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Prolog

 

Harl, dem Sohn Harands, des Jägers, lagen das Geschick und das Können wie seinem Vater im Blut.

Keiner in den Bergen konnte sich mit seinen Jagderfolgen messen, keiner wie er den Hirsch aufspüren oder einen Keiler stellen.

Doch Harl, Harands Sohn, war auch anders als alle, die mit ihm in den Hügeln am Eisenfluss lebten. Die Stämme und Clans der Region waren Menschen, die schon seit vielen Jahren seßhaft geworden waren. Es gab für sie keinen dringenden Grund, umher zu ziehen und so hatten sie nach und nach Siedlungen an den fischreichsten Bächen oder wildreichsten Wiesen gegründet und lebten von dem Überfluss, den der Wald und der Fluss ihnen bot.

Sie waren mehr und mehr zur Arbeitsteilung übergegangen und wo vor Jahren noch die Jäger dominierten, fanden sich jetzt auch Weber, Steinmetze und Töpfer. Harl aber war ein Nomade geblieben. Viele Jahre zuvor war sein Clan Opfer einer Katastrophe geworden.

Boote waren den Fluss herauf gekommen und als Harand die Ankömmlinge freundlich begrüßen wollte, ließ er noch am Strand sein Leben, von einer Wurfaxt getroffen.

Viele starben an jenem Tag, Frauen und Kinder wurden von den Fremden verschleppt und nur wie durch ein Wunder überlebte der Sohn des Dorfältesten schwer verletzt. Andere Überlebende schlossen sich in den folgenden Mondumläufen anderen Clans oder Stämmen an.

Harl aber blieb allein und zog fortan von Gruppe zu Gruppe, ohne wirklich sagen zu können, wonach er suchte oder nach was er sich sehnte.

Er wurde zu einem Außenseiter, geachtet, aber dennoch allein.

Kapitel 1:


 

 

Still neigte sich ein warmer und freundlicher Sommer dem Ende zu.
Die Gruppe um Thorbrand, den alten Medizinmann des Bärenclans, brachte die Früchte ihrer Anstrengungen mit einer ertragreichen Ernte ein.
Langsam aber stetig füllten sich die Speicher des Dorfes mit dem Korn, das sie in mühevoller Handarbeit dem Boden abgetrotzt hatten. Mehr und mehr Vorräte wurden angehäuft, getrocknete Früchte, Pilze, Nüsse. Das Fleisch des erlegten Wildes hing zum Räuchern über den Feuern.

Der Winter würde wie in jedem Jahr lang sein, doch die Fülle versprach auch ein sorgloses Auskommen in den langen Monaten der weißen Schneedecke.

Zufrieden betrachtete Thorbrand die Erfolge seiner Gruppe, seines Stammes. Hier wurde endlich der unumstößliche Beweis erbracht, dass es sich lohnte, an den Ufern des Eisenflusses zu siedeln.

Lächelnd dachte er an die mahnenden, fast drohenden Worte seines jungen Freundes Harl, dem diese Lebensweise so fremd vorkam wie ein weißes Kaninchen im Sommer.

Vielleicht würde der Jäger den Winter bei ihnen im Dorf verbringen und endlich begreifen, wie sinnvoll eine feste Niederlassung doch war.

Im Stillen hatte der Schamane immer gehofft, dass Harl einen Blick auf seine einzige Tochter Schari werfen könnte.

Die junge Frau hatte alles von ihm erlernt, was er an Wissen je weitergeben konnte. Sie war von einem freundlichen und zuvorkommenden Wesen, hatte ein hübsches Gesicht und eine ansprechende Figur. Sie würde problemlos Mutter sein können.

Dennoch hatte sich für Thorbrands Tochter bisher kein Bewerber gefunden, denn all ihre Vorzüge konnten nicht über den Mangel hinwegtäuschen, der ihr ganzes Leben bestimmte. Schari, die Tochter Thorbrands, des Schamanen, war stumm.

Eigentlich war es ein Wunder, dass der Stamm Thorbrand gestattet hatte, das Kind mit dem bedrohlichen Omen großzuziehen. Ein stummes Mädchen, dessen Mutter kurz nach der Geburt im Kindbett gestorben war, ließ auch noch die Ungläubigsten des Bärenclans erschaudern.

Trotzdem war es ihm gelungen, sich vor der Gruppe zu behaupten. Immerhin war er der Schamane und wer konnte also besser entscheiden, was gut oder schlecht für die Menschen seines Stammes war?
Diese seine Stellung hatte schließlich den Ausschlag gegeben und die Tatsache, das er seinem Volk von vornherein versprochen hatte, Schari zur nächsten Schamanin auszubilden.

War ihre Stummheit als Frau ein unduldbarer Makel, so mochte sie doch gleichzeitig bedeuten, dass die Götter das Mädchen für sich beanspruchten.
Thorbrand glaubte nicht an solche Mutmaßungen, doch er gab derlei zu bedenken. Ihm war alles recht, was seine Tochter vor dem Ritualtod schützen konnte.

