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Fluchtplan
Man kann sich aus dem Leben nicht heraushalten. Am allerwenigsten aus dem eigenen. Dieser unveränderliche Duktus führte dazu, dass ich einem Mädchen in einem Bistro gegenüber saß, obwohl ich dort nicht sein wollte, und dieses Mädchen nicht die leiseste Ahnung davon hatte. Wie auch? Ich sprach nicht mit ihr - weder leise noch laut - und ich hörte ihr im Grunde auch nicht zu, sie redete viel, viel Belangloses und wir teilten uns die Rollen des extrovertierten und introvertierten Parts betrübend genau. Es bot sich zu dieser Zeit keine bessere Beschäftigung für mich. Es langweilte mich, das Leben, was aber sollte ich sonst tun, als mit den anderen weiterzuleben. Auch wenn ich das Gefühl hatte, vom Leben eine Pause zu machen, verstrickte ich mich so ungewollt wie unvermeidlich in Beziehungen. Menschen freundeten sich mit mir an, ohne mir die Gelegenheit zu geben, sie über meine Gleichgültigkeit aufzuklären. Sie waren darum bemüht, ihr Dasein im Hinblick auf den Tod zu gestalten - selbstverständlich. Ich schwieg. Ihnen zu erklären, dass ich pausierte, zu erschöpft war, um wieder an die Oberfläche des Lebens zu gelangen, hielt ich für ein zweckloses Unterfangen. Während ich also dem besagten Mädchen gegenübersaß, dann sah ich nicht in menschliche Augen, sondern sah ein plapperndes Wesen, weder hässlich noch schön – normal - real. Ich hörte ihr zu, doch erwiderte nichts, denn ich war zu höflich, um ihren Redeschwall zu unterbrechen und zu unhöflich, sie über meine Gleichgültigkeit in Kenntnis zu setzen. Während sie redete, malte ich mir filmähnliche Szenarien aus, welche mich fiktiv aus der Situation befreiten: ein plastisches Beispiel für eine Flucht vor der Realität. Die Leiter, die ich dazu verwendete, war aus dem Stoff gefertigt, den ich aus dem Fernsehen bezogen und unfreiwillig in meinem Gedächtnis gespeichert hatte. Filme, deren Handlungsverlauf ich skeptisch zugesehen hatte und nur zugesehen hatte, weil ich zeitweise ohne Freunde auszukommen lernen musste, kamen mir nun zugute. Ist es das, was die Menschen als Ironie des Schicksals bezeichnen? Jetzt, wo ich augenscheinlich Freunde hatte, mit denen ich den Abend in Kneipen verbrachte, dachte ich an Filme, die mir früher die Langeweile vertreiben halfen. Zum Beispiel musste ich an einen Teenagerfilm denken, dessen Titel ich vergessen habe, in dem zwei Jungs sich eine Traumfrau am Computer kreieren. Ob der Anlass zu dieser Aktion ihr pickeliges Gesicht war, das ihnen der Bekanntschaft mit Traumfrauen im Weg stand oder, dass die wirkliche Welt keine makellosen Frauen zu bieten hatte, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich ist eines von beiden der Grund gewesen und ich wunderte mich, während ich mich erinnerte und versuchte zu rekonstruieren, was der Anlass gewesen war... ach ja, das alte Thema: die Realität ist nicht genug. Jedenfalls sprang zur Freunde und Überraschung der beiden Jungs die Frau in voller Lebensgröße aus dem Drucker. Sie verbrachten Zeit mit ihr und die Spannung und den Witz erhielt der Film, ganz objektiv gesprochen, weil die Tatsache, dass sie ein Roboter war, das ein oder andere Problem mit sich brachte. Würde ich meine Daten in einen Computer eingeben, überlegte ich, dann könnte ich diesem Mädchen, das mir gerade feindlich gegenübersitzt, diese Roboterfrau an meiner Stelle unterschieben. Und angenommen, ich hätte weitere Bekannte, könnte ich sie per Handy verständigen, wenn ich eines hätte, doch es lohnt kaum für mich, und sobald sie zur Toilette geht, Pippi, Puderquaste, etwa vier Minuten Zeit, könnten die per Handy Verständigten die Roboterfrau hereinzutragen und an meiner Stelle am Tisch platzieren. Das wäre nicht gemein, wenn man bedenkt, dass meine Bekannte nicht bemerken würde – dessen bin ich mir sicher – dass es sich nicht um mich persönlich, sondern nur um eine Attrappe handelt. Sie war lediglich eine Bekannte, die mich vom Sehen kannte, aus der Nähe zwar, ja, aber ohne nur zu ahnen, was in meinem Kopf vor sich geht. Da besteht nun wirklich kein Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich, in ihrer Gegenwart, Fluchtpläne schmiede. Die Frage, wie es überhaupt zu dieser Verabredung gekommen ist, gelang es mir nach und nach zu