Bei der Recherche für einen Artikel über lesbische Flüchtlinge im deutschsprachigen Raum stieß ich auf die Geschichte von Eugenie.
Eine junge Frau aus dem Senegal hatte Asyl in der Schweiz gesucht, weil sie wegen der Liebe zu einer Frau und der drohenden Verheiratung ihre Heimat verlassen musste. Eine Mitarbeiterin der Schweizer Sektion von amnesty international erzählte mir in anonymisierter Form, was sie vom Schicksal der jungen Senegalesin wusste, einem Schicksal unter vielen: „Nennen wir sie Eugenie“, so begann ihr Bericht.
Auf der realen Grundlage dieses Schicksals beruht die hier entwickelte Handlung, die Einzelheiten allerdings sind erfunden oder anderen Lebensgeschichten entnommen, sie könnten so geschehen sein, aber auch ganz anders. Eugenies Geschichte handelt in Deutschland anstatt in der Schweiz, da mir die Verhältnisse, in denen Flüchtlinge hier (über)leben müssen, bekannter sind, als im Nachbarland. Die Fakten beziehen sich nicht auf eine Stadt oder ein bestimmtes Bundesland, hier mischt sich vieles aus unterschiedlichen Regionen und verschiedenen Herangehensweisen, die aber letztendlich alle so angelegt sind, dass die Flüchtlinge sich im Zufluchtsland nicht wohlfühlen sollen, um sie schnellstmöglich wieder loszuwerden.
Eine Geschichte, wie sie heute in vielen Ländern von viel zu vielen Menschen durchlebt werden muss.
Nennen wir es Deutschland ...
Nennen wir sie Eugenie ...
„Nennen wir sie Eugenie“ war der erste Roman, den ich geschrieben habe. Begonnen habe ich damit irgendwann im Lauf des Jahres 2012, erschienen ist das Buch schließlich im Juni 2014.
Seither ist vieles geschehen. Ich habe weitere Romane veröffentlicht und dabei einiges gelernt. Ich habe Auszüge aus „Nennen wir sie Eugenie“ bei vielen Lesungen immer und immer wieder laut vorgelesen und bin dabei auf einiges gestoßen, was ich heute anders machen würde. Dennoch soll der Roman selbst bis auf wenige Korrekturen und geringfügige Veränderungen (irgendetwas findet sich leider auch nach dem besten Lektorat immer noch) so bleiben, wie er ist. Eugenie und der Ausschnitt ihres Lebens, von dem ich im Buch erzähle – zum Teil aus der Realität übernommen, zum Teil fiktiv ergänzt und ausgeschmückt – sind mir sehr nahe gekommen. Während des Schreibens, aber auch später, wenn ich auf Lesungen ihre Geschichte vorgelesen und mich mit Zuhörerinnen und Zuhörern über ihr Schicksal ausgetauscht habe.
Zuerst waren da die wenigen Fakten aus dem Leben einer unbekannten Frau im Senegal, auf deren Geschichte ich bei der Recherche für einen Artikel über lesbische Geflüchtete im deutschsprachigen Raum gestoßen bin. Die wenigen Informationen, die mir eine Mitarbeiterin von amnesty international in der Schweiz in anonymisierter Form erzählte, hatten mich sehr berührt und zum Schreiben veranlasst, wenn nicht sogar gezwungen. Eugenie hat von mir ihren Namen bekommen und eine fiktive Geschichte rings um die tatsächlichen Begebenheiten, die ich als Grundlage zur Verfügung hatte, und die für ein ganzes Buch, auch ein dünnes Bändchen wie das vorliegende, nicht ausgereicht hätten. Fiktiv ist Eugenies Geschichte allerdings nur in dem Sinn, dass alles so hätte sein können, aber nicht alles ganz genau so war. Ich versuchte eine Annäherung an ein Schicksal, ein Leben, das mir an einem kleinen Punkt aufgezeigt wurde, aber sehr viele Fragen offen ließ, die ich mir zunächst einmal selbst beantworten wollte. Vieles in dieser Geschichte ist dem wahren Leben entnommen, manches habe ich selbst so erlebt. Die Verhältnisse, in denen Eugenie nach ihrer Ankunft in Deutschland leben muss, entsprechen teilweise eins zu eins der Realität. Einige der Menschen mit ihren ureigenen Geschichten, denen Eugenie begegnet, gibt es wirklich, sie alle sind aber in der Realität nie aufeinander getroffen.