Die Zeit hatte ihm schließlich recht gegeben. Aus dem winzigen Säugling war nach all den Jahren eine schöne, junge Frau geworden. Ihr Geist war rege und sie hatten nach und nach eine Reihe von Handzeichen erarbeitet, mit deren Hilfe sie sich ohne größere Probleme verständigen konnten.

Als die Zeit kam, da Schari begann, sich häufiger und weiter vom Lager zu entfernen, sei es um Früchte zu sammeln, sei es, um Ton aus den nahen Gruben für ihre Töpferarbeiten zu holen, hatte er ihr Einohr zur Seite gestellt, einen riesigen, aber gutmütigen Wolfshund, der durch sein bloßes Aussehen samt dem abgebissenen rechten Ohr eine deutliche Drohung war.

Bisher war Schari mit Einohr immer unbehelligt geblieben und so würde es auch weiterhin sein.
Er musste sich wirklich keine Sorgen machen, auch wenn sie schon einen Tag überfällig war.

Der Weg zu den Tongruben war lang und es war gut möglich, dass sie sich beim Sammeln der hellen, einzigartigen Erde länger aufgehalten hatte.

Das alles wusste Thorbrand ganz genau und dennoch war der alte Mann seit dem Morgen unruhig wie ein Bär vor einem Bienenstock.

Vielleicht waren es die Gedanken an seine Tochter, die ihn von dem Offensichtlichen ablenkten, vielleicht die Freude über die gelungene Ernte oder die Erinnerung an vergangene Sommer, wer weiß das schon?

An diesem Nachmittag aber beging Thorbrand, der Schamane des Bärenclans, einen verhängnisvollen Fehler.

Leise waren die Fremden mit ihren langen, außergewöhnlichen Booten den Fluss herauf gekommen. Nur die gleichmäßigen Schläge der Ruder hatten sie angekündigt. Da war keine Trommel geschlagen worden. Kein Ruf ertönte und dennoch griffen die Ruderblätter in vollkommenem Gleichmaß in die Strömung und trieben die beiden Langboote zügig auf das Dorf zu.

Als Thorbrand die Fremden entdeckte, hätte sein Volk möglicherweise noch einen Versuch der Flucht in die dichten Wälder wagen können, ohne allzu viele Angehörige zu verlieren. Doch der Schamane beging einen Fehler. Er glaubte, in den Ankömmlingen Freunde sehen zu dürfen und ging den Booten feierlich entgegen. Vergessen waren die Geschichten, die Harl, der Sohn Harands, ihm erzählt hatte.

So beeindruckend und neuartig waren die Flussfahrzeuge, dass Thorbrand nicht die Gefahr dahinter erkannte. Er trat auf den Strand und sein Volk folgte ihm.

Als die ersten Kriegsschreie der wilden Nordländer ertönten, mochte er wohl noch mit einem letzten Atemzug die Gefahr erkannt haben. Doch es blieb ihm keine Zeit zu bedauern oder nach einer Lösung zu suchen. Durch die milde, spätsommerliche Luft drang das scharfe Sirren der eisernen Doppelaxt, die von der Hand des nordischen Häuptlings geschleudert, den Schamanen zielsicher in die Brust traf und ihn zu Boden warf. Thorbrand, der Schamane des Bärenclans war sofort tot.

Die Bärensippe um ihn erstarrte bei diesem hinterhältigen Angriff für lange Momente, bevor sie sich fasste. Diese kurze Zeit reichte den Nordmännern völlig aus, um mit ihren Wurfäxten und Schleudern zielsicher die kampftauglichen Männer des Clans zu töten oder zu verletzen.

In einem wilden, planlosen Durcheinander versuchten die Überlebenden nun, in den nahen Wald zu flüchten. Mütter rissen ihre Kinder in ihre Arme. Junge packten Alte und schleiften und zogen ihre Lieben in Richtung der schützenden Bäume.

Doch der Angriff der nordischen Horde erfolgte nicht unbedacht. Noch während die Boote sich mit ihrem Bug in den Sand des Strandes gruben, sprangen die kampferprobten Krieger in das kniehohe Wasser und begannen Jagd auf die Flüchtenden zu machen.
Dabei gingen sie mit tödlicher Zielsicherheit vor.

Männer und Alte wurden sofort getötet, Frauen und Kinder hingegen fingen sie ein und schleiften sie an Armen und Haaren zu den Booten. Wer sich zur Wehr setzte, erhielt einen betäubenden Hieb mit der Faust oder den Tod. Es ließ sich nicht sagen, was von beiden die größere Gnade war.

Die Sonne war keine Handbreit näher zum Horizont gezogen, als die überlebenden Frauen und Kinder des Clans gefesselt auf den Booten lagen und die Krieger die Vorräte der Sippe plünderten. Mit voll beladenen Booten legten sie schließlich ab, nicht ohne die Hütten am Ufer in Brand gesteckt zu haben.


 

 

Einen halben Tagesmarsch flussaufwärts nahm die stumme Schamanentochter Schari nichts von der Katastrophe wahr, die sich ereignet hatte. Zwar hätte ein scharfes Auge ein zartes Wölkchen erkennen können, das von dem brennenden Dorf aufstieg, doch die junge Frau sah nicht auf.

