Ich beginne zu erzählen am 10. Oktober. Es war ein Sonntag. Wie immer am Sonntag ging ich am morgen joggen. Gegen meinen Willen (Ich hasse Sport!). Aber es musste sein, denn sonst war ich zu selten an der frischen Luft. Außerdem musste ich wegen meinen Atemproblemen (dazu komme ich später noch) etwas an Bewegung betreiben. Ich rannte immer die gleiche Runde. Zur Musikschule, wo ich am Dienstag Klavierunterricht hatte, dann über die Wiesenwege zurück. Es war gerade mal eine halbe Stunde, allerdings war mehr nicht möglich.
Fix und fertig hüpfte ich die Stufen zu meiner Haustür nach oben. Ich wohnte in einem kleinen Dorf und so gut wie jeder lebte hier in einem Einfamilienhaus, ich also auch. Zur Stadt fuhr man etwa eine halbe Stunde mit dem Bus, oder wenn man Lust hatte mit dem Fahrrad. In der Stadt war auch meine Schule.
Schwer atmend drückte ich die Klingel. Es dauerte eine ganze Weile bis mein großer Bruder Levi aufmachte. Er trug nur eine Shorts und seine dunkelbraunen Haare waren zersaust (also war er direkt aus dem Bett gekommen).
"Hast du keinen Schlüssel dabei", regte er sich auf "he ich war noch am schlafen."
Ich grinste entschuldigend. "Sorry, hatte vergessen, dass Papa und Mama in Hamburg sind." Ich trat ein und streifte meine Schuhe ab. "Gott, ich bin tot", seufzte ich.
"Riecht man", mein Bruder schnüffelte.
"Sorryyy" ich kicherte.
"Ich geh wieder schlafen", Levi gähnte ausgiebig und lief zur Treppe. Ich eilte in die Küche um etwas zu trinken. Ich füllte ein großes Glas mit Wasser. "Und Juli", rief er dann.
"Jaaa?"
"Komm mal her", befahl er, und ich gehorsamte (wie sehr selten) und lief zu ihm. "Was ist?", ich trank mit großen Schlücken mein Glas leer.
"Lass mich bitte bis Mittag in Ruhe okay?"
Fragend sah ich ihn an, dann verstand ich. "Achsooo Evelin ist ja da", ich lachte leicht "ihr wollt natürlich allein sein und bestimmte Dinge erledigen."
"Sei nicht kindisch", mein Bruder sah mich vorwurfsvoll an "immerhin bist du 17."
Ich warf meinen Kopf in den Nacken. "Oh tut mir Leid, wenn man alt wird darf man keinen Scherz mehr machen", entschuldigte ich mich sarkastisch. "Nein, ist ja in Ordnung, ich lass euch allein."
"Danke Juli."
Nachdem ich geduscht hatte, ging ich in mein Zimmer um mich anzuziehen. Schwarze Socken, schwarze Leggins, schwarzer Pulli. 80% meines Kleiderschrankes bestand aus schwarzen Klamotten. Das, was farbig war, hatte ich nur gekauft für irgendeinen bestimmten Anlass. Unzufrieden betrachtete ich meine ungeschminkten Augen im Spiegel. Am Wochenende schminkte ich mich nie. Das hatte ich meinen Eltern versprochen. (Du bist ungeschminkt am schönsten, diese Aussage kennt doch fast jedes Mädchen). Diese lieben Eltern.
Unter der Woche, also wenn ich in die Schule ging, schminkte ich mich stark. Ich zog einen Lidstrich und danach tat ich jede Menge dunklen Lidschatten auf meine Lider. Meine Wimpern überzog ich mit über 8 Mascaras, sodass sie am Schluss etwa drei mal so lang waren wie die Naturwimpern. Aber diesen Ruf hatte ich auch in der Schule. Die, mit den unglaublich langen Wimpern. Ich sah nicht länger in den Spiegel, kämmte meine dunkelbraunen Haare und sprang die Treppe hinunter, um etwas zu frühstücken.
Jetzt zu meinen Atemproblemen. Ich war unfähig, eine Treppe hinunter zu laufen, ohne unten angekommen keine Luft mehr zu bekommen. Nach oben war es noch schlimmer. Das Joggen ging komischerweise schon. Aber ich war deswegen schon beim Arzt gewesen und der hatte mir empfohlen, mehr Sport zu betreiben. Das tat ich, allerdings war es nicht viel besser geworden. Aber was solls, wirklich stören tat es mich nicht. Außer beim Küssen, da nervte es total. Nicht, dass ich oft küsste, aber...
Ich hatte nie eine lange, funktionierende Beziehung gehabt. Die längste hatte ein paar Wochen gehalten. Es war ein Arschloch gewesen. Ihm war es zu anstrengend gewesen, mit mir zusammen zu sein, obwohl ich wirklich kein anstrengender Mensch war. Ich meine ja, natürlich hatte ich Momente, wo ich die Drama Queen spielen musste, aber das war dann auf keinen Fall oft und wenn, dann war es auch nicht so schlimm und schnell wieder vergessen (ich hoffe, ich rede nicht zu gut über ich selbst, es kann gut sein, dass ich sehr wohl manchmal ausraste).
Aber gut, dieses "Vorbei" mit meinem Ex-Freund, hatte ich also auch ziemlich gut verkraftet und schließlich einfach vergessen. Also, genug über mich selbst. Ich schaute auf die Uhr. Halb zwölf schon. Ich beschloss, so lieb wie ich war, Frühstück für Levi und Evelin zu machen, da mir gerade nichts besseres einfiel. Danach erstellte ich eine To-Do Liste, wie jeden Sonntag. Hausaufgaben. Hmmm. Ich kaute auf dem Kulli herum. In dem Moment klingelte mein Handy. Noah, mein aller aller bester Freund.
"Morgeeen", begrüßte ich ihn ausgiebig.
"Alles klar?", fragte er sofort. Noah erkundigte sich immer danach wie es einem ging. Also, unübertrieben jede halbe Stunde.
"Ja, bei dir?"
"Klar", lachte er.
Noah war seit Ewigkeiten mein bester Freund, doch jedes Mal, wenn ich ihn lachen hörte, wurde mir warm ums Herz. Gut, ich muss zugeben, ich war schon ein bisschen verliebt in ihn, aber ich wusste, dass er nichts von mir wollte, darum hatte ich es ihm auch nie gesagt.
"Du Juli, hast du heute noch was vor oder hast du Zeit?"
"Ich hab Zeit", antwortete ich sofort. "Für dich doch immer."
"Sollen wir gemeinsam Französisch lernen?"
Ich nickte heftig. "Gute Idee, kommst du her?"
"Ja, bin gleich da", wir legten auf.
Noah war im Vergleich zu mir nicht gut in Sprachen, deswegen lernten wir immer zusammen. Er wohnte nur ein paar Straßen weiter und klingelte innerhalb von 5 Minuten.
"Oh nein, du bist ungeschminkt", war sein erster Satz, als ich die Tür öffnete. ich schlug nach ihm.
"Hey, ich freu mich auch dich zu sehen."
"Alles klar?", da war wieder seine Frage.
Ich schmunzelte. "Immer."
"Immer?"
"Oh ja", wir lachten und gingen in mein Zimmer.
"Also, wie ich sehe, warst du wieder joggen", Noah hielt meinen Sport BH in die Höhe, den er auf dem Bett gefunden hatte.
"Natürlich", ich nahm ihm den BH weg und schmiss ihn in den Wäschekorb. "Wie immer am Sonntag, geht immer besser.
Noah lachte. "Juli, wieso gehst du bitte joggen? Du brauchst das doch gar nicht", er sah an meinem Körper herab.
"Ich mach es auch nicht für meinen Körper, sondern gegen meine scheiss Atemprobleme", entgegnete ich vorwurfsvoll. Meine Figur war ganz ok. Ich war gerade mal 1, 58 groß, das störte mich aber null. Eigentlich war ich genau das Gegenteil von Noah. Er war groß, etwa 1,92 glaube ich, und dünn. Nicht zu dünn, aber dünn. Ich hatte eher eine kurvige Figur.
"Hat es schon geholfen?", fragte Noah. Ich hockte mich aufs Bett neben ihn.
"Nein", gab ich zu "ich kann immer noch nicht atmen."
"Ach , du brauchst nur etwas Übung", er beugte sich grinsend zu mir.
Ich grinste zurück und lehnte mich ebenfalls zu ihm.
"Oh ja", lachte er, legte seine Hand auf meine Wange und hob mein Gesicht ein wenig.
