Cover

Prolog: »Früher an der alten Eibe«

Früher an der alten Eibe,

flogen Blätter ohne Äste,

früher vor der weiten Weide,

tanzten Lichter nur zum Feste,

alles nur ein Traum.

Segeln Gedanken ohne Leibe,

früher war es noch die Heide,

doch nun teilt sich jeder Raum,

früher an der alten Eibe.

 

 

Jener Tag, an dem alles Unheil seinen Anfang nahm, begann schön. Sie war alleine unterwegs. Wie so oft.

»Wo willst du schon wieder hin, Vida? Bleib doch stehen«, hatte ihre Mutter ihr wieder einmal hinterher gerufen. Doch sie hatte Vida nicht aufhalten können.

Sie zog es raus in die Natur. Arg viel mehr gab es hier sowieso nicht. Doch das reichte ihr vollkommen. Sie hüpfte vergnügt die Wiese hinter ihrem Haus entlang, unbeschwert, auch wenn eigentlich nichts einfach war. Finstere Gedanken und Sorgen ignorierte sie jedoch, so schwer es ihr auch fiel. Erst recht seit ihr Vater einfach … verschwunden war. Von einem auf den anderen Tag. Keiner wusste oder sagte ihr etwas. Sie sei ja nur ein kleines Kind und würde gewisse Dinge sowieso nicht verstehen.

In Vida brodelte die Wut immer wieder, doch inzwischen hielt sie alles verborgen. Anfangs hatte sie sehr wohl geweint und geschrien, als ihr Vater einfach nicht mehr aufgetaucht war. Sie hatte jedoch schnell bemerkt, wie ihre Mutter daraufhin noch verzweifelter wurde. Und ständig traurig und sorgenvoll wollte auch Vida irgendwann einfach nicht mehr sein. Oder wütend.

Daher hatte sie eben schon bald beschlossen, einfach alles zu verdrängen. Es gelang ihr schließlich auch. Zunächst.

So ging sie nun, wieder einmal frohen Mutes, auf die große alte Eibe unweit ihres Zuhauses zu und ließ sich die Sonne auf ihre blasse Haut scheinen. So oft sie auch draußen war, man sah es ihr nie an. Das sagte ihre Mutter zumindest.

Hier bei der alten Eibe war es ruhig und die Aussicht schön. Sie lag auf einem kleinen Hügel, von dem man auf die Felder blicken konnte. Auch sah man von dort gut den Wald, der das ganze Dorf umgab.

Sie setzte sich auf das weiche Gras und lächelte.

Bis die Wolken kamen. Und der Wind.

Und Er. Oder Es.

Vida hatte ihn gespürt, bevor er kam. Im Wind lag etwas Ungewöhnliches. Kalt und hart. Das war keine normale Luft und es roch irgendwie modrig. Dann war da dieses Tosen. Wind war nicht zu sehen, nur zu hören und zu spüren.

Vida hätte beinahe aufgeschrien, als sie eine Gestalt den Hügel hinaufsteigen sah. Es war jedoch nur ihr Bruder Liam.

Das ungute Gefühl jedoch blieb. Ihr wurde kalt. Der Wind stärker. Sie blickte zum Baum, dessen Äste sich – trotz des Windes – kaum bewegten. Dennoch war ein lautes Zischen in der Luft zu vernehmen.

Und was dann geschah, würde ihr niemand glauben. Ein Lachen ertönte und die Gestalt tauchte einfach so vor ihr auf. Es war ein Mann im Anzug. Sein Gesicht war irgendwie zu einer hässlichen wütenden Fratze verzerrt und auch sein Körper war nicht … normal. Er schimmerte seltsam, beinahe durchsichtig. Nicht echt.

Erst schrie Vida auf und blinzelte, der Mann blieb jedoch.

Sie wollte wegrennen. Einfach nur möglichst schnell fort von der Eibe. Da hatte sie aber auch schon ihr Bruder erreicht.

»Vida! Was ist los? Was ist mit dir?«, fragte Liam.

»Da … ist dieser Mann. Dieses Monstrum. Eine Gestalt. Ein Geist oder so.« Sie atmete schwer und begann zu weinen. Ließ alles raus, auch so viel, was sie in der letzten Zeit verdrängt hatte.

Liam nahm sie in die Arme und strich ihr sanft über den Rücken. »Ganz ruhig Vida. Da ist schon nichts. Komm, wir gehen heim.«

»Nein. Sieh doch hin!«, wimmerte sie. Sie riss sich aus seinen Armen, drehte sich um und zeigte in Richtung der alten Eibe, wo wirklich immer noch diese … Gestalt stand.

Doch kaum, da Liam endlich hinsah, leuchtete alles plötzlich in Orange auf. Wirbelndes Licht umgab sie. Vida meinte auch darin seltsame Gesichter zu sehen.

»Ich habe es schon fast geschafft. Ich komme wieder«, erklang eine tiefe verzerrte Stimme im Meer aus Orange und Dunkelheit. »Irgendwann könnt ihr mich nicht mehr aufhalten.«

Dann riss sie der Wind von den Beinen.

 

»Tanzende Lichter«

Dunkel durchbrochen von Flecken,

starr zunächst, müde erhebend,

kleines Züngeln, pfeift vergnügt,

strahlt dann schließlich,

bis es tanzt.

Licht.

Licht durchbrochen von Sicht,

allein zunächst, sich sammelnd,

großes Beben, alles zeigt sich,

tanzt schließlich,

erlischt.



Es war der Tag gekommen, an dem die Lichter tanzten. Zum siebten Mal seit jenem Vorfall an der alten Eibe. Gerade an diesem Tag musste sie immer an die damaligen Ereignisse denken. Wie schon die letzten Male begann Vida den Tag des Lichtfests damit, gleich nach dem Aufstehen mit ihren kümmerlichen Stiften zu malen. Sie malte Fratzen umgeben von wirbelnden Strichen auf dünnes, blasses Papier. Niemand hatte ihr geglaubt, was sie damals gesehen hatte. Auch ihr Bruder nicht, obwohl er bei jenem Vorfall dabei gewesen war. Ihr Bruder und sie waren damals zwar unversehrt geblieben, doch was auch immer passiert war – es hatte sie nie wirklich losgelassen.

