Im Jahr 1998 waren 218 kurdische Flüchtlinge mit einem Boot in Riace gelandet. Ungefähr 1800 Menschen hatten damals dort im kalabrischen Südzipfel Italiens gewohnt. Arbeitslosigkeit und Probleme mit der Mafia trieben immer mehr junge Menschen weg aus dem Dorf und vielleicht hätte man es eines Tages aufgeben müssen, wären da nicht die Flüchtlinge gewesen und der heutige Bürgermeister, der damals eine grandiose Idee hatte.
Domenico Lucano so hieß der Mann, las Enrique fasziniert, der den wenigen Schülern im Ort Chemie beibringen sollte. Mit einigen anderen gründete er den Verein „Città Futura“, verhandelte mit Behörden und der kalabrischen Regierung und schaffte es irgendwie, eine Sondergenehmigung für die unbürokratische Aufnahme von Flüchtlingen zu bekommen und dazu die nötigen Darlehen, um die ersten Häuser für ihre Unterbringung renovieren zu können. Die Flüchtlinge arbeiteten und lebten im Dorf, mit ihnen nahm das Dorf einen neuen Aufschwung. Die Geschäfte öffneten wieder, die wirtschaftliche Lage besserte sich. Die meisten Flüchtlinge blieben nur vorübergehend, las Enrique, zogen dann nach ein oder zwei Jahren weiter in andere europäische Länder, aber es kamen immer wieder neue nach.
Zwei Wochen war Enrique nun schon in Riace, dem kleinen italienischen Dorf in Kalabrien, ganz unten im Süden des Landes. Fast fühlte er sich hier zu Hause. Jeden Morgen schien unter Garantie die Sonne, das Meer konnte er in wenigen Minuten erreichen und Menschen aus aller Welt mit den unterschiedlichsten Hautfarben, Sprachen und Geschichten im Gepäck füllten die Straßen.
So wollte Enrique leben, das war ihm schon nach wenigen Tagen im Dorf klar. Bunt und laut und doch ganz viel Raum für die Stille, wenn er sie brauchte. Mit Sonne am Himmel und Wärme im Miteinander. Geschäftig und doch nicht so hektisch wie in München.
In Riace zogen fast alle am gleichen Strang. Die alten Einheimischen, die geblieben waren, als die jungen Leute vor Jahren auf der Suche nach Arbeit einer nach dem anderen den Ort verlassen hatten, waren glücklich über das neue Leben im Dorf, das ihnen ermögliche, ihr altes wie geplant bis zum Ende durchzuhalten. Sie saßen vor ihren Häusern und stützten sich auf ihre Stöcke, sie saßen in kleinen Gruppen vor dem Bistro und bliesen Rauchwölkchen in die Luft. Vor ihnen standen kleine Tassen, aus denen sie
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Maria Braig
Publication Date: 10-15-2018
ISBN: 978-3-7438-8378-9
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