Cover

Vorab

In diesem Buch finden sich Leseproben aus meinen Romanen und zwar immer die ersten Seiten eines Buches. Manchmal ist es das erste Kapitel, manchmal nur ein Teil davon, manchmal auch ein wenig mehr. 

Geschichten können noch so gut sein, wenn man beim Lesen mit der Sprache des Autors oder der Autorin nicht klar kommt, sich nicht damit befreunden kann, dann wird das Lesen anstrengend und man quält sich entweder durch die Seiten oder legt das Buch beiseite und sucht sich etwas anderes. So jedenfalls geht es mir selbst und ich denke, damit bin ich nicht ganz allein. Deshalb sollen diese Textauszüge dabei helfen, schon vor dem Kauf eines Buches festzustellen, ob die Sprache passt, ob die Geschichte verspricht, zu gefallen oder wenigstens interessant und spannend zu werden, denn gefallen ist bei manchen Themen nicht das richtige Wort. Und um solche Themen geht es in meinen Romanen häufig. Nicht immer zwar, aber meist sind gesellschaftliche Entwicklungen, menschliche Schicksale und zwischenmenschliche Probleme zumindest darin verwoben.

"Schwere Themen leicht gelesen" habe ich mir zum Motto gemacht - ob das für Sie / für Dich als lesende Person stimmt, dies herauszufinden dabei können diese ersten Einblicke helfen.

 

„Schwere Themen leicht gelesen“ – unter diesem Motto habe ich in den letzten Jahren sieben Romane für Erwachsene, Jugendliche und Kinder veröffentlicht. Meine Geschichten erzählen von Frauen aus unterschiedlichen Ländern auf der Suche nach einem eigenständigen Leben, von Menschen, die auf der Flucht sind oder abgeschoben werden und davon, wie wir uns zu ihnen verhalten. Es geht um Vielfältigkeit, um Anderssein oder darum wie man Menschen zu den „Anderen“ macht, um Sexismus, Rassismus – um das Leben im Alltag geradeso wie im Ausnahmefall (manchmal nähert sich beides ja auch stark an).

Wer sich für die Bücher interessiert, bekommt diese überall im Buchhandel oder auch direkt bei mir.

 

Sehr gerne komme ich zu Lesungen und ähnlichen öffentlichen Veranstaltungen, sehr gerne auch in Schulen. Genauere Informationen zu meinen Büchern zu den Lesungen und zu mir selbst finden sich auf meiner Homepage http://maria-braig.de

 

Bis hierhin und dann weiter

All Age Roman. 

ca. 230 Seiten

Erschienen im Querverlag Berlin 2022

Als Ebook und als Taschenbuch erhältlich

 

 

 

 

 

 

Klappentext

„Gas geben und los!“, denken Madiha in Deutschland und Ayesha in Pakistan. Ein Roman wie ein Roadmovie – über Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben. Madiha hat viele Widerstände überwunden, um ihren eigenen Weg zu finden und selbstbestimmt durchs Leben zu gehen. Nun ist sie plötzlich in einer lesbischen Gewaltbeziehung gefangen und fragt sich, wie es so weit kommen konnte. Bevor sie sich noch weiter verstricken kann, fasst sie einen spontanen Entschluss, der sie selbst überrascht. Zur gleichen Zeit setzt sich ihre Nichte Ayesha – eine vielversprechende Nachwuchsspielerin in der pakistanischen Cricketnationalmannschaft der Frauen – während eines Auslandsspiels von ihren Mitspielerinnen ab und macht sich auf den Weg zu Madiha, von der sie sich Hilfe erhofft: Ayesha soll angeblich ihre Freundin Shamsha verführt haben und befürchtet nun von ihrer Familie schwerwiegende Konsequenzen bei der Rückkehr nach Pakistan.

 

 

Leseprobe

 

 

1.

 

Madiha öffnete den Kühlschrank, nahm ein frisches Schweineschnitzel aus der bereits geöffneten Vakuumverpackung, füllte ein Glas mit kaltem Wasser aus dem Hahn und ging zurück auf den kleinen Balkon, der zu Kiras Wohnung gehörte.

„Es ist deine Wohnung genauso wie meine“, betonte Kira immer wieder, aber für Madiha war das kleine Apartment auch nach den fast elf Monaten, seit sie zu ihrer Freundin gezogen war, immer noch Kiras Wohnung.

