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Titel

 

Ayla & Eliya

 

Unsterbliche Liebe

 

 

 

 

 

 

Von Josefine Kraus

 

 

 

Copyright © Josefine Kraus

All rights reserved.

 

 

 

 

 

Für Dich.

 

 

 

 

 

Personen

 

 

Hauptfiguren

 

Clan der Satari:

 

Ayla: Vampirmädchen, Hauptcharakter

Mylan: Bruder von Ayla, Bibliothekar

Kyle: Bruder von Ayla, Wächtervampir

Tyran: Bruder von Ayla, Jägervampir

Samyr: Freund von Ayla, Wächtervampir

Kyra: Freundin von Ayla, Bibliotheksgehilfin

König Achytos II.: König der Satari


 

Clan der Vulpari:

 

Eliya: Vampirjunge, Hauptcharakter

Elyos: Anführer der Vulpari

 

Einleitung

 

"Die einzig Lieb' aus einzig Hass entbrannt, 

ich sah zu früh, den ich zu spät erkannt. 

Dass es die Lieb' so übel mit mir meint, 

dass ich muss lieben den verhassten Feind!"

 

William Shakespeare

 

Prolog

„Mama?"

Meine Mutter liegt am Boden, bleich aber blutüberströmt. Als hätte man ihr jegliches Blut aus den Adern gezogen und sie damit übergossen. So viel Blut habe ich in meinem Leben noch nie gesehen. Es sammelt sich neben ihren Füssen und bildet ein Rinnsal, das langsam und zäh über den Boden in meine Richtung kriecht.

„Meine kleine Ayla", flüstert sie und streckt mit letzter Kraft eine Hand nach mir aus, doch ich kann mich nicht bewegen. Wie eine unsichtbare Macht umfasst das Entsetzen gierig meine Knöchel und hält mich zurück. Schockiert blicke ich neben meine Mutter und sehe meinen Vater. Seine Augen sind weit aufgerissen, als ob er vor seinem Tod noch dem Teufel höchstpersönlich entgegengeblickt hätte. Im Gegensatz zu meiner Mutter rührt er sich nicht mehr.

Dann fällt mein Blick auf die dritte Person im Raum, die mir bisher den Rücken zugekehrt hat, sich nun aber langsam umdreht.

„Ayla, es tut mir leid, ich wollte das nicht!"

Meine Sicht verschleiert sich und der Raum fängt an sich zu drehen.

„Ayla, sag doch was!"

Eliya macht einen Schritt auf mich zu und streckt mir seine blutverschmierten Hände entgegen. Ich schreie und schreie und schreie und dann wird alles schwarz.

Kapitel 1

 

T E I L   1

 

 

C L A N      D E R      S A T A R I


 

Völlig selbstvergessen renne ich durch den dichten Wald. Äste und Zweige schlagen mir ins Gesicht und reißen meine zarte blasse Haut auf, aber es kümmert mich nicht. Das Einzige, was mich in diesem Moment interessiert, ist die davonpreschende Beute vor mir. Außerdem wird das violette Blut in Sekunden versiegen und die Wunden wieder verschlossen sein.

Keuchend halte ich inne und lausche.

Da!

Ein Knacken im Unterholz verrät meine Beute.

Mit fokussiertem Blick und ohne Notiz vom Rest meiner Umgebung zu nehmen, verfolge ich mein Opfer. Solange wie ihm habe ich schon seit Ewigkeiten keinem mehr hinterherjagen müssen.

Immer wieder ändert er seine Richtung und ich folge dem Rascheln des Blattwerks. Doch er scheint am Ende seiner Kräfte angekommen zu sein, das spüre ich.

Bald werde ich ihn schnappen!

Plötzlich erreiche ich eine Lichtung und sehe mein potentielles Opfer hinter einem großen Findling verschwinden. Dann ist es still. Kein Rascheln, keine Blätter, die unter den Schritten knirschen. Er muss sich hinter dem riesigen Steinbrocken versteckt haben, um zu verschnaufen. Langsam nähere ich mich dem grauen Gestein. Es ist noch feucht vom Regen, welcher tagsüber gefallen ist und dort, wo sich das Wasser in den Ritzen gesammelt hat, glitzert es nun golden in der untergehenden Sonne.

Ich liebe die Abenddämmerung. Es ist die perfekte Tageszeit, um zu jagen!

Als ich mich an den Findling herangeschlichen habe, schließe ich kurz die Augen und versuche, jede noch so kleine Regung wahrzunehmen.

Da ist es wieder!