„Nennen wir sie Eugenie“, damit begann der Bericht über diese unbekannte Senegalesin, der zur Basis für dieses Buch geworden ist. Deshalb habe ich meine Protagonistin Eugenie genannt und musste dann immer wieder feststellen, dass ich Leserinnen und Leser bereits mit dem Titel eine Stolperfalle gebaut hatte. „Wie wird das denn ausgesprochen? Wie heißt sie denn nun eigentlich?“ Immer und immer wieder kommt diese Frage bis heute. Manche sprechen den Namen, wie er geschrieben, wird, manche versuchen sich auf Englisch. Für mich war von Anfang an klar, dass meine Protagonistin Eugenie heißt und zwar französisch ausgesprochen „Öschenie“. Klar deshalb, weil ich die grundlegenden Informationen aus der französischsprachigen Schweiz bekommen hatte, vor allem aber, weil es sich bei Eugenie ja um eine Senegalesin handelt und der Senegal bis 1960 eine französische Kolonie war und die Amtssprache auch heute noch Französisch ist. Was ich dabei übersehen hatte: Beim ersten Blick auf den Titel des Buches besitzt niemand dieses Hintergrundwissen. Kurz überlegte ich vor der ersten Drucklegung, den Namen zu verändern, aber Eugenie wollte nicht. Sie will bis heute nicht.
Die reale Eugenie flüchtete aus dem Senegal in die Schweiz und erlebte dort das Asylverfahren. Unsere Eugenie, deren Geschichte wir hier verfolgen können, hält sich in Deutschland auf. Dies hat zwei Gründe: Da ich selbst seit 1982 immer wieder, mal mehr mal weniger und auf sehr verschiedene Art und Weise in die Flüchtlingsarbeit in Deutschland involviert war, lag es nahe, mein Wissen und meine Erfahrungen in das Buch einzubringen, anstatt mich mit den mir nur wenig bekannten Schweizer Realitäten zu befassen und die dortigen Verhältnisse zu erforschen. Ein weiterer und eigentlich der ausschlaggebende Grund für diese Entscheidung war und ist die Situation rund um die Asylgesetzgebung und den Umgang mit Geflüchteten bei uns in Deutschland. Hier liegt so vieles im Argen, hier muss so vieles kritisiert und müsste so vieles verbessert werden, hier existiert so viel Unmenschlichkeit im Umgang mit den Betroffenen, dass ich der Überzeugung bin, wir müssen erst einmal unsere eigenen Unzulänglichkeiten benennen und immer wieder aufzeigen, bevor wir andere kritisieren. Erst vor der eigenen Tür kehren, statt vor anderen, erst den Pfahl im eigenen Auge erkennen …
Ganz bewusst habe ich für Eugenies Aufenthalt in Deutschland kein festes Bundesland und keine bestimmte Stadt ausgewählt. Ich wollte die Möglichkeit haben, möglichst viele Facetten aus dem Leben von Menschen zu beschreiben, die sich bei uns im Asylverfahren befinden. Da die Verhältnisse und einzelne Bestimmungen sich von Bundesland zu Bundesland, manchmal sogar von Stadt zu Stadt unterscheiden, wäre eine Festlegung nur hinderlich gewesen. Bis hierher hat sich in der erweiterten neuen Auflage kaum etwas verändert.
In der ersten Ausgabe von „Nennen wir sie Eugenie“ gab es einige Infotafeln mit grundsätzlichen Informationen zum Asylverfahren und zur Situation von Asylsuchenden in Deutschland. Sie sollten das, was Eugenie erlebte, etwas genauer erklären und so ihre Geschichte verständlicher machen. Und hier finden sich nun grundlegende Veränderungen in der vorliegenden zweiten Auflage: Die Informationen wurden überarbeitet, aktualisiert und ergänzt.