Tief gebeugt unter der Last des feuchten Tons in ihrer Rückentrage schritt sie vorsichtig über den unebenen Uferweg. Ihr Wolfshund Einohr sprang fröhlich um sie herum, lief voraus oder kam spielerisch zurück, wie es ihm gerade einfiel. Auch er konnte die drohende Gefahr noch nicht wahrnehmen.

Erst als die Sonne schon tief stand und Schari dem Dorf an der Küste deutlich näher gekommen war, drang ein beißender Holzfeuergeruch in ihre Nase, dem ein weiteres, scharfes Aroma beigemischt war, das sie nicht zu deuten wusste.

Auch Einohr begann, Unruhe zu zeigen. Mit angelegten Ohren und hochgezogenen Lefzen hielt sich der Rüde nun nahe bei seiner Herrin, die er beschützen würde, komme da, was wolle.
Aufmerksam sah sich Schari nun um und bemerkte schließlich doch das leichte Kräuseln in der Luft, in der Richtung, in der ihr Dorf lag. Auch sie spürte, dass hier etwas ungewöhnlich sein musste und beschleunigte ihre Schritte. Farnpflanzen und Zweige niedriger Ufergewächse schlugen an ihre Beine, doch sie ignorierte den Schmerz.

Als ihr völlige Stille entgegenschlug, wo sie doch den friedlichen Lärm ihres Dorfes erwartet hätte, stellte sie ihre Last kurzerhand ab und begann zu laufen.
Schnell ließ sie die letzte Flussbiegung hinter sich und trat bald danach auf die Lichtung, die sie ihre Heimat nannte.

Kein Erlebnis, keine Erinnerung, nichts hätte sie auf das Bild vorbereiten können, das sich ihr nun bot. Keine der einfachen Hütten aus Lehm und Holz hatte dem Feuer standgehalten. In unterschiedlichen Stadien des verbrannten Verfalls lagen die Reste ihres Zuhauses vor ihr. Doch Schari nahm diese Zerstörung nicht einmal wahr.

Was sie sah, waren die Leichen ihrer Freunde, die brutal zugerichtet wahllos dort liegen gelassen worden waren, wo man sie erschlagen, erstochen oder erwürgt hatte. Frauen waren von gierigen Händen hemmungslos entblößt worden, Kindern hatte man die Schädel zertrümmert. Wunden von Äxten bewiesen, dass viele ihrer Angehörigen auf der Flucht von hinten erschlagen worden waren.

Kraftlos sank die junge Frau auf beide Knie. Lautlos öffnete sich ihr Mund zu einem stummen Schrei, der weit hinaus in die Wälder gehallt hätte, wenn es ihr nur möglich gewesen wäre, ihr Leid in einem Ton auszudrücken. So aber blieben ihre Anklage und ihr Elend ungehört. Wer aber hätte auch in den tiefen Wäldern und Auen ihr Wehklagen hören sollen?

Zur selben Zeit folgte der Jäger Harl hochkonzentriert und lauernd der Fährte eines Rehs, hinab aus den Bergen zu einer der Wiesen, die für das Vorgebirgsland so typisch waren.
Zuverlässig blies der Wind vom Fluss herauf und garantierte ihm, dass er sich nicht durch seinen Geruch an seine Beute verriet.

Hin und wieder sog der Jäger den Geruch des Wassers ein und versuchte zu erkennen, was an dem gewohnten Duft heute anders wäre und ihn verunsicherte. Doch es war nur eine sanfte Brise, die der Wind mit sich führte und Harl, der noch eine gute Tagesreise vom Fluss entfernt war, konnte außer einem Gefühl der Unruhe nicht bestimmen, was ihn irritierte.

Bis zum Nachmittag trieb der geübte Jäger seine Beute langsam aber stetig weiter in die Niederung hinein. Noch wollte er das Tier nicht stellen, sondern es nach und nach näher an das Lager seines Freundes Thorbrand heranbringen, bis er es schließlich gegen Abend erlegen würde.

Das erhebliche Gewicht der gut genährten Ricke würde ihm auch so noch schwer genug auf den Schultern liegen, selbst wenn er die Höhen des Gebirges verlassen hätte.
Die Beute jetzt schon zu töten und dann mühsam ins Tal zu schleppen, war für den geübten Jäger kein verlockender Gedanke.

Und so pirschte er langsam und stetig weiter, darauf bemüht, sein Jagdziel nicht aus den Augen zu verlieren. Hin und wieder machte er an einer der Quellen kurz Halt, trank und sammelte ein paar Beeren von den dicht wachsenden Blaubeersträuchern. Am Abend würde Schari für sie alle die Leber und die Zunge des frischen Wildes zubereiten, so dass er durch die Aussicht auf ein vorzügliches Mahl den leichten Hunger lächelnd ignorierte.