Ich höre ein leises Rascheln, doch meine Beute scheint sich nicht von der Stelle gerührt zu haben. Ob er mich wohl gehört hat? Ich spüre Aufregung und Hunger in meinem Körper aufsteigen. Noch einmal raschelt es leise.

Jetzt oder nie, denke ich, renne um den Felsbrocken herum und bin bereit, mich mit einem lauten Kampfschrei auf den Luchs zu stürzen. Doch als ich auf meinen Füßen lande und an die Stelle blicke, an der ich das Tier erwartet habe, steht da stattdessen ein Vampir.

Er hält den Luchs, dessen Genick in einem unnatürlichen Winkel nach unten hängt, in der Hand und fixiert mich mit kraus gezogener Stirn.

Nach dem ersten Schreck beginne ich den Fremden sogleich zu mustern. Er ist ungefähr in meinem Alter, doch seltsamerweise bin ich ihm noch nie zuvor begegnet.

An diese kristallblauen Augen würde ich mich definitiv erinnern.

Ebenso an die markante Kinnpartie, die einen krassen Kontrast zu seinem vollen, femininen Mund bildet. Seine Haare sind millimeterkurz geschoren und einzig seine dicken, tiefliegenden Augenbrauen lassen darauf schließen, dass sie schwarz sind.

Seine Zähne sind rot vor Blut und es rinnt ihm an den Mundwinkeln herab. Ich lecke mir über meine Lippen, für welche dieses Blut eigentlich bestimmt war.

Der Fremde lässt den toten Luchs achtlos zu Boden fallen, lehnt sich mit verschränkten Armen an den Findling, wobei sich seine gespannten, muskulösen Arme unter dem dünnen Pulli abzeichnen.

Er lässt mich keine Sekunde aus den Augen und sein penetrantes Starren beginnt mich zu nerven.

Als ich endlich die Sprache wiedergefunden habe, fauche ich ihn wütend an: „Was fällt dir eigentlich ein? Das war mein Luchs! Ich jage ihn schon seit fast einer Stunde durch den ganzen Wald!"

Meine Augen funkeln böse, doch der Fremde starrt mich nur weiterhin missbilligend an.

Gespannt darauf, wie er sich bei mir entschuldigen will, stemme ich die Hände in die Hüften und dann – ja dann legt dieser Mistkerl seinen Kopf in den Nacken und lacht mich doch tatsächlich aus!

Seine verschränkten Arme sehen nun so aus, als ob er sich vor lauter Lachen den Bauch halten würde und der Klang seiner dunklen Stimme geht mir durch Mark und Bein.

Mit gespieltem Mitleid erwidert er endlich: „Oh nein, hab ich dem armen kleinen Vampirmädchen etwa sein Abendessen gestohlen? Das hab ich auf gar keinen Fall gewollt, das musst du mir glauben!"

Ich spüre die Wut in mir brodeln. Am liebsten würde ich diesem arroganten Kerl an die Gurgel springen, aber mein Instinkt rät mir, mich zu beruhigen.

Er scheint meine Stimmung zu spüren und wir befeuern uns gegenseitig mit eisigen Blicken. Und so sehr ich mir auch Mühe gebe, ruhig zu bleiben, bei seinem bloßen Anblick möchte ich gerne irgendwas kaputt schlagen.

Reiß dich zusammen Ayla!

Nachdem ich einmal tief ein und aus geatmet habe, streiche ich mir ein paar meiner langen rotbraunen Locken, die sich beim Sprung aus meiner Haarpracht gelöst haben, wieder an die richtige Stelle zurück und verschränke dann ebenfalls demonstrativ die Arme vor der Brust.

„Ich glaube dir", sage ich so gefasst wie möglich. „Aber da du einsiehst, dass du mich um mein Abendessen gebracht hast, möchtest du das doch sicher wieder gutmachen, oder?" Ich schenke ihm ein süffisantes Lächeln.

Ohne es zu erwidern, fährt der Fremde mit dem Daumen über seine vollen, blutverschmierten Lippen. Einen Moment lang betrachtet er gedankenverloren seinen Finger. Dann führt er ihn langsam zu seinen leicht geöffneten Lippen und saugt das rote Lebenselixier genüsslich davon ab.

Versucht er mich extra zu provozieren?!

Lange kann ich mich nicht mehr zusammenreißen...

„Wie du vorhast, das wieder gut zu machen, habe ich gefragt!"

Er mustert mich abschätzig von oben bis unten.

„An deiner Stelle würde ich ganz schnell von hier verschwinden."

Was bildet der sich eigentlich ein? Ich balle meine Hände zu Fäusten und zische: „Wer gibt dir das Recht...!"