»Vida! Komm endlich. Es gibt viel zu tun heute«, hörte sie Mutter rufen.

»Ich komme ja schon.« Genervt legte sie ihre Stifte beiseite und ging den schmalen Flur entlang in Richtung Stube. Wie immer roch es nach Backwaren.

»Da bist du ja endlich. Kannst auch mal helfen«, empfing ihr Bruder Liam sie, der ihrer Mutter mal wieder zur Hand ging. In der großen Backstube ging es wie immer hektisch zu. Heute aber noch mehr als sonst.

Sie knurrte ihren Bruder förmlich an und wandte sich dann ihrer Mutter und dem Gebäck zu.

»Ich nehme an, ich darf heute mal wieder das ganze Zeug durch die Gegend schleppen?«, fragte Vida.

Mutter drehte sich zu ihr um. Schweiß tropfte von ihrer Stirn, doch zum Glück auf den Boden und nicht auf die Backwaren. Sie hielt Vida eines der halbmondförmigen Gefäße mit Backwaren entgegen. »Genau. Und bitte nicht so missmutig, ja? Es ist schließlich ein Tag der Freude. Es ist der Tag des Lichtfestes. Du weißt doch, wie bedeutend das für unser geliebtes Draugurt ist.«

»Ja, ja. Wir würdigen den Schutz der Geister, die stets über uns wachen. Dabei glaubt ihr alle doch gar nicht wirklich dran. Ich hingegen habe sie gesehen. Sie haben uns wirklich beschützt …«, sagte Vida.

Mutter lächelte mild und trocknete sich die schwitzige Hand an einem Tuch ab. »Ach Schätzchen. Das ist doch jetzt schon so lange her. Wie oft muss ich es dir denn noch sagen? Das hast du dir alles eingebildet. Niemand kann die Geister wirklich sehen. Nicht einmal die Spirituellen. Und so etwas wie böse Geister gibt es schon mal gar nicht.«

Auch ihr Bruder lachte abfällig. Er holte gerade einen noch leicht dampfenden Kuchen aus dem Ofen. Die kleinen Flammen, mit denen der Ofen betrieben wurde, erloschen daraufhin wie immer schlagartig.

»Wach mal auf, Vida! Es geht beim Lichtfest doch längst nicht mehr um die alten Kamellen unserer Vorfahren oder diese Orakelei. Wenn die Lichter tanzen, tanzen auch wir. Darum geht es hier. Es kehrt wenigstens einmal im Jahr so ein bisschen Freude und Leben in dieses verfluchte Kaff.« Ihr Bruder schüttelte verständnislos über ihren Missmut mit dem Kopf.

Oh ja, das weiß ich doch alles. Leider, dachte sie, schnappte sich schnell das Gefäß mit dem fertigen Gebäck und machte sich zügig auf den Weg.



Auch wenn sie nur ungern Mutters Backwaren für das Fest zum Marktplatz brachte, besserte sich ihre Laune schlagartig, kaum da sie das Haus verlassen hatte. Wie so oft ging sie vergnügt und beinahe hüpfend den schlängelnden Weg entlang.

Die feinen Steine des Weges knirschten dabei unter den dicken Sohlen ihrer Schuhe, doch heute war das Knirschen lauter und paarte sich mit einem lauten Sirren. Jemand war hinter ihr.

Sofort blieb sie erschrocken stehen und atmete erleichtert aus, als sich bemerkte, wer das war. Es war lediglich der fahrende Händler Fern Ruiz, der da kam. Er wollte wohl auch seine Waren für das Fest beisteuern.

Sie machte ihm Platz, sodass er vorbeifahren konnte, doch er blieb mit seinem Gefährt ruckartig neben ihr stehen. Die Vaagnakys, die das kutschenähnliche Gefährt antrieben, zischten protestierend. So dicht wie das Gefährt neben ihr stehen geblieben war, bekam Vida nun auch zum ersten Mal einen der so flinken und scheuen Vaagnakys zu Gesicht. Sie kannte sie bisher nur aus Erzählungen. Seit jenem Vorfall an der alten Eibe sah sie aber plötzlich alles klarer. Alles was sich versuchte zu verbergen, wurde ihr offenbart. Ihre Mutter und ihr Bruder nannten das nur »ihre Fantasie«. Sie solle »doch endlich mal diese Kindereien lassen« schließlich sei sie ja schon bald »eine erwachsene Frau«.

Mit leuchtenden Augen blickte das Vaagnaky sie an. Es hatte sich im kugelförmigen Käfig, welcher sich in der Front des Gefährts befindet, ganz an den Rand bewegt. Vida beobachtete es fasziniert. Es war nur faustgroß, so kugelrund wie der Käfig und doch so hübsch und so stark. Wie dessen Augen leuchtete auch der Körper des Vaagnakys, allerdings in wechselnden Farben.

»Na, hast du auch Waren fürs Fest dabei?«, brüllte der fahrende Händler zu ihr hinab. Prompt verschwand das Vaagnaky wieder aus Vidas Blickfeld.

»Ja«, murmelte sie nur leise und hastete dann hinfort Richtung Marktplatz. Auf ein Gespräch mit dem fahrenden Händler hatte sie so gar keine Lust.

Wie fast jeder der schlängelnden Wege des Dorfes endete auch ihrer direkt beim Marktplatz.

Kaum dort angekommen, begrüßte sie dort auch schon Clarissa, die bestimmt auch nicht gerade freiwillig bei den Vorbereitungen zum Fest half.

»Hallo Vida. Na, schon Schiss? Ich bin mir sicher, dass es dich heute Abend erwischen wird. Allerdings wird dein Licht natürlich davontanzen und nicht zu dir hin.«

»Seit wann glaubst du denn an die Erzählungen der Ahnen?«, fragte Vida.

Clarissa lachte kurz laut und künstlich. »Daran nicht. Wohl aber an den Einfluss unserer Spirituellen. Die werden schon dafür sorgen, dass die Lichter die Wahrheit deuten.«

Vida stellte Mutters Gebäck schnell auf einen der fürs Fest extra her gerichteten Stände, ließ Clarissa einfach stehen und machte sich schnell auf den Rückweg.

