eine andere, nicht so laute aber viel eindringlichere Stimme sagt mir „Doch, ich darf. Ja, ich will diesen Typen und verdammt noch mal ich will es so, habe es schon immer gewollt!“.
Ich gebe jeden Widerstand auf und lasse mich fallen. Peter ist sanft, zärtlich und unglaublich liebevoll. Er führt mich wenn notwendig, lässt mich machen wenn es passt. Ich hatte schon Erfahrungen mit Mädels aus der Schule, aber es ist mir noch nie so schön und so vollkommen vorgekommen.

Später sitzen wir unweit vom Hof am Bach und fischen. Wir reden nicht über das, was passiert ist. Wir werden nie darüber reden, aber wir werden es noch das eine oder andere Mal gemeinsam erleben.
Und genau das ist das Problem. Ich bin verwirrt, ich bin ‚von der Rolle’ wie es so schön heißt.
Mir ist, als ob ich schlafen gegangen wäre und in einer mir vollkommen fremden Welt aufwache, in der ich mich überhaupt nicht auskenne und die nach Regeln funktioniert, die mir völlig fremd sind.
Während Peter anscheinend sehr gut damit klarkommt, falle ich in ein Art tiefes, schwarzes Loch.
Meine Familie sitzt am Nachmittag bei Kaffee und Kuchen draußen unter der Laube - und ich versuche, nicht einmal 100 m entfernt, zum ersten Mal im Leben einen Schwanz in den Mund zu nehmen. Tage später sind wir alle beim Buschen Schank und ich ficke, nicht einmal 200m weg von der Gesellschaft, zum ersten Mal im Leben einen Mann. Im Wald. Bei Vollmond. Und finde es viel geiler, als alles was ich bis dahin erlebt habe.
Jedes Mal nach dem Sex treiben mich Gewissensbisse fast in den Wahnsinn, aber wenn ich Peter nur sehe, will ich ihn sofort wieder haben. Ich weiß was ich will und glaube zu wissen was ich wollen sollte. Ich soll mit Mädels schlafen, ich soll irgendwann einmal heiraten und soll irgendwann einmal auch Kinder haben. Das Motto sollte heißen: Zeugen ein Kind, baue ein Haus, pflanze einen Baum und schreibe ein Buch. Was ich tun sollte und was ich tun will, liegt nun kilometerweit auseinander.

Ich kann kaum schlafen und wenn ich schlafe, träume ich von Peter. Ich muss mit Jemanden darüber reden, kann mir aber nicht vorstellen mit wem. Peter sagt nichts zu diesem Thema – er handelt nur. Und sonst? Es gibt sonst niemanden. Ich bin alleine mit mir und meinen Sorgen, Gedanken und Problemen.

Der Urlaub geht zu Ende. Peter und ich verabschieden uns so, als wäre nichts gewesen. Klaus hat irgendwas bemerkt, er ist sichtlich stinksauer. Nun gut, ich habe ihn die letzten Wochen ziemlich oft links liegen lassen und nur darauf geschaut möglichst oft mit Peter zusammen zu sein, sofern er Zeit hatte und es die notwendige Heimlichkeit zugelassen hat.
Meine Familie hat nichts mitbekommen, alles andere hätte mich auch gewundert, man war wie immer mit den eigenen Streitereien zu sehr beschäftigt um irgendwas aus der Umwelt zu registrieren.

Wir sitzen im Wagen und fahren Richtung Wien. Draußen zieht die wunderschöne Landschaft vorbei, doch ich habe keinen Blick dafür. Ich vermisse ihn und ich bin froh aus seiner Nähe zu sein. Jetzt werde ich mich wieder fangen, wieder ein ‚normales’ Leben führen, mich nicht mehr von ‚so was’ aus der Bahn werfen lassen. Nein – ICH werde nicht schwul werden!

Ich habe Peter nie wieder gesehen.

3 Monate später

Wir sitzen am Esstisch.
„NEIN, und das ist endgültig. Die Diskussion ist damit beendet“. Hugh - Mutter schwarzer Rabe hat gesprochen.
Plötzlich steht mein Vater auf, geht zur Bar und schenkte sich einen Whiskey ein – um 3 Uhr nachmittags – Ich staunte Bauklötze und Mutter starrt ihn nur an.
„Ich finde, er sollte es tun, wenn er es will. Immerhin hat er ja sogar eine Empfehlung von seinem Turnprofessor, Prof. Lehner.“
Mutter erstarrt endgültig. Auch ich bin Paff: Vater hatte ihr meines Wissens nach noch nie widersprochen und schon gar nicht in meinem Beisein. Maria, die gerade zu Besuch ist, kommt durch die Tür, die in die Küche führt. Sie hat einen Teller mit einem belegten Brot in einer und ein Glas Milch in der anderen Hand. Sie sieht meine Mutter zu einer Statue erstarrt am einen Ende des Tisches sitzen, mich am anderen, Vater an der Bar und bleibt stehen. Sie versuchte nicht sich zu drücken oder aus der Affäre zu ziehen, nein – sie blieb nicht nur, sie setzte sich an den Tisch, genau in die Mitte zwischen Mutter und mir.
„Was hast du gesagt?“ Meine Mutter konnte es nicht glauben. Sie ist sonst schon blass – jetzt ist sie fast weiß vor unterdrücktem Zorn.
„Ich habe gesagt, dass der Junge das tun soll, wenn er glaubt, dass es das Richtige für ihn ist. Immerhin ist schon vierzehn vorbei und sollte langsam das Recht auf eigenen Entscheidung und eigene Verantwortung bekommen.“
„ICH sage noch immer was hier geschieht. Wo kommen wir denn hin, wenn jeder macht was er will? Ich sage es noch einmal: Das kommt nicht in Frage! Punkt“ Mutter wird immer lauter und unterstreicht jedes ihrer Worte indem sie mit dem Knöchel Ihres Zeigefingers auf die Tischplatte pocht.
„Worum geht es denn eigentlich?“ Maria fragt als ob sie sich nachdem Wetterbericht für morgen erkundigt.
„Davy will in einen Ringerverein eintreten. Ich finde das gut – seine Mutter nicht so sehr“ Was ist heute nur mit meinem Stiefvater los? Er widerspricht meiner Mutter und stellt sich hinter mich! In diesem Moment liebe ich ihn, wie noch nie zuvor.
„Ringen? Griechisch-römisch oder Freistil?“ fragt Maria wieder in diesem beiläufigen Ton, aber woher kannte sie bloß den Unterschied?
„Freistil“ werfe ich dazwischen.
„Hat das mit dem Schulausflug letzte Woche zu tun?“ fragt mein Stiefvater.
„Welcher Schulausflug? Mein Gott, davon weiß ich ja gar nichts. Macht denn hier wirklich schon jeder was er will? Nächstens will er vielleicht gar noch ausziehen.“ Mutters Sprache hat einen gefährlichen Unterton angenommen. Ich hatte es schon immer satt, dass sie über alles und jedes Informiert sein will um ja den Griff nicht locker werden zu lassen.
„Schlecht wär’s nicht!“ murmle ich leise vor mich hin und zum Glück hört es nur Maria, die mir einen schmerzhaften Tritt unter dem Tisch gibt. Ich sehe sie an und ihr Gesichtsausdruck sagt nur „Bist du verrückt geworden?!“
„Ich habe es Vater gesagt, weil du bei deinem Damenkränzchen warst - ich hab nicht gedacht, dass das so wichtig ist.“ Ich hoffte inständig, dass ich meinen Stiefvater nicht noch tiefer in Teufels Küche geritten habe.
Sie dreht sich zu ihm um und zog nur fragend die Augenbrauen hoch als wollte sie sagen „das hat noch ein Nachspiel, mein Lieber“.
„Und was war bei diesem Schulausflug, der dich auf solche komischen Ideen gebracht hat?“
Ich seufze still in mich hinein und mache mich bereit für das was noch kommt.
„Wir haben schon öfter im Turnunterricht über die verschiedenen Sportarten geredet, die uns gefallen könnten. Einige wollten genaueres wissen, wie es in Sportvereinen so zugeht. Und Hr. Lehner hat deswegen einen Schulausflug in den größten Sportverein der Stadt organisiert. Er hat halt gemeint, dass dort unsere Fragen sicher besser beantwortet werden können als in der Schule. Wir waren halt den ganzen Tag dort und jeder konnte sich ansehen was er wollte – und ich bin bei den Ringern hängen geblieben. Die habe gerade Training gehabt. Der Trainer hat mich bemerkt und gemeint, wenn es mich interessiert könnte ich ja mal zum Schnuppertraining kommen. Kostet nichts und verpflichtet zu nichts. Und ich würde da jetzt gerne mal hingehen.“
„Muss ich wirklich noch mal Nein sagen? Wenn du Sport machen willst, habe ich in Gottes Namen nichts dagegen, aber doch nicht so was! Nie im Leben! Spiel doch Tennis, oder Golf.“ Da beginnt Mutter wirklich gefährlich zu klingen. Sie sprach leise und betonte jedes Wort. Ich weiß, dass kurz vor einem Ihrer berüchtigten Ausbrüche steht.
„Ich sage aber ja, er darf“ mein Vater hat das Glas etwas heftiger als notwendig auf die blitzblank polierte Oberfläche der Bar gestellt.

