Mit einem lauten „Klack“ fiel das schwere Eisentor zu Sues Garten ins Schloss. Es war Montag. Sie war wie jeden Montag bei Sue, ihrer engsten Freundin gewesen. Seit beinahe 2 Jahren sahen sie sich jeden Montag gemeinsam das Abendprogramm im Fernsehen an und redeten dabei über die Ereignisse des vergangenen Wochenendes, Jungs und die Schule. Draußen nieselte es immer noch leicht. Sie zog sich rasch die Kapuze ihrer Weste über den Kopf, um das nass werden ihrer Haare zu vermeiden. Ihr Auto stand wie immer ein kleines Stück entfernt von dem Haus, in dem Sue mit ihrer Familie wohnte. Auf dem Weg dorthin durchforstete sie wieder einmal ihre Tasche nach dem Schlüssel. In der Regel ließ sich dieser immer erst finden, wenn sie das Auto schon erreicht hatte. Auch dieses Mal fand sie ihn nicht. „Verdammtes Ding!“ entfuhr es ihr. Jedes Mal ärgerte sie sich aufs neue. Leis vor sich hin fluchend blieb sie stehen, um einen Blick in die Tasche zu werfen. Sie schob Taschentücher, ein Buch, ihren geliebten blauen Schal, Kaugummis und andere Dinge, hauptsächlich unnötige, hin und her, während sie scheinbar vergeblich nach dem Schlüssel zu ihrem Auto suchte. Sie war jetzt schon ganz nah an ihrem Ziel. Den alten Golf ihres Großvaters parkte sie jedes Mal neben einer dichten Hecke, die ein kleines Haus versteckte. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie sich ein dunkler Umriss aus dem unregelmäßigen Schatten genau dieser Hecke schälte. Sie erschrak so sehr, dass ihr die Tasche aus den Händen fiel und sich beinahe deren gesamter Inhalt auf dem Boden verteilte. „Mist!“ Sie sah zu der Person, die das verschuldet hatte und meinte leicht genervt : „Himmel! Pirschen sie sich immer so an fremde Personen ran? Sie haben mich wirklich erschreckt.“ Keine Antwort. Sie spürte nur zwei Augen die sie anstarrten, konnte diesen Blick jedoch nicht erwidern, da sich der Fremde noch immer zum Teil im Schatten befand. Sie hockte sich hin und um ihren Kram wieder einzusammeln, dabei ließ sie den Fremden nicht aus den Augen. Dessen seltsames Verhalten beunruhigte sie. Der Fremde machte einen Schritt auf sie zu und verließ den Schutz des Schattens. Das wenige Licht, einer entfernten Straßenlaterne, reichte nicht, um das Gesicht des Fremden zu sehen. Es war eindeutig ein Mann und seine Kapuze hing genau weit genug ins Gesicht, um es vor dem bisschen Licht zu verbergen. Es lief ihr kalt über den Rücken. Sie hatte sich nicht getäuscht. Er beobachtete sie, auch wenn sie das nicht genau sehen konnte. Es gab nichts in ihrer Umgebung, das man sonst anstarren hätte können. Angst stieg in ihr auf und ließ sie nervös werden. Mit leicht zittriger Stimme meinte sie : „Sind sie eigentlich noch ganz dicht?“ Wieder keine Antwort. Ein leichter Hauch von Wut ließ sie kurz die Angst vergessen. „ Sie kranker … Perversling können sich nicht einfach mitten in der Nacht an mich ranschleichen, mich beinahe zu Tode erschrecken und dann einen auf unsichtbar machen! Hat ihnen noch nie jemand gesagt, dass man so etwas nicht macht?“ In die Person kam wieder Bewegung. Diesmal machte er zwei Schritte , zögerte kurz und sah zum Ende der Straße, das in Dunkelheit, aus dem Ort hinaus in den Wald führte, dann sah er wieder zu ihr und machte einen Schritt nach dem anderen auf sie zu. Ihr Herz schien ihr auf einmal aus der Brust springen zu wollen. Langsam machte sie zwei Schritte zurück. Ruckartig drehte sie sich um und setzte zur Flucht an. Vorhin hatte sie am Boden ihren Schlüssel gefunden. Sie hielt ihn nun in der Hand, wie eine Waffe, auch wenn es ihr nichts bringen würde. Jetzt hätte sie eindeutig den Pfefferspray, der in einem Seitenfach ihrer Tasche lag, bevorzugt. Sie war gerade erst ein paar Meter weit gekommen, als sie an ihrem Pulli gepackt wurde und herumgewirbelt wurde. Als sie kurz den Boden unter den Füßen verlor, entkam ihr ein leiser Angstlaut. Im nächsten Moment wurde sie gegen ein Auto gepresst. Hinter ihr stand ihr Angreifer und drückte sie mit seinem Körper gegen das Fahrzeug. Sie saß fest, konnte nicht fliehen. Ihr wurde Übel beim Gedanken an das, was jetzt kommen mochte. Sie spürte seinen Atem im Nacken. Vor Angst völlig gelähmt, hörte sie nur, dass der Fremde an ihr zu riechen schien. Ein kehliger Seufzer entfuhr ihm. Seine rechte Hand löste sich von ihrem Pulli und fuhr dann langsam seitlich ihres Rückens hinab, an ihrer Hüfte entlang zu ihrer Vorderseite, strich über ihren Beckenknochen und glitt dann noch tiefer hinab und zielte ihren Schritt an. Genau da, wo sie am empfindlichsten war, kam die Hand zum stillstand. Nun fingen seine Finger an genau an dieser Stelle fest über den Stoff ihrer Hose zu reiben. Sie vernahm ein tiefes kehliges Geräusch hinter sich. Wäre die Situation nicht so angsteinflößend gewesen, sie hätte genossen, was da gerade geschah. Doch hier und jetzt war es einfach nur schrecklich. Seine Hand wanderte nach oben. Nun schienen seine Finger einen Weg in ihre Hose zu finden. Gerade entfloh ihr eine Träne, als sie plötzlich einen stechenden Schmerz am Hals spürte und innerhalb von wenigen Sekunden das Bewusstsein verlor. Das letzte, das sie mitbekam, war ein gurgelndes Geräusch, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dann verlor sie endgültig das Bewusstsein.