Harl genoss die Pirsch in der spätsommerlichen Sonne und hing zufrieden seinen Gedanken nach. Von der Aussicht auf ein gutes Essen mit seinem alten Freund nahmen seine Überlegungen schnell den Weg zu dessen Tochter, die er als schöne, junge Frau in Erinnerung hatte. Gewiss war sie zurückhaltend und sogar ein wenig schüchtern ihm gegenüber gewesen, doch hatte er bei zahlreichen Gelegenheiten beobachten können, wie gut Thorbrand und sie miteinander auskamen.

Der Jäger hatte schnell verstanden, auf welche Weise Thorbrand mit seiner Tochter kommunizierte. Auch wenn er für sich selbst bisher nur einen geringen Teil der vielfältigen Gesten erschlossen hatte, mit denen sich Vater und Tochter verständigten, gefiel ihm die aufgeweckte Art, mit der beide einen Weg gefunden hatten, Scharis Stummheit erträglicher zu machen.

Die Stille, die die Schamanentochter umgab, war es auch, die Harl unbewusst faszinierte. Oft zog er monatelang nur in Gesellschaft seines Hundes durch die Wälder, dann war ihm die laute Unruhe der Dörfer ungewohnt und oft unangenehm.

Wenn er mit Schari zusammen war, fühlte er sich ungestört und dennoch zufrieden.
Harl hatte sich schon nach dem letzten Winter vorgenommen, während der kommenden kalten Jahreszeit erneut um Thorbrands Gastfreundschaft zu bitten und dabei dessen Tochter näher kennenzulernen.

Ein Lächeln verschönte sein Gesicht, als er über seine Pläne nachdachte. Auch wenn er in den Sommermonaten wie ein Nomade lebte, galt er dennoch als einer jener Männer, denen Väter ihre Töchter gern überlassen würden. Ein starker, geschickter Jäger war in jeder Familie gern gesehen und für die stumme Schari würde Thorbrand mit Sicherheit keinen besseren Gefährten finden.

Harls Blick wurde wieder ernst. Es gab allerdings eine weitere Möglichkeit für Scharis Zukunft, über die er mit Thorbrand noch nicht gesprochen hatte. Ja, es mochte sein, dass der Schamane sie als seine Nachfolgerin sah. Dann aber würde sie ein Leben lang allein bleiben und weder Harl noch irgendein Anderer würde je das Lager mit ihr teilen und ihren Körper in Besitz nehmen.
Einer Schamanin war der vertraute Umgang mit einem Mann nicht gestattet. Die Paarung, so glaubte man, entzog der Zauberin zuviel von ihrer Energie.

Harl runzelte die Stirn und wandte seine ganze Konzentration wieder der Pirsch zu. Über Schari und ihren möglichen Platz in seiner Zukunft konnte er im kommenden Winter noch genug nachdenken.
Der erfolgreiche Abschluss der aufwendigen Jagd würde nun seine ganze Aufmerksamkeit erfordern.

Sicheren Schrittes drang der Jäger in das immer dichter werdende Unterholz ein und erreichte nach einer Weile den Rand einer Lichtung.
Ohne ein Geräusch ließ er sich auf Knie und Ellenbogen nieder und bewegte sich nun mit einer raubtierhaften Sicherheit immer näher an die flache Wasserstelle, die, den Spuren nach zu urteilen, regelmäßig und ausgiebig von Rotwild frequentiert wurde.

Auch die Ricke, der er nun schon seit dem frühen Morgen folgte, hatte sich dem flachen Bach genähert und trank nun gierig von dem kühlen Wasser, das aus dem Gebirge kam. Dabei hatte sie Harl bedenkenlos ihre ungeschützte rechte Seite zugewandt.

Nun endlich sah der Jäger seine Chance. Geschmeidig zog er einen Pfeil aus dem Köcher, den er über die linke Schulter trug und spannte ohne ein Geräusch den bereitgehaltenen Bogen. Zielsicher und nur von einem feinen Sirren der Bogensehne begleitet, verließ das todbringende Geschoß die Waffe.

Ein leiser dumpfer Aufschlag verkündete den Treffer, ein Sprung des getroffenen Tieres, ein gequältes Keuchen und über den Wäldern lag erneut Stille. Der Tod war innerhalb eines Augenblicks über das Reh gekommen und hatte ihm keine Zeit mehr für eine Flucht gelassen.
Zufrieden, selbstsicher, ein wenig arrogant erschien das Lächeln auf Harls Gesicht, als er sich seiner Beute zuwandte. Der Mann kannte seine Fähigkeiten als Jäger genau. Doch er gab sich nicht lange dem Triumph des gelungenen Schusses hin, sondern trat zu dem Tier, dessen Wundbett so kurz gewesen war, dass es kaum Spuren im Gras hinterlassen hatte und zog seinen Pfeil aus dem Körper der Ricke.
Das Häuten und Zerlegen des Wildes würde eine der Frauen des Dorfes, vermutlich Schari selber, übernehmen. Doch Harl wollte sich die Last dennoch ein wenig erleichtern. So band er den Kadaver mit den Hinterläufen an einen starken Ast und schlitzte mit geübter Hand den Hals des Tieres so auf, dass es ausbluten musste.

Zufrieden lehnte sich der Jäger nun an den Stamm einer Birke und beobachtete den stillen Fluss des roten Lebenssaftes, der den Tierkörper verließ und sich im tiefen Gras verlor.