„Um Gottes Willen – bist du von allen guten Geistern verlassen. Da wird er doch nur verdorben. Und dazu noch eine so brutale, primitive Betätigung. Da laufen doch alle halbnackt herum und was ist, wenn er sich verletzt? – Das kannst du doch nicht wirklich zulassen wollen?“
„Doch –ich kann und werde. Er ist ja nicht aus Glas und ein paar blaue Flecken haben noch niemanden umgebracht, ich finde das nicht einmal so schlecht. Zudem heißt Kampfsport ja auch Disziplin und Selbstbeherrschung lernen - und das es überall nach gewissen Regeln geht. Ringen ist wie Judo oder jede andere Kampfsportart auch einem Reglement unterworfen und keine Wirtshausprügelei“
„DU musst das ja genau wissen“ sagt Muttern, dass ‚Du‘ ganz groß und mit einem dreifachen u. Irgendetwas steckt hinter dieser Aussage, aber ich habe keine Ahnung was. Indigniert stand sie auf und rauschte aus dem Zimmer. Bevor sie aus dem Raum geht sagt sie noch über die Schulter hinweg: „Macht nur, aber ich warne euch, kommt ja nicht zu mir, wenn was damit schief gehen sollte!“
Vater sieht ihr mit einem vollkommen nicht undeutbaren Blick nach, seufzt und dann setzte er sich seufzend neben mich:
„Davy gib mir alle notwendigen Unterlagen –ich werde sie unterschreiben. Und falls du Gefallen daran findest, werde ich alle Kosten für Beiträge, notwendige Sportkleidung, etc. mit Freuden übernehmen.“ Ich kann nicht anders – ich falle ihm um den Hals und drücke ihn ganz fest:
„Danke Vater – danke für alles“ ist alles was ich raus bringen kann.
Er lächelte mich traurig an, klopft mir auf die Schulter, steht auf und geht. Aber er sieht nicht wie ein Sieger aus, als er das Zimmer verlässt. Er geht wohl in den nächsten Kampf eines Krieges, der aus Schlachten, Scharmützeln und Stellungskämpfen bestand und immer noch besteht. Nur worum es eigentlich geht, habe ich immer noch nicht verstanden.
Dienstag darauf.
Heute ist das erste Schnuppertraining. Daheim herrscht Eiszeit. Es ist kälter als draußen und da hatte es schon nur knapp zehn Grad.
Vater hatte mir noch das Versprechen abgenommen, es erstens langsam angehen zu lassen und zweitens die Schule nicht zu vernachlässigen – sollte ich das tun, wäre Schluss mit Ringen.
Dann passierte noch etwas Komisches. Er sah mich an und sagte: „Davy, was auch immer geschieht, ich bin dein Vater, wenn auch nur Stiefvater und immer für dich da. Komm zu mir, wenn du jemanden zum Reden brauchst. Es kann keine Probleme geben, die wir nicht durchstehen könnten. Ich wäre froh gewesen, wenn ich jemanden gehabt hätte, der mir in schwierigen Situationen geholfen hätte. Was auch passiert, du wirst immer mein Sohn sein und wir können offen über alles reden.“ Auf diese Ansage weiß ich nichts zu antworten. Ich sehe ihn nur an und nicke.