Solche Sachen machten wir dauernd. Wir hatten uns auch schon oft in der Öffentlichkeit als Paar vorgegeben. Aber das tat man doch als beste Freunde oder? Leider hatte ich mich einmal bei so einer Aktion kopfüber in ihn verliebt. Es war wegen einem Mädchen gewesen, was hinter Noah hergewesen war, und er sie loswerden wollte. Und ich weiß nicht mehr wieso, aber ich hatte plötzlich etwas in Noah gesehen, was mich völlig verrückt nach ihm gemacht hatte. Inzwischen wusste ich gar nicht mehr was genau. Ich kümmerte mich gar nicht mehr darum und zeigte es auch nicht, das könnte unsere Freundschaft zerstören. Ich muss zugeben, ich hatte Noah von Anfang an mehr gemocht als nur freundschaftlich, aber was solls, war mir doch egal.
Wir lachten und ich informierte ihn, nachdem er fegraft hatte, über meine Joggingrunde. "Und was hast du heute schon so getrieben? Es ist immerhin halb eins..." Er fing an aufzulisten. Eigentlich war Noag überhaupt kein Frühaufsteher, doch ausnahmsweise war er heute einmal schon vor 12 fit gewesen.
"Wow, du hast die Wäsche gemacht", staunte ich "und sogar die Spülmaschine", fügte ich ironisch hinzu. Noah lachte verächtlich.
"Oh, weißt du wer angerufen hat?", fragte er dann. "Wer?"
"Viki, wegen der Party am Mittwoch."
"Mittwoch? Und was für eine Party?", fragte ich verwirrt, weil Noah so tat als ob ich schon Bescheid wusste.
"Ja Mittwoch, Donnerstag haben wir frei, schon vergessen?"
"Achso... Ja hatte ich vergessen."
"Du kennst ja Viki, aus unserer alten Parallelklasse, die hat Schule gewechelt. Und sie feiert am Mittwoch ihren 18ten. Und ich glaub die ladet die halbe Schule ein."
"Ach jaaaa", jetzt fiel es mir ein "das war die Beliebte mit ihren tausend Freunden oder? Aber die hat doch Freitag gesagt, nicht Mittwoch."
"Ja", gab Noah zu "aber deswegen hat sie angerufen, sie hat am Freitag jetzt doch etwas anderes zu tun, keine Ahnung."
Ich rümpfte die Nase. "Wer hat am Freitag bitte was besseres zu tun als Party?"
Noah grinste. "Ist wirklich fraglich."
Den Rest des Nachmittags lernten wir Französisch, was echt anstrengend war. Gegen 6 ging Noah. "Bis morgen, und lies dir die Vokabeln nochmal durch", erinnerte ich ihn.
"Als ob ich sie immer noch nicht kann."
"Ich prüf dich morgen nochmal", ich lächelte verschmitzt.
"Okay Chef", Noah winkte und schloss die Tür hinter sich.
"Was willst du essen", fragte Levi, als ich ins Wohnzimmer kam.
"Wow, du kochst?"
"Nein, hab nur gefragt was du essen willst", mein Bruder schaltete den Fernseher ein.
Fußball, was sonst. Levi war 19 und spielte seit er 6 war Fußball. Dementsprechend war auch richtig gut, doch beruflich wollte er das nicht, obwohl er es könnte. Nein, er wollte wenn er mit der Schule fertig war (er wiederholte gerade das letzte Jahr) Wirtschaft studieren. Unverständlich, meiner Meinung nach.
"Wer spielt?", ich ließ mich neben ihm aufs Sofa fallen.
"Real Madrid Ajax..."
"Amsterdam?", ich leuchtete ihn an. "Wir sind für Holland oder?"
Levi legte seine Hand auf meinen Oberschenkel und kniff hinein. Ich quietschte auf. "Mann Levi", ich stand auf und lief in Küche
"Mach was zu essen... Oder, hey Juli", er drehte sich zu mir "geh Asiatisch holen."
"Ha ha ha", ich sah ihn ungläubig an. Levi stand ebenfalls auf und trat zu mir.
"Bitteeee, dann bist du die beste Schwester der Welt", Levi hatte die Stimme aufgesetzt, die er nur benutzte, wenn es sich wirklich um einen Notfall handelte, und dabei handelte es sich bei Levi meist um Essen.
"Ich weiß, aber dann muss ich Fahrrad fahren...", ich sah ihn gequält an.
"Du bist doch seit Neuenstem so sportlich", lachte mein Bruder.
"Nicht am Abend, sorry", ich zuckte gespielt entschuldigend die Schultern.
"Ach komm schon Juli, du hast doch auch Hunger."
"Okay", seufzte ich und Levi fiel mir um den Hals "aber du kommst mit", grinste ich.
Levi war schlussendlich wirklich mitgekommen. Beim Asiaten war es natürlich überfüllt, wie immer um diese Zeit. "Muss das sein", sagte ich genervt und wandte mich an Levi, der mir allerdings gar nicht zugehört hatte. Er schien jemanden drinnen gesehen zu haben und kommunizierte sprachlos mit der Person. Suchend spähte ich durch die Scheiben.
"Hey", ergriff mein Bruder plötzlich das Wort "Nico ist auch da, gehen wir rein?"
Nico. Oh mann. Der absolut beste Freund meines Bruders, mit Levi sitzen geblieben, ebenfalls Fußballer und schrecklich gutaussehend. Nur war da sein Charakter, was ihn doch ein wenig von Levi unterschied. Nico war einer der eingebildetsten Menschen die ich kannte. Er redete nur über sich selbst, ja, das einzige Wort was er verwendete war "Ich". Okay, so schlimm wars nicht, aber Nico war auf keinen Fall jemand, den ich unter meinen Lieblingsmenschen zählte.
Ich folgte Levi ins Restaurant, was gleichzeitig ein To-Go war. Nico hatte bis jetzt an einem Tisch mit hauptsächlich Mädchen gesessen und gesellte sich nun zu uns in die Warteschlange. Er schlug bie Levi ein und sah dann mich an. Kurz zu seinem Aussehen. Schön, wie ich schon sagte. Nico hatte kurzgeschnittene, hellbraune Haare und grüne Augen. Seine Augen war echt krass. Ich hatte noch nie solche grünen Augen gesehen, bevor ich Nico kennengelernt hatte. Sie hatten dieses grün, was man sonst nur in Disneyfilmen sah. Die hohen Wangenknochen machten sein Gesicht wundervoll. Was jetzt noch zum perfekten Mann fehlte, war der gutgebaute Körper, aber den hatte er natürlich auch.
"Hey Juli", begrüßte er mich.
"Hi", ich lächelte kurz.
Dieser Blick mit dem er mich ansah. Aber keine Sorge, so schaute er jedes Mädchen an, was nicht gerade potthässlich war in seinen Augen. Und ich war ungeschminkt, und das war meiner Meinung nach ja nicht der schönste Anblick. Nico war in meinen Augen auch eher eine Schlampe als nur ein Player. Er hatte noch nie eine Beziehung gehabt, die länger als zwei Monate gedauert hatte. Ich wollte gar nicht wissen, für wieviele gebrochene Herzen er noch verantwortlich war.
Ich trennte unsere Blicke, indem ich mich an Levi wandte. "Was wirst du bestellen?"
"Keine Ahnung, ich entscheide mich vorne, wieso?"
Ich zuckte die Schulter. "Wenn ich bestelle kannst du dich zu deinen Freunden setzen."
Nico grinste. "Oh Juli, mir gefällts hier aber auch ganz gut."
Levi lachte und legte einen Arm um mich. "Erst willst du unbedingt, dass ich mitkomme, und dann kommst du mit so einem Vorschlag", an Nico gewandt fuhr er fort "sie wäre sonst ganz allein hier gestanden."
Nico sah mich mit gehobener Augenbraue an. "Dann hätte ich gar nicht gewusst, wie ich sie richtig hätte ansprechen sollen."
Ich wurde rot und blickte zu Boden, um meine erhitztes Gesicht zu verstecken. Nico prustete los und umarmte mich, als wäre es das normalste der Welt. Mein Gesicht lehnte einige Sekunden lang gegen seine harte Brust. Ein kurzes Feuer schoss durch meinen gesamten Körper.
"Ach Süße, das war doch nur ein Scherz", er strich mit seiner Hand über meine heiße Wange. Ich starrte auf seine vollen Lippen. Sorry, aber kein Mädchen hätte in diesem Moment etwas anderes getan.
"Jetzt lass meine arme Schwester in Ruhe", Levi schlug lachend Nicos Arme von mir weg.
Dieser lachte noch eine Weile, ließ mich schließlich aber los. Dabei fing ich einige eifersüchtige Blicke von den Mädchen, die bei Nico am Tisch saßen ein. Schnell drehte ich mich weg.
"He, die eine Viki hat mich eingeladen für Mittwoch, dich auch?", fragte Levi Nico. Ich fragte mich, woher Viki die zwei kannte, aber anscheinend hatte sie sogar ihre Kontakte zwei Jahre über ihr.
"Ja mann, gehst du hin?"
Mein Bruder legte den Kopf zur Seite. "Schon geil, da kommen sicher soviele Leute, und Alkohol."
"Ich hatte mal was mit der, hab wenig Bock auf Drama..."