beantworten, ohne dass es die Situation im Wesentlichen verändert hätte. Ja, ich hatte meine wirklichen Freunde aus Prinzipientreue oder Unachtsamkeit aus den Augen verloren und nun waren sie nicht zur Stelle, um mich aus dieser prekären Situation zu retten, zu der es nicht gekommen wäre, wäre ich nicht ich. Das Mädchen wusste, wie gesagt, nicht, dass ich außen vor stand und kam nicht auf den Gedanken, dass sie mich unermesslich unterforderte. Dennoch willigte ich regelmäßig ein, wenn sie mich zum Kaffeetrinken einlud. Es interessierte mich nicht unmittelbar, was sie mir erzählte. Was in meinem Interesse stand, war ihre Skrupellosigkeit bezüglich der Dinge, die sie mir, verfangen in ihrer Realität, schilderte. Sie hatte nicht das geringste Gespür, zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu unterscheiden. Ich bekam Geschichten zu hören über intime Details ihrer besten Freundinnen, zu denen sie auch mich zählte und sah ungläubig dabei zu, wie sie mit vollem Elan über Belanglosigkeit redete und es berührte mich, dass sie noch nie emotional berührt worden war. Da unser Zusammensein keine Gelegenheit bot, etwas einzuwerfen, einen Gedanken, eine Zustimmung, kamen wir nicht ins Gespräch. Zugegeben, ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, gewissermaßen einen Lauschangriff vorzunehmen. Ich überlegte mir, meinen Namen mit dem Beinamen „Undercover-Agent“ in die Unterwäsche nähen zu lassen. So könnte ich behaupten, beinahe mit offenen Karten gespielt zu haben. Ich malte mir aus, wie ich irgendwann nach dem Sex den Mann, der meine Seele mittels körperlicher Kommunikation befriedigt hat, darum bitten würde, mir meine Unterwäsche zu suchen, nur angenommen, ich begegnete jemandem, mit dem ich ins Bett gehen wollte - damals hatte ich die Befürchtung und es sah auch alles danach aus, dass ich niemals wieder Sex haben würde - also wie gesagt, angenommen, dann würde ihm der Name in meinen Dessous auffallen. Die Dessous würden in ihrem Wert gesteigert, Dessous mit Ausfluss oder einer Slipeinlage, was ist das schon, aber Dessous mit einer geheimnisvollen Aufschrift „Agent“, das ist in der Tat etwas Einprägsames. Dies überträgt sich, da ich die Trägerin dieser Dessous bin, selbstverständlich auch auf meine Person und macht mich zu einer besonderen Sexualpartnerin, eine, die sich von anderen Sexualpartnern unterscheidet. Auf seine Frage, weshalb ich meine Unterwäsche besticken ließ, könnte ich eine lange Geschichte folgen lassen, wenn ich wollte, wenn ich in Form wäre, nicht des Lebens müde, dann könnte ich den Mann, wenn ich wollte, durch eine skurrile Story an mich binden.
Meine Gesprächspartnerin ahnte nichts von meinen Fluchtversuchen und wüsste sie von den Filmen, die mein Gehirn abspulte, um nicht ganz dem Nichts ausgesetzt zu sein, sie würde mich, glaube ich, entweder für schwachsinnig oder verrückt halten. Da diese Treffen mir keinen unmittelbaren Nutzen brachten, mussten sie mich anderweitig zum Erfolg führen, überlegte ich. Ich könnte eine ihrer Freundin darüber in Kenntnis setzen, dass das Mädchen, dem sie vertrauten, mir geheime Dinge aus ihrem Leben verraten hatte und eine Gegenleistung dafür verlangen, welche auch immer. Ich mochte einer ihrer Freundinnen, über die sie ständig herzog, viel lieber, was Überlegungen dieser Art hinfällig machte. Sie mochte, im Übrigen, mich nicht, und es war ohnehin nicht meine Art, den Leuten auf die Nerven zu gehen und ihnen ungefragt Freundschaften aufzudrücken. Schließlich weiß ich selbst fast am Besten um das Dilemma und die Schwierigkeit, sich aus solchen Fesseln zu befreien.
An einem der Abende, geschah doch etwas Bemerkenswertes. Während ihres Monologes, kam ein alter Bekannter zur Türe herein; die Tür erhielt jedes Mal meine Aufmerksamkeit, wenn sie zum Kommen oder Gehen der Menschen bewegt wurde. Für einen kurzen Moment flammte Leben in mir auf. Ich blickte in seine Richtung, und erwartete seinen Gruß. Doch er ignorierte mich. Mein alter Bekannter war in Begleitung. Er hatte sich augenscheinlich eine neue Bekannte zugelegt. Die beiden setzten sich an einen der Tische, um abwechselnd zu schweigen und zu reden.


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Publication Date: 04-25-2009

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