Was Clarissa gesagt hatte, ging Vida aber nicht aus dem Kopf. Sie musste an die vergangenen Lichterfeste denken. Bisher war sie immer davongekommen, doch seit heute Morgen hatte sie so ein ungutes Gefühl, als könnte sich dies dieses Jahr ändern. Von dem, was sie bisher so erlebt und von ihrer Mutter mitbekommen hatte, hatten die Lichter letztendlich immer richtig gelegen.



Der Abend kam schnell. Viel zu schnell. Dicke Wolken bedeckten den Himmel, sodass das Fest vorsichtshalber etwas früher eröffnet wurde.

Vida stand voller Unbehagen im Flur ihres Zuhauses. Sie spähte durch das schmale Fenster dort nach draußen und sah schon den Rauch, lange vor ihrer Mutter und ihrem Bruder. Wie üblich wurde mit dem vom fahrenden Händler gelieferten Holz, aus dem eigentlich so gefährlichen Wald, ein riesiges Feuer am Marktplatz entfacht.

»Es geht los«, wisperte Vida und spürte, wie sie anfing zu zittern. Heute war einer der wenigen Tage, an denen es ihr schwerfiel, trotz all der Widrigkeiten Freude zu empfinden und positiv zu bleiben. »Ich will aber lieber hier bleiben.«

»Ich weiß, dass dir nicht wohl dabei ist, aber das geht leider nicht. Das weißt du doch, Schatz.«

»Aber Mutter … ich bin doch kein kleines Kind mehr!«, wandte Vida ein.

Ihr Bruder lachte laut und hielt ihr ihre Jacke entgegen. »Ach, ja? Dann stell dich nicht so an und benimm dich auch endlich mal deinem Alter entsprechend. Wie alt bist du jetzt? Sechzehn oder immer noch Neun?«

»Ach lass mich doch in Ruhe!« Vida schnappte sich zornig ihre Jacke von ihrem Bruder.

Ihre Mutter öffnete derweil die Türe und deutete wild in Richtung des Rauches. »Liam entschuldige dich sofort bei deiner Schwester. Und dann lasst alle beide das Theater mal sein, wir müssen jetzt wirklich los.«

Liam murmelte eine kaum hörbare Entschuldigung und stapfte davon. Auch ihre Mutter machte sich auf den Weg. Vida jedoch blieb in der Tür stehen.

Ihre Mutter war kaum ein paar Schritte gegangen, da drehte sie sich zu ihr um und seufzte lautstark.

»Na komm schon. Dein Bruder hat wirklich nicht so ganz unrecht. Du musst das endlich mal alles hinter dir lassen. Das Ganze ist jetzt über 7 Jahre her und was auch immer euch dort passiert sein mag, niemand wird es jemals nachvollziehen können. Selbst die Spirituellen nicht.«

Vida gab nach und schloss zu ihrer Mutter auf.

»Es ist doch nicht nur das. Es ist auch dieses blöde Fest. Ich bin jetzt in dem Alter, in dem sie erwarten, dass ich nicht alleine beim Tanz der Lichter teilnehme, sondern einen Partner finde. Und wenn ich niemanden finde … dann … dann ist so gut wie sicher, dass ich für das Ritual ausgewählt werde. Es trifft doch immer die, die noch ungebunden sind.«

»Das ist doch noch gar nicht gesagt. Außerdem wirst du schon jemanden finden«, versuchte Mutter sie zu beruhigen, als sie sich schließlich dem Feuer näherten.

»Mag schon sein, dass ich irgendjemanden finden könnte, aber das will ich eigentlich auch nicht«, murmelte Vida leise.

Mit großzügigem Abstand zu ihrer Mutter ließ sie ihren skeptischen Blick über den Marktplatz wandern. Der Rauch hat nachgelassen und die Flammen an der Feuerstelle waren kleiner geworden. Die brennenden Fackeln standen ebenfalls schon bereit, wie auch alles andere. Das Dorf war komplett versammelt und bereit – wie immer. Das hieß aber nicht wirklich was, denn Draugurt war seit längerem nur noch ein kleines Örtchen. Vida entdeckte sogar den so grantigen und abweisenden Farmer Willigos.

Dann fing es auch schon an.

Der Bürgermeister Andrei Sowl betrat eine Art Podest, welches nur unweit der zentralen Feuerstelle stand.

Im leicht wehenden Wind schaute Vida genau auf das lange, edle Gewand des Bürgermeisters, das den Flammen gefährlich nahe zu kommen schien. Wie immer geschah aber nichts.

Der Bürgermeister sprach, wie so oft bei solchen Anlässen, in eine Art Trichter, welcher seine Stimme laut und klar über den ganzen Marktplatz erschallen ließ. Laut dem Dorfklatsch eine Spezialanfertigung, die er normalerweise nie aus der Hand gab. Alle anderen mussten eben auch so laut genug sprechen.

»Bürgerinnen und Bürger von Draugurt. Ich heiße Sie alle herzlich willkommen zu unserem alljährlichen Lichterfest und erkläre dieses hiermit für eröffnet.

Wir beginnen sodann zunächst mit den Zeichen des Lichts. Hierfür bitte ich, wie üblich, zunächst unsere spirituellen Führer, Eleanor Curtis, Quinn Ballamy und meine zauberhafte Frau Dusca, darum, vorzutreten und die Fackeln zu ergreifen.«

Und so kam jener Moment, vor dem sich Vida seit jenem Vorfall immer am meisten fürchtete. Damals, am Tage jenes Vorfalls, war sie nicht vom Licht ausgewählt worden und hatte so auch kein negatives Zeichen bekommen können. Trotzdem war ihr etwas nicht sehr schönes passiert. Was würde nun sein, wenn ihr heute womöglich auch noch die Lichter etwas Schlechtes voraussagen?

Zunächst teilten sich alle Versammelten – mit Ausnahme des Bürgermeisters und der Spirituellen – in Grüppchen auf und stellten sich in den vier Himmelsrichtungen mit Abstand zum Feuer und den Essensständen auf. Ihre Mutter zog Vida gen Osten. Dann nahm die alte Eleanor als Erstes ihre Fackel und reckte sie gen Himmel.

»Ihr guten Geister, ihr Götter, ihr Schützer, steht uns bei und zeigt uns Licht. Schenkt uns euer Zeichen«, krächzte die alte Eleanor überraschend laut.