Es dauerte eine Weile, bis ihm der leicht brandige, stechende Geruch auffiel, den der Wind ihm vom Fluss her zutrug. Tief inhalierte der Jäger den ungewohnten Geruch und eine Unmutsfalte spaltete seine Stirn oberhalb der Nasenwurzel. Die Naivität der Siedler von Thorbrands Gruppe schien grenzenlos zu sein, wenn ihre Feuer bis in die Auen zu riechen waren.

Harl kniff die Augen zusammen. Wenn er genau darüber nachdachte, konnte er an eine derartige Nachlässigkeit der Bärengruppe nicht glauben. Selbst im tiefsten Winter, als sich der Frost mit klirrender Kälte und dicken Eisschollen über das Land gewälzt hatte, waren die Feuer der Freunde klein und Rauch arm gewesen.

Heute, im warmen Spätsommer, gab es keinen Grund, warum der Duft eines Feuers bis zu ihm vordringen sollte, es sei denn, der Brand war ungewollt.

Unwillkürlich nickte Harl. Das mochte es sein! Ein ungewolltes Feuer, das eine der einfachen Hütten erfasst hatte und nun seinen Geruch in alle Welt verbreitete.

Prüfend musterte der Jäger den tiefblauen Herbsthimmel und tatsächlich erkannte er ein zartes Wölkchen, das sich über jener Flussbiegung kräuselte, an der Thorbrands Gruppe ihr Dorf errichtet hatte.

Harl lächelte. Wenn es tatsächlich ein Problem im Dorf gab, dann käme er am Abend gerade richtig, um mitzuhelfen und seine anerkannte Stellung im Verständnis der Siedler zu festigen. Schwungvoll erhob sich der Mann, löste seine ausgeblutete Beute vom Ast, legte sich das Reh um beide Schultern und schritt dann rüstig aus, um spätestens im abendlichen Dämmer Thorbrands Dorf zu erreichen.



 

Zeit verstrich und das stumme Schreien der Schamanentochter ging nach und nach in ein ebenso geräuschloses Weinen über. Gequält wiegte sich die junge Frau über jenem Leichnam vor und zurück, der ihr von all den bekannten Gesichtern den größten Kummer bereitete – Thorbrand.

Auf Händen und Knien war sie von einem Opfer zum nächsten gekrochen und hatte ihren Vater schließlich am Strand gefunden. Die zerbrochene Doppelaxt stak noch in seinem Brustkorb und nur ein winziges rotes Rinnsal kündete von der tödlichen Wunde.

Immer wieder streichelte Schari das Gesicht des Mannes, fuhr über die geschlossenen Augen und berührte seine Hände. Irgendwo auf dem elenden Weg vom Waldrand bis an den Strand war ihr logisches Denken am Ende gewesen und sie konnte den Alptraum um sich herum nur noch vage wahrnehmen.

Noch empfand sie nur Schmerz und Ohnmacht und es war ihr vermutlich bisher nicht einmal zu Bewusstsein gekommen, dass sie nun völlig auf sich allein gestellt war.

Der Bärenclan war aufgrund eines fatalen Fehlers zu Vergangenheit geworden und hatte sie in der Wildnis zurückgelassen.

Erst das jammernde Aufheulen ihres Wolfshundes rief Schari zurück in die Realität. Der große Rüde saß direkt vor ihr und klagte die Wolken an.

Langsam schärfte sich der Blick der trauernden Frau wieder und sie nahm den einzigen Gefährten wahr, der ihr geblieben war. Auch Einohr spürte die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde und kam nahe an Schari heran. Sie aber schlang einen Arm um den warmen, starken Hals des Tiers und drückte es fest an sich.

So saßen sie eine lange Zeit und erst, als sich die Sonne dem Horizont zuneigte, beschloss Schari, dass sie etwas tun müsse.

Sie wusste nicht genau, was das sein könnte, doch wollte sie ihre Freunde und vor allem ihren Vater nicht einfach liegenlassen und den wilden Tieren anheimgeben. Also begann sie, über ihre Möglichkeiten nachzudenken.

Gerade als sie zu dem Entschluss gekommen war, in den Trümmern der Hütten nach brauchbaren Gegenständen zum Graben oder nach Decken zu suchen, schlug Einohr warnend an.

Entsetzt fuhr Schari auf. Sie hatte keinerlei Waffen bei sich. Mit der Kraft der Angst und der Verzweiflung versuchte sie, die Axt mit dem abgebrochenen Stil aus Thorbrands Brust zu reißen, doch die Waffe war von einer starken Kriegerhand dorthin geschleudert worden und saß fest.

Panisch blickte sich die Frau um und ergriff schließlich zwei handliche Steine, Flusskiesel, die zu ihren Füßen lagen.
Ihre drohende Haltung ließ erahnen, dass sie sich nicht kampflos ergeben würde. Wer auch immer es sein mochte, der sie aus dem Dunkel des Waldes heraus bedrohte.