„Eliya."

Verwirrt ziehen sich meine Brauen zusammen.

„Es heißt, wer gibt dir das Recht, Eliya. Das ist mein Name, Dummerchen. Man sollte die Namen seiner Feinde kennen." Er fährt sich mit der flachen Hand gemächlich über seine kurzen Haare.

„Und darum", fährt er ungerührt fort, „will ich jetzt auch deinen Namen wissen."

Er verzieht seine Mundwinkel zu einem fiesen Grinsen. Ich erwidere den Blick in seine stechenden, hellblauen Augen, aber rühre mich nicht. Mit noch immer fest verschränkten Armen fauche ich: „Ich verrate meinen Namen nicht an Diebe."

Das selbstgefällige Grinsen verschwindet blitzartig aus Eliyas Gesicht und anstelle dessen tritt kalte Wut. Innert Sekundenbruchteilen steht er vor mir. Ohne Vorwarnung packt er einen meiner verschränkten Arme, dreht ihn mir auf den Rücken und tritt dann direkt hinter mich.

Scheiße!

Damit habe ich nicht gerechnet, jetzt sitze ich fest.

Ich schnappe laut nach Luft und suche einen Fluchtweg. Mein Herz hämmert wild gegen meine Brust und Eliyas Berührung beschleunigt meinen Puls noch zusätzlich. Eine seltsame Hitze überzieht meine Hautoberfläche und meine Wangen fangen an zu glühen.

„Du solltest aufpassen, was du sagst, Kleines", knurrt er leise in mein Ohr und ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinab. Doch irgendwie ist es nicht nur Angst, die meine Gänsehaut verursacht.

Ich spüre seinen warmen Atem an meinem Hals und ein verführerischer Duft steigt mir in die Nase. Es riecht nach warmem, süßlichem Blut und ...

Nach was noch?

Da ist noch etwas anderes, aber ich kann nicht genau ausmachen, was es ist. Etwas, was ich bisher noch nie gerochen habe...

Einfach köstlich!

Der Fremde namens Eliya bemerkt mein Schnuppern und lacht leise auf.

„Na, riech ich gut kleines Vampirmädchen?"

„Ja", entgegne ich sarkastisch, „wirklich toll. Nach meinem Luchs."

Der Griff um meine Arme verstärkt sich. Es schmerzt.

„Wenigstens rieche ich besser als eine dreckige Satari! Und du magst diesen Luchs seit einer Stunde verfolgt haben, aber wenn du ihn bis in unser Revier treibst, dann gehört er auch uns, das solltest du doch eigentlich wissen? Wobei es mich nicht wundern sollte, dass eine Satari wie du einfältig genug ist, das zu glauben."

Erschrocken halte ich ein weiteres Mal den Atem an und drehe meinen Kopf, soweit es mir in dieser Position gelingt, um Eliya ins Gesicht zu sehen. Dabei entdecke ich eine tiefe Narbe, die sich quer über sein linkes Auge zieht und die mir erst jetzt aus der Nähe aufgefallen ist.

„In eurem Revier? Dann bin ich hier nicht mehr auf dem Gebiet der Satari?" Obwohl ich mir nichts anmerken lassen will, verrät mich mein ängstlicher Tonfall.

„Das würde jemand mit ein wenig Grips wohl daraus schlussfolgern ja", erwidert Eliya kalt. „Diese Lichtung gehört schon zu unserem Gebiet."

Grob lässt er meine Arme frei und ich trete hastig einen Schritt zurück. Dann kriecht nackte Panik in mir hoch.

„Dann bist du also ein Vulpari?"

Trotz meiner Angst bin ich nicht in der Lage, beim Wort Vulpari einen leichten Anflug von Abscheu in meiner Stimme zu verbergen. Eliya hört es und seine Augen werden von einem eiskalten Schatten überzogen.

„Na, na, kleine Satari, so mutig? Oder einfach bloß dumm genug, einen Vulpari auf seinem eigenen Grund und Boden zu beleidigen? Ich nehme an, du weißt, was ich jetzt mit dir machen könnte?" Ein boshaftes Grinsen huscht über seine Lippen. Er scheint die Situation sichtlich zu genießen.

„Lass mal überlegen..." Er fährt sich mit der blutverkrusteten Hand übers Kinn. „Ich könnte dich natürlich ein bisschen foltern... Nur so zum Spaß. Oh ja, daran hätte ich bestimmt meine Freude."