Selbst wenn es windstill gewesen wäre, was beim diesjährigen Fest nicht der Fall war, so war sich Vida sicher, dass auch dann die knisternden Flammen auf den Spitzen der Fackeln zu tanzen begannen. Wie das Ganze vor sich ging, wusste niemand. Manch einer munkelte, die Spirituellen würden das ganze Ritual irgendwie manipulieren.

Doch Vida glaubte fest an alles. An die Ahnen und all die Geschichten, die man ihr schon früh erzählt hatte.

Es war nun das erste Licht, das tanzte, und es tanzte förmlich zu ihr. Das erkannte Vida sofort. Zum Glück gab das erste Licht stets nur das Zeichen, aus welcher Richtung die Hauptakteure des diesjährigen Festes zu wählen sind. Doch auch das war schon schlimm genug. Das war die erste Hürde, die das Schicksal übernehmen musste.

Vida sah sich angsterfüllt um. Neben ihrer Familie stand unter anderem noch Clarissa, Miranda und Jeffery in der Ost-Gruppe.

»Siehst du Vida. Der Osten ist gewählt. Ich bin mir jetzt schon sicher, dass es dich trifft. Das fühle ich einfach. Mutter und mich wird es nicht erwischen«, stichelte ihr Bruder. Vida merkte aber wohl, dass auch etwas Besorgnis in seiner Stimme mitschwang.

Da hob die Frau des Bürgermeisters, Dusca, auch schon die zweite Fackel Richtung Himmel. Sie kam auf die Ost-Gruppe zu und schwang die Fackel hin und her. Wieder kam im richtigen Moment Wind auf. Die Flamme zitterte kurz. Wärme. Knistern. Nah, so nah. Vida traute sich schon gar nicht hinzusehen. Sie schloss die Augen.

Es dauerte nur einen kleinen Augenblick, aber Vida kam es wie eine Ewigkeit vor. Neben ihr stieß ihre Mutter einen Laut des Entsetzens aus.

»Sieh her, Vida Banten. Du bist erwählt. Die Geister werden dein Schicksal deuten«, schrie Dusca ihr jene Worte, die sie immer schon befürchtete hatte, zu hören, genau ins Gesicht.

Entsetzt riss Vida die Augen auf, sah die Flamme, dessen Spitze fast schon verhöhnend tänzelnd auf sie zeigte.

»Ich bin bereit, mein Schicksal zu erfahren«, wisperte sie leise, jene Worte, die nun jeder von ihr erwartete, aber die sie ganz und gar nicht so meinte.

Dusca nickte, lächelte und schritt mit ihrem so typischen steifen Gang zurück Richtung Feuer.

»Seht das Licht. Es kommt, es tanzt«, ertönte nun die Stimme von der weisen Quinn Ballamy, die wild mit ihrer Fackel schwingend auf Vida zugerannt kam und abrupt vor ihr abbremste.

Vida spürte die Flamme, die Hitze. Fast schon wie ein Lachen klang das Knistern der Flamme, das erschreckend laut war.

Der Moment des letzten Licht-Zeichens war nun gekommen. Es tanzte. Erst auf der Stelle.

»Oh Geister! Oh du schöne Flamme! Oh du schönes Licht! Zeig mir, was da kommen mag, für Vida Banten. Seid ihr Geister ihr wohlgesonnen oder muss sie sich vorsehen?«, sagte Quinn melodisch.

Vida spürte, wie sie zu zittern begann, fast schon im Rhythmus der Flamme, die nun vor ihren offenen Augen zitterte. Dieses Mal musste sie hinsehen, konnte sich nicht vor dem verschließen, was da kam.

Und die Flamme begann zu tanzen. Das Licht wurde irgendwie heller. Ein hüpfender Funke im Dunkeln von Draugurt.

Er wich von ihr weg. Das Licht tanzte um sie herum und zurück zur Fackel. Demonstrativ drehte es sich förmlich fort, nahm die Flamme mit sich und die Fackel erlosch.

Das Zeichen war mehr als eindeutig. Vidas schlimmste Befürchtung war Realität geworden. Ihre Mutter unterdrückte ein Schluchzen und nahm sie in den Arm.

»Keine Sorge, Vida. Ich stehe dir bei, was auch immer kommen mag. Das weißt du doch, oder? Du wirst es schon überstehen.«

»Ich werde dich auch vor allem beschützen«, mischte sich ihr nun hörbar besorgt klingender Bruder ein. Er klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter.
Vida sagte nichts. Reagierte nicht. In ihr tobte ein Sturm an Gedanken.

Es ist so gekommen. Was, wenn sich jener Tag an der alten Eibe wiederholen wird? Was, wenn nun, dank des negativen Zeichens, nun noch etwas Schlimmeres passiert? Was, wenn ich dieses Mal nicht einfach so davon komme? Werden sie mir dann glauben? Wird es dann zu spät sein?

»Die Lichter haben gesprochen. Auch wenn ihr Zeichen nicht positiv ausgefallen sein mag, müssen wir sie nun ehren für ihre Deutung. Ich bitte alle die im Osten standen zum Tanz«, fuhr eine völlig unberührte Quinn fort.

Vida war allerdings kein bisschen nach Tanzen. Und das musste sie auch nicht, denn der leicht wehende Wind wurde plötzlich stärker.

Erst erloschen die zwei Fackeln, die die ersten beiden Lichter zum Tanzen gebracht und bis zu diesem Zeitpunkt noch gebrannt hatten.

Dann erlosch mit einem Schlag das große Feuer in der Mitte des Dorfplatzes, von dem fast alles Licht ausging.

Einfach so.

Wusch.

Erst war es für einen Moment ganz still.

Dann Tosen.

Der Geruch von vergangenem Rauch wurde von einem seltsamen Moder vertrieben.

Etwas heulte laut auf. Von irgendwo.

Wind kam auf, so stark.

Vida spürte genau, was es damit auf sich hatte. Panisch griff sie im Dunkeln nach dem Arm ihrer Mutter und auch nach dem ihres Bruders.

Schreie ertönten.

Dann hörte Vida ein hässliches, so unnatürliches, künstliches Lachen.