Mit Erstaunen hatte Harl Scharis Reaktion beobachtet. Dass ihr Hund ihn schon so zeitig wahrgenommen und angeschlagen hatte, ärgerte ihn. Doch das Gebell war nicht weiter schlimm. Dass sie aber plante, ihn anzugreifen, kam für den Jäger völlig unerwartet.

Er war schon seit geraumer Zeit nahe am Lager und beobachtete Schari fast ebenso lang.
Ja, tatsächlich hatte er sich bereits heimlich wieder von dieser tödlichen Stätte entfernt und den Weg ins Landesinnere eingeschlagen, als ihn die Erinnerungen an seinen Freund Thorbrand und seine Wünsche, die Schamanentochter betreffend, doch noch umkehren ließen.
Im Lager des Bärenclans gab es für ihn noch etwas zu holen, das wertvoller war, als ein sicheres Winterquartier oder ein wärmendes Feuer.

Harls Gedankenwege waren einfach. Zwar betrauerte auch er auf seine Weise Thorbrands Tod und den Untergang der Bärensippe.

Dennoch konnte er ein leises Triumphgefühl nicht unterdrücken. Er hatte sie gewarnt. Er hatte sie gewarnt, nicht nur einmal, und sie hatten nicht auf ihn gehört.
Nun aber waren die Nordmänner gekommen, wie er es vorausgesagt hatte.

Sie musste viele Frauen und Kinder mitgenommen haben, stellte er fest, und es grenzte an ein Wunder, dass sie gerade Schari zurückgelassen hatten.

Jetzt, wo sie ganz auf sich allein gestellt war, musste sie sich ihm einfach anschließen. Es würde kein Feilschen um den Brautpreis und keine Vereinbarung geben, welche Rechte er seiner Frau zugestehen solle. Sie würde ihm gehören und er brauchte nur dafür zu sorgen, dass sie den kommenden Winter überlebte, dann standen ihm alle Möglichkeiten offen.

Mit wachsendem Besitzerstolz betrachtete er die Frau, die inzwischen, mit zwei Steinen bewaffnet, versuchte, zwischen den Gewächsen des dunklen Waldrandes etwas zu erkennen.
Ihre Haltung war angespannt, zum Sprung bereit und Harl beglückwünschte sich im Stillen, zurückgekommen zu sein, um sie zu holen.

Gewiss würde er dafür sorgen, dass sie freiwillig mit ihm ging. Er war ja kein Berserker. Und natürlich mussten sie vorher die Würde ihrer Familie wieder herstellen und die Leichen bestatten. Auch das konnte er ihr zugestehen.

Doch dann würden sie jenen Teil der verbliebenen Vorräte an sich nehmen, den sie beide tragen konnten und er würde mit ihr in die Berge ziehen. Ein Winter in den Höhlen war zwar nicht sehr vielversprechend, doch noch hatten sie etwas Zeit, um sich vorzubereiten.

Und die kalten Nächte unter den Fellen mochten gemeinsam durchaus angenehme Seiten haben …

Harl hatte sich genug bedacht und verließ vorsichtig mit erhobenen Händen das Unterholz. Beide Handflächen waren für Schari gut zu erkennen und offenbarten in einer uralten Geste, dass von ihm keine Gefahr ausging.

Einer, dessen Handflächen man sehen konnte, versteckte dort keine Waffen und konnte nicht hinterrücks ein Messer ziehen. Erhobene Hände waren eine Sprache, die jeder verstand und so erkannte auch Schari, dass der Mann aus dem Wald in friedlicher Absicht kam.

Dennoch ließ sich das Entsetzen nicht so schnell verdrängen und auch als sie Harl, den Sohn Harands und Freund ihres Vaters längst erkannt hatte, stand sie noch wie erstarrt.
Erst, als ihr Wolfshund sich knurrend und mit angelegten Ohren äußerte, setzte ihr logisches Denken wieder ein und mit einem Schnalzen der Zunge rief sie Einohr zurück.

Schließlich ließ sie die beiden faustgroßen Kiesel fallen, die mit einem dumpfen Ton aufschlugen. Die Anspannung machte einer unüberbrückbaren Erschöpfung Platz und sie fiel auf die Knie.

Harl, der ihr Verhalten zunächst nur aufmerksam beobachtet hatte, ohne sich zu rühren, kam nun schnell näher und ließ sich neben ihr nieder. Vorsichtig, um sie nicht noch mehr zu verängstigen, legte er einen Arm um Schari, die seine Berührung duldete.

Dann, als sie sich seiner Nähe bewusst wurde und der neuen Sicherheit, die von ihm ausging, ließ die Schamanentochter all ihr Entsetzen und ihre Angst zu und weinte still an seiner Schulter.

Es war für den Jäger ein ganz eigentümliches Gefühl, die verletzliche, weinende Frau im Arm zu halten. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass ein Zusammensein mit ihr auch Verantwortung für ihn mit sich brachte.
Hätte er sie zurückgelassen, wäre sie über kurz oder lang gestorben. Eine einzelne, schwache Frau konnte in der Wildnis der Wälder und Sümpfe nicht überleben. Er aber hätte auf ihre Zukunft keinen Einfluss gehabt.