Ihr Schädel brummte und ihre Glieder schmerzten. Außerdem war ihr leicht übel. Das erste, das ihr in den Sinn kam, war dass sie am Vortag zu viel getrunken hatte. Doch die Übelkeit und das Kopfweh fühlten sich anders an. Die Kopfschmerzen schienen immer stärker zu werden. Sie wollte sich umdrehen, weiterschlafen, wurde jedoch abrupt festgehalten. Erschrocken riss sie ihre Augen auf, was sie sofort bereute, weil ihr im selben Moment ein stechender Schmerz durch den Kopf schoss, dass sie befürchtete, ihr Bewusstsein zu verlieren. „Verdammte Scheiße, tut das weh!“ entfuhr es ihr unter zusammengebissenen Zähnen. Sie wollte sich die Augen reiben, um sich auf einen weiteren Versuch des Augenöffnens vorzubereiten, musste jedoch feststellen, dass ihre Hände festgehalten wurden. „Du solltest vorsichtig sein.“ Als sie die Stimme hörte, zuckte sie zur Seite, weg von ihr und stieß gegen etwas Hartes. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie saß. Langsam wurden ihr die immer wieder kommenden Erschütterungen bewusst. Diese hatte sie zuvor ihren Krankheitserscheinungen zugeordnet. Als letztes vernahm auch noch das ruhige brummen eines Motors. Kein Zweifel, sie befand sich in einem Auto. Und es war warm hier. Angenehm. „Hier warte, beweg dich nicht.“ Etwas berührte sie neben dem linken Auge. Sie zuckte unwillkürlich weg. „Verdammt, ich sagte doch, du sollst dich nicht bewegen. Vertrau mir, es wird nicht wehtun.“ Sie hielt still. Ihr wurde etwas aufgesetzt. „Jetzt kannst du noch einmal versuchen, die Augen zu öffnen.“
Sie hatte Angst vor weiteren Schmerzen. Unsicher öffnete sie zuerst ihr rechtes Auge und als kein Schmerz eintrat, auch das linke Auge. Jetzt sah sie, dass sie tatsächlich in einem Auto saß. Auf dem Beifahrersitz. Sie war sogar angegurtet. Dann fiel ihr Blick auf ihre Hände. Sie waren mit einem Paar Handschellen an die Autotür geschnallt, was der Grund dafür war, dass sie sich kaum bewegen konnte.
„Was zum Teufel …?“ Langsam blickte sie nach links zum Fahrer. Sie sah eine ausgeblichene Jeans, ein dunkelgraues T-shirt, zwei Arme, die das Lenkrad hielten und das Gesicht eines Fremden. Sie musste hart schlucken. „Was …?“ Er sah sie kurz an. Er trug eine Sonnenbrille. Sie selbst trug scheinbar auch eine, dank ihm. „Wer …?“ Sie sah ihn fragend an.
„Josh.“ Er lächelte. Als sich der leicht dümmliche Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht änderte meinte er : „Mein Name ist Josh. Und wie heißt du?“ Er hielt ihr freundlich die Hand hin. Ihr Blick wanderte auf seine Hand und dann auf ihre Handschellen. Er schien ihrem Blick gefolgt zu sein. „ Oh ja, das hatte ich ja völlig vergessen. Na ist ja egal.“ Er legte seine Hand wieder aufs Lenkrad und blickte wieder nach vorne. Josh fingerte am Radio herum und suchte nach einem passenden Sender. Scheinbar gefiel ihm nichts, denn nach kurzer Suche drehte er ihn wieder ab.
