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„Warum nur? Warum kannst du ihnen nicht vertrauen? Es zieht sich alles zusammen, dein Magen verkrampft sich. Du willst ihnen Vertrauen schenken, denn sie vertrauen dir. Sie sind für dich da. Doch du bist unfähig. Kannst nur dieses Selbstmitleid empfinden, und Angst.

Angst, sie durch deine Unfähigkeit zu verlieren.

Angst, sie abzuschrecken und zu verjagen.

Angst, dass sie dich im Stich lassen, wie schon andere zuvor.

Angst, dass du am Ende alleine da stehst.

Angst…

Einfach nur Angst. Doch du kannst sie nicht zeigen, willst sie nicht zeigen. Du verkriechst dich in deinen schützenden Kokon. Weist selbst die ab, die dir helfen wollen. Zerstörst dich dadurch, zerstörst die Freundschaften.

Du möchtest schreien, bringst aber keinen Ton heraus. Du bist verstummt, kannst nichts mehr sagen, nur deine Augen sprechen noch für dich. Rufen nach Hilfe, doch keiner sieht deinen stummen Hilfeschrei.

Schreien, Weinen, Ausrasten, dich einfach selbst loslassen. Du kannst es nicht. Die Verzweiflung übermannt dich, hält dich gefangen, lässt dich nicht mehr los. Du wiegst dich nach vorne, nach hinten, verlierst die Kontrolle. Zucken, Krämpfe, Schluchzen. Reine Verzweiflung. Worte verlieren sich in deinem Kopf.

Du möchtest deine Gefühle abschalten, doch du kannst es nicht. Sie sind da, verursachen dir Magenkrämpfe, bringen dich total durcheinander. Allmählich weißt du nicht mehr, was du fühlen sollst, dein Kopf explodiert, dein Herz pocht.

Schneller, immer schneller.

Lauter, immer lauter.

Das kann so nicht weitergehen. Du willst es stoppen, doch du kannst es nicht. Dein Zweites Ich ist wie gelähmt. Hilflos. Machtlos. Schutzlos.

Du spürst die Tränen in deinen Augen, doch sie lösen sich nicht. Bleiben ungeweint. Deine Augen brennen, doch finden keine Erlösung.

Dein Hals brennt, doch der Schrei, der Kloß löst sich nicht.

Ich kann nicht mehr…“

Entsetzt sah Alec diese Zeilen, er las den Text immer und immer wieder, doch es blieben die gleichen Worte.

„Rhea…“, flüsterte er mit zittriger Stimme, „Was machst du nur?“

Er musste sich erst fassen, war ratlos, wusste nicht, was zu tun ist. Aber dann raffte er sich auf, stand auf, griff zum Telefon auf der Anrichte. Wählte die einzige Nummer, die ihm jetzt noch in den Sinn kam. Wahnsinnig vor Angst wartete er und war ein bisschen erleichtert, als endlich jemand abnahm.

„Ishibashi hier?“, ertönte die altbekannte Stimme.

„Kyo, sie ist weg.“

„Wer ist weg? Und Alec, bist du das?“

„Rhea, sie ist weg. Hier liegt nur ein Blatt Papier, mehr nicht…“

„Was steht drauf?“, fragte Kyo mit ruhiger Stimme nach, doch sein Freund gab ihm keine Antwort, „Alec, was steht dort?“

„Gedanken, Gefühle, ich weiß es doch nicht. Und ganz am Ende, der letzte Satz… Ich kann nicht mehr. Sie hat geschrieben, dass sie nicht mehr kann. Oh Gott, ich habe solche Angst um sie!“

„Bleib, wo du bist, wir kommen sofort. Okay?!“

Schweigend nickte Alec, dann wurde ihm plötzlich bewusst, dass Kyo sein Nicken nicht sehen konnte: „Ja.“


Ihm kam es vor, als wäre eine Ewigkeit vergangen, als sein bester Freund und Lina, dessen Verlobte, in die Wohnung stürzten. Alec nahm es kaum wahr, als Kyo ihn fürsorglich auf einen Stuhl runterdrückte und ihm vorsichtig Rheas Brief aus der Hand zog.

„Wir müssen die Polizei einschalten, in sämtlichen Krankenhäusern nachfragen“, stellte Lina leise fest.

„Ja. Alec, gib mir bitte das Telefon.“

Schweigend zeigte der Angesprochene auf das Gerät, das auf dem Küchentisch lag und Kyo griff danach. Schnell hatte er eine Nummer eingetippt und hatte auch schon schnell jemanden am Apparat.