Nun kann ich meine Angst nicht mehr verbergen. Mit weit aufgerissenen Augen starre ich ihn an. Verdammt, wieso hatte ich bei der Jagd nicht besser aufgepasst? Wie konnte mir nur ein solch dummer Fehler unterlaufen!

Und was jetzt?

Der einzige Ausweg, der mir bleibt, ist, diesem Eliya zu entwischen und so schnell wie möglich ins Satarigebiet zurückzukehren. Wenn ich erst einmal wieder auf eigenem Terrain bin, kann er mir nichts mehr tun. Ich bin eine äußerst gute Sprinterin, doch wie standen meine Chancen gegen Eliya? Er ist ziemlich groß. Kräftig genug, um mich im Griff zu halten, aber auch athletisch genug, dass ich es mir zweimal überlege, mich mit ihm zu messen. Vor allem, da das hier kein Spiel ist. Oder besser gesagt: Im schlimmsten Fall steht mein Leben auf dem Spiel.

Eliya bemerkt, wie ich seine Statur mustere, und hebt fragend eine Augenbraue. Prompt fühle ich mich ertappt, vor allem, da ich mir eingestehen muss, dass er eigentlich ziemlich gut aussieht. Ich versuche, seinem Blick stand zu halten, bekomme aber auf einmal weiche Knie.

Was zum Teufel ist los mit mir?

Ich stehe vielleicht kurz davor, von einem jungen Vulparivampir gefoltert oder gar getötet zu werden und habe nichts Besseres zu tun, als sein gutes Aussehen zu bewundern.

Eliya umkreist mich mit bedrohlich langsamen Schritten. Die Spannung liegt förmlich in der Luft. Plötzlich raschelt es im Unterholz und Eliya blickt sich suchend um.

Das ist meine Chance!

Ein Adrenalinstoß durchzuckt meine Muskeln und ich renne los. Keine zwei Sekunden später höre ich, wie Eliya sich hinter mir auch in Bewegung setzt.

Mein Herz rast wie verrückt und ich spüre meine Beine nicht mehr.

Die Jägerin wird zur Gejagten.

Eliyas Schritte hinter mir klingen gefährlich nahe, doch da vorne sehe ich bereits die violette Grenzmarkierung. Ich kann es schaffen!

Der hysterische Schrei eines Nachtvogels dringt an mein Ohr und ich schaue automatisch nach oben.

Das war der zweite fatale Fehler an diesem Abend.

Als ich meinen Blick wieder auf den Waldboden richte, ist es bereits zu spät. Mein Fuß hakt sich unter einer leicht erhobenen Wurzel ein und ich beginne zu stolpern. Ein paar wenige Schritte komme ich noch vorwärts, bevor ich mit dem Oberkörper voran auf den harten Untergrund auftreffe. Ein glühendes Brennen durchzuckt meine Schulter und ich beiße mir vor Schmerzen auf die Unterlippe. Kaum kann ich wieder klar denken, drehe ich mich immer noch am Boden liegend auf den Rücken und werde bereits von einem eisblauen Augenpaar erwartet. Eliyas Blick ruht auf meiner Schulter. Meine Jacke und auch das Leibchen sind aufgerissen und eine nicht gerade harmlose Wunde klafft darunter. Mein Blut schimmert milchig-violett im Mondlicht und Eliya leckt sich die Lippen.

Nun gibt es kein Entkommen mehr...

 

Kapitel 2

 

Obwohl ich den ganzen Rückweg gerannt bin, ohne auch nur eine einzige Pause einzulegen, erreiche ich erst nach über einer Stunde die Satariburg. Dass ich mich bei der Jagd so weit von Zuhause entfernt habe, ist mir gar nicht bewusst gewesen.

Dämlicher Luchs.

Ich rede mir ein, dass er mich in diese missliche Lage gebracht hat. Ohne ihn wäre ich nie unvorsichtig genug gewesen, in das Gebiet der Vulpari einzudringen. Und ohne ihn wäre es niemals zur Begegnung mit Eliya gekommen. Zwei Erfahrungen, die ich mir gerne erspart hätte.

Zum Glück ist es ja gerade nochmals glimpflich ausgegangen...

Ob Eliya mir wohl wirklich etwas angetan hätte, wenn ich ihm nicht entwischt wäre?

Bei der Erinnerung an seinen kalten, düsteren Blick habe ich daran keine Zweifel. Der Schreck unserer Begegnung sitzt mir noch immer in den Knochen. Genervt schüttle ich meinen Lockenschopf, als könnte ich dadurch meine aufgewühlten Gedanken und Gefühle loswerden und

gehe dabei die steinerne Treppe zum Burgtor hinauf.

