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FLEISCHFRESSENDE PFLANZEN
ODER:

DER BEKEHRTE VEGETARIER.



Mein Vegetarier-Mahl, es war geschlossen.
Befolgend meines strengen Arztes Rath
Hatt' ich zwei Dutzend zarter Spargelsprossen
Verzehrt, dazu Kartoffeln und Spinat.
Es war gefüllt mit Gras und Kraut der Magen
Ich streckte mich zu kurzer Ruhe hin.
Allein ein Beefsteak aus vergang'nen Tagen,
Das wollte heut mir nimmer aus dem Sinn.
Die Augen sahen's schweben in der Luft,
Die Nase labte sich an seinem Duft.

Die Zeitung nehm' ich, um mich einzuschläfern:
Vom Balkan les' ich und vom Donaustrom,
Von Reblaus und von Koloradokäfern,
Von Richard Wagner und vom Papst in Rom,
Krieg, Blut und Greul, zerrüttete Finanzen —
Ein Schiff mit achtzig Menschen ging zu Grund —
Und hier — was lesen meine Augen? — Pflanzen,
Die Fleisch verzehren. — Nein, das ist zu bunt!
Die Pflanze selbst zum Fleisch sich freudig kehrt.
Und mir ist Schinken, Speck und Wurst verwehrt!

Ich las vom Sonnentau, dem mordbegier'gen,
Der an der Blätter Rande Wimpern trägt,
Die über unvorsicht'gen Mückentierchen
Mit Schadenfreude er zusammenschlägt,
Ich las, wie er — dem Gourmand zu vergleichen,
Der Austern schlürft zu edlem Firnewein —
Einsaugt die kleinen, zarten Kerbtierleichen;
Ich las, sann nach und nickte schliesslich ein.
Da schlug Gewirr von Stimmen an mein Ohr,
Und von dem Lager sprang ich schnell empor.

„Auf Brüder!" scholl es aus dem nahen Garten,
„Der heiß ersehnte Rachetag ist da;
Erhebt zum Kampf um's Dasein die Standarten,
Ermannt euch, Rübe, Kohl, Endivia!
Auf, dicker Kürbis, nicht so trag gesessen!
Der Kampf beginnt, der Spiess wird umgekehrt:
Die einst uns aßen, werden jetzt gefressen.
Denn eine Ehre ist der andern wert."
Ein grün Getümmel sich alsbald erhob,
Und jeder Grashalm "Wut und Rache schnob.

Das war ein Morden! — Schnecken, Würmer, Grillen
Verschlang zu Tausenden das gier'ge Gras;
Den Stieglitz aß die Distel ganz im Stillen,
Der Eichenbaum das rote Eichhorn fraß.
Mein Seidenhäslein mit den vierzehn Jungen
Verschlang der Kohl, der Ferkel munt're Schar
"Ward vom Kartoffelvolke schnöd verschlungen,
Dass nicht einmal ein Schwänzlein übrig war,
Und meine Gais, so weiß wie frischer Schnee —
Erwürget ward sie vom Luzernerklee.

Entsetzen fasst mich armen Vegetarier
Ich möchte fliehn, doch bleischwer ist mein Bein.
Da kommen sie, die Pflanzenproletarier,
Blutdürstend dringen sie zu mir herein.
Der Kohlkopf schnaubt und bläst aus vollen Wangen,
Die biss'ge Zwiebel grinst voll Mörderlust,
Und Spargel gleich beschuppten Riesenschlangen
Umwinden langsam Beine mir und Brust.
Ein schwarzer Rettig springt auf mich hinauf —
Barmherzigkeit! — Da wach' ich plötzlich auf.

Die alte Katharina, in der Linken
Die Kaffeetasse, steht vor mir und spricht:
„Ihr träumtet schwer. Es will mich fast bedünken,
Das viele Grünzeug ist Euch tauglich nicht.
Nehmt doch Vernunft an, lasst von mir Euch raten;
Gemüs' ist Silber, aber Fleisch ist Gold.
"Wozu denn schuf Natur den Lendenbraten,
Wenn Ihr von Gras und Kraut Euch nähren wollt?"
Da Schwieg ich still, und fügsam wie ein Lamm
Verzehrt' ich Abends Fleisch ein Kilogramm.

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Publication Date: 11-30-2010

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