Ankunft in der Trainingshalle fünf Minuten vor der Trainingszeit– ich habe eine Busverbindung ausfindig gemacht, die mich in nicht einmal 30 Minuten von zu Hause hinbringt.
Zuerst steh ich nur da und kenne mich mal überhaupt nicht aus. Bis mich dann der Trainer entdeckt, der uns beim Schulausflug betreut hat. Als er mich sieht kommt er auf mich zu:
„Hallo Davy! Freut mich, dass du da bist! Ich bin Jochen, falls du es vergessen hast!“ Er grinst dabei ein unverschämtes Zahnpastenwerbungsgrinsen, dass ich irgendwie unangebracht finde.
„Kommst du mal schnuppern?“ will er wissen.
Ich nicke und sag dann „Ich will’s mal versuchen“
„Dann komm, ich stell dich den anderen vor!“
Die Anderen. Da sind mehr als zwanzig Ringer von ca. 6 bis ca. 20. Jochen stellt sie mir vor und rasselt einen Namen nach dem anderen herunter von denen ich mir keinen auf Anhieb merke.
„Das ist Davy, er ist zum Schnuppern hier, also macht ihn mir nicht gleich am Anfang fertig – wäre vielleicht gut, wenn er öfter als einmal kommen würde.“ Grinsen auf einigen Gesichtern und auch Mitleid war zu sehen – mir ist auf einmal ziemlich mulmig und ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob es die richtige Entscheidung war, hierher zu kommen.
„Mark, sei doch mal zur Abwechslung nützlich und zeig unserem Besuch, wo er sich umziehen kann.“
Mark war sichtlich schon länger dabei. Ich schätzte auf vielleicht siebzehn oder so, sein Körper sah aus als würde er nur aus Muskeln bestehen und seine Bauchmuskeln konnte man sogar durch das Ringertrikot sehen. „He – kommst leicht mit – oder nit?“ Der Tiroler Akzent riss mich aus meinen Gedanken und ich bemerke dass ich ihn angestarrt habe. Mir pocht das Blut in den Ohren so rot muss ich geworden sein. Aber ich trabe gehorsam hinter ihm her in Richtung Umkleideräume.
Ob ich einen Trainingsanzug oder Sportklamotten dabei habe? Klar doch.
Ich beginne mich auszuziehen und redete wieder mal drauf los, nur um was zu sagen.
Wo Mark denn herkommt (Imst – er sagt natürlich „Imscht“)
Wie lange er schon trainiert (10 Jahre)
Ob er gern ringt (Er sieht mich an, als hätte ich gefragt ob der Himmel blau ist – „natürlich“ ist die Antwort.)
Wieso er hier in der Stadt wohnt (Seine Eltern sind aus beruflichen Gründen hergezogen)
Wo er in die Schule geht (Gar nicht mehr, er lernt Koch)
Ich war gerade bei meinen Boxershorts angekommen, als Jochen herein schaut.
„Das geht leider nicht.“ Ich war verwirrt. „Was geht nicht“
„Na die Boxershorts – da scheuerst du dir alles auf und bekommst den Wolf des Jahrhunderts. Wart kurz.“
„Hat mir niemand gesagt, dass ich da was Spezielles mitnehmen soll!“
Er zuckt nur mit den Schultern „bei mir hat auch niemand Mutter gespielt“ und geht aus der Umkleide.
Jochen kommt mit etwas zurück was wie ein Stoffsack mit Bändern daran aussieht.
„Das solltest du anziehen, oder einen Slip – oder gar nix unter den Sportsachen. Besser ist jedenfalls was enger anliegendes als Boxer.“
Das Ding ist zum Anziehen? Nie im Leben, da ist ja mein Hinterteil frei, stelle ich entsetzt fest.
Zum Glück hab ich in meiner Tasche Ersatz- und Unterwäsche. Erleichtert finde ich einen Slip und ziehe in an. Und dann darüber die Sportsachen.