„Entschuldigen Sie bitte, mein Name ist…“


„Gut, vielen Dank“, beendete Kyo sein Gespräch mit der Polizei, „Sie kümmern sich darum. Werden in allen Krankenhäusern anrufen und sie schicken jemanden, der den Brief und ein Bild von Rhea holt.“

Mit einem schweren Seufzer setzte er sich neben seinen besten Freund. Unbeholfen legte er die Hand auf Alecs Schulter und sah Lina ratlos an.

„Hört mal zu, Jungs, wir sind alle ziemlich durcheinander, oder?“, fragte Kyos Verlobte sanft nach, „Ich mache uns erstmal einen Tee. Der wird uns beruhigen…“

Schweigend drehte sie sich um und wischte unauffällig eine Träne fort. Während sie mit zitternden Händen Wasser aufsetzte, drehten ihre Gedanken sich um Rhea. Sie konnte ihr nicht helfen, wusste nicht einmal, wo ihre Freundin war. Alles, was sie machen konnte, war warten. Abwarten und Tee trinken. Ein bitteres Lachen stieg in Lina hoch. Was für ein unglaublich passendes Sprichwort. In Gedanken versunken schaute sie an die gekachelte Wand, hörte nicht, dass das Wasser schon kochte, erst ein ermahnendes Räuspern von Kyo holte sie zurück. Gerade als Lina den Tee aufsetzte, klingelte es an der Tür.

Kyo war schon aufgesprungen und rannte schon fast, um dem Polizisten aufzumachen.

„Haben Sie mir ein Bild von der Vermissten?“, kam dieser auch gleich zur Sache.

„Ja, hier…“, mit zitternder Hand überreichte Kyo ihm ein Bild von Rhea, er hatte es aus Alecs Geldbeutel genommen, „Das hier ist der Brief und eine Liste ihrer liebsten Orte“

Nun trat auch Lina in den Flur und sah den Polizisten fragend an: „Gibt es nichts, dass wir tun können? Wirklich gar nichts?“

Dieser erwiderte ihren Blick mit einer Spur von Mitleid in den Augen: „Hat ihre Freundin ein Handy? Wenn ja, dann versuchen Sie sie zu erreichen, mehr kann ich ihnen nicht sagen. Wir werden uns bald melden.“

Mit diesen Worten wandte er sich ab und schloss leise die Tür hinter sich. Ratlos sah Kyo auf Lina runter, doch sie sah auf den Boden.

„Der Tee…“, murmelte sie und ging langsam in die Küche zurück.

„Alec, wo ist dein Handy? Wir brauchen Rheas Handynummer…“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf: „Sie hat keins.“

„Was?“

„Sie wollte nie eins haben, ich weiß nicht, sie wollte ihre Unabhängigkeit bewahren“, bitter lachte Alec auf, „Oh Gott, warum habe ich nur auf sie gehört und ihr nicht doch eines dieser verdammten Dinger gekauft?“

Ruckartig stand er auf und schmiss seinen Stuhl um: „Ich muss sie suchen, ich muss sie finden.“

„Nein“, Kyo hatte sich breit in der Tür aufgebaut und sah seinen Freund tief in die Augen, „Nein, du musst hierbleiben. So kannst du nicht gehen…“

„Warum nicht? Was hält mich noch hier? Rhea ist da draußen, hier kann ich ihr nicht helfen“, wütend, aufgebracht sah er seinen Freund an.

Nun mischte sich Lina ein, legte beruhigend eine Hand auf Alecs Schulter: „Bleib hier, wo willst du sie suchen? Bitte, setz dich hin, der Tee ist gleich fertig. Bitte…“

„Ich lass dich nicht gehen, nicht in diesem Zustand. Außerdem…“

Immer noch stand Alec vor seinem Freund, hatte noch nicht aufgegeben: „Außerdem? Was, Kyo, was?“

„Wenn ihr etwas passiert ist, ist es besser, du bist hier. Falls die Polizei anruft. Auch wenn sie…“, er wollte es nicht aussprechen, doch Alec verstand auch so.

„Du meinst, wenn sie tot ist?“, vervollständigte er Kyos Worte leise, kaum hörbar.

Schweigen erfüllte die kleine Küche, dieser Gedanke schmerzte alle drei.

