Dies ist keine wahre Geschichte, aber auch keine unrealistische, sie könnte durchaus so geschehen sein.
Deshalb sind Ähnlichkeiten mit realen Situationen, Lebensbedingungen und lebenden Menschen
ziemlich wahrscheinlich und auch so gewollt.
"Der Cousin aus dem Iran" ist der erste Teil des Jugendromans "Das heimliche Mädchen und der Dancing Boy", der allerdings für das Gesamtwerk noch einmal gerinfügig überarbeitet wurde (aus Simin wurde beispielsweise Shirin, ...)
Simin war auf dem Weg von der Schule nach Hause. Heute war ein guter Tag gewesen, die Lehrerin hatte sie sehr gelobt, weil sie den besten Aufsatz der Klasse geschrieben hatte. Simin beeilte sich, sie wollte möglichst schnell nach Hause kommen, um den Eltern davon zu berichten. Sie würden sich sehr freuen, das wusste Simin, denn ihnen war wichtig, dass ihre Tochter die Schule besuchte und gut lernte.
„Nur wer eine gute Schulbildung besitzt, kann später über sein Leben selbst bestimmen“, das bekam Simin immer wieder von Vater und Mutter zu hören. Beide hatten noch ein ganz anderes Afghanistan erlebt als sie Kinder waren, als Simin es heute kannte.
Manchmal zweifelte Simin an diesem Lieblingssatz der Eltern, denn schon die Großeltern hatten beide die Hochschule besucht und waren schließlich doch nicht in der Lage gewesen, über ihr Leben zu bestimmen. Simin konnte sich nur schwach an sie erinnern, erst war der Großvater, ein paar Jahre später die Großmutter gestorben. Bis zuletzt hatten sie gehofft, es kämen wieder andere Zeiten und der Großvater, der bei der Regierung in Ungnade gefallen war, könnte zurück an die Hochschule, und die Großmutter könnte wieder als Lehrerin arbeiten und ohne Burka auf die Straße gehen. Aber sie hatten den Wandel nicht mehr erlebt.
Simins Vater hatte ebenfalls studiert, aber als Sohn seines in Ungnade gefallenen Vaters keine entsprechende Stelle bekommen und arbeitete nun mal hier und mal dort, um mit seiner Familie eher schlecht als recht über die Runden zu kommen. Die Mutter war in Zeiten groß geworden, als Mädchen keine öffentlichen Schulen besuchen durften. Im Geheimen hatten Lehrerinnen bei sich zu Hause unterrichtet und dort hatte auch Simins Mutter eine einigermaßen gute Schulbildung bekommen, aber eine Ausbildung hatte sie nicht machen können, geschweige denn ein Studium, und so blieb ihr nur, zu Hause zu lesen und sich mit ihrem Mann über das Gelesene und das, was in der Welt geschah, auszutauschen.
Es war nicht immer so gewesen in Afghanistan. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Männer und Frauen frei lebten, zur Schule gingen, studierten und anschließend in ihren gewählten Berufen arbeiteten, so hatten die Eltern erzählt. Allerdings hatte es immer schon große Unterschiede zwischen dem Leben in den großen Städten und dem auf dem Land gegeben. In den Dörfern in der Umgebung der Städte, erst recht in denen, die weit weg von den großen Zentren oder in den Bergen angesiedelt waren, waren die Menschen meist nicht so gebildet wie in der Stadt und hier hatte es auch immer schon große Unterschiede zwischen den Rechten der Männer und der Frauen gegeben.
Dann hatte es die sowjetische Invasion in Afghanistan gegeben. Soldaten aus der Sowjetunion, einem Land, das es heute gar nicht mehr gab, waren gekommen und hatten die Macht übernommen. Auch in dieser Zeit war nicht alles gut gewesen, denn Krieg bedeutet immer Unrecht und Gewalt und zu leiden haben am meisten die, die an den militärischen Auseinandersetzungen gar nicht beteiligt sind. Aber die sowjetischen Soldaten hatten zumindest versucht, den Menschen auf dem Land Lesen und Schreiben beizubringen und wer es sich leisten konnte, durfte weiterhin eine gute Ausbildung genießen oder studieren. Männer genauso wie Frauen. In den großen Städten galten die Frauen fast so viel wie die Männer. Fast nur – aber immerhin hatten sie viel mehr Möglichkeiten als heute.