Was eine Überarbeitung notwendig gemacht hat, ist die rasante Entwicklung der Asylgesetzgebung und all dessen, was damit zusammenhängt, seit dem Jahr 2015.
Gelebt und erzählt wurde Eugenies Geschichte lange vor der so genannten „Flüchtlingskatastrophe“, die zwar eine Katastrophe für die Flüchtlinge war, nicht aber für die einheimische Bevölkerung oder die Politik, wie das mit diesem Begriff vermittelt wird. Allerhöchstens in dem Sinne, dass die Politik beim Thema „Flüchtlinge“ 2015 katastrophal versagt hat.
In den 80er und zu Beginn der 90er Jahre waren die Zahlen der Geflüchteten nicht viel anders als 2015. Auch die Worte, die 2015 plötzlich wieder in aller Munde waren, erinnerten fatal an ein Wiederaufleben der 80er. „Flüchtlingswellen“, „das Boot ist voll“, … Was allerdings in jenen Jahren an Logistik und Infrastruktur entstanden war, wurde in den folgenden Jahren abgebaut und eingestampft, weil es gelang mit der Drittstaatenregelung und der Dublin-Verordnung die Zahlen an Zuflucht suchenden zu dezimieren. Deshalb gab es aber nicht entsprechend weniger Menschen, die ihre Länder verlassen und sich auf die Flucht begeben mussten. Sie kamen nur nicht mehr nach Deutschland, überlebten auf niedrigstem Level in Flüchtlingslagern in Ländern, die selbst nichts hatten. Als die UN dann die Unterstützung minimierte und die Lebensmittelrationen in den Flüchtlingslagern knapp wurden, den Bewohnern also nichts mehr übrig blieb, als weiterzuziehen, um zu überleben, als dazuhin noch der Krieg in Syrien immer mehr Menschen zur Flucht zwang, waren sie plötzlich wieder da, die „Flüchtlingszahlen“ aus den 80ern. Was nicht mehr da war, war eine funktionierende Infrastruktur.
Schon vor 2015 war das ursprünglich beispielhafte deutsche Asylrecht, das aus den eigenen Erfahrungen aus dem Dritten Reich entstanden war, immer wieder eingeschränkt worden. Aber es gab auch hin und wieder kleinere Verbesserungen für die Menschen im Asylverfahren. Nach 2015 jedoch erfolgten die Veränderungen in immer kürzeren Zeiträumen und die wenigen Verbesserungen wurden Schritt für Schritt auch wieder eingeschränkt. So waren die in den Roman integrierten Infotafeln schon bald nicht mehr auf dem aktuellen Stand. Die rasanten Entwicklungen führten teilweise zu sonderbaren Ergebnissen: Manches, was erst aktuell war, war es plötzlich nicht mehr und wenige Monate später (manchmal in etwas abgewandelter Form) wieder.
Die erweiterte Neuauflage von „Nennen wir sie Eugenie“ versucht nun ein wenig aufzuholen, Schritt halten ist wohl leider nicht möglich, denn während dieses neue Buch entsteht, verändern sich schon wieder viele Bestimmungen. So wird momentan viel über die ANKER-Zentren diskutiert (ANKunft, Entscheidung, Rückführung), in Bayern sind sie bereits beschlossene Sache. Asylsuchende sollen hier vom Beginn ihres Aufenthalts an bis zur Entscheidung über den Asylantrag bleiben. Wird der Asylantrag abgelehnt, sogar bis zur Ausreise oder Abschiebung.
Ankerzentren bedeuten eine Internierung im Lager, wohnen auf engstem Raum, größtenteils Sachleistungen statt Bargeld, geschlossenes Gelände und Über-/Bewachung durch Sicherheitsdienste und Bundespolizei, keine Möglichkeit sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, Residenzpflicht, Arbeitsverbot, Beschulung der Kinder auf Minimalniveau im Lager, … Eine ähnliche Situation herrschte in den 80er Jahren und wurde in mühsamer Arbeit in kleinen Schritten verbessert. All diese Verbesserungen sollen nun wieder rückgängig gemacht, die Situation eher im Gegensatz zu den 80ern noch verschlimmert werden.