Nun aber, und dessen wurde sich Harl ganz deutlich bewusst, war es seine Aufgabe, Schari in Sicherheit und über den drohenden Winter zu bringen. Unsicher strich er der Schamanentochter über das lange Haar und begann, sich seiner neuen Aufgabe zu stellen und sie zu trösten.

Der Abend brach nun mit Macht über das trauernde Paar herein. Die Helle der Sonne wich einem zwielichtigen Dämmer, von dem der Jäger wusste, dass es in dieser herbstlichen Zeit bald von einem undurchdringlichen Dunkel abgelöst werden würde.

Freundlich aber bestimmt schob er die noch immer schluchzende Frau ein wenig von sich.

„Schari!“

Der Klang ihres Namens schien die Trauernde nicht zu erreichen.

„Schari!“

Harl schüttelte sie bei seinen Worten ein wenig, um sich Gehör zu verschaffen.
Dann, als ihre geröteten Augen seinen Blick fanden, fuhr er fort.

„Ich weiß, wie dir zu Mute sein muss. Doch versuch bitte, ein wenig zu dir zu kommen.“

Mit einer ausladenden Geste wies er in die Runde.

„Die Nacht ist nah und wir sollten nicht hier bleiben. Das ist kein Ort mehr, an dem wir ruhen könnten und die Wölfe werden aus allen Richtungen kommen, wenn erst der Mond aufgegangen ist.“

Harl beobachtete aufmerksam, wie ihr Blick seiner Handbewegung folgte und ihre eigene Hand sich dann in einer verzweifelten Geste vor ihre Augen legte.

Die Körpersprache der stummen Frau war ausdrucksstark und selbst für ihn unmissverständlich. Sie konnte ihre Toten nicht einfach verlassen. Es war unmöglich, die Freunde oder gar ihren Vater Thorbrand den Wölfen und anderen Aasjägern der Nacht zu übergeben.

Schon während er versucht hatte, sie zu trösten, war das Auge des Jägers nicht untätig geblieben und so hatte er eine fast unversehrte Hütte ausgemacht, in der sie die Toten vor den wilden Tieren schützen konnten. Doch er allein würde es nicht schaffen, all die schweren, leblosen Körper dorthin zu bringen, bevor die Nacht sie erreichte.

Es mochte für einen Außenstehenden eine törichte Tat sein, doch Harl konnte Schari nicht ohne irgendeine Art von Totenritual von ihrer Heimat fortschleppen. Das wäre aus ihrer Sicht ein unverzeihliches Tun gewesen. Und so entschloss er sich, auch wenn ihm davor graute, dafür zu sorgen, dass sie ihn als Retter und Helfer ansah. Selbst wenn das bedeutete, die Toten zu berühren.

 

Kapitel 2:

 

Seit dem Morgen schritten sie nun zielstrebig dem Gebirge entgegen.

Jetzt stand die Sonne schon fast im Zenit und beschien Harl und Schari, die beide, ohne sich umzusehen, dem rettenden Labyrinth der Berge zustrebten. Hätten sie es getan, so wäre ihr Blick auf eine schmale Rauchsäule gefallen, die jene Stelle am Flussufer kennzeichnete, an der sie in der vergangenen Nacht die Totenfeuer entzündet hatten.

 

Der Jäger war dabei so umsichtig gewesen, für Thorbrand einen eigenen Scheiterhaufen zu errichten und, wie erwartet, hatte Schari darauf bestanden zu bleiben, bis der Körper ihres Vaters zu Asche verbrannt war.

Mit dem, was Schari dann tat, hatte sie den Jäger allerdings überfordert.

 

Ohne auch nur eine einzige Regung des Schmerzes zu zeigen, hatte sich die Schamanentochter einen tiefen Schnitt am linken Unterarm beigebracht und eine Brise der Asche ihres Vaters in die frische Wunde gerieben. Blut und Staub bildeten dort inzwischen eine zähe Kruste und Harl wusste, dass die Narbe, gleich einer Körperzeichnung, nie mehr unsichtbar werden würde.

 

Für einen Kult dieser Art hatte der Jäger kein Verständnis.

Egal, wohin die Menschen nach ihrem Tot gingen, er sah keinen Grund, warum sich die Lebenden dauerhaft die Last einer Erinnerung aufbürden sollten. So jedenfalls hatte er es sich vorgenommen.

Harl, der Sohn Harands, wollte vergessen.

 

Während er zügig ausschritt, blickte er sich hin und wieder nach der Frau um, die ihm mühsam folgte. Beide trugen sie auf ihren Rücken jene Dinge, die sie in Thorbrands verlorenem Dorf hatten bergen können.

Doch es war nicht diese Last, die den Rücken der Schamanentochter beugte. Wann immer sich Harl zu ihr umwandte, sah er stille Tränen über ihre Wangen rollen.

Dann knurrte er unwillig und schritt noch ein wenig schneller aus.

 

 

 

Nach zwei Tagen lag der Weg ins Gebirge offen vor ihnen. Weit in der Ferne konnte man schnee- und eisbedeckte Gipfel erkennen, während sie die von dichtem Wald überzogenen  Hänge des Vorgebirges hinter sich gelassen hatten.