Dann kamen die Taliban, unterstützt von den westlichen Feinden der Sowjetunion, deren Ziel es war, mit Hilfe dieser einheimischen Rebellen die sowjetische Armee aus dem Land zu werfen und selbst an Einfluss zu gewinnen. Aber dann hatten die Taliban ihre ausländischen Unterstützer nicht mehr gebraucht und allein die Macht in Afghanistan übernommen Die Sowjets mussten das Land verlassen, es kam zum Bürgerkrieg, den Frauen wurden alle Rechte genommen und nur ganz mutige Familien schickten ihre Töchter in geheime Schulen. Schule gab es laut Gesetz nur für Jungen, die Mädchen und Frauen hatten zu Hause zu bleiben und den Männern zu dienen.
Viele Jahre überdauerte die Herrschaft der Taliban, dann kam der nächste große Krieg, weil das ganze Land dafür bestraft werden sollte, dass ein paar wenige Terroristen, deren Drahtzieher in Afghanistan vermutet wurden, in Nordamerika Anschläge verübt und sehr viele Menschen getötet hatten. Die meisten Menschen in Afghanistan verstanden nicht, was sie damit zu tun hatten, und viele von ihnen kamen in einem Krieg ums Leben, den sie nicht gewollt hatten, der von den Angreifern aber als Befreiungskrieg verkauft wurde. Die Taliban sollten verjagt werden, weil diese angeblich die Hintermänner der Anschläge versteckten, so hieß es. Und die Menschen in Afghanistan sollten von der Unterdrückung durch die Taliban und die Frauen von der Unterdrückung durch die Männer und von der alltäglichen Ungerechtigkeit befreit werden. Das alles war schwer zu verstehen, fand Simin. Sie sollten zugleich bestraft und befreit werden, und viele starben, obwohl sie nie jemanden etwas zuleide getan hatten. Aber das waren Erwachsenendinge, die musste sie schließlich auch nicht verstehen. Sie musste nur versuchen, zu überleben.
Da die Menschen in Afghanistan nichts gegen die Bomben und Minen und die Angriffe der fremden Soldaten tun konnten, hatten sie versucht, an die Befreiung zu glauben und viele, die die besseren Zeiten noch erlebt oder deren Eltern ihnen davon erzählt hatten, hatten sich erhofft, dass nun wenigstens bald alles wieder so sein würde, wie in den guten Zeiten Afghanistans. Leider war das so nicht eingetroffen. Viele Warlords (Kriegsherren, die über einzelne Regionen herrschen) hatten zwar die Seiten gewechselt, nicht aber ihr Verhalten. Sie unterstützten nun zwar nicht mehr die Taliban, sondern standen auf Seiten der westlichen „Befreier“, ansonsten hatte sich aber nichts verändert. Die Warlords besaßen weiterhin die Macht und nutzten dies gründlich aus, und manche abgelegenen Gegenden wurden sogar nach wie vor von den Taliban beherrscht.
Allerdings war es den Mädchen jetzt wieder erlaubt, öffentliche Schulen zu besuchen – wenn die Familien sich das leisten konnten und wenn es die Umstände und die Eltern und Großeltern erlaubten und die Taliban, die es in manchen Regionen des Landes immer noch gab, fern waren. Bei Simin war das der Fall, und sie freute sich darüber.