Man wird sehen, was sich letztendlich hier entwickelt.
Zusätzlich zu den notwendigen, wenn auch möglicherweise nicht lange wirklich aktuell bleibenden, Anpassungen an die Entwicklung im Asylverfahren, gibt es in der neuen Auflage etwas mehr Hintergrundinformationen zu Themen, die bisher gefehlt haben oder sehr knapp gehalten waren.
Dazugekommen sind vor allem auch Informationen zum Thema LSBT*I*-Geflüchtete oder „Queer Refugees“. Diese Begriffe waren noch weitgehend unbekannt, als die erste Auflage von „Nennen wir sie Eugenie“ entstand, obwohl Eugenie selbst ja genau zu dieser Gruppe von Menschen gehört. Doch waren Lesben und Schwule im Asylverfahren damals noch seltener benannte Größen als heute. Auch jetzt noch denken nur wenige Menschen bei den Worten „Flüchtling“ oder „Geflüchtete“ nicht-heterosexuelle Menschen mit, aber es ist in den letzten Jahren sehr vieles in Bewegung gekommen. Es gibt eigene Unterstützungsnetzwerke für Queer Refugees oder LSBT*I*-Geflüchtete, Beratungsangebote, in manchen Städten sogar eigene Unterkünfte. Hier entwickelt sich derzeit sehr vieles, deshalb finden sich in dieser Auflage nun auch grundlegende Informationen zum Thema LSBT*I-Geflüchtete.
All diese Informationen bleiben unvollständig und sind keinesfalls als juristisch verwertbare Handlungsanleitungen zu verstehen. Sie sollen lediglich einen ersten Einblick in die bestehende Realität geben, in der geflüchtete Menschen allgemein und LSBT*I*-Geflüchtete im Besonderen leben müssen. Sie sollen grundlegende Erklärungen bieten, um ein wenig besser verstehen zu können, was Eugenies Leben, soweit wir hier Einblick bekommen, bestimmt.
Wer durch die Lektüre von Eugenies Geschichte veranlasst wird, sich etwas mehr mit der Thematik zu befassen, findet im Info-Anhang auch erste Tipps und Adressen, um sich weitere Informationen, Anregungen zur Handlungsmöglichkeiten und Kontakte zu bestehenden Netzwerken und örtlichen Unterstützungsgruppen zu holen.
Eugenie steht beispielhaft für alle Geflüchteten, insbesondere aber für alleinreisende Frauen, LSBT*I*-Geflüchtete und lesbische Frauen auf der Flucht und im Asylverfahren.
Ich möchte mit diesem Buch ein wenig mehr Licht in das Thema Flucht und Asyl bringen, nicht in erster Linie auf der theoretischen und juristischen, sondern vor allem auf der menschlichen Ebene. Hierfür ist ein Grundwissen über eben diese Hintergründe wichtig und hilfreich.
Ich hoffe, es gelingt mir, mit Eugenies Geschichte den Begriff „Flüchtling“ aufzubrechen und aus einem theoretischen, allzu oft negativ belegten und häufig für politische Ziele missbrauchten Begriff einen Menschen zu machen, eine Frau zu machen, eine Lesbe zu machen, die gar nicht so weit von uns entfernt ist.
Ich glaube und hoffe, dass wir mit mehr Wissen über die Hintergründe und Bedingungen, die das Leben von Geflüchteten bestimmen, die Menschen, die hinter „dem Flüchtling“ stehen, besser verstehen lernen und ihnen individueller begegnen können. Nicht als „Opfer“, das für unsere Hilfe „dankbar“ sein muss, sondern als gleichwertige Gegenüber. Wer wie Eugenie alles aufgibt, um ein selbstbestimmtes Leben führen, um ihre Liebe leben zu können, wer sich wie sie allein unter völlig fremde Menschen, in eine ganz neue Welt begibt, beweist große Kraft und Mut. Doch in dieser neuen Welt, die zu allem Überfluss den Schutzsuchenden immer neue Steine in den Weg legt, braucht sie Unterstützung von uns. Wenn es uns nicht gelingt, die Steine aus dem Weg zu nehmen, so sind wir gefordert, wenigstens Hilfestellung beim Umgehen und Überwinden vorhandener Hindernisse zu leisten.