Zwei Stunden später gehe ich wieder Richtung Umkleide. Jochen hat einen Co-Trainer auf mich und ein paar andere Neulinge angesetzt während er mit den Anderen trainiert. Das war noch für alle gemeinsam und ganz schön heavy, aber ich hab’s durch gestanden – mit knapper Not. In der Schule bin ich im Sport einer der Besten, aber so angestrengt habe ich mich noch nie.
Der Co-Trainer war nicht nur hässlich wie die Nacht finster, er hat mir auch deutlich gezeigt, was er von Typen wie mir hält. Nichts – nada – niente. Er war anscheinend der Meinung, dass wir ihm nur die Zeit stehlen. Dann hat er einen der ‚älteren’ Ringer herbei gepfiffen, der mit uns Falltraining machen musste. Das heißt er hat gepfiffen und wir mussten uns werfen lassen und richtig fallen
Das mit dem Fallen ist so eine Sache. „Das kann doch jeder“ dachte ich. Aber das war ein großer Irrtum. Die ersten zehn Male kam ich derart dumm auf, dass ich schon dachte mir was gebrochen zu haben. Später hatte ich den Dreh dann raus, aber bis dahin … meine Herren.
Ich schwöre, ich lasse mich nie mehr freiwillig so durch die Gegend schleudern!
Zum Schluss kommt auch noch Jochen und lässt mich gegen einen der jüngeren Ringer kämpfen.
Was soll ich machen? Bevor ich auch nur zwinkern kann, liege ich am Boden, der Typ auf mir und versucht mit seinen Händen von allen Seiten unter mich zu kommen. ‚So nicht!’ denk ich mir und mach mich instinktiv so flach ich nur kann und versuche mich auf die Matte zu pressen. Irgendwie schafft es der Typ aber trotzdem, mit der einen Hand zwischen meine Oberschenkel und mit der anderen unter meinen Bauch zu kommen. Dort schließt er einen Griff und hat damit einen Hebel mit dem er mich langsam aber unerbittlich umdrehen kann. Irgendwie versuch ich mich nach vorne zu beugen und kann seinen Griff aufbrechen, aber da hat er mich dann schon in einer Art Schwitzkasten und jetzt ist es aus. Ich weiß einfach nicht, was ich dagegen tun könnte.
Jochen klopft ab und schaut mich an. „Na, das war ja mal gar nicht so übel!“
Jetzt merke ich erst wie verschwitzt ich bin und das ich mich doch wesentlich mehr angestrengt habe, als ich dachte und da das Training vorbei zu sein scheint, beschließe ich mich zu duschen. Nachdem ich mal 10 Minuten durch das Gebäude geirrt bin und verschieden Türen probiert habe um die Umkleidekabinen wieder zu finden, stelle ich fest, dass ich nicht alleine bin. Die ganze Schüler B Riege und alle Jüngeren waren da – also alle von 6-11 und es ging zu wie Affenhaus, ein Geschrei Gerenne und Gespritzte ohnegleichen. Aber 10 Minuten später waren die Kids fort und ich allein. Als ich unter der Dusche stehe – wie immer ziemlich lange denn ich liebe es lang und ausdauernd zu duschen - kommen die anderen vom Training. Irgendwie ist es mir peinlich nackt vor lauter Fremden zu sein und will raus aus der Dusche. Ich drehe mich um, will in Richtung Spinde gehen und krache voll in eine Wand – denke ich zumindest und setze mich auf den edelsten Körperteil den ich besitze. Vor mir steht einer der Ringer, nicht Mark, Jochen hatte ihn als Ingo vorgestellt, glaube ich zumindest.
„Na na – nit so schnell“ NOCH ein Tiroler – ist hier wo ein Nest? Abgesehen davon ist er ein Berg – Mindestens einen Kopf größer als ich und doppelt so breite Schultern.
Da sitze ich nun am kalten Boden in der Dusche und er steht vor mir, das Handtuch locker über die Schulter gelegt und sein Schwanz baumelt genau in meiner Augenhöhe. Ich werde wiedermal hochrot. Er streckt mir die Hand entgegen: „Kimm hoch, holscht dir ja die Gripp in der Familienplanung“. Ich schaue hoch und sehe in strahlend blaue Augen unter einem dichten, schwarzen Haarschopf. Er grinst über das ganze Gesicht. Langsam stelle ich mir die Frage, ob Grinsen Teil dieses Sports ist. Aber ich nehme seine Hand und lasse mich hochziehen.
„Hat hier einer eine Wand hin gebaut, während ich geduscht hab?“ Was Besseres fällt mir nicht ein, aber der Erfolg durchschlagend. Gejohle, auf die Schultergeklopfe, das die Knochen krachen ist das Ergebnis. So lustig war es zwar meiner Meinung nach nicht, aber es hat das Eis gebrochen.
Während die anderen in der Dusche sind, ziehe ich mich an und will gerade gehen, als Jochen bei der Tür hereinkommt. „Na, wie war’s? Hat’s dir gefallen?“
„Naja – nicht so schlecht. War ganz nett.“
Jochen lege den Kopf schief und schaut mich an. „Willst du mehr?“
„Ich weiß noch nicht“ was solle ich denn sonst sagen. Dauernd fallen lassen nur um dann wieder auf zustehen, von einem anderen durch die Gegend gewirbelt werden und zum Schluss in einem Schraubstock stecken, dass war es wohl eher nicht was ich will, aber was habe ich denn geglaubt?
„Komm doch noch mit zum ‚Chill Out Drink’“ Obwohl ich keine Ahnung habe, was das eigentlich ist oder sein soll nicke ich nur.
Nach 20 Minuten sind auch die anderen soweit und wir können gehen.
Der Chill Out Drink war und ist der gesellschaftliche Teil des Trainings. Nach Jochens Meinung mindestens genauso wichtig, wie das Training selbst. Alle Ringer, na ja, fast alle, ab einer gewissen Altersklasse, treffen sich nach dem Training noch um was zu trinken oder zu essen.
„Das schmiedet das Team zusammen“ sagt er wohl zum fünften Mal in einer halben Stunde.
Da sitze ich nun mit einem großen Teil des Kaders in einem Café fünf Gehminuten von der Halle entfernt. Ich unterhalte mich mit dem Typen, der mich vorher auf die Matte genagelt hat, der auch noch ziemlich frisch dabei ist (8 Monate) und Ernst heißt. Er ist allerdings alles andere als Ernst - es ist eine andauernde Lachnummer mit ihm. Er muss dann aber leider nach Hause gehen um was für die Schule zu arbeiten, so dass ich vorerst mal alleine da sitze, denn mir ist mein Gesprächspartner abhandengekommen. Was solle ich anderes tun, während ich an meinem Cola nuckle, als die anderen zu beobachten? Und so dämmerte es mir langsam, was es war, was mich möglicherweise hierher gebracht hat. Die Kameradschaft, das ungezwungene Zusammen sein – und, vor allem, ich bin weg von der mütterlichen Kontrolle. Weit weg. Es wäre eine Art Ausbruch aus dem Leben, das ich bisher geführt habe - das erste Mal vollkommen auf mich allein angewiesen. Alle kennen sich, alle scheinen befreundet zu sein. Und alle waren da, weil sie es WOLLTEN und nicht weil sie es mussten, wie es in der Schule oder in der Familie war.
Natürlich habe ich auch in der Schule meine Freunde: Manfred, Markus und Norbert –
Wir waren die „vier Musketiere“ – Immer und überall zusammen. Na ja - nicht immer und auch nicht überall, aber doch fast. Ich habe ein wenig Bammel vor Ihrer Reaktion, falls ich hier fix zu trainieren anfangen sollte. Während ich so meinen Gedanken nachhänge fallen mir Marc und Ingo auf, die an der Bar stehen und die Köpfe zusammengesteckt haben. Worüber sie reden kann ich nicht verstehen, aber sie drehen sich immer wieder um und schauen – in meine Richtung?
Ich bilde mir das wohl nur ein, was sollten die wohl über mich reden? In dem Moment setzt sich Jochen zu mir.
„Na, Achill und seinen Patroklos beobachtet?“
„Wen?“
Er schaut zu den beiden rüber: „Nicht so wichtig. Griechische Helden. Aus der Ilias.“
Er scheint auf etwas zu warten, aber mir fällt nichts Witziges oder intelligentes ein, was ich sagen könnte.
„Homer?“ Ich kann auch damit nichts anfangen
„Krieg um Troja ?“
„Da hab ich schon mal was gehört!“
„Was lernt ihr heutzutage denn in der Schule?“ Er schüttelt den Kopf.
Ich zucke nur mit den Schultern. „Ich bin auf einer HTL, da hat man es nicht so mit Literatur“
„Naja – Auch gut. Was ich dich eigentlich fragen wollte: Kommst du wieder?“
„Schnuppertraining ist doch nur einmal - oder?“
Er schnalzt mit der Zunge „Das ist Ansichtssache. Ich hab dich beim Training beobachtet. Konditionell bist du ja recht gut wie es aussieht und beim Falltraining hast du ein paar Eigenschaften an den Tag gelegt, die einem Ringer nutzen können. Und das du zum Schluss Ernst aus dem Griff entwischt bist, war auch nicht schlecht!“
Ich bin verdattert – was hat er gesehen, was ich nicht bemerkt habe?
„Ich will ja nicht voreilig sein, aber du hättest vielleicht das Zeug zu einem guten Ringer. Auch wenn du mit über 14 spät damit anfängst. Andere trainieren in dem Alter schon seit mehrere Jahre.“
„Sie meinen, ich soll mich fix Einschreiben?“
„Wie gesagt, vielleicht würde es uns allen was bringen. Ich würde nur vorschlagen, dass du noch zwei oder dreimal zu einer Art freiem Training kommst und dich dann entscheidest. Training für deine Alters- und Gewichtsklasse ist Montag, Dienstag und Freitag ab 16 Uhr bis 19 Uhr. Schau vorbei – würde mich freuen“
Er steht auf und klopft mir auf die Schulter. Während er zum nächsten Tisch geht zwinkert er mir noch mal zu.
Marc und Ingo stehen immer noch an der Bar und tuscheln vor sich hin.
Für mich wird es Zeit zu gehen.
Ich verabschiede mich in die Runde und mache mich auf den Heimweg.
Im Bus denke ich noch mal über alles nach und fass meinen Entschluss schon bevor ich daheim bin. Ich will mitmachen! Ich werde mitmachen!

Zu Hause herrscht immer noch Eiszeit. Ich komme gerade noch zum Abendessen zurecht. Was meinem Vater einen Blick von Mutter einbringt, der wohl „Siehst du – schon geht es los.“ bedeuten soll. Ich hab null Bock auf Streit – weder einen zwischen meinen Eltern, oder zwischen Mutter und mir. Ich gehe duschen und leg mich ins Bett.
Bevor ich einschlafe, kommt mir noch zu Bewusstsein, was mein Vater da für mich auf sich genommen hat.