Natürlich, dachte ich, wieso auch nicht?
"Aber sie ist gut", stellte Nico mit einem belustigten Blick auf mich fest. Levi und er lachte wieder los. Ich sah genervt weg. Oh mann, und das war mein Bruder, echt peinlich. Immerhin war er zwei Jahre älter als ich. Ich sog scharf die Luft ein, um die beiden auf mich aufmerksam zu machen. Nico bemerkte es, aber stoppte seinen Lachflash erst nach einer gefühlten Ewigkeit.
"Okay okay Juli, wir hören schon auf", er schlug Levi auf die Schulter "also, ich geh dann mal, bis morgen Mann."
Kurz sah er mich an und hob im Umdrehen noch die Hand. "Ciao Juli", er grinste. Ich nickte nur kurz.
Ich war überglücklich, als wieder draußen standen. Die zwei Plastiktüten hing ich an Levis Lenkrad. "Wir sind solche Umweltverschmutzer", ich warf einen abwertenden Blick auf die Tüten. "Wir hätten locker alles in eine tun können. Oder Fahrradtaschen, oder wir hätten auch einen Rucksack mitnehmen können."
"Juli, chill mal", regte sich Levi auf. "Weißt du eigentlich wieviel du verschmutzt mit all deinen Schminkdöschen und Verpackungen?"
"Das ist aber nötig, die Tüten nicht", widersprach ich. Mir war die Umwelt wirklich wichtig. All die Tiere, der Regenwald, vorallem der Nordpol. Dort waren meine Lieblingstiere. Und ich mochte die Kälte. Mein Traum war es, mal zum Nordpol zu reisen und die Polarlichter zu sehen. Jeden Monat spendete ich 20€ an WWF, für Umweltschutz. Das Geld bekam ich bei meinem Nachmittagsjob im Café neben der Schule.
"Das ist überhaupt nicht notwendig", gab mein Bruder zurück, als er sich auf sein Rad schwang.
"Du verstehst das sowieso nicht", murmelte ich, als wir uns auf den Heimweg machten.
"Ich geh mal schlafen", gähnte ich und erhob mich vom Sofa, wo Levi und ich den ganzen Abend gegessen und Film geschaut hatten.
"Es ist gerade mal halb elf", beschwerte Levi sich.
"Ja, aber ich muss mich zuerst ausziehen", ich grinste und zählte weiter auf "dann duschen, Pyjama, Zähne putzen, Vokabeln nochmal..."
"Okay okay, du kannst gehen", unterbrach mich mein Bruder abwehrend.
"Gute Naaacht", sagte ich ausgiebig. Levi warf mir einen Kussmund zu.
Nachdem ich alles getan hatte, was auf meinem alltäglichen Abendprogramm gestanden hatte, ließ ich mich müde ins Bett fallen und kroch unter die Decke. Für Mitte Oktober war es erschreckend kalt draußen. Vorallem in der Nacht. Aber ich liebte die Kälte. Ich liebte es, wenn mir kalt war, wenn ich mich in so viel wie möglich Kleidungsstücke reinstecken konnte. Winter war für mich ein Traum, Sommer hingegen die Hölle.
Ich schaute auf mein Handy, was ich seit dem Essen holen nicht mehr angerührt hatte. Jede Menge Nachrichten in der Klassengruppe und natürlich von Noah. Ich öffnete den Chat. Er hatte mir über 20 Nachrichten geschickt wie "Vokabeln?", "Noch am Leben?", "Juliiiii", "???!!!" und so weiter...
"Sorry, hatte mein Handy vergessen, hihi", schrieb ich grinsend zurück.
In der Klassengruppe hatte man sich nur über Tests ausgetauscht und es war wie immer auch jede Menge Unnötiges dabei. Ich las die Nachrichten gar nicht mehr, außer wenn ich etwas brauchte.
"Vergessen?", kam Noahs Nachricht.
"Erzähl ich dir morgen, ich geh jetzt schlafen", antwortete ich und schaltete mein Handy aus. Sobald ich die Augen geschlossen hatte, schlief ich ein.
"Juli", ein dauerndes Rufen meines Namens holte mich aus dem Tiefschlaf. "Juli!", es klopfte an meiner Zimmertür. "Nimmst du dir heute frei?", die Stimme meines Bruders dröhnte auf dem Gang.
Ich presste mein Gesicht ins Kissen, dann streckte ich mich ausgiebig. "Wie spät ist es denn", murmelte ich verschlafen. Ich blinzelte und sah auf die Uhr. Oh nein. Verschlafen. Aber, ich lächelte, kein Grund zum Stress, meine Eltern waren eh nicht da. Ich stand auf und trödelte ins Bad. Auf dem Gang stand immer noch Levi.
"Hast du die erste Stunde frei?", erkundigte er sich.
Ich schüttelte den Kopf. "Nö, hab verpennt", muffelte ich "danke fürs Wecken, hätte sonst gern länger geschlafen", fügte ich ironisch hinzu.
"Beeil dich lieber als mich hier blöd anzumachen Schwesterchen", mein Bruder tippte mir auf die Nasenspitze.
Sicher nicht, dachte ich. Das muss ich noch sagen. Ich war ein sehr unpünktliche Person. Es gab kaum Tage, wo ich rechtzeitig in die Schule kam. Der Grund dafür war ganz einfach. Ich nahm den Bus, der wegen dem Stau am morgen nie pünktlich war, aber ich hatte keine Lust den früheren zu nehmen. Ich dieser Zeit machte ich lieber etwas Nützliches. Frühstücken zum Beispiel. So wie jetzt. Ich saß gegenüber meinem Bruder am Tisch, neben mir mein Französischbuch. Ich hatte mich in einer Windeseile geschminkt. Windeseile hieß bei mir aber nicht unglaublick stressig. Ich war nur einfach ein wenig schneller wie normal. War mir auch egal wenn ich den Bus verpassen würde. Ich hatte sowieso nur Englisch, und Englisch fiel mir leicht.
"Du arbeitest heute oder?", Levi sah mich fragend an.
Ich nickte. "Ja, ich bin gegen halb sieben daheim."
"Alles klar, ich dachte, ich mach heute Pizza."
Ich strahlte ihn an. "Jaaaa bitte!"
"Oke oke, und jetzt geh", er warf einen Blick auf die Uhr.
"Musst du nicht in die Schule?", fragte ich, während ich eilig meinen Teller in die Spüle stellte.
"Nö, ich hab erste Stunde frei", er grinste mich an.
"Hä, wieso bist du dann aufgestanden?"
"Na ohne mich würdest du jetzt immer noch schlafen", lachte Levi. "Nein, ich konnte irgendwie nicht so gut schlafen", er zuckte die Schultern.
Ich nickte verständnisvoll. "Achso, na dann", ich winkte und eilte in mein Zimmer.
Es regnete. Was zieh ich an? Ich sah bedenklich in meinen Schrank. Hautenge schwarze Jeans. Schwarzer Pulli, ich krempelte die Ärmel nach oben. Schwarze Regenjacke und natürlich meine weinroten Docks. Eilig stopfte ich all die Schulsachen in meine Tasche und rannte runter.
"Viel Spaß in der Schule", wünschte mir mein Bruder ironisch.
"Bis am Abend", rief ich, bevor ich die Tür hinter mir zuzog. Ich rannte los. Sogar für den späten Bus war ich zu spät.
Schließlich betrat ich fünf Minuten nach Schulanfang meinen Klassenraum. "Sorry", entschuldigte ich mich, als meine Englischlehrerin mich mit gehobener Augenbraue ansah. Sie hasste es wenn ich das Sorry mit einem absichtlich deutschen Akzent aussprach, denn sie wusste, dass ich sehr gut in der englischen Aussprache war.
"Juli, why are you late?", erkundigte sie sich.
"Bus", sagte ich nur.
"This is the last time", ermahnte sie mich.
"Jaja", murmelte ich und ließ mich hinten in der Klasse auf meinen Stuhl fallen. Noah lächelte mich an. "Morgen."
"Morgen", muffelte ich.
"Alles klar?", fragte er wie immer.
"Schon ja."
"Ich hab dir geschrieben, aber ich glaub du hast es nicht gelesen..."
Ich blickte ihn kurz an. "Sorry, war total im Stress."
Noah lehnte sich lässig zurück. "Ach, kein Problem, war nicht so wichtig."
Kurz betrachtete ich meinen besten Freund. Seine dunkelbraunen Locken fielen in seine Stirn. Es sah so unglaublich gut aus. Manchmal tat es echt weh seine beste Freundin zu sein. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte Hals über Kopf in ihn verliebt sein und ihn anschauen so viel ich nur wollte, und das er merken würde, dass ich ihn so gern hatte. Und dann würde er sich vielleicht auch in mich verlieben... In den ersten paar Stunden in der Schule träumte ich immer sehr viel. Ich malte mir Sachen aus, wie sie sein könnten.