Wenn wir uns bemühen, die weiteren Wege gemeinsam zu gehen, dann haben wir alle gewonnen. Wir alle haben uns gegenseitig etwas zu geben, wir alle können voneinander lernen und gemeinsam gehört uns die Welt.
Wieder sind fünf Jahre vergangen und die Verhältnisse haben sich nicht grundlegend verändert, jedenfalls nicht zum Besseren. Es bleibt ein Auf und Ab, ein Hin und Her. Mal gibt es kleinere Verbesserungen, dann wieder größere Verschlechterungen der Situation für Asylsuchende. Und so bleibt es dabei: Nicht alles im vorliegenden Buch ist aktuell so wie beschrieben, aber manches war so, manches ist so und manches wird möglicherweise wieder so sein. So gibt es derzeit erneut Pläne anstelle von Bargeld sogenannte Bezahlkarten einzuführen. Andererseits wurde endlich festgeschrieben, dass queeren Geflüchteten nicht zugemutet werden darf, im Herkunftsland ihre sexuelle Identität zu verstecken, was eine Flucht angeblich unnötig machen würde.
Die EU plant derweil eine Verschärfung des Asylrechts, die man fast einer Abschaffung gleichsetzen kann. Kaum jemand wird mehr nach Europa kommen, wenn diese Pläne durch- und umgesetzt werden. Asylverfahren an den EU-Außengrenzen hätten Inhaftierungen zur Folge, eine Asylberatung und rechtlichen Beistand gäbe es nicht mehr und gewaltsame Pushbacks würden noch weiter zunehmen.
Zugleich reisen Politiker und Politikerinnen durch die Welt, um Arbeitskräfte anzuwerben, die wir so dringend brauchen.
Die dritte Auflage von „Nennen wir sie Eugenie“ hat sich gegenüber der Ausgabe von 2018 bis auf ein paar Kleinigkeiten kaum verändert.
Ich habe versucht, Mängel an der genderneutralen Schreibweise zu beseitigen, was mit Sicherheit immer noch nicht endgültig gelungen ist.
Außerdem erfolgte die schon längst nötige Anpassung der Begriffe Schwarz und weiß.
Der Begriff „Schwarz“ wird großgeschrieben, weil er von vielen Menschen als Selbstbezeichnung genutzt wird, „weiß“ in klein und kursiv, um diese Position davon abzugrenzen. Nicht Hauttöne oder biologische Kategorien werden mit den Begriffen beschrieben, sondern eine soziale Konstruktion und eine Zuschreibung, die gesellschaftliche Hierarchien ausdrückt und gesellschaftliche Positionen.
Es fühlte sich an, als säße sie in einer zersplitternden Glaskugel, die jederzeit endgültig in sich zusammenfallen und sie unter ihren Scherben begraben konnte. Die Glaskugel barg ihr Leben, aber sie war hohl, konnte keinen Schutz bieten. Die gläserne Hülle war äußerst dünn, dünner als sie je geglaubt hätte. Was blieb von ihrem Leben, wenn die Kugel barst? Was blieb von ihr? Wer war sie überhaupt?
Das Zimmer war verschlossen. Erst hatte sie es nicht glauben wollen und wiederholt die Klinke probiert. Es blieb dabei. Auch durch das Fenster konnte sie nicht hinaus, es war vergittert – ursprünglich als Schutz vor den Gefahren der Welt, die von außen hätten eindringen können. In ihr Zimmer und in das kleine Häuschen in der Vorstadt. Jetzt hatte sich das alles ins Gegenteil verkehrt: Das vergitterte Fenster nahm ihr die Möglichkeit, Schutz in der Welt draußen zu suchen. Schutz vor der Gefahr, die ihr innerhalb des Hauses durch ihre Familie drohte.