Die Satariburg ist bei Nacht noch viel schöner anzusehen als bei Tage. Aus Hunderten kleiner Fenster schimmert schwaches Kerzenlicht. Unzählige Türmchen ragen hoch in den Nachthimmel hinauf und die Allerhöchsten sind in ein Meer aus Nebel getaucht. Völlig in meinen Gedanken versunken stehe ich plötzlich vor dem massiven Burgtor. Ich greife nach einem Ring, der im Maul eines bronzenen Fratzengesichts hängt, und klopfe laut dagegen. Eine kleine Luke öffnet sich und Samyrs Gesicht erscheint darin.

„Ah Ayla, zurück von der Jagd? Warst heute ja ganz schön lange unterwegs! Fette Beute gemacht?" Er grinst.

„Kann man wohl kaum behaupten", fauche ich und sehe ihn böse an.

„Oh je, ich kann deinen Bauch bis nach hier drinnen knurren hören. Na dann komm mal rein, wirst schon noch was zu essen bekommen, verhungern tut bei uns schließlich keiner. Tyran hat heute gleich drei Luchse erledigt."

Unweigerlich schießt mir das Bild von Eliyas blutverschmierten Lippen und dem toten Luchs in den Händen durch den Kopf. Zu diesem Zeitpunkt habe ich ihn trotz seiner Dreistigkeit, mir meine Beute zu klauen, eigentlich recht anziehend gefunden. Aber das war natürlich, bevor ich herausgefunden habe, dass er ein Vulpari ist.

Beim Gedanken daran, wie nahe er mir gekommen ist, fängt mein Nacken an zu kribbeln und ich spüre, wie meine Wangen wieder zu glühen beginnen.

„Alles in Ordnung, Ayla? Du bist plötzlich ganz blass geworden. Zumindest soweit wie ein Vampir noch blasser werden kann, haha."

„Na dann ist ja gut, ich hatte schon Angst, das Gegenteil wäre der Fall..." Eilig schiebe ich mich an ihm vorbei.

„Wie meinst du das?"

„Ach nichts ...", erwidere ich und laufe genervt davon.

„Aber iss noch was Ayla, sonst hält dein Magenknurren heute Nacht die ganze Burg wach!"

Ich kann sein dämliches Feixen förmlich spüren, drehe mich aber nicht mehr um und gehe kommentarlos davon. Samyr ist 22, ganze vier Jahre älter als ich, trotzdem benimmt er sich oft eher wie ein zurückgebliebener Pubertierender. Schon oft habe ich mich gefragt, wie er zu seinem Posten als Wächtervampir gekommen ist. Es erfordert ein gewisses Maß an Reife und Verantwortungsbewusstseins, bis man dazu ernannt wird.

Ob Eliya ein Jäger ist? Gibt es unter den Vulpari überhaupt eine Rollenverteilung wie bei uns? Zu gerne wüsste ich mehr über sie und ganz besonders über Eliya. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Wieso wandern meine Gedanken ständig zu ihm? Ich muss dringend mit meinem Bruder Mylan sprechen. Aber zuerst muss ich was essen. Zumindest in diesem Punkt hat Samyr recht.

Der Weg über den pflastersteinernen Innenhof führt mich zum Hauptgebäude der Burg. Auf dem Hof ist niemand zu sehen. Durch ein weiteres, kleineres Tor gelange ich in den dunklen Gang des Hauptgebäudes. Nur ein paar vereinzelte Kerzen an der Wand spenden schwaches Licht und flackern, als ich an ihnen vorbei gehe. Beiderseits ist lautes Stimmengewirr und Gelächter zu hören. Knarrend öffne ich die Türe zu meiner Rechten und betrete hungrig den Raum. Es herrscht reges Treiben und niemand nimmt Notiz von mir. Die Tische sind rappelvoll besetzt. Es wird um Essen gestritten und kleine Vampirkinder weinen oder lachen.

Ich komme nicht gerne zum Essen hierher. Ein weiterer Grund, warum ich es üblicherweise vorziehe, mir mein Essen bei der Jagd selbst zu beschaffen.

„Ayla! Hier drüben!", höre ich von irgendwoher jemanden rufen. Mylan!

Schnell bahne ich mir einen Weg durch den überbevölkerten Raum. Am Tisch angekommen, rutscht mein Bruder etwas nach links, damit ich Platz habe.

„Danke." Ich setze mich und boxe ihn spielerisch in die Seite. Mylan sieht etwas übernächtigt aus. Unter seinen hellgrauen Augen liegen dunkle Schatten und die hellbraunen Haare wirken nicht, als hätten sie heute schon Kontakt mit einem Kamm gehabt.