Sie setzte sich auf den Liegestuhl, stellte das Wasserglas auf den kleinen Tisch, der neben der Liege gerade noch Platz auf dem Balkon fand, legte sich dann ächzend auf den Rücken und streckte die Beine weit von sich. Dann platzierte Madiha vorsichtig das rohe Schnitzel auf ihrer Backe, die immer noch heftig brannte und sich geschwollen anfühlte, und genoss die Kühle, die das Fleisch abgab. Es war groß genug, um auch das in Mitleidenschaft gezogene Auge zu bedecken.

Madiha war schon lange nicht mehr gläubig, aber Schweinefleisch verursachte ihr noch immer einen Brechreiz. Kira, die Schweinefleisch liebte, bestand jedoch darauf, dass keine „Extrawürste gebraten wurden“, wie sie das nannte, sondern für beide das Gleiche gekocht und gemeinsam davon gegessen wurde. Sie hatte nie in Erwägung gezogen, sich nach Madihas Geschmack zu richten, und so hieß „das Gleiche“ eben ziemlich oft totes Schwein. Es kostete Madiha jedes Mal die größte Überwindung, davon zu essen, doch für solche Zwecke wie heute eignete sich ein Schweineschnitzel direkt aus dem Kühlschrank bestens. Es war bereits das zweite Stück Fleisch, das sie nun auf ihrer brennenden linken Gesichtshälfte positionierte. Schnitzel Nummer eins lag unbeachtet auf dem Boden neben der Liege.

Madiha hatte bereits Erfahrung auf diesem Gebiet gesammelt, bevor sie Kira kennenlernte, aber dass sich nun alles wiederholen würde, hätte sie bis vor kurzer Zeit völlig ausgeschlossen.

Wie hatte es so weit kommen können?

Es war nun schon das dritte Mal, dass ein Streit so eskaliert war, dass Kira zugeschlagen hatte. Aber so schlimm wie heute war es bisher noch nie gewesen. Kira war völlig ausgerastet, obwohl es zunächst um die gleichen alltäglichen Kleinigkeiten ging wie sonst auch. Madiha, die sehr strukturiert arbeiten konnte, hatte im Alltag wenig Sinn für Ordnung. Sie konnte das weder sich selbst noch anderen erklären, es war einfach so. Sie bemühte sich zwar, konnte es der pingeligen Kira aber trotz aller Anstrengung nicht recht machen.

Heute nun hatte sie ihre Schuhe nicht in den neuen Schuhschrank geräumt, den sie vor wenigen Tagen gemeinsam gekauft hatten, und Kira war, als sie überraschenderweise in der kurzen Mittagspause in die Wohnung stürmte, darüber gestolpert und fast gestürzt. Gewöhnlich aß Kira in der Kantine ihrer Firma zu Mittag und kam erst am Spätnachmittag oder Abend nach Hause. Madiha war gerade im Badezimmer, als sie hörte, wie die Wohnungstür geöffnet wurde und kurz danach ein leichtes Krachen und gleich darauf ein wütender Schrei ertönte. Als sie in den Flur trat, sah sie Kira auf dem Balkon verschwinden, von wo nach wenigen Sekunden ein weiterer Schrei in die Wohnung drang. Kira hatte sich anscheinend, ohne weiter hinzusehen, auf die Liege fallen lassen, auf der ein Krimi lag, in dem Madiha bis kurz vor ihrem Eintreffen gelesen hatte. Die Ecken des Hardcover-Umschlags bohrten sich dabei wohl schmerzhaft in Kiras Rücken, vermutete Madiha, die nun zum Balkon ging, um nachzusehen, was geschehen war. Und es war genauso, wie sie vermutet hatte: Kira stand neben der Liege und hielt vorwurfsvoll das Buch in die Luft. Madiha nahm es ihr ab und legte es auf den kleinen Tisch neben den fast leeren Kaffeebecher.

Dann kam eins zum anderen.

„Kannst du deine Sachen auch mal so wegräumen, dass andere Leute nicht Kopf und Kragen riskieren, wenn sie die Wohnung betreten?“, schimpfte Kira lautstark und stürmte, da sie nun schon einmal von der Liege aufgesprungen war, an Madiha vorbei in die Küche. Anscheinend machte sie sich dort an der Kaffeemaschine zu schaffen. Madiha lehnte an der Balkonbrüstung und wartete ab, was weiter geschehen würde.

„Du hast schon wieder Raki getrunken!“, tönte es kurz darauf missbilligend aus der Küche.