"Was ist?", Noah sah mich fragend an. Hellbraune Augen hatte er. Große, hellbraune Augen. Ernst, und doch liebevoll, Noahs Augen konnten alles sagen.
Ich lächelte. "Nichts."
Er lächelte zurück, dann sah er wieder zur Lehrerin. Ich dachte gar nicht daran und legte mein Gesicht in meine Arme und schloss die Augen. Und träumte weiter...
Die ersten drei Stunden hatte ich nicht viel mitbekommen, wegen dem Schlafen. Als es endlich zur Pause klingelte, hatte ich mindestens zwei Stunden von den drei geschlafen. Außer beim Französischtest war ich konzentriert gewesen. Er war sowohl bei mir als auch Noah gut gelaufen.
Wie jede große Pause, setzten Noah und ich uns in die Aula auf ein Sofa, die seit diesem Jahr dort aufgestellt waren. Wir tranken Joghurtdrinks, die Noah vor der Schule immer beim Supermarkt kaufte. Er hatte Mango, ich Erdbeere.
"Danke fürs Lernen gestern", bedankte Noah sich nochmal.
"Ach, ist doch selbstverständlich", ich hob meinen Drink in die Höhe "für das mach ich das doch gerne."
Noah schüttelte den Kopf und grinste. "Vielleicht sollte ich mal was kaufen, was gegen deine Atemnot hilft."
Ich lachte. "Da kann man nicht mehr helfen, ich fürchte, die habe ich mein Leben lang."
"Da kommt dein Bruder", Noah sah an mir vorbei.
Ich drehte mich um und sah Levi, der mit großen Schritten auf uns zukam. "Hallo Schwesterherz", er legte seine Hände auf meine Schultern.
"Was für einen Gefallen soll ich dir denn tun?", fragte ich. An seiner Stimme war es ganz klar zu erkennen gewesen, das er etwas wollte.
Levi schmunzelte, als er sich neben mich stellte und mir in die Augen sah. "Könntest du nach dem Arbeiten einkaufen gehen?"
"Wenn ich Geld bekomme, sicherlich", gab ich schief lächelnd zurück.
"Ja klar", er griff in seine Hosentasche und gab mir einen Zehner.
"Was brauchst du?", erkundigte ich mich.
"Also, kauf Fertigteig und Tomatensoße, für auf der Pizza sollten wir sonst alles haben. Den Rest kannst du behalten."
"Ohhh da ist jemand reich", ich lachte, steckte das Geld aber zufrieden ein.
"Bis am Abend", Levi ging.
"Ciao Juli", Noah umarmte mich vor dem Schultor.
"Man sieht sich morgen wieder", ich hielt ihn eine Weile länger fest als normal. Ich sog seinen Geruch ein. Ich liebte sein Parfum. Noah hatte das leckerste Parfum was ich je gerochen hatte. Ich stand auf Zehenspitzen, und er bückte sich. Es musste so süß aussehen.
"Also dann", Noah hatte nichts bemerkt. Ich winkte ihm lächelnd hinterher, als er lässig zur Bushaltestelle auf der anderen Seite der Straße lief. Schließlich drehte auch ich mich um und spazierte zum Café. Es war zehn vor zwei und ich war damit ausnahmsweise mal pünktlich da. Ich drückte die Tür auf und lief an der Bar vorbei zum Umziehraum.
"Hi Juli", begrüßte Samuel mich, als ich an ihm vorbeiging. "Löst du mich ab?"
Ich lächelte. "Bin ich fünf Minuten da", versprach ich.
Samuel war 23 und arbeitete vollzeit. Er war immer froh, wenn er am Montagnachmittag mal frei hatte. Ich öffnete meinen Spind und schlüpfte schnell in die weiße Bluse. Dann wechselte ich noch Schuhe, denn mit Docks konnte ich schlecht arbeiten. Die Schürze vervollständigte mein Arbeitslook.
"Juli, du auch schon da?", Alina rannte fast in mich hinein, als ich die Tür aufstieß.
Ich grinste. "Wie immer pünktlich."
Sie lachte ironisch. "Ich komm gleich, ich zieh mich nur schnell um.
"Jaja, kein Stress."
Ich trat zu Samuel hinter die Bar. "Ich wäre soweit", stellte ich klar.
"Na dann, lass ich euch gerne allein", sagte er erleichtert. "Alina soll heute schließen, ich glaube nicht, dass ich noch kommen muss gegen Abend."
"Ich sags ihr."
"Bis nächste Woche", und dann war er auch schon verschwunden.
Der Nachmittag war ziemlich ruhig im Café. Das lag vermutlich am Wetter, es war ziemlich frisch draußen. Zu meiner Erleichterung meinte Alina um fünf, ich könnte eigentlich schon gehen. Alina war sowas wie die zweite Chefin hier. Der eigentliche Chef John hatte ich erst zwei Mal zu Gesicht bekommen. Alina arbeitete hier seit sieben Jahren, seit sie 16 war. Sie und ich verstanden uns richtig gut und ich war immer froh, wenn ich mit ihr zusammen arbeiten durfte.
Eilig zog ich mich um, ich hatte plötzlich schrecklichen Hunger auf Pizza. "Ich geh jetzt Alina, bis nächsten Montag!"
"Ja, schönen Abend dir noch Julchen!"
Bei der Tür fiel mir noch ein, dass ich ihr noch sagen musste, dass Samuel nicht mehr kommen würde. "Alles klar", sie nickte.
Ich drückte die Tür auf. Ein kalter Wind wehte und meine Haare wirbelten mir ins Gesicht. Ich war gerade dabei, sie wegzuwischen, als plötzlich jemand vor mir stand. Ich erblickte einen graunen Mantel und braune Timberlands. An de kräftigen, rauen Händen, die eine lederne Umhängetasche hielten erkannte ich, dass es ein Typ sein musste. Doch gerade als ich ihm ins Gesicht schauen wollte, lag eine Hand an meinem Arm, die mich wortlos zur Seite schob. Kurz streifte mich ein Blick. Dunkelblaue Augen, dann war er verschwunden.
Verdutzt stand ich einige Sekunden wie erstarrt da. Dann schüttelte ich den Kopf. Was war das denn gewesen? Ich versuchte mich an sein Gesicht zu erinnern, doch geblieben waren mir nur seine Augen. Stolpernd lief ich zum Supermarkt.
"Na wen haben wir denn da?", hörte ich Levis Stimme rufen, als ich nach der Einkaufsrunde endlich zuhause ankam.
Doch anstatt das mein Bruder in die Einganghalle kam, stand plötzlich Nico neben mir. "Was für eine schöne Überraschung", er breitete seine Arme aus.
Ich ignorierte seine Einladung und bückte mich, um meine Schuhe auszuziehen. "He Juli, was soll das?"
Ich warf meine Haare zurück und schaute ihn an. "Sorry, aber Schuhe sind auch wichtig", sagte ich gleichgültig.
Er grinste. "Ich wusste, dass ich dir wichtig bin."
Kopfschüttelnd wollte ich mit der Einkaufstüte vorbei in die Küche gehen, doch das ließ er nicht zu. "Juli", er hielt mich am Arm. Ich zuckte zusammen. Dort hatte mich dieser mysteriöse Typ vorher auch berührt. "Ich wollte dir noch was sagen."
Ich kniff meine Augen zusammen. "Was."
Nico drehte sich zu mir und sah mich ernst an. "Du siehst heute echt gut aus." Ich riss mich von ihm los.
"Lass es Nico", fuhr ich ihn an. Im Vorbeigehen streifte ich die Bierflasche in seiner Hand, die ich bis jetzt übersehen hatte. Sie rutschte aus seinem Griff und das Getränk schüttete über meine Kleidung. Ich trat zurück gegen die Tür und sah an mir herab. Das Bier hatte sowohl mein Shirt, meine Hose als auch meine Socken getroffen.
"Oh scheisse", gab Nico von sich. Die Flasche war auf den Boden gefallen, wo sie noch weiter leer rann.
"Hey, alles okay bei euch?", mein Bruder kam zu uns und sah mich erschrocken an.
"Juli", fing Nico an.
Ich hob meinen Blick und blitzte ihn wütend an. Ich stellte die Einkaufstüten unvorsichtig auf den Boden, drehte mich um und rannte die Treppe hinauf.
"Juli", rief Levi hinter mir her, doch ich ignorierte ihn. Ich wollte einfach nu, dass Nico verschwand. Ich warf meine Zimmertür laut zu. Ich hasste ihn. Ich hasste ihn so. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich zog mir das Shirt über den Kopf. Es roch in meinem ganzen Zimmer nach Bier. Toll, vielen Dank. Ich ging genervt ins Bad und duschte. Das Duschgel sollte den Gestank von mir entfernen. Mein Gesicht ließ ich geschminkt, meine Haare band ich hoch.