Er lachte. Laut. Sein Lachen legte sich in den Wind über die panischen Schreie und die Dunkelheit am Marktplatz.

Es hatte alles funktioniert, wie er es sich vorgestellt hatte. So konnte er sich auch unbemerkt fortschleichen. Denn wegen dem bisschen Wind und Dunkelheit war gleich so etwas wie Panik ausgebrochen. Oh. Hab ich etwa euer lächerliches Festchen versaut? Dieser Wind und die Dunkelheit müssen wohl ein schlechtes Zeichen der Geister sein, was? Sie sind euch heute wohl nicht wohlgesonnen, dachte er.

Lange hatte er darauf gewartet, dass er genug und die Gegenseite nicht genug Kraft hatte. So lange. Nur zu ungern erinnerte er sich an das erste Austesten seiner Kräfte. Wirklich kontrollieren können, hatte er sie damals noch nicht, auch wenn ein kleiner Windstoß, damals an der alten Eibe, zwei der jüngeren Dorfbewohner zumindest von den Füßen geholt hatte. Seine Gegenspieler waren zu jener Zeit einfach zu schnell zur Stelle gewesen, als dass irgendetwas groß hätte passieren können. Noch dazu hatten sie ihn bekämpft, hätten ihn an jenem Tage fast besiegt. Seine Kraft war fast vollkommen verpufft und wollte nie so wirklich wiederkehren. Es war letztendlich ein herber Rückschlag gewesen, denn er hatte quasi noch einmal von vorne anfangen müssen, doch er hatte es letztendlich, nach all der Zeit des Trainings und des Zweifelns, geschafft, seine Kräfte neu zu finden.

Nun war der Tag gekommen, da er endlich wirklich wieder er selbst sein konnte. So sehr wie seit Jahren nicht mehr.

Ihn widerte es nämlich in gewisser Weise an, immer wieder in diese Rolle des Dorfbewohners zu schlüpfen und so zu einem von ihnen zu werden. Jedoch wusste er, dass seine Geisterform alleine nicht ausreichen würde, um seine Rache zu bekommen. Zumal der Einsatz seiner Macht als Geist ihn so viel Kraft kostete. Gleichzeitig fühlte er sich aber auch so frei, wenn er es schaffte, wenn er auch nur für kürzere Zeit, eins mit dem Wind wurde.

Die tanzenden Lichter waren leider nur für eine gewisse Zeit erloschen. Die Bewohner von Draugurt würden die Flammen schon bald wieder zum Tanzen bekommen. So gut und stark, dass er für immer Dunkelheit über dieses verfluchte Dorf bringen konnte, war er bedauerlicherweise nicht. Noch nicht. Sobald er erst einmal alle seine Gegenspieler zum Verschwinden brachte, würden sie alle seine Rache zu spüren bekommen und sehen, dass er nicht nur ein paar Flammen und Lichter auslöschen konnte.

Sie alle sind ja so beschränkt in ihrer Wahrnehmung, dachte er. Niemand sah ihn, wie er wirklich war. Niemand, auch nicht diese sogenannten »Spirituellen«. Natürlich würden sie auch nie darauf kommen, dass jemand sowohl Geist als auch ein Bürger ihres Dorfes sein könnte.

Und sie sahen auch nicht, wie die Graskersandas – ihre Beschützer und seine Gegenspieler – immer weniger wurden. Sie glaubten ja nicht mal alle daran, dass sie es überhaupt gab. Einige glaubten an nichts, was sie nicht sehen können.

Nur dieses Mädchen, das er bei seinem ersten Test schon einmal von den Beinen geholt hatte, hatte ihn wirklich gesehen. Sie konnte irgendwie alles sehen, da war er sicher, das spürte er, das sah er doch. Dabei gehörte sie doch nicht mal zu den sogenannten »Spirituellen«. Aber gerade auch deshalb glaubte ihr sowieso niemand. Und wenn sie doch zu einem Problem werden sollte, würde er sich auch darum kümmern.


»Nur ein Aufflackern«

Wärme verschwindet, leises Zischen,

wenig im Dunkeln, doch wichtiger Funke,

nur ein Aufflackern, dessen was kommt.

Neblige Bänke, verborgener Tisch,

Kälte ergreifend, lautes Klirren,

wenig im Hellen, doch wichtiger Fleck,

nur ein Aufflackern, dessen was bleibt.



Als der Wind sich legte und wieder etwas Ruhe eingekehrt war, flogen kleine Lichter Richtung Marktplatz. Es waren Gloandis, jene sehr fette, teils stark leuchtende Fliegen, die nachts oft die einzigen Lichtquellen im Dorf waren – von den Leuchtquellen in den Häusern mal abgesehen.

Zu Vidas Bedauern bekamen die Dorfältesten, zu denen vor allem auch die Spirituellen gehörten, das Feuer letztendlich wieder in Schwung, sodass der Tanz doch noch stattfinden konnte.

Das Feuer war jedoch lange nicht mehr so groß und die Gloandis spendeten auch immer nur wenig Licht.

Wie befürchtet musste Vida alleine tanzen. In ihrem Alter gab es in der Ost-Gruppe, die ja für den traditionellen Feuertanz erwählt worden war, eigentlich nur Jeffery. Ihn mochte sie nicht besonders und er hatte sowieso stets nur Augen für Clarissa.

Vida spürte zudem genau jene ängstliche und auch vorwurfsvolle Blicke, die nur ihr galten. Als sei sie schuld an alldem. Vida meinte auch zu hören, wie Clarissa an Jeffery gewandt etwas murmelte wie »Sie hat die Geister wohl mächtig verärgert«, gefolgt von einem gehässigen Lachen.

Auch nach dem Tanz wichen die übrigen Dorfbewohner immer ein Stück von ihr, als brächte sie Unglück.

Es war nicht das erste Mal, dass beim Lichterfest das Zeichen negativ ausgefallen war. Auch dann hatte Vida schon beobachten können, wie der oder die »Auserwählte«, für lange Zeit gemieden wurde.

Sie hoffte nur, dass es dieses Mal nicht noch schlimmer sein würde. Dieser Wind, für den Vida ihre ganz eigene Erklärung hatte, hatte die ganze gute Stimmung im Dorf bereits verdorben. Vielleicht lenkt es sie ja aber auch ab, dass sie das negative Zeichen für mich ganz vergessen, dachte und hoffte sie.