Mittwoch
Ich schlafe wie das berühmte Murmeltier. Als ich aufwache habe ich nur eines – eine Morgenlatte wie noch nie in meinem Leben. Mir bleibt gar nichts anderes übrig als Abhilfe zu schaffen sonst wäre ich verrückt geworden. Aber wieso ? So „schlimm“ war es doch sonst nicht – ich konnte mich nur an verworrene (erotische?) Träume erinnern.
Ich habe das bald vergessen und mache mich auf den Weg in die Schule.
Das Empfangskomitee wartet schon: Manfred, Markus und Norbert. In der ersten Pause erzähle ich ihnen von meinem Plan, dem Verein beizutreten und wie ich es befürchtet habe, machen Sie einen Riesenaufstand von wegen „reichen wir dir nicht mehr?“ „Musst anders wo Freunde suchen?“
„Ihr könnt es doch auch probieren – wird euch vielleicht gefallen.“ Ich versuche eine Rettung im Angriff, der ja angeblich die beste Verteidigung ist.
Markus schüttelt nur den Kopf. „ In Strampelhosen mit anderen Jungs auf der Matte herumkugeln? Nöö ist nix für mich. Wenn das gemischte Ringen eingeführt wird, überleg ich mir’s vielleicht noch mal.“
„Dreimal die Woche ?? Bis 7 am Abend?“ Manfred ist zuerst nur baff. Dann bekommt er einen seltsamen Ausdruck in den Augen dreht sich um und geht in an seinen Platz.
„Hättest doch vorher schon was sagen können – wir sind doch Freunde – oder? Vielleicht hätten wir auch mitgemacht.“
Ich schaue Norbert schief an „Du und Ringen? – kann ich mir nicht vorstellen – sorry“
„Hast ja recht – kann mich so schon kaum gerade halten.“ Er torkelt wie ein Behinderter in die Klasse was bei ihm schon zu komisch aussieht. Alles scheint irgendwie nicht richtig aus bei ihm – Arme zu lang, Füße zu groß, dazu O-Beine und eine Riesennase in einem langen Gesicht. Norbert eben.
Markus und ich prusten los und können uns nicht halten bis Frau Bauer die Mathestunde eröffnet:
„Freut mich, dass sie gute Laune haben – dann geht der Test doch gleich viel leichter aus dem Kugelschreiber“. Scheiße - den habe ich wohl vergessen.
Ich schau noch kurz nach links, wo Manfred und Chris nebeneinander sitzen Manfred schaut richtig traurig drein und Chris, der neben ihm sitzt, wirft mir noch einen fragenden Blick zu, bevor es losgeht.

14 Uhr – Schulschluss.
Markus und Norbert löchern mich mit Fragen, wie das Training denn so ist.
Aber was soll ich ihnen denn sagen? Ich weiß es doch selbst noch nicht. Also rede ich irgendeinen Schwachsinn von wegen Eindruck bei den die Mädels schinden und so. Markus Augen beginnen zu leuchten als er das hört.
„Wann gehst du denn das nächste Mal hin?“
„Gemischtes Ringen gibt’s bis dato noch nicht. Schon vergessen?“
„Ah ja. Trotzdem wird man sich das doch mal überlegen dürfen.“

Komischerweise habe ich mir das bis dahin selbst noch nicht überlegt, wann ich zum nächsten Training gehe.
Spontane Antwort daher: „Heute um vier“
„Und was wird Meike sagen? Wir waren doch im Alexander’s verabredet?“ Daran hab ich gar nicht gedacht. Wir waren wirklich um 6 verabredet.
„Sag jetzt ja nicht, sie weiß noch nichts von deinem neuen Hobby?“ Wie sollte sie denn auch, denk ich mir – ich weiß es ja selbst so wirklich erst seit diesem Moment.
„Ich bin noch nicht dazugekommen es ihr zu sagen. Und wieso fragst du dauernd nach Meike?“
„Nicht für dumm halten – OK? Sieht doch jeder, dass da mehr ist.“
„Lass das dumme Gerede. Richt´ ihr von mir aus, dass ich leider nicht kommen kann!“
‚Soll ich sie auch von dir küssen?“ Er grinst, aber in seinen Augen seh ich, dass er es ernst meint.
„Untersteh dich – Lustmolch“
„Schade“ er lacht und boxt mich in die Schulter.
„Wo ist eigentlich Manfred?“ frage ich. Normalerweise wäre die Antwort ‚Knutscht in einem dunklen Eck mit der und der’.
Heute sagt Norbert aber: „Ist gleich nach der Stunde abgehauen. Weiß auch nicht was er hat. Hat nur irgendwas von ‚dringend regeln müssen’ gefaselt. Und weg war er.“
Das ist schon seltsam und passt überhaupt nicht zu ihm.

Auf dem Heimweg frage ich mich selbst warum ich es so eilig habe mit dem Training. Da habe ich nun zwar viele Fragen, aber keine schlüssigen Antworten. Ich weiß nur, dass es nichts mit „bei den Mädels Eindruck schinden“ zu tun hat.
Ich weiß nur – ich WILL dahin. Unbedingt!
Daheim ist immer noch Eiszeit.
Vater ist noch im Büro. Ich lege ihm die Anmeldeformulare auf den Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, das ich ja sonst eigentlich nicht betreten durfte. Aber ich denke, in diesem Fall
wird er eine Ausnahme machen.