Frisch angezogen setzte ich mich auf mein Bett. Ich roch die Pizza, doch empfand wenig Interesse mehr, hinunter zu gehen. Was mich am meisten aufregte, dass Levi Nico mitnahm. Er wusste genau, dass ich nicht mit ihm auskam. Und er wusste, wie Nico war. Ich schloss die Tür, um dem Geruch der Pizza nicht widerstehen zu müssen. Dann griff ich nach meinem Handy und schrieb Noah. Hast du Zeit?, tippte ich ein. Er war zuletzt vor zwei Stunden online gewesen. Na toll, das könnte dauern. Naja, wenn Noah nicht reden konnte, brauchte ich jetzt zumindest Musik.
Ich steckte mein Handy an meinen Lautsprecher und drehte voll auf. Ich kroch unter die Decke und starrte Löcher in die Luft. Dunkelblaue Augen. Sein Blick war mir geblieben. Ich malte mir sein Gesicht aus. Ich wusste nicht, wie alt er war. Was, wenn er über 25 war? Aber diese Augen. Trotz der lauten Musik hörte ich, wie jemand meine Zimmertür öffnete und eintrat. Ich drehte mich um und setzte mich kerzengerade auf. Nico stand lässig im Türrahmen.
"Geh", schrie ich.
Er zeigte ein verständnisloses Gesicht.
"Verschwinde", ich machte eine verscheuchende Handbewegung. Schließlich gab ich es auf und schaltete die Musik auf Stopp. "Ich hab gesagt, du sollst gehen", erklärte ich.
Nico aber schloss die Tür hinter sich und kam auf mein Bett zu. Ich zog die Decke bis an mein Kinn und sah ihn böse an. Nico setzte sich ans Fußende und blickte mir irritiert in die Augen. "Juli, das eben tut mir echt Leid", hob er an "es war keine Absicht."
"Ist mir klar", entgegnete ich gleichgültig.
"Ich hab das Bier nicht mit Absicht über dich geschüttet, wieso sollte ich auch?"
Ich malte Kreise auf die Decke. Seine Stimme klang so sanft und verletzlich. So unschuldig, und doch hörte ich ganz eindeutig leichte Ungeduld heraus. Ich konnte ihm nicht in die Augen schauen. Im Gegenteil zu ihm war es für mich nicht das normalste der Welt, dass er auf meinem Bett saß. "Ist ja okay", sagte ich zögernd.
Er ignorierte meine Unsicherheit. Typisch, es interessierte ihn nicht. "Kommst du jetzt essen?"
"Kein Hunger mehr", lehnte ich ab.
"Sicher?", fragte er nach.
Ich zögerte erneut, bevor ich ihm klar in die Augen sah. "Ja."
Ich wollte nicht mit Nico essen. Nicht nach dem hier. Nicht, nachdem er sich bei mir entschuldigt hatte. Nico entschuldigte sich nie. Und schon gar nicht wegen so etwas. Das passte einfach nicht. Und ich wusste nicht, warum er plötzlich so war. Trotzdem fiel es mir unendlich schwer, nicht zuzugeben, wie gerne ich eigentlich gegenünber ihm am Tisch sitzen würde. Nico sah mich nämlich schrecklich enttäuscht an. Diese Augen. Schnell wandte ich mich ab.
"Okay", seufzte er schließlich. "Ganz wie du willst."
Langsam ging er zur Tür. Ich starrte ihm nach. Kurz bevor er sie aufmachen wollte, sprang ich unter der Decke hervor. "Nico", hielt ich ihn auf.
Er hielt Inne und drehte sich zu mir um. Ich eilte zu ihm und blieb direkt vor ihm stehen. Da er ein ganzes Stück größer war als ich, musste ich meinen Kopf etwas nach hinten lehnen, um in seine Augen schauen zu könne. Belustigt sah er mich an. Ich biss mir auf die Unterlippe, worauf seine Augen anfingen zu funkeln. Diese Nähe erinnerte mich an einen Moment in der Vergangenheit. Davon werde ich später erzählen.
"Kommst du jetzt doch?", Nico lächelte leicht.
Ich nickte.
"Ich dachte, du hast keinen Hunger?"
"Hab ich auch nicht", aber ich will dich auf keinen Fall verpassen, fügte ich innerlich hinzu.
Hiermit gebe ich zu, dass das, was ich vorhin gesagt habe, eine Lüge ist. Ich hasste Nico nicht, ganz und gar nicht. auch wenn ich es mir manchmal wünschte. Doch wenn jemand vor dir steht, der so unglaublich schön ist und dazu noch so unwiderstehlich schauen kann, ist es wirklich schwer, denjenigen zu hassen.
"Na komm", er hielt mir die Tür auf.
Ich schlüpfte an ihm vorbei und erkannte gerade noch, wie er wissend den Kopf schüttelte.
Während dem Essen warf Nico mir meiner Meinung nach ein wenig zu oft Blicke zu. Ich versuchte so zu tun, als würde ich es nicht bemerken. Ich wollte auf keinen Fall so enden wie all seine Mädchen. Ich würde diesen Fehler garantiert nicht nochmal machen. Es war inzwischen fast ein drei Monate her. Meine Gedanken schweiften zu jenem Abend zurück. Kiki, einer meiner damals besten Freundinnen und ich gingen aus. Inzwischen hatten wir kaum mehr Kontakt, wir hatten uns voneinander entfernt, ohne es wirklich gemerkt zu haben.
Jedenfalls waren wir also in diese Bar gegangen in der Stadt. Wir gingen immer in die Gleiche. Sie bestand aus einer Bar und im Raum nebenan war die Disko, in der Kiki und ich immer wie verrückt tanzten. Dieses Mal auch. Wir hatten beide etwas zu viel Alkohol getrunken und tanzten alles aus uns raus. Nach einiger Zeit waren wir beide außer Atem und beschlossen, ein kaltes Wasser zu holen. Keinen Alkohol mehr.
Wir stellten uns an die Bar und gossen das Wasser in uns hinein. Es tat unendlich gut, kurz von innen abzukühlen. Dann erblickte ich Nico. Er stand etwas abseits von der Bar umringt von Mädchen. Alle knapp angezogen natürlich. In seiner Hand hielt er ein Glas Bier, ich glaube zumindest, dass es Bier war, und mit seiner anderen Hand streichelte er behutsam über den Arm eines hübschen schwarzhaarigen Mädchens, das mindestens zwei Jahre älter war als er. Er sah sie mit glühenden Augen an, er schien schon ziemlich angetrunken zu sein. Er setzte das Glas an seine Lippen und nahm einen Schluck.
Und dann traf mich sein Blick. Kurz starrte er mich mit leeren Augen an, dann hellten sie sich abrupt auf. Er ließ sich viel Zeit, mich von oben bis unten zu betrachten. Das schwarzhaarige Mädchen versuchte seine Aufmerksamkeit wieder für sich zu gewinnen, indem sie in auf die Wange küsste und ihre Arme um seinen Hals legte. Ich musste lächeln, als sie mir einen warnenden Blick zuwarf. Ihre Augen waren von einem dicken Lidstrich umrandet und dunkel geschminkt. Auf ihren Lippen lag ein leuchtend roter Lippenstift. Wow, sie war echt schön. Nico sah immer noch mich an, als sich Leute zwischen uns schoben und ich ihn aus den Augen verlor.
Nico hatte ich eigentlich ziemlich schnell wieder vergessen und lief mit Kiki zurück in die Disko, wo sie sofort mit irgendeinem heißen Typ auf der Tanzfläche verschwand. Ich selbst war froh, kurz auszuruhen und neue Energie zu schöpfen. Ich lehnte mich gegen die Wand und beobachtete die tanzende Menschenmenge. Innerhalb kurzer Zeit füllte sich der Raum. Ich presste mich dichter an die Wand, damit ich nicht geschupst wurde. Kurz griff ich an meine erhitzte Stirn und spürte einen leichten Schwindel. Gerade als ich kurz nach draußen gehen wollte, um frische Luft zu schnappen, stand plötzlich Nico vor mir.
"Nico", enfuhr es mir.
Ich war überrascht. Nico wurde ebenfalls an die Wand neben mich gedrückt. Unsere Körper waren nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt. Was tat er hier? Sein Blick war verlangend auf mich gerichtet.
"Nico, nein" gab ich von mir, doch meine Stimme sagte das Gegenteil. Mein Kopf drehte sich, als er meine Schultern packte und sich zu meinem Ohr vorbeugte. Blitze zuckten durch meinen Körper.
"Juli, ich wollte dich gern küssen", nuschelte er.
Ruckartig zog ich mich soweit es möglich war zurück, doch ein Typ tanzte mich von hinten an und ich hatte keine Wahl, als zurück zu Nico zu gehen. Als ob wir uns nicht schon nahe genug waren, stoß mich jemand von hinten gegen Nicos Körper. Meine Hände lagen auf seiner Brust, die sich schnell hob und senkte. Er starrte mich gebannt an. Dieser Blick, diese Lippen, er war so unwiderstehlich. Ich fing an den Kopf zu schütteln, um mich selbst davon zu überzeugen, was das für eine dumme Idee war. Und doch verlangte ich in diesem Moment nach ihm wie noch nie zuvor.