Das Fest war jedenfalls ein Reinfall. Niemand strahlte die sonst so übliche Freude aus und die Köstlichkeiten, die es selten genug gab, blieben weitestgehend unberührt.

Für Vida stand fest, dass an diesem unheilvollen Wind jene Gestalt schuld war, die sie vor sieben Jahren beobachtet hatte, jener böser Geist. Aber das würde ihr keiner glauben. Die Erklärung, dass sie die guten Geister einfach verärgert hatte, war einfacher, denn niemand glaubte an die Existenz von bösen Geistern.

Wütend starrte sie in Richtung der Spirituellen, insbesondere in Richtung der weisen Quinn, die soeben mit zügigen Schritten auf sie zukam. Quinns langes Gewandt wehte dabei leicht in den sanften Windhauch, der noch in der Luft lag.

»Tut mir wirklich leid, wie das Fest für dich gelaufen ist, Vida. Was auch immer passiert, auch ich werde dir beistehen. Wir werden eine drohende Disharmonie zwischen dir und den Geistern schon bereinigt bekommen. Keine Sorge.«

»Ach ja? An diesem Wind ist doch auch nur dieser böse Geist schuld. Der … der mich auch schon damals an der alten Eibe angegriffen hat«, stammelte sie leise, sie merkte wie sie den Tränen nahe war und ärgerte sich über sich selbst. Sie wich vor Quinn zurück und schaute sich nach ihrer Mutter und ihrem Bruder um. Die beiden standen an ihrem Stand mit den Backwaren.

Quinn hatte Vida jedoch ganz genau gehört und wich ihr nicht von der Seite.

»Was redest du denn da für einen Unsinn? Alle bösen Geister wurden doch längst vertrieben und die guten Geister werden uns auch weiter schützen. Auch dich. Das Unheil, das dir drohen mag, wirst du überstehen, wie all jene vor dir, deren Zeichen des Lichts ungünstig gestanden hat. Alles wird schon bald wieder so sein, wie es sein sollte. Du wirst sehen.«

»Und was ist dann deine Erklärung für das alles?«

»Die werden wir schon finden«, sagte Quinn nur und ging dann einfach wieder.

Typisch, dachte Vida und ging zum Stand der Backwaren, für den ihre Mutter zuständig war.

Neben ihrer Mutter und ihrem Bruder hielt sich auch der Bäcker Mullins dort auf, mit dem Mutter oft zusammenarbeitete. Vida besuchte den Bäcker hingegen nur selten, lediglich seine Getreidemühle fand sie einigermaßen interessant.

»Oh. Vida. Tut mir ja so leid, dass du ein negatives Zeichen bekommen hast. Aber dieser Wind … hast du eine Erklärung dafür?«, fragte Mullins sogleich.

»Nein, hat sie nicht. Das war einfach eine Sturmböe. Es gibt keine bösen Geister und Vida ist ein braves Mädchen, egal was die anderen sagen. Niemand hat hier irgendwelche Geister verärgert«, sagte ihre Mutter und strich sich ihre dünnen roten Locken aus ihrem Gesicht.

Vida seufzte lautstark. Oh doch. Das war ein böser Geist. Und ich werde es euch schon noch irgendwie beweisen, dachte sie und sagte dann nur: »Ich will nach Hause.«

»In Ordnung. Nach dem, was heute passiert ist, werden die meisten sowieso schon bald das Fest verlassen«, sagte Mutter.



Am nächsten Tag begleitete Vida das ungute Gefühl, dass ihr etwas Schlimmes passieren musste. Wahrscheinlich einfach deswegen, weil die Lichter es ihr vorhergesagt hatten. Dir wird schon nichts passieren, versuchte sie sich immer wieder zu sagen. Es half nichts.

Sie sah sich ständig um und konnte nicht mal den Weg zur Schule am Nachmittag genießen, welcher etwas abseits des üblichen Weges in Richtung Wald führte.

Mehr als sonst wollte sie an diesem Tage durch den Zaun brechen, der das Schulgelände vom Wald trennte. Auch wenn es im Wald so gefährlich sein sollte, hatte sie einfach schon immer sehen wollen, was sich alles darin befand und wie es dort genau aussah.

Die Schule machte ihr nie besonders viel Spaß, aber heute war sie besonders unerträglich.

Es fing schon damit an, dass Ms. Doscalov sie nicht einmal begrüßte. Ms. Doscalov war zwar nie ein Sonnenschein, aber legte sonst immer großen Wert auf solche Gepflogenheiten. Als Vida sich heute auf ihren üblichen Platz setzte, erntete sie von Ms. Doscalov nur einen mitleidigen Blick.

Alle Schüler über zwölf Jahren wurden zusammen unterrichtet. Von den älteren Schülern kam Vida nur mit Miranda klar. Und auch diese setzte sich heute nicht neben sie. Die jüngeren Schüler, die ebenfalls von Ms. Doscalov unterrichtet werden, mussten immer morgens erscheinen. Mit ihnen kam Vida erst gar nicht in Kontakt und wollte es auch nicht wirklich.

»Tut mir leid. Aber … ich hab einfach irgendwie Angst«, flüsterte Miranda als Entschuldigung, als sie hinter ihr anstatt neben ihr Platz nahm. Miranda strich sich verlegen ihre langen dünnen dunklen Haare vors Gesicht, hinter denen sie sich nur allzu gerne versteckte.

Alle anderen hatten auch Angst. Angst, dass das Unglück, das Vida vorhergesagt worden war, irgendwie auch sie treffen könnte, wenn sie ihr zu nahe kamen.

Vida seufzte. »Schon gut.«

»Nichts ist gut. Nachher bricht hier wegen deiner unglücksbringenden Seele noch alles zusammen«, keifte Clarissa. Jeffery, der wieder einmal viel zu dicht an Clarissas Seite hing, lachte hämisch.

Als dann endlich kurz Pause war, entfernte sich Vida unauffällig von der Gruppe, was nicht besonders schwer war, da sie ja sowieso alle mieden.