Ach herrje. Madiha atmete tief durch. Sie hatte vergessen, die Flasche zurück in den Kühlschrank zu stellen, nachdem sie sich gestern Abend einen Schluck genehmigt hatte. Dabei trank Madiha nur äußerst selten Alkohol. In ihrer Familie wurde aus religiösen Gründen nicht getrunken und obwohl sie selbst nie besonders gläubig gewesen war, daran hatte auch sie sich lange Zeit gehalten. Erst nachdem sie dort ausgezogen war, hatte sie begonnen, mit verschiedenen alkoholischen Getränken zu experimentieren. Aber sie war nie wirklich auf den Geschmack gekommen und die Erfahrung mit Marvin hatte noch ein Übriges getan. Hin und wieder ließ sie sich zwar eine Flasche Bier, ein Glas Wein oder einen Cocktail schmecken, aber sie war eine Genusstrinkerin und hatte meist sehr schnell genug. Und dann gab es sehr selten noch besondere Situationen wie gestern Abend. Sie war allein zu Hause gewesen, während Kira mit einer Freundin um die Häuser zog. Sie fühlte sich nicht gut und hatte keine Lust gehabt mitzugehen.

Seit Madiha vor wenigen Wochen ihre Arbeit als ungelernte Sekretärin verloren hatte, weil in der Firma wieder einmal Stellen gestrichen worden waren und wer zuletzt gekommen war, eben auch zuerst gehen musste, fand sie nur selten aus ihrem Stimmungstief heraus.

Früher hatte sie ganz allein sämtliche Bürotätigkeiten in der KFZ-Werkstatt ihres Freundes Marvin erledigt. Die Arbeit hatte ihr Spaß gemacht und sie hatte vorgehabt, Betriebswirtschaft zu studieren, um die Werkstatt später weiter ausbauen und zum Erfolg führen zu können. Sie war sogar bereits an der Hochschule eingeschrieben gewesen, als sich plötzlich alles änderte und sie ihre Pläne aufgeben musste.

Es war so einiges schiefgelaufen in ihrem und in Marvins Leben. Zunächst hatten sie geglaubt, alles im Griff zu haben und gemeinsam auch die schweren Zeiten durchstehen zu können. Aber dann mussten sie erst die Werkstatt aufgeben und später zerbrach auch ihre Beziehung. Seither hatte Madiha nirgendwo mehr richtig Fuß gefasst. Sie hatte mal in diesem und mal in jenem Büro gearbeitet, da sie aber über keine Ausbildung verfügte, es nie zu mehr als zur Hilfskraft mit befristetem Vertrag gebracht. Das Studium hatte sie damals zunächst auf Eis gelegt. Da war kein Marvin mehr und keine Autowerkstatt, für die sie das Gelernte hätte nutzen können, und nach allem, was passiert war, glaubte sie, erst einmal Zeit für sich und ihre Beziehung zu Kira zu brauchen. Inzwischen hatte sie die Dreißig schon hinter sich gelassen, wäre also eine alte Frau unter den Studierenden. Das lockte sie auch nicht wirklich. Und wozu überhaupt studieren, wenn sie nicht wusste, was sie damit später anfangen wollte?

Kira hatte gemeint, ihr Verdienst würde auch für zwei reichen, sie solle sich da keine Sorgen machen, aber Madiha konnte sich nicht vorstellen, längere Zeit von einem anderen Menschen abhängig zu sein. Auch nicht von ihrer Lebenspartnerin. Sie war daran gewöhnt, selbständig zu sein und über ihr eigenes Geld zu verfügen. Nur gut, dass sie sich in den letzten Jahren einiges angespart hatte, so stand sie wenigstens finanziell nicht unter Zeitdruck, was die Suche nach einer neuen Arbeit betraf. Dennoch war ihre Laune derzeit nicht die beste, da sich momentan kaum passende Stellenangebote finden ließen, und ihr war am gestrigen Abend deshalb auch nicht nach Ausgehen zumute gewesen. Sie hätte sich gewünscht, Kira wäre zu Hause geblieben und hätte ihr Gesellschaft geleistet, aber die ließ sich nicht von der Idee abbringen auszugehen, ganz egal, ob mit oder ohne ihre Freundin. Da hatte Madiha sich eben mit einem kleinen Raki getröstet, vielleicht waren es auch zwei gewesen. Dummerweise hatte sie dann vergessen, die Flasche in den Schrank zurückzustellen.

Morgens war Kira gewöhnlich im Stress. Sie stand erst auf, wenn es gar nicht mehr anders ging, duschte, kippte einen schnellen Kaffee hinunter und ging zur Arbeit. So war es auch heute gewesen und die Flasche war Kira in der frühmorgendlichen Hektik wohl nicht aufgefallen.

Was bin ich aber auch immer so schusselig, tadelte Madiha sich selbst, doch dann ärgerte sie sich plötzlich darüber, dass sie, wie so oft, wieder einmal die Schuld am Streit mit Kira bei sich suchte. Warum eigentlich sollte sie keinen Raki trinken, wenn ihr danach war?