Nicos Hände griffen nach meinem Gesicht und hoben es zu seinem. Vorsichtig legte er seine Lippen auf meine, und ich blöde Kuh ließ mich mitschleifen. Zuerst schien der Kuss sanft zu sein, doch mit der Zeit wurde er immerzu drängender und intensiver. Nico drehte mich so, dass mein Rücken gegen die Wand gedrückt wurde. Seine Finger erkundigten meinen Körper und ich ließ es zu. Es gefiel mir sogar und ich genoss es in vollen Zügen.
Schnell verfiel ich ihm komplett. Innerlich wusste ich natürlich, was bei ihm auf Küssen folgte. Doch es war mir egal. Dann würde ich eben mit Nico schlafen. Und ich hatte mit ihm geschlafen. Er hatte mich in ein Taxi geschleppt und wir waren zu ihm nach Hause gefahren. Und dann war alles ganz schnell gegangen. Nicht, dass er unanständig geworden war, aber ich hatte diese Nacht danach ziemlich stark verdrängt. Es wusste sonst auch keiner außer Kiki was davon, der ich logischerweise hatte erklären müssen, wo ich so plötzlich hin verschwunden war. Nicht mal Levi hatte ich es erzählen können, dass ich mit seinem besten Freund mein erstes Mal gehabt hatte.
"Seid ihr fertig?", Levis Frage ließ mich meinen Gedankenflug beenden.
Ich kaute auf meinem letzten Stück der Pizza herum, während mein Blick auf Nico ruhte. Ich konnte es immer noch nicht ganz glauben, dass es wirklich Nico gewesen war. Immerhin war er ungefähr als heißester und schönster Typ der ganzen Schule bekannt. Und was war ich? Ein schlecht gelaunter, egoistischer Punk. Das war ich zumindest in der Schule.
"Ja", antwortete Nico "Juli auch", fügte er grinsend hinzu.
Ich lächelte ertappt, da ich ihn wahrscheinlich seit einiger Zeit angeschaut hatte. Ja, ich hatte diese Nacht zwar verdrängt, vergessen würde ich sie aber nie. Sein erstes Mal vergisst man nie, heißt es doch.
Nach dem Essen ließen sich Nico und mein Bruder auf die Couch fallen und fingen an irgendein Videospiel zu spielen, wobei sie sich gegenseitig anschrien. Ich seufzte wiedermal, als ich wahrhaben musste, dass dies mein älterer Bruder war. Manchmal benahmen sie sich wirklich als wären sie zehn. Ich räumte widerwillig den Tisch ab, den Rest durften sie später selbst erledigen. Bei diesem Gedanken wusste ich allerdings schon, dass das Geschirr morgen immer noch hier stehen würde. Ich zuckte unbekümmert die Schultern und stieg die Treppe hinauf in mein Zimmer.
Ich musste mit jemand über diesen Abend reden. Über Nico und sein Verhalten und meine Gefühle und seine Gefühle, einfach über alles. Manchmal fehlte mir eine Freundin. Eine Freundin, der ich alles erzählen konnte. Noah konnte ich viel erzählen. Alles über Schulprobleme und solche Sachen, aber es gab eben diese Dinge, die man einfach nicht mit einem Jungen besprechen konnte. Und Nico war ein Thema, worüber ich mit Noah nicht redete. Er wusste grob, was an diesem Abend passiert war, aber das war alles.
Eine richtige beste Freundin hatte ich nicht. Es gab schon Mädchen in der Klasse, mit denen ich mich gut verstand, doch ihnen vertrauen tat ich nicht. Anstatt eine beste Freundin zu suchen (das fand ich echt lächerlich), schrieb ich Tagebuch. Dort ließ ich alles raus. Also griff ich unter mein Kopfkissen und find an zu schreiben.
Ich begann natürlich nicht wie alle anderen mit "Liebes Tagebuch", nein, ich begann immer mit dem Namen von der Person, mit der ich mich an diesem Tag am meisten beschäftigt hatte.
Heute war das Nico. Nachdem ich mein Pyjama angezogen und geduscht hatte, schrieb ich alles auf. Bis ich fertig notiert hatte, war es eine Stunde später. Ich hatte plötzlich schreckliche Lust auf Orangensaft und erinnerte mich, heute morgen eine Flasche im Kühlschrank gesehen zu haben.
Würde Nico inzwischen weg sein? Vorsichtig tappte ich über den Gang, am Zimmer meiner Eltern vorbei und blieb vor Levis Tür stehen. Leise legte ich mein Ohr gegen das Holz und lauschte. Ja, da waren eindeutig noch zwei tiefe männliche Stimmen zu hören.
"Ich hab kein Bock mehr zu lernen Levi...", das war Nico.
"Ja meinst du ich, aber die Fotze bringt das morgen."
"Mir doch egal, dann schreib ich eben einen Fünfer, lass uns was anderes machen", sagte Nico gequält.
Ich hörte wie etwas (vermutlich das Heft) auf den Boden geworfen wurde. "Ich kann genug für eine positive Note glaub ich", meinte Levi.
"Mittwoch haben wir doch eh diesen Ausflug weißt du, in dieses Museum. Dann haben wir den Biotest gar nicht", Nico klang auf einmal hellwach.
"Aaaah ja stimmt", rief Levi "die hat das voll vergessen." Ich musste lächeln. Das war wirklich das beste Gefühl, was es gab. "Mittwoch ist auch diese Party."
"Gehst du da hin?", fragte Nico misstrauisch.
Ich hielt mein Ohr dichter gegen die Tür, jetzt wurde es für mich erst interessant. "Ja ich hab da nichts besseres vor, bist du nicht dabei?"
"Weiß nicht... Geht deine Schwester?" Mein Herz pochte gegen meine Brust. Wieso interessierte ihn das? Oh mein Gott. Mein Gehirn orientierte sich auf die Stimmen, richtig zuhören konnte ich nicht mehr. Nico Müller wollte wissen, ob ich auf die Party ging? Mein Körper zitterte vor Nervosität. Ich wartete angespannt wie es weiter gehen würde.
"Ich glaub schon, Viki war glaub mal eine gute Freundin von ihr, wieso interessiert dich das?", sprach mein Bruder meine Gedanken aus.
"Deine Schwester ist voll heiß mann", bei diesem Satz stockte mein Atem. Heiß? HEIß? Hatte er das gerade wirklich gesagt? Vor einigen Stunden hatte ich ja gesagt, dass ich ihn hasste, aber...
Juli, er hat nicht gesagt, dass er dich mag, sondern dass du heiß bist klar?, sagte eine Stimme in mir. Ich ignorierte sie.
"Sie ist doch überhaupt nicht dein Typ. Wie war das mit große, dünne, blonde Mädchen?", Levi lachte. Er hatte ja keine Ahnung was zwischen mir und Nico gelaufen war. Immerhin hatte der Typ mich entjungfert und mein Bruder wusste nichts davon.
"Tja, vielleicht habe ich meine Meinung ja geändert. Lass mich sie doch wenigstens besser kennenlernen..."
"Du willst sie doch nur vögeln Nico mal ehrlich", konterte mein Bruder.
"Ach, wieso sollte ich?", Nico Stimme wurde verdächtig leise.
Mein Atem ging flach. Ich wollte die beiden weiter belauschen, aber ich hatte unendlich viel Schiss, dass einer der zwei plötzlich rauskommen würde, und dann wäre dieses Kennenlernen mit Nico definitiv vorbei.
"Warte mal", Levis Stimme unterbrach meinen Gedankenfluss, "du hast sie schon gevögelt hab ich Recht?"
"Ich weiß nicht, was Juli davon haltet, wenn ich dir irgendetwas verrate", erwiderte Nico provokant.
"Du hast mit meiner Schwester geschlafen? Ist das dein Ernst?", die Stimme meines Bruders wurde laut. Er klang wütend.
Nico antwortete nicht. Oder vielleicht grinste er auch nur, aber das konnte ich nicht sehen. Oh scheisse, bitte widersprich ihm doch Nico, bitte. Mein Herz schlug wie verrückt. Mein gesamter Körper spannte sich an.
"Wie konntest du Juli aufreißen? Wie konnte sie nur so dumm sein? Sie muss vollkommen dicht gewesen sein."
"Sie ist nicht dumm Levi", verteidigte Nico mich, oder sich selbst. "Und ja, sie war vollgelaufen. Hey komm schon, sei froh, dass ich es war, und nicht irgendein Fremder."
"Du bist mein bester Freund Mann, und du wirst Juli das Herz brechen, und verleugne das jetzt nicht, du brichst jedem Mädchen das Herz Nico", brüllte Levi.