Noch 1 Stunde bis zum Training. Ich habe meine Sportklamotten eingepackt und noch mal geduscht.
Mutter ist im Wohnzimmer und schaute mich nur vorwurfsvoll an, als ich mich verabschiede. Sie sagt nichts, sondern dreht sich nur um geht in die Küche um dort laut mit Töpfen und Pfannen zu hantieren. Wären die aus Keramik und nicht aus Metall, gäbe es jetzt wohl haufenweise Scherben.
Selten war sie mir fremder als in diesem Moment.
Ich bin um 30 Minuten zu früh an der Halle. Marc, Ingo und ein paar andere sind schon da und blödeln auf der Matte herum.
Ingo hat Marc in einer Art Schwitzkasten und Marc bettelt theatralisch um Gnade. Die beiden witzeln solange herum, bis Jochen hereinkommt und alle von der Matte scheucht.
Dann hat er mich gesehen. Er kommt auf mich zu und strahlt richtig.
„Dein Erscheinen kann ja nur eines bedeuten – du steigst ein!“
Ich nicke heftig „Ja, ich will mitmachen – mein Vater unterschreibt heute die Papiere.“
„Freut mich, freut mich. Na, dann herzlich willkommen.“
Was das „Schnuppertraining“ nicht gebracht hat, bringt das Training heute. Jochen hetzt uns quer durch die Halle, lässt uns SitUps und Klappmesser machen, wieder quer durch die Halle joggen und auf Pfiff niederfallen, Liegestütz machen und wieder aufspringen, weiterlaufen.
Nach knapp einer Stunde ist das Aufwärmen, ja so hat er es genannt, vorbei und ich am Rande des Kollaps. Marc und Ingo scheinen taufrisch und erst richtig warm geworden zu sein. Ernst schaut mindestens so fertig aus wie ich.
„Hermann, kommst du mal bitte.“ ruft Jochen und aus dem Dunkel humpelt ein Junge auf uns zu.
Er ist ungefähr in meinem Alter, aber um ein paar Zentimeter kleiner und sieht in seinem Trainingsanzug richtig zart aus. Das stellte sich später aber als Irrtum heraus.
„Hermann, das ist David – er fängt heute bei uns neu an. Fängst du an ihm die richtigen Falltechniken beizubringen?“
Schon wieder fallen!!!
Hermann streckt mir die Hand hin. Ich greife hin und schüttle sie. Sie warm, fast heiß.
„Hi“ mehr bringe ich nicht raus.
„Hi Freshman, na dann komm mal mit – und Willkommen in unserer Gladiatorenschule“ sagt er – und die Andeutung eines Lächelns spielt um seine Mundwinkel.
Wir gehen zu einer der anderen Matten und ich übe fast eine Stunde nur fallen.
Hermann war ganz ruhig er erklärte mir mit Engelsgeduld was ich falsch mache, wie ich richtig die Aufprallfläche vergrößere um die Wucht abzufangen, wie ich richtig den einen oder anderen Arm benutze um den Schwung abzufangen und so weiter. Ich lasse mich mindestens 200 Mal fallen und stehe wieder auf. Aber es macht irgendwie Spaß.
Nach einer Stunde meint Hermann „Zeit für eine Pause“ und setzt sich auf eine der Bänke nahe der Matte und sein Gesichtsausdruck lässt vermuten, dass er ziemliche Schmerzen hat.
„Was ist denn passierte“ Ich zeige auf sein Knie.
„Ich bin ein Idiot – das ist passiert. Hab bei einem Rückwärts Faller das Knie überdreht und mein Gegner ist draufgefallen. Meniskus hin, Bänder hin. Mind. 3 Monate Pause“
Meine erste Reaktion war ‚Heilige Scheiße – das kann mir auch passieren!’
„Ist das beim Training passiert?“
„Nöö – letzten Samstag beim Wettkampf – war mein letzter Kampf im Turnier und 90 Sekunden vor Schluss – ist eine ziemliche Scheiße.“
Ich merke, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen. Ob vor Wut, Schmerz oder Enttäuschung kann ich nicht sagen.

In diesem Moment ruft uns Jochen zusammen, um die Videos vom letzten Wettkampf anzusehen.
„Willst du dir das antun?“ Jochens Frage war an Hermann gerichtet.
„Geht schon – wer Scheiße baut muss auch damit leben können. Mach schon - fang an“
Jochen nicke und dann gibt es eine Stunde Videosession.
Ich bin fasziniert. Jeder Griff, jeder Wurf, alles wird genau besprochen. Jochen macht auf Fehler aufmerksam, die für mich unsichtbar sind. Aber genauso zeigt er auch gute Kombinationen auf um auch zu zeigen wie es richtig geht. Er baut seine Leute richtig auf.
Jochen ist gut in seinem Job und er liebt ihn, das kann man ganz deutlich spüren.
Dann kommt die Szene, in der sich Hermann verletzt hat. Ich kann deutlich sehen, wie sich das Knie verdrehte und der Unterschenkel in einem vollkommen unnatürlichen Winkel abstand, als sein Gegner auf ihn fiel. Man hört ihn ihm Video kurz, laut und heftig aufschreien. Als ich zu ihm rüber blicke, steht Herman auf und humpelt Richtung Umkleide. Ganz kurz konnte ich die Tränen sehen, die eine Spur über seine Wangen gezogen hatten.

Danach schickt uns Jochen in die Duschen. Das Chill Out ist sehr viel ruhiger als am Tag davor.
Ernst setzt sich zu mir und zeigt auf Hermann, der etwas abseits von den anderen mit Jochen zusammen sitzt. Die beiden führen ein sichtlich ziemlich ernstes Gespräch „Er war 90 Sekunden vor dem Meistertitel. Und ist jetzt wieder mindestens ein Jahr davon entfernt. Falls er überhaupt wieder auf die Matte steigen kann. Die Ärzte wissen es noch nicht“. Ich war sprachlos – was mir nur selten passiert und das gibt mir eine Menge zu denken.

Der nächste Tag
Ich dachte immer, körperlich bringt mich nichts aus der Ruhe. Falsch gedacht. Großer Irrtum!
Mir tut alles weh. Ich kann mich beim Aufstehen kaum bewegen. Mich schmerzen Körperteile und Muskeln, von deren Existenz ich bis dahin noch nicht einmal was geahnt habe. Es dauert drei Tage, bis ich mich wieder halbwegs normal bewegen kann.

Eine Knapp zwei Jahre später

Es hat sich nicht viel geändert. Mutter ist immer noch jederzeit 10 Sekunden von ihrem nächsten Wutanfall entfernt. Ich lebe auf einem Mienenfeld wobei es immer nur eine Frage der Zeit ist, wann die nächste Explosion erfolgt. Zwischen meinen Eltern wird es immer kühler, da mein Stiefvater sich immer öfter auf meine Seite stellt und Meinungen vertritt, die Mutter nicht passen.
Im Verein fühle ich mich total wohl und habe mich so richtig eingelebt. Ich gehöre richtig dazu und werde auch von allen akzeptiert. Ich gewinne inzwischen auch einen guten Teil meiner Trainingskämpfe. Früher habe ich ein- bis max. zweimal in der Woche trainiert, aber seit ein paar Monaten geht nichts mehr weiter und so habe ich die Frequenz auf dreimal die Woche gesteigert. Das bringt mich wieder vorwärts, löst aber sonst aller Orten nur Stress aus, denn meine Freizeit ist nun ziemlich knapp bemessen.
Inzwischen habe ich auch Meike näher kennen gelernt. Eigentlich war ja sie die treibende Kraft hinter unserer „Beziehung“ und mir fehlt auch voll der Durchblick, wieso gerade ich ihr „Opfer“ war. In der Klasse gibt es mind. Ein Dutzend Typen, die alles für sie tun würden, aber sie hat sich mich ausgesucht. Was mich nicht wenig stolz macht, denn sie will nicht nur eine Modelkarriere starten, sie hat auch alle Vorrausetzungen dazu – zumindest äußerlich. Dass sie in der Schule gerade mal so mitkommt hat nicht nur damit zu tun, dass sie so gut wie nie was lernt (ich habe oft versucht ihr beim Lernen zu helfen, aber jede Modezeitschrift, jeder Artikel über das gerade aktuelle Topmodell ist wichtiger) sondern das sie leider nicht gerade eine intellektuelle Leuchte ist. Schade dass sagen zu müssen, aber was wahr ist muss wahr bleiben. Norbert ist ein paar Wochen sauer auf mich, weil er es seit der ersten Klasse versucht an sie ranzukommen, aber immer abgeblitzt ist.