„Na?", fragt er neugierig, „wie war die Jagd? Deiner Jacke nach zu urteilen hat der Wald heute seine Krallen ausgefahren."

Als er mein entnervtes Gesicht sieht, grinst er. Nicht auch noch mein Bruder, denke ich für mich. Noch ein grinsendes Männergesicht mehr und ich bekomme einen Tobsuchtsanfall!

„Erst lief alles wie am Schnürchen. Einen Luchs habe ich entdeckt, nur zehn Minuten von der Burg entfernt. Aber er war außergewöhnlich schnell. Eine ganze Stunde lang habe ich ihn verfolgt. Und gerade als ich dachte, ich hätte ihn in die Enge getrieben, kommt mir so ein blöder Vulparivampir in die Quere. Hat sich einfach meine Beute geschnappt und praktisch vor meinen Augen ausgesaugt."

Mylan hat aufgehört zu essen. Er lässt sein halb leer gesaugtes Kaninchen wieder zurück auf den Teller fallen und starrt mich entgeistert an.

Wie bitte?"

„Ja, sag ich doch. Völlig dreist hat er mir meine Beute vor der Nase weggeschnappt!"

Ich weiß genau, wie die Neuigkeit auf meinen Bruder wirkt, aber ich spiele mit Absicht ein wenig die Unerschrockene, um ihn aufzuziehen. Als mein ältester Bruder hat Mylan freiwillig die Rolle des Beschützers angenommen, zumindest wenn es darum geht, seiner kleinen Schwester kluge Ratschläge zu erteilen oder ihr eine Standpauke zu halten. Trotz seines ausgeprägten Beschützerinstinkts hat er sich im Gegensatz zu seinen jüngeren Brüdern aber gegen eine königliche Laufbahn als Berufsjäger oder Wächtervampir und für den Beruf des Bibliothekars entschieden. Mit seiner schmächtigen Statur und seinem sensiblen Charakter ist das durchaus eine kluge Entscheidung gewesen.

„Nein, das meine ich offensichtlich nicht", erwidert er leicht genervt. „Dass dir jemand dein Abendessen geklaut hat, interessiert mich herzlich wenig. Ich habe sowieso nie verstanden, warum du unbedingt selber auf die Jagd gehen musst, wenn wir schließlich etliche Berufsjäger haben, die sich um unsere Verpflegung kümmern. Ich spreche von der Tatsache, dass du mit einem Vulparivampir zusammengestoßen bist! Bist du dir sicher, dass es ein Vulpari gewesen ist?"

„Ja, todsicher. Erstens habe ich ihn hier noch nie gesehen und zweitens hat er es mir selbst gesagt. Ich kenne keinen Satari, der freiwillig von sich behauptet, ein Vulpari zu sein."

„Da hast du auch wieder recht... Aber trotzdem ist das Ganze sehr seltsam. Jeder Vulpari weiß, dass er die Grenze nicht überschreiten darf. Ansonsten droht ihm der Tod! Entweder war das ein sehr mutiges oder ein äußerst dummes Exemplar, das sich da auf unsere Seite des Gebiets gewagt hat."

Mit schuldbewusster Miene blicke ich meinen Bruder entschuldigend an. Dessen Augen weiten sich noch mehr und mit Panik in der Stimme presst er hervor: „Du hast doch nicht ...? Du bist doch wohl nicht lebensmüde genug, um ...! Sag mir bitte, dass du nicht auf Vulparigebiet gewesen bist! Ayla?!"

Ich habe meinen Bruder noch nie so außer sich erlebt. Hätte ich ihm besser nichts von meiner Begegnung erzählen sollen?

„Es war ein Versehen."

„Ein Versehen? Es war ein Versehen?!"

Mylan sieht mich an, als hätte ich komplett den Verstand verloren. Hastig blickt er sich nach allen Seiten hin um und sagt dann mit gesenkter Stimme: „Ayla, ist dir eigentlich klar, in was für eine Gefahr du dich gebracht hast? Dieser Vulparivampir hätte dich töten können. Ich kann es ehrlich gesagt fast nicht glauben, dass du noch hier mit mir am Tisch sitzt. Wie hast du es denn überhaupt fertiggebracht, ihm zu entkommen?"

In Gedanken kehre ich zurück zu meinem Aufeinandertreffen mit Eliya und liege wieder rücklings auf dem kalten, feuchten Waldboden. Auf meine zittrigen Unterarme gestützt, erwidere ich sein herausforderndes Starren.

Wird er mich töten?