Wow, ich hatte nie erwartet, dass mein Bruder so wütend werden konnte. Nicht gegenüber Nico. Sollte ich noch weiter zuhören? Mein Verstand sagte nein, aber ich konnte mich unmöglich bewegen.
"Ich habe ihr doch schon das Herz gebrochen, indem ich nur mit ihr geschlafen habe, und sie kommt gut damit klar."
"Und woher willst du das wissen? Hast du mit ihr vielleicht darüber gesprochen?", Levi schien sich zu beruhigen. Nicht einmal seine Schwester könnte die Freundschaft zwischen den beiden kaputt machen.
"Nein, aber man merkt ihr nichts ungewöhnliches an, oder ist dir etwas komisches aufgefallen?"
"Ihr Ausraster von vorher mit dem Bier war doch ziemlich eindeutig kein Liebesgeständnis", entgegnete mein Bruder.
Nico seufzte laut. "Das war meine Schuld, ich hab sie provoziert..."
"Wie lange ist das her?"
"Puuuuh", machte Nico "ein paar Monate."
"Drei, um genau zu sein", sagte ich leise.
"Das geht schon so lange?", Levi schien sich doch nicht ganz einzukriegen. "Wieso hab ich nie was bemerkt?"
"Weil wir uns nur noch in der Schule gesehen haben, und gestern beim Chinesen. Also wir haben quasi null miteinander geredet danach", Nico Stimme klang völlig neutral bei dieser Antwort, während sie bei mir einen Stich im Herz verursachte.
"Hey, können wir Thema wechseln, ich hab echt kein Bock mit dir über meine Schwester zu reden", sagte mein Bruder etwas angespannt.
"Von mir aus gerne, ich wollte mir sowieso was zu trinken holen und ich hab mein Handy glaub unten liegen gelassen."
"Lass sie in Zukunft einfach in Ruhe, das würde mir eine Menge Sorge ersparen."
Auf Nico's Reaktion wartete ich nicht mehr und trat eilig von der Tür zurück und rannte den Gang entlang die Treppe nach unten, wo ich so gelassen wie möglich den Kühlschrank öffnete. Innerlich brannte alles. Meine Hände zitterten. Meine Knie waren weich. Ich holte den Orangensaft aus dem Kühlschrank und goss ihn vorsichtig in ein Glas. Von meiner Position aus sah ich, wie Nico die Treppe nach unten gelaufen kam.
Ich versuchte mich auf mein Glas zu konzentrieren, was auf der Kücheninsel stand. Es war gar nicht so einfach, etwas mit zittrigen Händen einzuschenken. Schließlich schaffte ich es und nahm einen großen Schluck. Wenigstens hatte ich mich noch nicht abgeschminkt, sonst wäre ich gerade echt ein Monster.
"He, du auch noch wach?", Nico's tiefe Stimme ließ meine Augen aufreißen, obwohl ich genau gewusst hatte, dass er gegenüber von mir stehen würde. Ein paar Strähnen seiner hellbraunen Haare vielen ihm vor funkelnden grünen Augen.
Ich nickte so unbekümmert wie möglich und versuchte, meine Aufregung zu verbergen. Nico grinste leicht und sah auf seine Armbanduhr. "Ist ja auch erst halb elf."
Ich konnte jetzt unmöglich reden. Ich würde kein normales Wort rausbringen. Außerdem hatte ich nur meinen Pyjama an, der aus einer lockeren langen Hose und einem engen, schwarzen Top bestand. Zum Glück hatte ich meinen BH noch an. Wortlos stellte ich den Orangensaft zurück in den Kühlschrank. Sollte ich jetzt einfach raufgehen? Ohne etwas zu sagen? Dann würde er erst recht wissen, dass ich sie belauscht hatte, denn normalerweise konnte ich einigermaßen normal mit ihm umgehen. Ich zeigte auf die Treppe und bewegte mich in dessen Richtung.
"Juli, warte mal", unterbrach Nico mein Verschwinden.
Ich sah ihn zur Seite an. "Hm?"
"Bleib doch hier", schlug er vor.
"Wieso?"
"Wieso nicht?", Nico grinste breit.
"Weil ich jetzt eigentlich hoch wollte", antwortete ich. Wow, ein vollständiger Satz.
"Achso, ja dann..."
"War was wichtiges?", fragte ich. Klar, ich wollte eigentlich hier bleiben.
"Ich dachte nur, wir haben ewig nicht mehr geredet."
Ich kniff die Augen zusammen. "Wir haben noch nie geredet Nico."
Nico stand auf und lief um die Insel herum. Vor mir blieb er stehen. "Stimmt doch gar nicht."
Ich legte meinen Kopf in den Nacken. "Ach nein?"
Nico nahm mir meinen Orangensaft aus der Hand und nahm einen Schluck. "Nein, damals, als du neben mir im Taxi gesessen bist, kurz bevor es passiert ist, hattest du jede Menge zu erzählen."
Ich spürte, wie ich rot wurde und sah zu Boden. Er stand direkt vor mir. Das erinnerte mich an den Abend in der Disco. "Da war ich aber auch betrunken", verteidigte ich mich.
Er lachte und machte noch einen Schritt näher zu mir, als ob wir uns nicht schon nahe genug waren. Etwas zögernd wich ich zurück. "Was soll das werden?"
"Was meinst du?", fragte er unschuldig.
"Na, das hier", stellte ich klar.
"Achso, das meinst du", Nico lächelte schief und ließ seine Finger an meinen Armen hinaufgleiten. Unter seinen Fingerspitzen entstand eine Gänsehaut über meinen ganzen Körper. Im selben Moment machte ich einen gewaltigen Satz nach hinten, doch die Theke hielt mich auf halben Weg auf.
"Lass mich los", sagte ich, und bemerkte im selben Augenblick, wie unlogisch diese Aussage klang.
"Was denn, ich halte dich nicht mal fest", sprach Nico meine Gedanken aus.
In meinem Kopf drehte sich alles. Was wollte ich denn? Wollte ich etwa wieder etwas mit diesem Typ haben? Mit dem, der mit allen Frauen ins Bett stieg? Alles in mir sagte nein. Vielleicht war es die Neugier, die mich zum stehen bleiben zwang. Ich war neugierig darauf, wie lange Nico wohl durchhalten würde. Immerhin wollte er mich kennenlernen.
"Es war eine einmalige Sache Nico, wir sollten nichts darauf aufbauen", sagte ich ruhig. "Wir sollten es vergessen."
"Du kannst es nicht vergessen Juli, gib es doch zu", Nico Augen suchten meinen Blick. Doch wenn ich ihm jetzt in die Augen sah, würde ich ihm Recht geben. Er kam näher, und näher. Ich drückte meinen Körper fester gegen den Tresen. Ängstlich sah ich zu ihm hoch. Wissend erwiderte er meinen Blick. Er lächelte schief, als er sich zu mir runterbeugte. Ich starrte auf seine Lippen, die sich meinem Gesicht näherten. Das verstand er also unter Kennenlernen. Er wollte mich gar nicht kennenlernen, sondern wieder ins Bett kriegen, alles klar. Auch wenn ich es nicht zugeben wollte, es verletzte mich innerlich.
"Hör auf Nico", ich legte meine Hände auf seine Brust und schob ihn von mir. "Hör auf", mit fester Stimme wiederholte ich mich.
Nico sah mich verwundert an. "Du versuchst mir zu widerstehen?"
"Was soll das alles", fragte ich und ignorierte seine Aussage.
"Was?"
"Wieso redest du drei Monate lang kein Wort mit mir und jetzt, auf einmal...", ich unterbrach mich. Ich wusste nicht mehr, wie ich mich ausdrücken wollte. Unsicher sah ich ihm in die grünen Augen.
"Auf einmal was?", hakte er nach. Ich suchte nach Worten. Nico sah mich ungeduldig an, nur um mich noch mehr zu verwirren.
"Du tust auf einmal so, als hättest du Interesse an mir", brachte ich dann in einem vollständigen Satz raus. Anstatt aber unsicher oder ertappt zu sein, grinste Nico.
"Vielleicht hab ich das ja", flüsterte er mir geheimnisvoll zu.
"Zuerst redest du drei Monate kein Wort mit mir und..."
"Hey hey hey, langsam Juli", fiel er mir in Wort "ich habe mit dir geredet."
Ich blickte ihn fassungslos an. "Geredet? Reden nennst du das?", ich schrie beinahe, worauf Nico seinen Zeigefinger auf meine Lippen legte.
"Shhh, Levi ist da", sagte er leise.
Ich schlug seine Hand weg und fuhr mit gedämpfter Stimme fort. "Hallo und Tschüss nennst du reden? Du..."
"Sei frog, dass du überhaupt meine Stimme hören darfst Juli", unterbrach er mich erneut mit belustigter Stimme. "Die meisten Mädchen mit denen ich geschlafen habe vergesse ich am nächsten Tag, oder nein, ich der nächsten Stune", seine Augen funkelten.