„Ja und? Du magst ihn doch auch“, antwortete sie deshalb und brachte damit das Fass zum Überlaufen.

„Du verträgst aber keinen Alkohol“, hatte Kira noch einigermaßen ruhig begonnen und dann unvermittelt losgeschrien. „Wenn du trinkst, baggerst du in der Disco alles an, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Das lasse ich nicht zu, verstehst du? Du bist meine Freundin, reicht dir das nicht? Lass gefälligst andere Frauen in Ruhe.“

Daher wehte der Wind. Madiha erinnerte sich schlagartig an diese wirklich etwas zweideutige Situation, als Kira am letzten Samstag in die Toilette der Frauendisco gekommen war und sie mit einer Frau im Arm angetroffen hatte. Dass sie zu viel getrunken hatte an diesem Abend, stimmte allerdings genauso wenig wie die Behauptung, sie hätte gebaggert. Kira hatte beim Anblick der beiden auf dem Absatz kehrtgemacht und war erst am Sonntagabend nach Hause gekommen. Madiha hatte nach ihrer Rückkehr die Sache klären wollen, aber Kira war auf ihre Schilderung der Situation nicht eingegangen. Madiha wusste nicht, ob ihre Freundin überhaupt zugehört hatte, auf jeden Fall hatte sie nicht geantwortet, sondern ließ die Sache, wie sie es gerne tat, einfach in der Luft hängen. Madiha machte das wahnsinnig, aber sie fand keine Möglichkeit, Kira dazu zu bringen, über derartige Unstimmigkeiten ausgiebig zu sprechen und Probleme dadurch zeitnah aus der Welt zu schaffen.

„Ach, Kira, ich habe es dir doch erklärt“, versuchte Madiha die Freundin jetzt zu beruhigen. „Du hast die Situation völlig falsch verstanden. Jenny hatte kurz zuvor ihre Freundin beim Knutschen mit Corinna erwischt und wollte sich bei mir ausheulen. Mehr war da wirklich nicht.“

Als keine Antwort kam, fragte Madiha, die selbst nicht verstand, warum sie heute nicht bereit war, Kiras Vorwürfe, wie sonst auch, einfach auf sich beruhen zu lassen, um weiteren Streit zu vermeiden: „Wo warst du denn überhaupt die ganze Nacht und den Sonntag über? Du bist doch erst am Abend nach Hause gekommen. Bestimmt warst du nicht die ganze Zeit allein. Und irgendwo musst du doch auch geschlafen haben?“ Sie wusste genau, was sie damit auslösen würde.

Ihre Freundin war sofort auf sie losgegangen, Madiha hatte lediglich versucht, sich zu schützen, sie wollte keine Prügelei mit ihrer Liebsten, doch Kira war völlig ausgerastet. So schlimm war es noch nie gewesen. Schließlich hatte sie, laut mit der Tür knallend, die Wohnung verlassen und war zurück zur Arbeit gegangen.

Auch wenn es momentan nicht so gut lief zwischen ihnen beiden, hatte Madiha bisher immer daran geglaubt, dass die Beziehung zwischen ihr und Kira von Dauer wäre und sie einen gemeinsamen Weg finden würden. Sie müsste nur Geduld haben. Aber so wie der Streit heute eskaliert war, fiel es schwer, geduldig zu bleiben. Etwas musste sich ändern, so konnte es auf keinen Fall weitergehen.

Madiha hatte sich schon früh gegen viele Widerstände aus ihrer Familie ein Leben mit ihrer ersten großen Liebe Marvin aufgebaut. Dann war diese Beziehung an den Umständen gescheitert und aus dem zuverlässigen liebevollen Jungen war ein alkohol- und drogenabhängiger Schläger geworden. Es war ihr nichts anderes übriggeblieben, als sich von ihm zu trennen. Wie hatte sie es nur geschafft, sich jetzt wieder in eine so verfahrene Situation zu bringen?

Das Schnitzel war warm geworden. Madiha nahm es vom Gesicht, stand auf, ging in die Küche und beförderte das Stück totes Schwein voller Abscheu in den Mülleimer. Dass ein weiteres neben der Liege auf dem Boden lag, hatte sie völlig vergessen. Sie nahm die Flasche mit Raki aus dem Schrank, goss sich großzügig ein und stellte sie dann zurück. Sie gab zwei Eiswürfel dazu und füllte das Glas mit Wasser auf – das brauchte sie jetzt einfach, auch wenn es noch früh am Nachmittag war. Mit dem Glas in der Hand ging Madiha zurück auf den Balkon, setzte sich auf die Liege und zog die Rückenlehne nach oben, so dass sie fast aufrecht saß. Sie schüttelte das Glas ein paarmal hin und her und lauschte versonnen dem Klirren der Eiswürfel. Dann drückte sie es an die Backe, die sich immer noch ziemlich heiß anfühlte. Das tat gut. Ihre Gedanken schweiften ab. Wie hatte es nur so weit kommen können? Madiha richtete den Blick in die Ferne. Ihre Gedanken verloren sich in der Vergangenheit.