„Ayda.“ murmelte sie leise. Er sah sie fragend an. „Mein Name ist Ayda.“ Er sah sie wieder kurz an und meinte dann ruhig: „ Interessanter Name. Der ist nicht allzu geläufig was?“
Ayda starrte auf ihre Hände: „Das ist mir eigentlich ziemlich egal. Gerade eben beschäftigt mich nur eines.“ Sie starrte sie an. „Weshalb sind meine Hände angekettet? Und noch wichtiger, warum befinde ich mich hier in diesem Auto, mit dir Josh? Sollte ich dich von irgendwo kennen?“ Er ignorierte sie. Daraufhin schüttelte sie genervt den Kopf. Zur Belohnung kamen Schmerzen, die sich anfühlten, als ob jemand mit ihrem Hirn Eishockey spielen würde. „Scheiße!“ entfuhr es ihr und sie fügte hinzu: „Außerdem wüsste ich gerne, warum mein Schädel so weh tut!“ Sie hörte ihn leise schnauben. „Findest du das etwa lustig du kranker Idiot?“ sie starrte ihn wieder an und wünschte sich, er würde in Flammen aufgehen. Er bemerkte ihren Blick und räusperte sich. Nach einem kurzen Moment meinte er: „Also das mit deinem Kopf könnte man als einen Unfall sehen. Du hast ihn dir angestoßen. Vermutlich ziemlich stark. Aber nimms nicht so ernst, du warst dabei bewusstlos.“ Ein breites Lächeln zog sich über seinen Mund. Sie holte schon tief Luft um ihn mit einer Lawine von Schimpfwörtern zu überschütten, doch er setzte schnell fort: „Ach ja, deine Hände stecken in Handschellen, um zu vermeiden, dass du irgendeinen Blödsinn anstellst.“ Wieder räusperte er sich. Ayda sah ihn fragend an. „Was wäre das zum Beispiel?“ meinte sie mit unschuldiger Stimme. „Nun, wenn du versuchen würdest, mir gegenüber Gewalt anzuwenden. Du würdest dabei nur dir selbst schaden. Schließlich fahre ich mit dem Auto.“ Sie sah ihn entgeistert an. „Würde es dich wirklich wundern, wenn ich so etwas machen würde? Du schlägst mich bewusstlos, so, dass ich nun vermutlich eine Gehirnerschütterung habe, entführst mich daraufhin und kettest mich dann auch noch so ans Auto, dass ich mich kaum einen Zentimeter bewegen kann. Ich sollte dir bei der ersten Gelegenheit die Eier abreißen!“ Er lächelte, sah sie jedoch dabei nicht an.
„Ich wusste ja gar nicht, dass du so extrem charmant sein kannst.“ Sein Lächeln wurde breiter. „Ich an deiner Stelle würde es dir mit mir nicht verscherzen. Ich fahre und ich habe die Schlüssel zu den Handschellen. Sollten wir demnächst kurz an einer Raststelle halten, willst du bestimmt nicht die ganze Zeit im Auto sitzen oder?“ Ihr klappte der Mund auf. „Wenn du dich jetzt zusammenreißt, nehme ich dich mit. Wenn nicht, dann kannst du hier im Auto versauern, während ich etwas esse und aufs WC gehe.“
Er sagte nichts mehr. Sie sagte nichts mehr. So saßen sie schweigend im Auto, während er fuhr und sie die Landschaft beobachtete. Anfangs war die Gegend flach gewesen. Wiesen, kleine Wälder und Dörfer waren zu sehen. Nun hatten diese Bergen und riesigen Wäldern Platz gemacht. Sie kannte dieses Gebiet nicht. Jedoch hatte sie versucht, anhand der Sonne die Himmelsrichtung auszumachen, in die sie fuhren. Ihr Ergebnis war, dass sie in etwa in Richtung Westen unterwegs waren. Irgendwann schlief sie ein.
Als sie aufwachte, schmerzte ihr Nacken und ihr Mund war trocken. Das Auto stand. Sie konnte nicht ausmachen, wo sie waren. Auch nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Josh entgurtete sich und drehte sich dann ihr zu. „Wenn du mir versprichst, dass du dich nicht auffällig benimmst oder irgendwas anstellst, dann nehme ich dich mit. Vielleicht, aber nur, wenn ich lust drauf hab, erklär ich dir weshalb ich dich an der Backe hab.“ Er lächelte gespielt charmant. Dann öffnete er ihre Handschellen. Sie schnallte sich ab und öffnete langsam die Tür bei den paar wenigen Bewegungen durchfuhren sie schmerzen, als Konsequenz für das lange steif sitzen. Als sie aus dem Auto ausstieg, konnte sie kaum stehen, weil ihre Beine so noch nicht daran gewöhnt waren. Josh war schon vorausgegangen. Er drehte sich kurz zu Ayda um und deutete ihr, sie solle sich beeilen. „Jaja, du elender Sklaventreiber.“, murmelte sie gedankenverloren vor sich hin. Die Raststelle war nicht groß. Das kleine Gebäude wirkte auch nicht allzu einladend, das war Ayda jedoch egal. Sie benötigte eine Toilette und etwas zu essen. Drinnen angekommen wehte ihr der Geruch von essen entgegen. In Vorfreude auf das essen knurrte ihr Magen. Sie fand nach kurzem suchen die Treppe hinab zu den Toiletten.
Publication Date: 10-11-2011
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