Nie hatte sie sich vorgestellt, dass es so weit kommen könnte. Warum eigentlich nicht? Es war keine außergewöhnliche Geschichte. Sie hatte Ähnliches nur zu oft schon von Freundinnen und Bekannten gehört und doch war sie sich immer sicher gewesen, dass sie, Eugenie, dieses Schicksal nicht treffen könnte. Sie war Eugenie, sie war groß und stark, jung und selbstbewusst, und sie liebte ihre beiden Brüder, ihren Vater und ihre Mutter. Ihre Brüder liebte sie als gleichwertige Freunde in der Kindheit und als Beschützer („Warte nur, ich sage es meinem großen Bruder!“). Ihr Vater war eine Autorität. Was er sagte, wurde getan. Aber was er sagte, hatte auch immer Hand und Fuß. Er war gläubiger Muslim, dabei weltoffen und hilfsbereit gegenüber allen, die seine Hilfe brauchten. Sie fühlte sich bei ihm geborgen, beschützt und geliebt, egal was kommen würde.
Und dann war da ihre Mutter. Sie war als junge Frau sehr empfindlich gegenüber den gesellschaftlichen Unterdrückungs-mechanismen gewesen, die sie als Frau im Senegal und als Muslima erfuhr, und hatte ein Studium als Lehrerin begonnen, weil sie es einmal besser machen wollte. Dann hatte sie sich Hals über Kopf in Eugenies Vater verliebt. Ihre Familie hatte andere Pläne für sie gehabt, die beiden jungen Leute konnten sich aber durchsetzen, da der Auserwählte aus einer angesehenen und wohlhabenden Familie stammte. Sie heirateten, und als das erste Kind kam, beendete Eugenies Mutter ihr Studium. Vorübergehend – sie wollte erst eine Familie gründen und dann weiterlernen und als Lehrerin arbeiten. Was dann passierte, warum sie ihre Pläne aufgegeben hatte, wie aus ihr eine stille Frau an der Seite eines im Lauf der Jahre mehr oder weniger verarmten Mannes wurde, das hatte Eugenie nie erfahren und sie hatte auch nie gefragt. Ihre Mutter war immer für sie dagewesen, hatte sie vor der Welt beschützt und mit ihrer Liebe überschüttet, und dafür liebte sie Eugenie. Deshalb nahm sie ihrer Mutter das böse Spiel, das nun mit ihr gespielt wurde, besonders übel. Aber auch der Vater und die Brüder hatten sie verletzt und zutiefst enttäuscht.
Vor ein paar Tagen war die Mutter zu ihr in den Laden gekommen, in dem sie als Verkäuferin arbeitete. Das Gedränge war groß gewesen, sie hatte kaum Zeit für sie gehabt zwischen der Kundschaft, die darauf wartete, bedient zu werden, und hatte deshalb ohne weiter nachzufragen zugesagt: Ja, sie würde am Wochenende nach Hause kommen. Es gäbe etwas Dringendes zu besprechen, hatte ihre Mutter gesagt, sie müsse unbedingt kommen, auf jeden Fall, es wäre eilig und ließe sich nicht verschieben. Dann hatte sie das Geschäft verlassen, ohne sich die Zeit zu nehmen, etwas einzukaufen, wie sie das bei anderen Besuchen in der Vergangenheit immer getan hatte. Ihre Mutter hatte, wenn Eugenie gerade keine Zeit für sie hatte, geduldig gewartet, die Waren angesehen, in Zeitschriften geblättert, diese oder jene Kleinigkeit eingekauft und in der Arbeitspause in Ruhe ein paar Worte mit Eugenie gewechselt. Sie hatten sich umarmt und so ihrer gegenseitigen Zuneigung versichert, und wenn die Mutter dann zurück nach Hause ging, war Eugenie mit einem warmen Gefühl im Bauch zurückgeblieben. Nicht jede hatte eine Mutter, die sie so liebte und die sie so lieben konnte.