 

Die beiden Mädchen waren allein zu Hause. Wie so oft musste die dreizehnjährige Rihaan auf die sechsjährige Madiha aufpassen, die sich einen Spaß daraus machte, die große Schwester zu ärgern.

„Ich bin nicht deine Mutter! Wie oft soll ich dir das noch sagen?“ Rihaan schien ernsthaft böse zu sein. „Wann kapierst du endlich, dass Ammi deine Mutter ist?“

Madiha konnte sich ein leises Kichern nicht verkneifen, das Rihaan in ihrem Ärger aber überhörte. Es funktionierte einfach zu gut. Sie musste nur dieses „du-bist-meine-Mutter“-Knöpfchen drücken, und schon fuhr Rihaan aus der Haut. Es genügte, wenn Madiha sie mit „Mama“ ansprach. Dabei war doch klar, dass sie längst verstanden hatte, dass Rihaan ihre große Schwester war und Ammi ihre und Rihaans Mutter. Ammi hieß auf Urdu Mama und auch wenn sie gar kein Urdu sprach und verstand, das wusste Madiha genau. Schließlich kam sie noch in diesem Jahr in die Schule. Sie war ein großes Mädchen, aber das hatte Rihaan anscheinend noch nicht bemerkt, und deshalb sollte sie sich ruhig über Madiha ärgern, wenn sie ihr eine solche Dummheit zutraute.

Früher hatte Madiha wirklich eine Weile gedacht, Rihaan wäre ihre Mama, denn Rihaan war es, die sie morgens weckte, die sie in den Kindergarten brachte und von dort wieder abholte. Rihaan kümmerte sich um sie, wenn Madiha krank war und zu Hause im Bett bleiben musste, und Rihaan schimpfte mit ihr, wenn sie zu viel Unsinn machte oder ihr einfach auf die Nerven ging.

Ammi war für Madiha lange Zeit mehr wie eine Tante, die eben auch zur Familie gehörte. Sie ging morgens mit Baba aus dem Haus und kam spätnachmittags allein oder mit Baba zurück. Kaum hatte sie das Haus betreten und sich umgezogen, stand sie auch schon in der Küche und bereitete das Essen für die große Familie zu. Sie kochte so viel, dass Rihaan am anderen Tag mittags für Madiha und Benazir, die schon zur Schule ging, nur noch das Vorgekochte aufwärmen musste. Dann aßen sie alle zusammen zu Abend und schon bald darauf brachte Ammi Madiha ins Bett. Wenn Madiha am Morgen aufwachte, waren Ammi und Baba schon wieder aus dem Haus. Sie nahmen, wenn sie zur Arbeit gingen, den kleinen Babur mit und lieferten ihn unterwegs bei der Großmutter ab, wo er den Tag über blieb.

Rihaan brachte die kleine Schwester auf ihrem Weg zur Schule in den Kindergarten und holte sie dort nach Schulschluss wieder ab.

Aber nun durfte Madiha selbst bald zur Schule gehen und hatte schon längst verstanden, dass Vater und Mutter arbeiten mussten, um die große Familie durchzufüttern, und die älteste Schwester deshalb für die kleinen Geschwister sorgte, während ihre Schulfreundinnen häufig die Nachmittage gemeinsam verbrachten. Oft war Rihaan deshalb sauer und ließ ihren Ärger an Madiha aus, was diese wiederum veranlasste, ihr Spiel mit der großen Schwester zu treiben.

„Du bist eben doch meine Mama“, zeterte sie jetzt und stampfte mit dem Fuß auf. Eigentlich mochte sie Rihaan ja, aber es war einfach zu verlockend, noch eine Weile Macht über sie zu haben.

„Madiha! Lass das! Kleine Mädchen stampfen nicht mit dem Fuß auf. Benimm dich endlich mal, wie es sich für ein Mädchen gehört.“

„Siehst du“, rief Madiha nun fröhlich, „du schimpfst mit mir und sagst mir, wie ich mich benehmen soll. Du bist eben doch meine Mutter.“

Als Rihaan schwieg, verlor Madiha den Spaß an ihrem bösen Spiel. Ganz sicher war sie sich plötzlich auch nicht mehr, wer hier nun eigentlich wen für dumm verkaufte. Hatte sie nicht eben ein Grinsen auf Rihaans Gesicht gesehen oder täuschte sie sich?