Sie schlich in Richtung des Zaunes und tastete vorsichtig an den Latten entlang. Wer auch immer den Zaun errichtet hatte – angeblich einer der Ahnen und Gründer des Dorfes – hatte ganze Arbeit geleistet. Bisher war es niemandem gelungen auch nur ein kleines Loch in das so normal wirkende Holz zu schlagen.

So scheiterte auch Vida beim Versuch. Und dabei hätte sie so gerne mal den Wald gesehen. Die Schritte hinter sich hatte sie erst gar nicht wahrgenommen.

»Hey! Willst du abhauen? Willst du in den Wald? Vergiss es. Das schaffst du nicht. Ganz egal, ob die Lichter dir ungünstig stehen«, mischte sich plötzlich Rolf ein. Der dickliche, rüpelhafte Kerl baute sich bedrohlich vor ihr auf. »Aber wenn du willst, kann ich deinem unvermeidlichen Schicksal gerne auf die Sprünge helfen.«

»Was geht hier vor sich? Kann man euch nicht einmal ein paar Minütchen alleine lassen?«, ertönte die polternde Stimme von Ms. Doscalov.

Rolf entfernte sich sofort wieder grinsend von ihr. »Hab nichts getan. Hab nur gesagt, sie soll sich vom Zaun und vom Wald fern halten«, sagte er.

»So, Vida. Du hast also versucht durch den Zaun zu brechen?«

»Nein, nein, Ms. Doscalov«, stammelte Vida und starrte zu Boden.

»Es gibt einen offiziellen Weg in den Wald, das weißt du doch. Der ist sogar sehr nahe an deinem Zuhause, oder nicht? Wenn du unbedingt in dein Unglück laufen willst, dann bitte außerhalb der Schulzeit, ja?

Aber ich fürchte, auch dann wird das niemand zulassen. Beziehungsweise wird dies deine Mutter zu verhindern wissen. Ich werde sie nämlich über diesen Vorfall informieren müssen.«

Na toll, dachte Vida.

»Auf jetzt. Ich muss euch allen wohl noch einiges beibringen, nicht? Als Nächstes ist Mathematik an der Reihe. Und ja, das wird auch für mich kein Vergnügen. Also mach es uns allen nicht noch schwerer, Vida.«



Nach der Schule ging Vida nicht nach Hause. Sie schlich querfeldein am Zaun und am Waldrand entlang. Immer wieder warf sie einen Blick in Richtung des dichten Gestrüpps und der eng an eng stehenden Bäume. Als sie dann den einzigen offiziellen Weg erreichte, der in den Wald hinein führte, blieb sie einen Augenblick lang unentschlossen stehen.

Es dämmerte bereits. Zudem hatte Ms. Doscalov vielleicht schon ihre Mutter über den Vorfall in der Pause informiert.

So sehr sie der Wald und die sich darin befindlichen so gefährlichen Tiere interessierten, sie konnte es in diesem Moment einfach nicht tun.

Also machte sie kehrt und ging in Richtung ihres Zuhauses.

Sie kam jedoch nicht weit, da blieb sie entgeistert stehen und starrte Richtung Himmel.

Etwas tauchte schwebend im restlichen Schimmer der untergehenden Sonne auf. Etwas, das sie seit jenem Tag an der alten Eibe nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Orangenes wirres Licht. So viel Licht. Und es formte sich. Ein leises seltsames Knistern erfüllte die Luft. Es roch irgendwie leicht verbrannt.

Alles ging dann so wahnsinnig schnell. Eigentlich war es nur ein Aufflackern. Ein Aufflackern von orangem Licht, das sich zu einer Art Kugel formte. Eine Kugel mit einer seltsamen Fratze. Die kurze Zeit reichte Vida aber völlig aus, um zu wissen, was sie da sah, um zu erkennen, was auch damals an der alten Eibe ihr erschienen war.

Sie erkannte es aus den Erzählungen der Ahnen sofort wieder. Wie sie es insgeheim schon vermutet hatte, war das ein Graskersanda, einer jener guten Geister. Ein Kürbisgeist, um genau zu sein.

Und so kurz er auch vor ihr auftauchte, Vida spürte einfach, dass etwas mit diesem Geist nicht stimmte. Ein seltsames Ziehen machte sich in Vida bemerkbar. Schmerzhaft und klagend. Sie begriff erst als sämtliches Licht auf einmal verschwand, dass das Klagen jedoch nicht aus ihrem Innern kam, sondern von diesem Graskersanda. »Hilfe«, meinte sie zu hören, eher da nur noch die dunkle Nacht vor ihr lag. Viel zu früh. Der Ruf klang so voller Schmerz, Panik und Verzweiflung, dass sein Klang in Vidas Glieder fuhr, sie zum Schaudern und Zittern brachte.

Und auch der Wind kam wieder auf. Ein Zischen ertönte. Vida meinte einen leichten modrigen Geruch zu vernehmen. Sie konnte zwar in der Dunkelheit nichts Ungewöhnliches entdecken, aber es reichte völlig aus, damit sie sich wieder aus ihrer Starre löste und in Bewegung setzte. Blindlings rannte sie durch die Dunkelheit, bis sie jemanden ihren Namen rufen hörte.

Es war ihre Mutter. Sie trug einen Lampstöng, eine der flackernden portablen Leuchtstangen. Auch die Gloandis zeigten sich wieder, sodass die plötzliche Dunkelheit wich und Mutters sorgenvolles Gesicht erleuchteten. Mutter ließ hastig die Lampstöng fallen und fiel ihr förmlich in die Arme.

»Da bist du ja, Vida. Weißt du was ich mir für Sorgen gemacht habe? Einfach nicht nach Hause kommen … und als mir dann deine Lehrerin erzählt hat, dass … Ich dachte schon …« Sie schluchzte und ließ Vida erst nach einer gefühlten Ewigkeit los. Dann beugte sie sich zu der Lampstöng hinab, hob sie auf und hätte sie beinahe erneut fallen gelassen.

»Na? Hast du sie doch noch gefunden? Dann war dieses Gelatsche wenigstens nicht umsonst«, ertönte eine missgelaunte Stimme. Es war Liam. »Und? Warst du wirklich im Wald?«

»Schon gut Mutter, du kannst mich loslassen. Und nein, Liam, war ich nicht. Aber … Ich habe einen Graskersanda gesehen«, sagte Vida.