Dieses Mal war es anders gewesen, aber da Eugenie sehr beschäftigt gewesen war, fiel ihr dies erst später auf und sie war beunruhigt. Was hatte ihre Mutter gewollt? Was hatte sie ihr nicht gesagt? Um was ging es bei dieser dringenden Sache? Die Mutter war doch wohl nicht krank, oder der Vater? Aber was sonst konnte es sein? Was wollten die Eltern mit ihr besprechen? Eugenie sorgte sich sehr und konnte kaum erwarten, dass am Samstag der Laden schloss, in dessen Nachbarschaft sie eine einfache, aber hübsche und gemütliche kleine Wohnung gemietet hatte, und sie in die Vorstadt zum Haus ihrer Eltern radeln konnte. Sie bepackte ihr Fahrrad mit dem Nötigsten, das sie zum Übernachten brauchte, denn sie wollte direkt von den Eltern aus weiter zu ihrer Liebsten, und fuhr los. Je näher sie dem Haus ihrer Eltern kam, umso unruhiger wurde sie. Sämtliche Krankheiten und Unglücksfälle, von denen sie in der letzten Zeit gehört hatte – und das waren viele, denn die Kundschaft im Geschäft war groß und redselig –, gingen ihr durch den Kopf. Was war geschehen, welche Hiobsbotschaft erwartete sie? Krankheit, Tod – nein, das durfte nicht sein, konnte nicht sein. Die Gedanken begannen sich wieder zu drehen, immer im Kreis, und ihr war schlecht vor Angst, als sie das Haus ihrer Kindheit erreichte.
Nichts warnte sie vor dem, was in Wirklichkeit auf sie wartete und was sie mit keinem Gedanken gestreift hatte.
Vor dem Haus parkte ein fremdes Auto, was Eugenies Angst noch verstärkte. War ein Arzt gekommen? War ihr Vater schwer krank? Aber warum war er dann zu Hause und nicht im Krankenhaus? Es drehte sich in Eugenies Kopf und als die Tür aufging, die Mutter im besten Kleid aus der Tür trat und sie ungewöhnlich steif umarmte, verstand Eugenie gar nichts mehr. Stimmengeschwirr vor dem Hintergrund leiser Radiomusik empfing sie und es duftete nach ihrem Lieblingsessen. Das Gebirge auf ihrem Herzen kam ins Rollen, so schlimm konnte es also nicht sein. Vielleicht hatte sie nur den runden Geburtstag eines Onkels oder einer Tante vergessen oder die Großeltern hatten was zu feiern. Oder einer ihrer Brüder wollte heiraten und stellte nun seine Zukünftige vor. Warum hatte sie nur nicht daran gedacht und sich solche Sorgen gemacht?
Aber es kam schlimmer, als sie es sich in ihrer Angst ausgemalt hatte.
Die Mutter nahm ihr die Fahrradtasche aus der Hand, strich ihr das Haar glatt, zog die leicht verrutschte Bluse zurecht und brummte leise: „Warum hast du denn kein Kleid angezogen?" Dann führte sie sie ins Wohnzimmer, wo am festlich gedeckten Tisch neben Vater und Brüdern ein altes Ehepaar und ein bereits leicht ergrauter Mann mittleren Alters saßen. Alle trugen ihre besten Kleider, obwohl doch noch nicht Sonntag war, und zwischen ihnen fühlte sich Eugenie in Jeans und Bluse wie eine Stubenfliege unter Honigbienen. Sie war verwirrt und ihre erste Erleichterung, als sie Vater und Brüder unbeschadet am Tisch sitzen sah, schlug in erneute Besorgnis um. Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.
Eugenie hatte die Fremden noch nie zuvor gesehen. Sie fühlte sich intensiv gemustert und von oben bis unten begutachtet. Jede ihrer Bewegungen wurde registriert. Eugenie war erleichtert, als die Mutter mit dem Essen ins Zimmer kam.