„Bleib hier, Alec, bitte“, bat Lina ihn noch einmal leise, „Bitte… Nein, der Tee!“

Eilig wandte sie sich ab und goss den heißen dampfenden Tee ab. Während die junge Frau damit beschäftigt war, drei Tassen zu richten, gab Alec schließlich auf. Er drehte sich um, stellte den Stuhl wieder hin und setzte sich schließlich wieder. Lina drückte ihm mit einem schmalen Lächeln eine der warmen Tassen in die Hand, ebenso wie sie eine an Kyo, der weiter an der Tür stehen blieb, weitergab. An der letzten Teetasse wärmte sie ihre klammen Finger und schaute blicklos in die Ferne.

So hing jeder seinen Gedanken nach, bis plötzlich das Telefon klingelte. Mit einem lauten Klirren zerbrach Linas Tasse, die sie vor Schreck fallen gelassen hatte, am Boden.

Alec stellte seinen inzwischen kalt gewordenen Tee sanft auf den Tisch und griff dann mit ruhiger Hand nach dem Telefon.

„Alec Winston?“, meldete er sich leise.

Kurz lauschte er auf die Antwort, dann sprang er auf: „Wir kommen sofort. In das Sankt-Rafael-Hospital, richtig?“

Ohne ein Wort des Abschiedes schmiss er das Telefon zur Seite und schob sich an Kyo vorbei.

„Was ist passiert?“

„Sie haben sie. Sie liegt im Krankenhaus.“

Alec hatte seine Jacke schon an und öffnete bereits die Tür, als sein Freund ihn an der Schulter festhielt: „Ich fahre.“

Er wollte schon Widerworte geben, nickte dann aber doch schweigend. Zusammen eilten die drei zu Kyos Auto und dann in Richtung Krankenhaus weiter. Angespanntes Schweigen herrschte die gesamte kurze Fahrt über, unausgesprochene Fragen hingen in der Luft. Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor, doch in Wirklichkeit standen sie nur ein paar Minuten später in der großen Eingangshalle des Krankenhauses.

Suchend sahen die drei sich um, hatten schnell die Information gefunden. Alec stürmte hin und fragte atemlos nach Rhea. Quälend langsam suchte die Schwester in sämtlichen Akten, bis sie endlich einen Verweis fand.

„Sie sollen hier warten, ein Polizist wird Sie gleich abholen“, mit einem freundlichen Lächeln verwies sie auf eine Reihe von unbequem aussehenden blauen Wartestühlen.

„Aber…“, wollte Alec schon einwerfen, doch die Schwester hatte sich schon dem nächsten Besucher zugewandt.

„Alec, komm jetzt!“, mit Mühe und Not zog Kyo ihn in Richtung Warteraum und setzte ihn auf einen Stuhl.

„Warum soll ich hier warten? Rhea braucht mich doch jetzt.“

„Ich sag es dir noch mal, so bist du ihr keine große Hilfe“, versuchte Lina es erneut.

Kyo stand nur schweigend da und beobachtete die Tür zum Treppenhaus. Dann sah er den Polizisten, der sie auch schon in der Wohnung aufgesucht hat.

„Hey…“, mit einer leichten Kopfbewegung und einem unguten Gefühl deutete er auf den Kriminalbeamten.

Alec stand sofort ruckartig auf: „Wo ist sie? Was ist mit ihr?“

„Es… es tut mir Leid.“

„Was?“, er brauchte eine Weile, bis er es richtig registrierte, „Nein…“

„Wir kamen zu spät. Sie hatte sich ein Zimmer in einem Hotel genommen, die Dame vom Empfang hatte eine Frage an sie. Nach mehreren vergeblichen Anrufen ist sie schließlich hoch und hat das Zimmer aufgeschlossen. Da war sie noch am Leben. Die Ärzte hier im Krankenhaus haben wirklich ihr Möglichstes gegeben. Sie haben mein tiefstes Beileid.“, man sah dem Beamten seine Gefühle an, er hatte Mitleid mit ihm, doch das half ihm nicht weiter. Sie war tot.

„Nein, nein, nein, nein, nein, nein…“, immer und immer wieder flüsterte Alec die Worte, wiegte sich vor und zurück, verzweifelt und ungläubig.

Kyo, versuchte seinen Freund zu beruhigen, doch selbst mit Linas Hilfe konnte er es nicht.

Blass, hilflos, verloren, so fühlte er sich, als ein hilfloser Schrei sich seiner Kehle entrang: „Rhea, nein!“

Es war vorbei, alles vorbei.

Imprint

Text: © Rina
Publication Date: 05-27-2009

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Dedication:
Warten bewirkt, daß die Zeit nicht zu rasch vergeht. © Walter Ludin, (*1945), Schweizer Journalist, Redakteur, Aphoristiker und Buchautor

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