Simin ging gern zur Schule. Sie lernte gerne und mochte es, nicht immer zu Hause sitzen, sondern sich mit anderen Mädchen zu treffen, mit ihnen zu lernen und zu spielen. Bald wäre sie alt genug, um die Burka tragen zu müssen, wenn sie das Haus verließ. Das war zwar nicht mehr Vorschrift wie früher, aber ihre Mutter würde sie aus Sorge um die Sicherheit der Tochter nicht ohne aus dem Haus lassen, wenn ihr Körper erst einmal die äußerlichen Anzeichen einer Frau entwickelte. Immer noch liefen Frauen ohne Burka Gefahr, von Männern angegriffen und belästigt zu werden. Viele Männer wollten nicht einsehen, dass Frauen gleiche Rechte haben sollten wie sie selbst, nur weil jetzt andere Regeln galten, die sie nicht selbst gemacht hatten, sondern die ihnen durch einen Krieg von außen aufgezwungen wurden. Mit Gewalt sollte ihnen klar gemacht werden, dass sie keine Gewalt gegenüber Frauen ausüben durften, so erlebten sie den Wandel in der Gesellschaft und viele wehrten sich dagegen, und Frauen ohne Burka lebten weiterhin in ständiger Gefahr. Simin war wild entschlossen, die Zeit ohne Burka so lange wie möglich zu genießen, aber sie würde auch mit ihr zur Schule gehen, wenn es eben nicht anders ging, das stand für sie fest.
Der Schulweg war weit. Simin musste früh morgens aus dem Dorf, in dem ihre Familie lebte, in die nächste Stadt laufen und am Nachmittag wieder zurück. Aber nun hatte sie es bald geschafft, Simin sah schon die Dächer des Dorfes in der Sonne funkeln. Irgendetwas war komisch, so schien es ihr, als sie sich dem Haus näherte, in dem sie zusammen mit Vater und Mutter und den beiden kleinen Schwestern lebte. Eigentlich sah alles aus wie immer, aber doch lag etwas Beunruhigendes in der Luft. Als Simin die Haustür öffnete, hörte sie ihre Mutter weinen und die Tante beruhigend auf sie einreden. Simin erschrak. Die Tante wohnte nicht im selben Dorf und kam nur ganz selten zu Besuch.
Als sie ins Zimmer trat, fiel ihr Blick zuerst auf die beiden kleinen Mädchen, die still und mit großen Augen in der Ecke auf dem Teppich saßen. Ihre kleinen Schwestern tobten sonst fast ohne Unterbrechung im Haus herum, bis ein Machtwort der Eltern sie an die Luft beförderte. Dann machten sie ihrer anscheinend grenzenlosen Energie im Freien Luft. Die beiden so still und regungslos zu sehen, jagte Simin einen riesigen Schrecken ein.
„Was ist los?“, fragte sie, aber die beiden saßen nur stumm da und starrten Simin mit angstvollen Augen an. Dann fiel Simins Blick auf die Mutter, die auf ihrer Schlafmatte lag und abwechslungsweise vor sich hin schluchzte oder laut jammerte und schrie.
„Mutter“, wollte Simin rufen, aber die Stimme versagte ihr. Dennoch hatte die Tante, die neben der Mutter am Boden kniete, sie wohl gehört. Vielleicht hatte sie auch nur gespürt, dass sich die Atmosphäre im Raum verändert hatte. Sie drehte sich um, sah Simin und erhob sich.
„Simin“, sagte sie ernst und leise und ging auf das Mädchen zu, um es in den Arm zu nehmen. Aber Simin trat einen Schritt zurück.
„Was ist passiert?“, fragte sie leise. „Wo ist Vater?“
„Du musst jetzt sehr stark sein“, sagte die Tante und Simin hätte sie am liebsten dafür geschlagen. Diesen Satz kannte sie aus Büchern und Geschichte und fand ihn schon da unmöglich – jetzt konnte sie das einfach nicht ertragen.
„Was ist los? Wo ist Vater?“, schrie sie nun lauthals, so dass sogar die Mutter auf ihrer Schlafmatte für kurze Zeit verstummte und den Kopf hob. Die Tante setze sich auf eines der Sitzkissen, die auf dem Boden lagen und zog Simin zu sich herunter.
„Dein Vater hatte heute einen Auftrag beim Minenräumen. Du weißt, dass er das manchmal macht, um genug Geld für euch alle zu verdienen. In der Autowerkstatt gibt es ja nur selten Arbeit für ihn.“
„Was ist mit
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Publication Date: 10-05-2016
ISBN: 978-3-7396-7719-4
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