Okay, das reichte jetzt. Grob drückte ich Nico von mir, der sich wieder zu nahe an mich herangearbeitet hatte. In meinen Augen glänzte Wut.
"Du widerliches Arschloch", zischte ich. Ich wollte an ihm vorbeigehen, doch Nico hielt mich zurück. "Das sollte heißen, dass du etwas besonderes für mich bist, Juli."
"Seit heute?", entgegnete ich gereizt.
Nico antwortete nicht, sondern nahm mein Gesicht in die Hände und küsste mich. Im ersten Moment konnte ich nicht anders, als den Kuss zu erwidern, doch im nächsten Augenblick riss ich mich von ihm los. Erschrocken sah ich in seine Augen. Dann klatschte meine flache Hand auch schon auf seine Wange. Wut und gleichzeitig bittere Enttäuschung überwältigten mich. Nicos Augen waren weit aufgerissen vor Schreck. Als ob er es nicht erwartet hatte? Eilig lief ich zu Treppe, ohne den mir folgenden Nico zu beachten.
"Juli, was hast du?", rief er mir hinterher.
Ich glaubte es einfach nicht. Was sollte denn diese Frage jetzt noch? Ich verstand diesen Typen einfach nicht. Ich blieb stehen und drehte mich um.
"Was ich hab? Nico, du hast gar kein Interesse an mir, sonst hättest du anstatt mich zu küssen mit mir geredet, ein normales Gespräch geführt", fuhr ich ihn an, doch ich wusste, wie sehr man die Enttäuschung aus meiner Stimme heraushörte.
Nico lehnte sich an die Stiegenlehne. "Ich mag normal nicht Juli", sagte er gedehnt und schaute mich vielsagend an. Er nahm mich nicht ernst.
"Weißt du", hob ich an "ich war lieber das Mädchen, welches du ignoriert hast, ich bin gut damit klargekommen. Ich will nicht mit dir reden, ich will einfach nur von dir in Ruhe gelassen werden okay?"
Endlich war in Nicos Augen etwas wie Qual zu erkennen. Doch seine Stimme klang genauso wie vorher. "Tja, das wird nicht möglich sein, tut mir Leid."
Bemüh dich nicht weiter, sagte ich mir selbst. "Lass gut sein Nico", mit diesen Worten wandte ich mich von ihm ab und ging in mein Zimmer. Er folgte mir nicht nochmal. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Nicht, weil er mir nicht nachlief, sondern weil ich nicht weiterwusste. Aus purer Verzweiflung. Wieso musste Nico so sein? Er würde mich bloß verletzen, das wusste ich. Und das wusste er. Was mich jedoch am meisten beschäftigte war, wieso ich es war. Nico stand normalerweise auf durchschnittliche Mädchen. Die, mit den blonden langen Haaren, dünnen Beinen und einem 1000-Follower Instagram Account. Obwohl, stand er auf sie oder vögelte er sie nur? Ich wusste es nicht. Ich konnte mir garnicht vorstellen, dass Nico dazu fähig war, sich in ein Mädchen zu verlieben. So richtig. Wie es wohl wäre, von Nico geliebt zu werden?
Wer sich für eine Fortsetzung interessiert, werdet einfach Mitglied meiner Gruppe, die findet ihr auf meinem Profil bei Gruppen. Ich freue mich!
Am nächsten Tag passierte nichts besonderes. Am Mittwoch ging ich nach der Schule shoppen. Erstens wollte ich meine Wut und Trauer wegen Nico loswerden und zweitens brauchte ich ein Outfit für die Party am Abend. Auch wenn ich erst mal nichts von Nico wissen wollte, würde ich trotzdem gut aussehen. Ich wusste wie lächerlich das war, aber ich hatte die Hoffnung, dass er sich über sein eigenes Verhalten aufregen würde und sich entschuldigen würde. Und um als Mädchen Aufmerksamkeit von einem Typen wie Nico zu bekommen, musste mal eben gut aussehen.
Ausnahmweise würde ich nicht komplett in schwarz hingehen. Allerdings würde ich mich auch nicht zu auffällig anziehen, das war billig. Ich durchsuchte die Läden nach einem Top, was nicht dunkel war, doch fand einfach nichts. Weiß stand mir nicht und rot fand ich zu aufreißerisch. Alle Grüntöne die ich fand waren irgendwie hässlich, obwohl es ja meine Lieblingsfarbe war. Nur eben was Kleidung anging nicht.
Schließlich fand ich im Zara ein schwarzes Top mit Rückenausschnitt. Es war mitteleng und kurzärmlig. Perfekt für eine Party. Ich hatte zwar geplant, nichts schwarzes zu kaufen, aber da ich nichts farbiges fand, war das besser als nichts. Gerade als ich zur Kassa laufen wollte, stach mir eine Highwasted-Jeans ins Auge, worauf mit farbingen Steinchen Blumen genäht waren. Es war Liebe auf den ersten Blick. Und das Beste war, dass sie wie angegossen passte. Ich hatte ja nicht die einfachste Figur.
Glücklich kehrte ich nach Hause zurück. Noah würde um halb zehn kommen um mich abzuholen. Jetzt war vier. Ich hatte also noch genug Zeit. Ich warf die Einkaufstüte auf mein Bett und machte erst mal Musik an. Robbers von The 1975. Ich hörte nur noch diese Band. Ich liebte ihre Musik. Es waren Lieder, die ich immer und immer wieder hören konnte. Obwohl ich noch reichlich Zeit hatte, entschied ich mich, jetzt schon zu duschen. Danach ließ ich Gesichtsmaske in meine Haut einziehen und rasierte ich all die nötigen Stellen. Auch meine Intimzone machte ich haarfrei, man wusste ja nie. Ich erwischte mich selbst dabei wie ich an Nico dachte. Ob er kommen würde? Mit meinen Haaren in einem Handtuch und meinen Körper in einem Bademantel drehte ich das Schloss des Badezimmers auf und trat hinaus auf den Gang.
"Na, bist du dich schon am hübsch machen?", erklang plötzlich eine Stimme vom Ende des Ganges. Nico. Ich starrte ihn an. Oh mein Gott, wie ich aussehen musste. Ungeschminkt, und im Bademantel!
"Was machst du hier?", entgegnete ich grob.
"Ich warte auf deinen Bruder, er sollte gleich da sein."
"Hm, ok", zum Glück lag mein Zimmer gleich beim Bad, und ich flüchtete schnell hinein und schloss die Tür hinter mir ab, falls Nico auf die Idee kommen würde, hineinzuplatzen. Tatsächlich wurde der Hebel einige Sekunden später nach unten gedrückt.
"Juli, mach die Tür auf," fordete mich Nico auf.
"Nein", erwiderte ich.
"Wieso?"
Ich lehnte mich gegen die Tür, als hätte ich Angst, er könnte doch irgendwie hineingelangen. "Erstens, weil ich nur einen Bademantel trage, zweitens weil ich ungeschminkt bin und drittens...", ich wusste nichts mehr.
Nico wartete mein dritter Punkt ab. Als nichts kam klopfte er. "Komm schon Juli."
Was bildete er sich eigentlich ein?
"Was willst du", rief ich.
"Ich will mit dir über gestern reden."
"Ich will aber nicht mit dir reden", erwiderte ich kalt. Während ich Unterwäsche, eine Leggins und einen Pulli anzog, versuchte Nico mich immer noch davon zu überzeugen, dass ich ihn reinließ. Zum Glück kam Levi kurz darauf und verschwanden in seinem Zimmer. Innerlich betete ich, dass Nico nicht hier essen würde.
Als ich meine Haare geföhnt hatte, war es kurz vor 6. Ich entschied mich, schnell etwas zu essen zu machen und in meinem Zimmer zu essen. Ich sprang inzwischen wieder gut gelaunt die Treppe hinunter und rief derweil Noah an, um zu fragen, ob er nicht früher kommen wollte.
"Wann soll ich denn kommen?"
Ich öffnete den Kühlschrank und griff nach einem Glas mit Erdbeerjoghurt. "So um, ähm, jetzt?"
Noah lachte. "Jetzt esse ich, aber danach."
"Okay", antwortete ich glücklich.
Nachdem wir aufgelegt hatten sah ich nachdenklich in den Kühlschrank. Mit dem Erdbeerjoghurt, einer Box Vanilleeis und einem Löffel im Mund machte ich mich auf den Weg in mein Zimmer. In Levi's Zimmer war es still. Waren sie überhaupt da? Nett, dass man benachrichtigt wurde.
Eine halbe Stunde später klingelte es. Noah, dachte ich erleichtert. Doch anstelle von Noah standen Levi und Nico vor der Tür. Mein Lächeln verschwand sofort und ich sah Levi gequält an.
"Wirklich? Wo ist dein Schlüssel?"
Publication Date: 06-10-2016
All Rights Reserved