Eliya hat die Hände zu Fäusten geballt und jede Faser seines Körpers wirkt angespannt, bereit zum tödlichen Angriff.

„Verflucht!", knurrt er unzufrieden und tritt mit dem Fuß gegen einen Baumstamm zu seiner linken. Als mein Blick höher wandert, erkenne ich daran die Grenzmarkierung.

Ich habe es tatsächlich noch geschafft!

„Da hat man einmal die Möglichkeit, eine Satari in die Finger zu kriegen..." Er lässt seinen Satz unvollendet und feuert stattdessen einen weiteren giftigen Blick in meine Richtung.

Nun da ich mir Zeit lassen kann, nehme ich meine Wunde nochmals genauer in Augenschein. Sie ist bereits dabei zu verheilen. Mit einem triumphierenden Lächeln springe ich auf die Füße und stelle mich direkt vor die imaginäre Grenzlinie.

Ja ganz recht, ich kann auch provozieren!

„Warst halt nicht schnell genug, Vulpari."

Eliya tritt ebenfalls direkt an die Grenze, bis unsere Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt sind.

„Bild dir bloß nichts darauf ein. Du hattest einfach nur Glück, Kleine."

„Hör auf mich so zu nennen!"

Zwischen seinen Brauen bildet sich eine tiefe Zornesfalte und er presst zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: „Da du ja nicht genug Anstand besitzt, mir deinen Namen zu nennen, bleibt mir nichts anderes übrig. Außerdem kann ich dich nennen wie ich will."

Ich spüre bereits wieder ein fieses Kribbeln in meinen Händen, die sich diesem Kerl am liebsten um den Hals legen und zudrücken würden. Ich gehe jetzt besser, bevor ich noch einen weiteren Fehler mache.

„Auf Nimmerwiedersehen, Eliya", flöte ich mit aufgesetzter Freundlichkeit in der Stimme.

„Lass dich bloß nie wieder hier blicken", ist das Letzte, was Eliya mir noch entgegenschleudert. Dann dreht er sich um und verschwindet mit wenigen Schritten in der Dunkelheit des Waldes. Seine Worte waren so voller Hass, als hätte er nicht nur ein Problem mit mir als Satari, sondern als hätte er etwas gegen mich persönlich.

Oder bildete ich mir das nur ein?

„Nun sag schon!", holt Mylan mich gedanklich zurück in den Speisesaal.

„Er hat mich gehen lassen", lüge ich.

Seine Miene wechselt von Verwirrung über Erstaunen hin zu Ungläubigkeit.

„Er hat dich einfach so gehen lassen? Das kann ich nicht glauben. Wenn das wirklich stimmt, was du sagst, dann war das mit Sicherheit kein Vulpari. Nie und nimmer hätte der dich einfach gehen lassen."

„Oh doch, dass war ein Vulpari, durch und durch. Aber keine Ahnung, wieso er mich hat gehen lassen. Vielleicht hatte er Mitleid mit mir."

„Vulpari haben kein Mitleid", erwidert Mylan kalt. „Vulpari töten Satari und Satari töten Vulpari. Bisher hat noch nie einer der Clans einen der anderen verschont. So ist das nun einmal."

Es ist das erste Mal, dass ich meinen Bruder so reden höre. Er ist sonst eine sehr friedfertige Person, kann keiner Fliege was zuleide tun, aber nun erkenne ich ihn fast nicht wieder.

„Ist doch jetzt auch egal, ist ja alles gut ausgegangen. Und keine Sorge, nach der Begegnung mit diesem Eliya habe ich nicht das geringste Bedürfnis, noch einmal einem Vulpari zu begegnen."

„Eliya?" Mein Bruder sieht mich mit immer fassungsloserer Miene an und rauft sich seine Haare, die ihm danach in alle Himmelsrichtungen vom Kopf stehen.

„Woher zum Teufel kennst du seinen Namen?"

Ertappt beiße ich mir auf die Unterlippe. Ich hatte seinen Namen eigentlich nicht erwähnen wollen. Doch jetzt ist es zu spät.

„Er hat ihn mir genannt. Und dann hat er mich nach meinem gefragt, aber den habe ich ihm natürlich nicht verraten." Mylan atmet kurz erleichtert auf.

„Immerhin etwas Grips scheinst du ja doch noch zu besitzen!" Mylan starrt mich finster an. „Aber bitte sag mir, dass du nicht noch länger mit diesem Vulpari geredet hast?"