Als der Sommer sich dem Ende zuneigte, begann ein neuer Lebensabschnitt für Madiha. Lange und ungeduldig hatte sie darauf gewartet, dass sie endlich zur Schule gehen durfte. Am Tag, bevor es losging, rief ihr Vater sie zu sich.

„Du bist ein kluges Kind, Madiha, das weiß ich“, begann er und Madiha blickte ihn stolz und zufrieden an. „Aber klug sein allein genügt nicht. Du musst lernen, viel lernen, und du wirst immer die Beste sein in der Schule, hast du mich verstanden?“

Madiha nickte eifrig, doch der Ton, in dem der Vater sprach, machte ihr Angst.

„Hast du verstanden, Madiha? Was wirst du sein?“

Die Stimme des Vaters war jetzt laut und drohend.

„Ich werde die Beste in meiner Klasse sein“, antwortete sie mit zittriger Stimme.

„Ich habe dich nicht verstanden. Was wirst du sein? Was wirst du tun?“

„Ich werde viel lernen und die Beste sein in der Schule, Baba, das werde ich bestimmt“, sagte sie jetzt laut und versuchte, mutig und überzeugt zu klingen.

Ihr Vater war nun zufrieden und Madiha lief schnell aus dem Zimmer. Vor der Tür stand Rihaan, die alles mit angehört hatte. Sie nahm die kleine Schwester in den Arm.

„Hab keine Angst, das hat er zu mir auch gesagt, als ich eingeschult wurde. Baba ist traurig, dass er selbst nicht studieren und Ingenieur werden konnte, und nun will er, dass wir das für ihn tun, verstehst du?“

Madiha nickte zögernd und fragte dann: „Warum konnte Baba nicht Ingenieur werden, Rihaan? War er nicht der Beste in seiner Klasse?“

„Quatsch.“ Rihaan lachte, wurde aber schnell wieder ernst. „Lass ihn das nur nicht hören. Baba ging in Pakistan zur Universität und er war dort der Beste. Dann heiratete er Ammi und kam zu ihr nach Bonn, wo wir jetzt alle wohnen. Dann bekamen sie Kinder – uns. Er musste Geld verdienen für uns, für die Familie. Deshalb hatte er keine Zeit mehr, um weiterzustudieren, obwohl er nichts lieber getan hätte. Das macht ihn immer noch traurig und deshalb ist er so streng mit dir.“

„Was ist eine Ufersität?“, fragte Madiha.

„Das hat doch nichts mit Ufer zu tun, du Knallkopf. Universität heißt das und eine Universität ist auch eine Art Schule“, antwortete Rihaan. „Hast du jetzt kapiert?“

Madiha nickte. Armer Baba. Er wollte zur Schule gehen und konnte nicht und sie war schuld. Nicht sie allein, auch ihre Geschwister, aber trotzdem hatte sie jetzt ein schlechtes Gewissen.

„Du bist ein schlaues Mädchen, Madiha“, riss Rihaan die kleine Schwester aus ihren trüben Gedanken, „du wirst sicher gut sein in der Schule. Und wenn du auch einmal nicht die Beste bist, so reißt Baba dir den Kopf schon nicht ab. Er will nur, dass du ihn ernst nimmst.“

„Bist du die Beste in deiner Klasse, Rihaan?“, fragte Madiha und war wieder ein bisschen getröstet.

„Nein, Madiha. Nicht einmal die Zweit- oder Drittbeste. Ich gehörte noch nie zu den Besten und schau mich an: Mein Kopf sitzt doch noch ganz fest, oder nicht?“

Jetzt konnte Madiha schon wieder lachen. „Ja, er wackelt nicht mal“, sagte sie. „Darf ich mal probieren?“

Madiha kletterte auf einen Stuhl und versuchte Rihaans Kopf zu packen, aber die drehte sich weg.

„Du wirst schon wieder frech, pass nur auf, sonst reiße ich ganz persönlich dir den Kopf ab, statt Baba.“

Madiha lief kichernd aus dem Zimmer. Aber dann fiel ihr Baba wieder ein und das schlechte Gewissen kam zurück. Sie würde sehr viel lernen, das nahm sie sich fest vor, und später wollte sie Ingenieurin werden. Für ihren Baba, der wegen ihr und Rihaan und auch wegen den anderen beiden Geschwistern nicht in die Schule gehen durfte.