„Eugenies Lieblingsgericht, zur Feier des Tages!", sagte sie und Eugenie verging der letzte Rest an Appetit. Still und in sich gekehrt saß sie am Tisch und stocherte wortlos in ihrem Essen. Sie fühlte die Blicke aller auf sich gerichtet und konnte sich noch immer keinen Reim auf die Situation machen. Was war an ihr verkehrt? Hatte sie die Bluse falsch herum angezogen oder hatte sie Schmutzflecken im Gesicht? Sie hatte ja noch das Fahrrad aufpumpen müssen, bevor sie losgefahren war, vielleicht hatte sie dabei nicht aufgepasst.
„Eugenie“, sagte der alte Mann. „Eugenie, wie kommt es, dass du allein in der Stadt wohnst und nicht hier bei deinen Eltern?“
Eugenie verstand die Frage nicht und was ging es ihn überhaupt an? Aber sie wollte höflich sein, schließlich waren sie alle zu Gast im Haus ihrer Eltern.
„Ich habe letztes Jahr die Schule abgeschlossen“, antwortete sie deshalb freundlich, „und nun warte ich auf die Zulassung zum Studium. Ich möchte Lehrerin werden und verdiene mir als Verkäuferin, was ich als Studentin zum Leben brauche. Die Wohnung ist billig und da ich früh mit der Arbeit beginne, wohne ich lieber nahe an meinem Laden.“
Der Mann runzelte die Stirn. Er schien nicht zufrieden mit ihrer Antwort und warf der Frau an seiner Seite einen bedeutungsvollen Blick zu. Der jüngere Mann, der ihn genau beobachtet hatte, ergriff das Wort.
„Vater, die jungen Frauen heute sind anders. Sie wollen etwas von der Welt sehen, bevor sie heiraten“, sagte er. „Das kostet Geld und deshalb müssen sie arbeiten. Aber das wird ja nun bald nicht mehr nötig sein.“ Er sah Eugenies Eltern an. „Sie wird alles haben was sie braucht und keine fremden Leute mehr im Laden bedienen müssen.“
Noch immer hatte Eugenie zu diesem Zeitpunkt nicht verstanden. Nicht verstehen wollen, wie sie sich jetzt in ihrem verschlossenen Zimmer eingestand. Eigentlich war an dieser Aussage nichts unklar gewesen, nichts zu deuten, nichts offen. Und doch hatte ihr Verstand sich noch immer geweigert zu sehen, was nicht zu übersehen war.
Der alte Mann und die alte Frau sahen sich an. Die Frau nickte und der Alte fragte den Jüngeren: „So, gefällt sie dir also, mein Sohn?“ Der Angesprochene schaute Eugenie noch einmal prüfend von oben bis unten an, soweit dies überhaupt möglich war, da sie ja alle bei Tisch saßen. Etwas, das an ein Lächeln erinnerte, lief über sein Gesicht und ließ seine verhärteten Züge weicher wirken. Er sah seine Mutter an, dann seinen Vater und nickte.
„So soll es in Allahs Namen sein.“ Der Alte sah Eugenies Vater an. „Nach dem Essen werden wir die Einzelheiten besprechen.“ Dann widmete er sich mit Hingabe einem Stück Fleisch, als ob es weiter nichts zu sagen gäbe.
Noch immer hatte Eugenie nicht verstehen wollen, aber die Angst stieg wieder in ihr auf und als sie ihre Mutter ansah und diese es nicht wagte, die Augen zu erheben und ihr ins Gesicht zu blicken, stieg der erste Verdacht in ihr hoch.
In ihrer Verunsicherung hatte Eugenie kaum gegessen, fast nur getrunken. Ihr Glas war leer. Der Sohn des Alten bemerkte dies und wies seine Mutter an: „Gib deiner Schwiegertochter zu trinken!“
Nun endlich fuhr ein Blitz durch Eugenie. Zuerst erleuchtete er ihren Verstand, der nun nichts mehr missverstehen konnte, so gerne er dies auch wollte.
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Publication Date: 09-04-2023
ISBN: 978-3-7554-5196-9
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