Heute beim Training geht alles schief. Nichts klappt, was immer ich auch versuche. Und dann falle ich bei einem Trainingskampf Ernst so unglücklich auf die Hand, dass er sich den Mittelfinger bricht.
Ernst ist sauer, Jochen gibt mir zwar nicht die Schuld, ist aber trotzdem sauer und die anderen schauen mich an, als hätte ich was verbrochen.

Nachher noch Alexander’s. Nächste Krise. Meike war schon abgerauscht – sehr beleidigt weil ich sie versetzt habe. Und dann war da noch Manfred. Er ist schon ziemlich breit und hat noch ein volles Bier in der Hand und einen Tequila vor sich stehen.
Die letzten Monate war unsere Freundschaft durch eine dauernde Berg- und Talfahrt gekennzeichnet. Manchmal war alles wie früher, aber zeitweise völlige Funkstille. Über vier Monate hinweg hatte er sich sogar völlig isoliert und keiner wusste, was er so trieb. Aber dann, von einem Tag auf den anderen, war alles wieder in Ordnung. Anscheinend waren wir gerade auf der nächsten Talfahrt.
„Wir grüßen unseren Ringerchamp, der bis vor einem Jahr noch nicht gewusst hat, wie man Doppelnelson schreibt und jetzt seine Freunde dafür dauernd in den Wind schießt und versetzt. PROST“ Man ihn sicher noch bis auf die Straße gehört und er nimmt noch einen tiefen Schluck aus seinem Glas und schüttet gleich danach den Tequila runter.
„Was ist denn jetzt los? Bist voll durchgeknallt?“ Ich bin fassungslos. Kenne mich Null aus
„Ich nicht – aber du. Lässt deine Freunde einfach im Stich. Ich fass es nicht – nur wegen dem Scheiß Sport“ Wieder ein Schluck aus dem Glas.
Markus und Norbert sind inzwischen dazugekommen. Norbert nimmt im ruhig das Glas aus der Hand – besser gesagt, er hätte es ihm aus der Hand genommen, aber Manfred lässt es nicht zu. Er reißt es wieder an sich, wobei ein großer Teil des Inhalts sich auf uns und den Boden verteilt. Toll – ich werde nach Bier stinken wenn ich heimkomme.
Norbert beugt sich zu Manfred vor „Reiß dich zusammen Alter – lass uns gehen, komm.“
„Das ist halt ein richtiger Freund – kümmert sich um einen, wenn es ihm dreckig geht. Komm, gehen wir, aber den Verräter lassen wir hier.“ Seine Aussprache ist schon mehr als undeutlich und er kann sich auch nicht mehr alleine auf den Beinen halten.
Ich bin zutiefst getroffen. Verräter hat er mich genannt. Erfreulich sind die Ergebnisse meines Hobbys bis jetzt nun wirklich nicht.
Bis jetzt habe ich zu Hause den Megastress ausgelöst, meine Freundin war versauert und mein bester Freund nannte mich einen Verräter. Ist es das nun wirklich wert? Mein Kopf sagt NEIN, aber eine kleine, hartnäckige Stimme im Hinterkopf flüstert „Ja, isses – du wirst schon noch sehen!“
Ich gehe den dreien hinterher. Markus und Norbert links und rechts, Manfred in der Mitte, mehr von den Beiden mit getragen als selbst gehend. Bei der nächsten Straßenbahnstation bleibt das Trio stehen. Manfred lehnt sich über ein Abgrenzungsgeländer und reihert auf die Straße. Nach ca. einer halben Stunde und nachdem nichts mehr im Magen von Manfred sein kann, scheint es ihm wieder etwas besser zu gehen.
SO habe ich ihn noch nie gesehen. Manfred der Coole, Manfred der Starke, Manfred den nichts umwirft, den nichts erschüttert, dieser Manfred sitzt vor mir am Gehsteig und hat den Kopf zwischen den Händen vergraben – im Jänner.
„Er kann doch da nicht sitzen bleiben – erholt sich den Tod.“
Markus und Norbert helfen mir ihn wieder auf die Beine zu bringen und halbwegs sicher in einen Hauseingang zu lehnen.
„Wir müssen ihn heimbringen“ Markus und Norbert schauen mich an und nicken nur.
„Ich organisiere ein Taxi“ sagt Norbert und stellt sich an die Straße um eines aufzuhalten.
„Hey Markus, kannst ihn mal kurz halten? – ich muss nur schnell daheim Bescheid sagen, dass es noch ein wenig dauert“
„Null Problemo“ Markus greift Manfred unter die Schulter, legt sich seinen Arm um und hievt ihn wieder hoch nachdem Manfred angefangen hatte die Mauer in Zeitlupe runterzurutschen.
Das nächste Telefon war gegenüber, auf der anderen Straßenseite.
Daheim hat zum Glück Vater abgehoben. Ich schildere ihm kurz was passiert ist und das ich später kommen werde. Möglicherweise auch viel später
„Ist gut, aber komm nicht all zu spät – hier ist dicke Luft. Deine Mutter ist nicht gerade gut aufgelegt.“
„Wegen mir ?“
„Auch, aber nicht nur!“
„Schit – ok, ich mache so schnell ich kann.“
„Du sollst doch nicht fluchen!“
„Ist ja gut Paps. Bis später!“
Norbert hat zwar schon ein Taxi aufgehalten, das wollte uns aber nicht mitnehmen – von wegen Reinigung und so.
10 Minuten später klappt es aber doch, nachdem wir dem Fahrer erklärt haben, dass in Manfred eigentlich nichts mehr drin sein kann, was er noch verlieren könnte.
15 Minuten später sind vor dem Haus, in dem Manfred wohnt, er ist im Taxi eingeschlafen und brabbelte irgendwas vor sich hin. Es ist schwer genug den Schlüssel in seinen Taschen zu finden, ihn aber in den Aufzug zu verfrachten und von dort in die Wohnung, ist noch schwerer. Sein Vater ist wie immer nicht zu Hause – wahrscheinlich wieder auf Dienstreise.
Irgendwie haben wir es geschafft, Manfred in die Wohnung zu bugsieren und in sein Zimmer zu bringen, was nicht leicht war, denn die Wohnung ist riesig. Sie geht über zwei Stockwerke und eine Dachterrasse und ist fast 300 m2 groß.
Markus und Norbert wollen mir helfen Manfred ins Bett zu verfrachten.
„Davy wird mir schon helfen. Ihr könnt ruhig gehen. Tschüss mit ü. “ Lallt er auf einmal, nachdem er seit der Straßenbahnstation nichts mehr gesagt hatte.
Markus und Norbert schauen mich genauso verdutzt an, wie ich die beiden.
„Meinst du wirklich, wir sollen dich mit ihm allein lassen?“