Als ich daran zurückdenke, wie nahe Eliya mir gekommen ist, wie er mich in seinem Griff gehabt und mir sein „kleines Vampirmädchen" ins Ohr geflüstert hat, bin ich froh, meinem Bruder nicht noch mehr erzählt zu haben. Wenn er davon wüsste, würde er mich vermutlich zu meiner eigenen Sicherheit für den Rest meines unendlich langen Lebens in mein Zimmer einsperren.

„Nicht länger als nötig", entgegne ich knapp.

„Was genau hast du denn zu ihm gesagt?"

„Zuerst habe ich ihn angeschnauzt, weil er meinen Luchs getötet hat."

Mylan schließt für einen Moment die Augen, als ob er dadurch die Tatsache verdrängen könnte, dass seine kleine Schwester einen Vulpari provoziert hat.

„Dann hat er mir gesagt, dass ich mich nicht mehr auf meinem Gebiet befinde, und dass dieser Luchs daher ihm gehört. Daraus schließend habe ich ihn gefragt, ob er ein Vulpari sei."

Mylan unterbricht mich. „Was für eine blöde Frage! Natürlich ist er ein Vulpari, wenn du dich auf seinem Gebiet befindest! Außer dir ist kein Satari dumm genug und wagt sich auf deren Territorium!"

Eingeschnappt verschränke ich die Arme vor der Brust. Mein Bruder hat mich noch nie als dumm bezeichnet. Da es außerdem genau das Gleiche ist, was Eliya an dieser Stelle zu mir gesagt hat, fühle ich mich langsam wie eine Idiotin. Ich war halt aufgeregt!

Aber ich weiß, dass Mylan einfach sehr besorgt ist und daher versuche ich noch einmal, unsere Unterhaltung zu beenden: „Es ist alles gut ausgegangen, also lassen wir es auf sich beruhen, okay?

Mylan übergeht meinen Vorschlag. Er schweigt für einen Moment und fährt dann fort: „Aber ich muss schon sagen, dieser Eliya, von dem du da erzählst, scheint mir ein seltsamer Vulpari zu sein. Eigentlich warten die nur darauf, dass einer von uns einen Fehler begeht und auf ihrem Gebiet landet. Wenn sie könnten, würden sie uns am liebsten alle auf der Stelle auslöschen. Aber er verschont dich." Nachdenklich kratzt er sich am Kinn.

„Vielleicht ist das eine Falle. Sie wollen uns Glauben machen, dass die Grenze nicht mehr so streng bewacht wird und wir keine Angst davor haben müssen, auf einen von ihnen zu treffen. Sobald dann immer mehr von uns auch mal einen Abstecher auf Vulpariterritorium machen, schlagen sie plötzlich zu und töten uns alle."

Das klingt selbst für meinen ängstlichen Bruder ziemlich paranoid. Eigentlich wollte ich durch meine kleine Notlüge bloß verhindern, dass sich meine Brüder wutentbrannt auf die Suche nach Eliya machen, um ihm den Hals umzudrehen und sich dabei selber in Gefahr zu bringen. Aber Mylan hat wohl zu viel Zeit in der Abteilung mit Büchern über Verschwörungstheorien verbracht.

„Nun, auf jeden Fall kannst du dich glücklich schätzen, dass du noch am Leben bist", stimmt er mir nun zu. „Aber bitte versprich mir, in nächster Zeit auf das Jagen zu verzichten. Und ich bitte dich noch um etwas, Ayla." Mit zusammengekniffenen Augen sucht er meinen Blick.

„Bitte erzähl keinem anderen Satari etwas von deiner Begegnung. Ich möchte nicht, dass andere wegen deiner Geschichte leichtsinnig handeln und sich auch in Gefahr begeben. Und bitte erzähl besonders unseren Brüdern nichts davon."

Ich hatte nicht vor, ihnen von Eliya zu erzählen. Wenn Mylan schon so außer sich ist, wie mochten sie dann erst reagieren? Kyle ist ein Wächtervampir und hat den Beschützerinstinkt sozusagen im Blut. Tyran ist Berufsjäger und ziemlich unberechenbar. Wenn er erfährt, dass ein Vulpari seiner kleinen Schwester so nahe gekommen ist, kann ich nicht ausschließen, dass er sich, rasend vor Wut, auf Vulparigebiet und auf die Suche nach Eliya begibt. Und ich weiß nicht, für wen das gefährlicher wäre, für Tyran oder für Eliya.

„Wovon soll meine Lieblingsschwester uns nichts erzählen?", höre ich eine raue Stimme hinter mir.

Oh oh...

 

 

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Publication Date: 04-06-2014

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Dedication:
Für alle, die an die Unsterblichkeit der Liebe glauben.

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