 

Die trüben Gedanken waren am nächsten Morgen längst verflogen, als Madiha viel zu früh aus dem Bett sprang, weil sie vor Aufregung nicht mehr schlafen konnte. Ihre Mutter hatte heute frei genommen, um mit Madiha zur Einschulungsfeier zu gehen. Sie wollte wenigstens am ersten Schultag selbst mit dabei sein, statt Rihaan zu schicken, die sonst fast alles erledigen musste, was es für die jüngeren Geschwister zu tun gab.

Madiha freute sich sehr darüber, denn Ammi war nur selten für sie da. Ihre Mutter war meistens müde, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, und seit die kleine Channa, Madihas um ein Jahr jüngere Schwester, mit wenigen Wochen morgens tot in ihrem Bettchen gelegen hatte, war sie fast immer traurig und sprach nur noch das Notwendigste. Nicht einmal der kleine Bruder Babur, der ein paar Jahre später zur Welt kam und Babas ganzer Stolz war, konnte Ammi fröhlicher stimmen. Aber das mit dem toten Baby war schon lange her und Madiha wusste das alles nur von Rihaan. Sie selbst konnte sich nicht daran erinnern, wie Ammi früher gewesen war.

Madiha hüpfte an der Hand ihrer Mutter zur Schule und es wurde ein sehr schöner Tag, an den sie sich immer gerne zurückerinnerte.

Bald schon fand sie eine Freundin, die denselben Schulweg hatte. Conny holte sie morgens ab und begleitete Madiha bis zur Haustür. Dann verabschiedeten sich die beiden Mädchen und Conny ging das letzte Stück allein. Sie wohnte mit ihren Eltern in einem Einfamilienhaus in der benachbarten Siedlung. Als Madiha ihre Freundin zum ersten Mal nachmittags besuchen durfte, war sie völlig überwältigt von dem schönen Haus mit dem großen Garten. Conny besaß ein eigenes Zimmer und hinter dem Haus gab es einen Kaninchenstall mit Auslauf. Außer den Eltern gehörte nur noch Fred, der Kater, zur Familie. Geschwister hatte Conny nicht und Madiha war ein bisschen neidisch auf sie. Sie selbst teilte sich mit ihren Schwestern Rihaan und Benazir ein Zimmer. Im Schlafzimmer der Eltern stand das Kinderbett, in dem ihr Bruder Babur schlief, bis er zur Schule kam. Später würde er auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen müssen. Ein Badezimmer besaß die Wohnung nicht, so etwas sah Madiha zum ersten Mal bei Conny. Sie selbst hatten in einer von einem Vorhang verborgenen Nische in der Küche eine Badewanne stehen und in der Toilette gab es ein kleines Waschbecken. In der Wohnung war es immer laut und unordentlich, weil sie viel zu klein war für die große Familie, und Madiha schämte sich, dass sie es nicht so schön hatte wie Conny bei sich zu Hause. Deshalb wollte sie nicht, dass Conny sie besuchen kam.

„Mein Vater erlaubt das nicht“, sagte sie, als Conny fragte, ob sie denn endlich auch einmal Madiha besuchen dürfte. Bald darauf hatte Conny eine andere beste Freundin.

 

Madiha bemühte sich sehr, den Wünschen ihres Babas Safdor zu entsprechen. Sie lernte fleißig und war anfangs auch eine sehr gute Schülerin. Als jedoch Rihaan die Schule abgeschlossen hatte und eine Ausbildung als Bürokauffrau in einem großen Gartenbaubetrieb am anderen Ende der Stadt begann, musste Madiha ihre Pflichten übernehmen. Der kleine Bruder Babur, lang ersehnter Sohn des Vaters – die Mutter hatte sich nur mit Mühe überreden lassen, noch ein weiteres Kind zu bekommen –, war ein kränkliches Kind. Madiha musste oft zu Hause bleiben, wenn er sich wieder einmal irgendetwas eingefangen hatte und hustend und schniefend in seinem Bett liegenblieb, anstatt zur Schule zu gehen. Madiha war sich nie sicher, ob Babur wirklich so krank war, dass er zu Hause bleiben musste, oder ob er sich drückte. Babur ging ungern zur Schule, er lernte schwer, war aber dennoch der Liebling seines Vaters.

„Babur geht es nicht gut“, sagte der Vater oft und meist ohne weitere Erklärung. „Du musst morgen zu Hause bleiben und auf ihn aufpassen, Madiha.“

Anfangs hatte Madiha widersprochen.