Liam lachte laut.

Mutter schaute sie verwirrt an. »Aber Schätzchen, das sind doch nur Erzählungen der Ahnen. Die alte Eleanor hat zwar auch schon behauptet, einen dieser guten Geister gesehen zu haben, aber selbst sie sprach nur von einem Aufflackern. Außerdem heißt es, wenn dann sieht man sie auch immer nur gegen Mitternacht. Erstens ist es noch nicht so spät, auch wenn es heute ungewöhnlich früh dunkel geworden ist und zweitens sind solche Erscheinungen nur irgendwelche Lichtspiegelungen.

Du musst endlich mal aufhören immer deinen Fantastereien nachzugehen, da hat dein Bruder ganz recht. Was wäre nur passiert, wenn du heute wirklich in den Wald gegangen wärst? Ich … ich kann dich nicht auch noch verlieren.« Mutters Stimme klang belegt als sie sprach.
Ach ja, sie redet von Vater, dachte Vida. Hm. Vater, Nein, ich glaube nicht, dass du tot bist. Ich glaube auch nicht, dass du damals im Wald verschwunden bist, wie sie alle behauptet haben. Du bist noch irgendwo da draußen.

»Können wir jetzt endlich nach Hause? Es ist dunkel und kalt und was auch immer Vida da gesehen haben will … das letzte Mal als ich bei ihr war, hat mich eine dieser unheimlichen Sturmböen erwischt. So eine wie beim Lichterfest gestern. Nicht nur Vida ist verrückt, das Wetter hier auch«, sagte Liam.

»Hey! Ich bin nicht verrückt. Das war wirklich ein Graskersanda. Er sah genauso aus, wie in den Erzählungen der Ahnen. Es war so ein orange leuchtender Kürbis mit verzogenen Gesicht. Und er hat um Hilfe gerufen. Er ist verschwunden. Das war nicht nur ein Aufflackern.«

»Ja, ja. Komm jetzt Vida. Du bist kein kleines Kind mehr. Hab endlich mal Anstand!« Liam packte sie grob am Arm und zog sie fort von der Stelle, wo sie den Graskersanda gesehen hatte.

»Hey!«, schrie Vida wütend und versuchte sich aus Liams Griff zu lösen. Mutter schritt ein. Wie so oft.

»Lass deine Schwester los, Liam. Und Vida: Du kommst jetzt mit nach Hause und bleibst da auch. So kann es nicht weitergehen mit dir. Ich werde wohl Quinn um Rat fragen.«

Vida rieb sich ihr Handgelenk, als Liam endlich losließ. Nur unter Protest stapfte sie neben Mutter und Liam, die beide ganz dicht an ihrer Seite blieben, nach Hause.



Er lachte. Keuchte dann. Kurz war er wieder eins mit dem Wind geworden. Ach wäre dies bloß nicht so verdammt anstrengend, dachte er. Nach dem Rückschlag vor über sieben Jahren, damals an der alten Eibe, waren seine Kräfte leider längst nicht das, was sie hätten sein können. Dennoch war er zuversichtlich, dass sich das schon bald ändern würde. Er wusste auch schon genau wie.

Widerwillig nahm er seine feste Gestalt an und schlich, im Schutze der zum Teil auch von ihm verursachten Dunkelheit, in Richtung seines Heims.

Ja, dieses Mädchen hatte etwas gesehen. Warum auch immer. So wie sie auch ihn damals gesehen hatte. Aber ihr glaubte immer noch niemand. Er hatte alles mit an gehört. Sie dachten, sie wäre verrückt. Und nun bekam sie Ärger. Sie würde also vorerst kein Problem sein, da war er sich sicher.

Ein weiterer Schritt war inzwischen auch getan. Einen der Graskersandas hatte er zum Verschwinden gebracht. Und genau so würde er seine Kraft stärken, würde stärker werden, als vor sieben Jahren. Viel stärker. Dann würde dieses verfluchte Dorf schon bald seinem verdienten Untergang geweiht sein. Wenn nun alles weiter so gut lief, würde ihn schon bald niemand mehr aufhalten können.


»Die Welt der Toten«

Auch im Dunkeln gibt es Licht,

verborgen hinter Unglauben,

sehen Kinderaugen,

bunt und schwarz und weiß und alles.

Verborgen hinter Trauerschwaden,

klingen leis’ die Boten,

sehen trübe Augen,

auch die Welt der Toten.



Da war wieder diese Wut. In Vida brodelte sie, wie schon so oft. Wie immer versuchte sie, sie zu verdrängen. Sie war sich sicher, was sie sah und gesehen hatte. Niemand mochte ihr glauben, aber so gerne sie auch ihre Fantasien auf dem dünnen Papier verewigte, das alles war keine Einbildung gewesen, da war sie sich ganz sicher.

Sie nahm ihre kümmerlichen Stifte und malte, was sie gesehen hatte. Es glich auf erschreckende Weise jenen Bildern, die sie seit jenem Vorfall vor sieben Lichtfesten immer wieder gemalt hatte.

Für sie stand nun endgültig fest, dass sie auch damals zumindest einen der Graskersandas gesehen haben musste.

Sie unterbrach ihr neustes Bild erst, als es an ihrer Zimmertüre klopfte.

»Was ist denn?«, blaffte sie in Richtung Türe. Ein bisschen der Wut kam dann doch raus.

Ihr Bruder öffnete die Türe und lugte zu ihr.

»Ich wollte nur nach dir sehen und dir sagen, dass es mir leid tut, wie ich mit dir in letzter Zeit umgegangen bin. Es ist nur so, dass ich mir verdammt noch mal Sorgen um dich mache. Wie auch Mutter«, sagte er.

»Das braucht ihr nicht«, Vida wandte sich demonstrativ von ihrem Bruder ab. »Und jetzt geh wieder. Ich will alleine sein.«

»Das ist auch etwas, was uns Sorgen bereitet. Du willst so oft alleine sein. Und jetzt, nach dem Lichterfest …«

»Will sich auch keiner mehr zu mir gesellen. Ich weiß schon.

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Publication Date: 12-05-2023
ISBN: 978-3-7554-6281-1

All Rights Reserved

Next Page
Page 1 /