„Ich werd ihm nix tun und jetzt zieht ab nach Hause.“ Eigenartiger Weise klingt Manni nicht mehr annähernd so betrunken wie noch vor fünf Minuten.
„Nix verstehen – komplett anderes Baustelle. Aber geht ruhig – Immerhin bin ich Ringer, ich kann mich schon meiner Haut wehren.“
Es soll ein Scherz sein, kommt aber irgendwie nicht so rüber, wie er sollte.
Die beiden ziehen sich ihre Jacken an, verabschieden sich einigermaßen unsicher von mir und gehen.
Nachdem ich die Tür hinter den beiden geschlossen habe, gehe ich zurück zu Manfred in sein Zimmer. Er liegt auf dem Bett und schnarcht vor sich hin. Kurz überlege ich, ihn einfach so liegen zu lassen. Dieser Arsch, sich so aufzuführen. Was fällt ihm bloß ein, so eine Szene zu machen? Ich kann es aber nicht. Er hatte nicht nur die halbe Straße zu-, sondern sich selbst auch angereihert. Deswegen stinkt er auch noch bestialisch. Pulli und Jeans sind total versaut, so kann ich ihn einfach nicht liegen lassen.
Also was bleibt übrig? – Ich versuche ihn zumindest aus der dreckigen Wäsche zu bekommen, was bei ihm nicht gerade leicht ist. Manfred ist nicht gerade zart, sondern eher eine Bulle. Ich hab mich immer schon gefragt, woher er seine Figur hat – er ist sportlich überhaupt nicht interessiert, sieht aber fast aus wie ein Preisboxer. Auf die entsprechende Fragen grinst er immer nur: „Auch ich hab meine Geheimnisse“
Als ich ihm gerade die dreckigen Jeans ausziehe fängt er auf einmal an zu murmeln.
„Der liebe kleine Davy geht mir an die Wäsche. Mein Davy, der Verräter. Der mich sitzen lässt.“
„Lieber Davy. Mein lieber Davy.“
Und dann kommt was, was ich nicht verstehe – er ist wohl wieder eingeschlafen oder gar nicht erst richtig wach gewesen.
Was war das? Was sollte das denn heißen?
Dann rutsche ich auch noch auf dem glatten Parkettboden aus, als ich ihm gerade die Jeans ganz ausziehen will und setze mich sehr unsanft aufs Hinterteil. Dabei knalle ich mit dem Kopf gegen den Kleiderschrank, was wohl einen ziemlichen Rums gegeben hat, denn auf einmal war Manfred wieder wach.
Ich spüre keinen Schmerz. Was hatte Manfred da gesagt – und vor allem, wie hat er es gemeint?
Er starrt mich an und dann auf seine Boxershorts – mehr hat er auch nicht mehr an.
„was…, was wird das?“ stottert er völlig verdutzt.
Irgendwie schaffe ich es, halbwegs cool zu wirken.
„Du hast dich von oben bis unten angereiert – so konnte ich dich ja wohl schlecht liegen lassen.“
„hmm –ah ja … wo sind denn Markus und Norbert?“
„Die hast du ‚rauskomplimentiert’ – nicht gerade auf die höfliche Art.“
„Schit.“
Langes Schweigen.
„Ich sollte mich wohl bedanken.“ Er lallt immer noch, wenn auch nicht mehr so sehr wie vorher, aber er sieht aus wie ein kleiner Junge, der was angestellt und jetzt ein schlechtes Gewissen hat.
„Kannst du mir in die Dusche helfen? Meine Beine sind wie Gummi.“
„Ja, aber sicher“ höre ich mich sagen.
Ich trage ihn mehr ins Bad, als das er selbst geht.
Ich stellte ihn so wie er ist, samt Boxershorts unter die Dusche und drehe das Wasser auf – eiskalt.
„Bist du verrückt?“ schreit er, sucht hektisch nach der Duscharmatur und dreht die Temperatur auf Warmwasser.
„Nöö – will nur, dass du nüchtern wirst. Besoffen redest du mir zu viel Scheiße daher!“
Er brummelt noch vor sich, während ich die Badezimmertür hinter mir zumache und ins Wohnzimmer gehe.
Wieso denke ich den Urlaub in *** vor drei Jahren? Wieso gerade jetzt? Ich hatte das alles schon vergessen und aus meinem Gedächtnis gestrichen.

Nach 10 Minuten kommt er aus dem Bad, klatschnass, ein Handtuch um die Hüften und mit einem anderen trocknet er sich den Kopf ab. Ich starre ihn mit offenem Mund an. Gerade so, kann ich mich zusammenreißen und mit meiner Cola in der Hand auf eine Couch im Wohnzimmer setzen.
Er setzt sich mir gegenüber hin. Ich sehe ihn an „Was war heute los mit dir? Ich versteh überhaupt nix mehr.“
„Das hab ich gemerkt.“ In seinen Augen brennt irgendwas, ich kann unmöglich sagen, was es ist. Ich kann mich aus seinem Blick nicht lösen.
„Du verstehst wirklich nicht. Bist halt, was du bist!“, seufzt er und steht auf.
„Was meinst du denn damit?“ ruf ich ihm nach, aber er winkt nur mit der Hand ab.
Damit dreht er sich um und torkelt in Richtung seines Zimmers in den oberen Stock. Am Treppenabsatz stolpert er und verliert seine Handtücher. Ich will aufhelfen, aber er winkt ab.
„Ich geh jetzt schlafen. Danke fürs heimbringen und .. für alles.“
Ich könnte schwören, dass er Tränen in den Augen hat, als ich ihn ansehe.

Ich rufe mir ein Taxi und fahre heim.
Da schläft schon alles – wenigstens was. Noch kurz unter die Dusche und dann ins Bett.
Schlafen kann ich ewig nicht. Was war das, was Manfred gesagt hatte? Was ist los mit ihm? Und wieso denke ich jetzt wieder an Peter in ***? Nach so langer Zeit? Meine Gedanken kreisen immer wieder um Manfred und Peter und wie süß Manfred ausgesehen hat, als er mit nassen wirr abstehenden Haaren und nur mit dem Handtuch um die Hüfte vor mir gestanden hat. Bin ich in meinen besten Freund verknallt? Blödsinn! Ich bin doch in keinen Jungen verknallt – ICH habe eine Freundin! Das ist eine ganz sicher nur eine Phase, die vorüber gegangen sein wird, wenn ich erst erwachsen bin.

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Publication Date: 09-23-2010

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