„Ich muss doch in die Schule, ich muss viel lernen, Baba. Das hast du selbst gesagt. Benazir kann doch auf Babur aufpassen. Sie ist schließlich älter als ich.“

Aber nachdem Babur einmal vom Esstisch gefallen war und eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen hatte, während Benazir auf ihn aufpassen sollte, war sie von dieser Aufgabe befreit worden.

Madihas Noten wurden schlechter, ihr Vater war deswegen böse, aber Babur ging vor und das Fernbleiben vom Unterricht war für Safdor kein Grund für schlechte Noten.

„Du kannst doch auch zu Hause lernen. Wozu hast du so einen schlauen Kopf, Madiha? Du hast ja nichts zu tun, musst nur da sein, damit Babur nicht allein ist und keinen Unsinn macht“, sagte er jedes Mal, wenn Madihas Noten seinen Erwartungen wieder einmal nicht entsprachen und sie das damit erklärte, dass sie wegen des kleinen Bruders so oft nicht zur Schule gehen konnte.

Aber einfach da sein genügte eben nicht. Babur langweilte sich schnell, Madiha musste ihm vorlesen, mit ihm spielen und natürlich musste sie ihm jeden Wunsch erfüllen. Er war schließlich krank und sich seiner Rolle als einziger Sohn in der Familie schon von klein an bewusst.

Der Vater wollte nichts davon hören, er schimpfte, wenn Madiha sich beklagte, er schrie, wenn sie schlechte Noten nach Hause brachte, und wenn sie widersprach, schlug er sie. Überhaupt neigte Safdor dazu, schnell die Nerven zu verlieren und dann alle, die ihm in die Quere kamen, anzugreifen. Selbst sein Prinz Babur bekam hin und wieder etwas ab und alle litten sehr unter Safdors Jähzorn.

Madiha liebte ihren Vater, aber sie hatte auch große Angst vor ihm. Sie begann nachts zu lernen und Schulaufgaben zu machen, die sie sich von einer Mitschülerin bringen ließ, wenn sie selbst nicht zur Schule gehen konnte, weil Babur wieder einmal krank war. Sie war ständig unausgeschlafen, fühlte sich eingesperrt und unglücklich, aber ihre Noten wurden wieder besser und Safdor war zufrieden mit seiner Tochter.

Als Madiha älter wurde, erkämpfte sie sich einige Freiheiten, weil sie stur sein konnte wie ein junger Esel und schnell lernte, wie sie ihren Vater weichkochen konnte, wenn sie sein kluges kleines Mädchen spielte, obwohl sie sich selbst schon fast erwachsen fühlte.

Es gelang ihr, sich allen religiösen Pflichten und Zwängen zu entziehen. Sie war ja nur ein Mädchen, da musste man es mit der Religion nicht ganz so eng sehen, war Safdors Überzeugung und er ließ sie in Ruhe. Safdor erlaubte Madiha sogar manchmal, mit ihren Freundinnen ins Kino oder ein Eis essen zu gehen, und als sie ihm vorsichtig von einem netten Jungen erzählte, den sie kennengelernt hatte, der dringend ihre Hilfe im Büro seiner Autowerkstatt benötigte, erlaubte er ihr auch das.

„Weißt du, Baba, dabei lerne ich sehr viel, was ich später einmal brauchen kann, und Beziehungen zu einer Autowerkstatt sind doch immer wichtig. Marvin wird dir nur die Materialkosten berechnen, sagt er, wenn Reparaturen nötig werden. Und vielleicht kann Babur, wenn er alt genug ist, sogar einen billigen Roller bekommen.“

„Also gut, aber bevor es dunkel wird, bist du zu Hause, hörst du?“, sagte ihr Vater schließlich nach längerem Zögern.

Madiha nickte wortlos. Sie war zufrieden mit sich selbst, sie hatte es wieder einmal geschafft. Fürs Erste genügte ihr das und alles Weitere würde sich schon finden.

 

Rihaan kam inzwischen fast nur noch zum Schlafen nach Hause. Sie müsse viele Überstunden machen, sagte sie und niemand fragte weiter nach. Kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag stellte sie den Eltern Mick, einen jungen Deutschen, vor, der in ihrem Betrieb gerade die Ausbildung zum Landschaftsgärtner abgeschlossen hatte. Er hielt schon bald bei Safdor förmlich um ihre Hand an. Kurz darauf heirateten die beiden und Rihaan kam gar nicht mehr, sondern zog mit Mick zusammen. Ohne Rihaan fühlte Madiha sich anfangs sehr allein. Mit den beiden anderen Geschwistern verband sie schon lange nichts mehr. Es entging ihr nicht,

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Text: Maria Braig
Cover: Maria Braig
Publication Date: 11-06-2021
ISBN: 978-3-7487-9874-3

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