 

Dabei war Schari klar geworden, wie abhängig sie nun von ihrem Begleiter war. Harl kannte jeden Pfad und jede Furt. Ohne ihn hätte sie sich in dem dichten Gewirr des Unterholzes unweigerlich verirrt. Doch der Jäger führte sie zielstrebig und sicher, auch wenn er kaum sprach und eine mürrische Miene zur Schau stellte.

 

Die junge Frau störte das wenig. Noch war sie in Gedanken bei ihrem Volk am Fluss. Was mochte aus den Frauen und Mädchen werden, die die Fremden verschleppt hatten? Sie ahnte, welche Aufgaben man für eine solche 'Beute' haben würde. Schari wusste wohl, dass sie viel Glück gehabt hatte.

 

Ihre Stummheit hätte für sie mit Sicherheit den Tod bedeutet. Menschen, die vom Normalen abwichen, wurden von Ihresgleichen meist für ein schlechtes Ohmen gehalten. Jede Missernte, jeder Schaden konnte von ihnen verursacht sein.

Ihr Vater hatte ihr einmal erzählt, dass es Stämme im Westen gäbe, die solche Missgeburten wie sie als 'Kinder der Götter' verehrten, doch daran glaubte sie nicht. Bestimmt hatte Thorbrand diese Geschichte erfunden, um sie zu trösten!

 

Schari betrachtete den nun offenen Pfad, dem sie seit dem Morgen folgten. Nachdenklich folgte ihr Blick dem schmalen Dunkel, das sich durch das helle Gras des Tals wand.

Wohin würde sie dieser Weg führen?

 

Noch immer schritt Harl wortlos vor ihr und ohne Blickkontakt hatte sie keine Möglichkeit, ihre Frage nach dem Ziel anzubringen. Doch inzwischen überwog die Neugier gegenüber der Trauer und so griff Schari beherzt nach den Riemen ihres Packens, zog die Last dichter an ihren Rücken und schritt schneller aus.

 

Tatsächlich holte sie den Mann vor ihr auch bald ein.

Ein Zupfen an seinem Hemd ließ Harl zusammenfahren. Reflexartig fuhr er herum, nur um zu sehen, wie Schari zurückschreckte, die direkt hinter ihm gegangen war.

Wieso hatte er nicht gehört, dass sie so dicht zu ihm aufgeschlossen hatte?

Doch die junge Frau schien sich von dem Schreck, den seine ruckartige Reaktion ausgelöst hatte, schnell zu erholen.

 

Schon hob sie einen Finger, um anzuzeigen, dass sie mit ihm reden wollte. Harl nannte ihre Gesten im Stillen immer 'sprechen', auch wenn dabei kein Laut über ihre Lippen kam. Doch waren ihre Gesten nicht auch eine Art Sprache?

Der Jäger hatte keine Zeit, seinen Überlegungen weiter nachzugehen, denn nun nahmen Hände und Mimik der Frau seine Konzentration in Anspruch.

 

Der erhobene Zeigefinger sank und wies auf den Pfad vor ihren Füßen. Dann deuteten zwei Finger das Gehen auf diesem an. Eine Hand wies in die Ferne und das Wedeln der Finger konnte kaum etwas anderes bedeuten als eine weite Entfernung.

Dann hielt Schari ihm beide Hände offen hin und richtete einen fragenden Blick auf ihn.

 

Es war Glück, dachte Harl, dass er schon im vergangenen Jahr diese Art des Gesprächs zwischen ihr und Thorbrand beobachtet und sich auch selbst ein wenig in den Zeichen versucht hatte.

Thorbrand hatte dabei immer ausgesprochen, was er aus den Zeichen seiner Tochter las und so versuchte nun auch Harl, ihre Gesten zu deuten. Er war froh, dass sie nun endlich versuchte, mit ihm Kontakt aufzunehmen. An den beiden vergangenen Abenden war er allein der Redner gewesen und sie hatte kaum zu erkennen gegeben, dass sie ihn verstanden hatte.

 

Harl hatte seinen Zorn über ihre Undankbarkeit, wie er es empfand, nur mit Mühe hinunterschlucken können. Jetzt aber schien sie aufgewacht zu sein und vielleicht waren es nur die Folgen des Erlebten und der Schock über die Veränderungen gewesen, die Schari so seltsam hatten werden lassen?

 

"Du möchtest mehr über unseren Weg wissen", vermutete Harl. Ein schüchternes Lächeln und ein Nicken bestätigten ihm, dass er Recht hatte.

Spontan ergriff er Scharis Linke und nahm langsam den Weg wieder auf. "Wir werden noch ungefähr vier Tage zu gehen haben", begann er, seine Ziele auszuführen. "Dabei müssen wir eine Pass überqueren, der vor jenem Tal liegt, in dem wir den Winter verbringen können."

 

Er lächelte still in sich hinein, als er sich vorstellte, wie Schari und er jene große, windgeschützte Höhle beziehen würden, die er schon seit Jahren regelmäßig nutzte, wenn er dort auf seinen Jagdzügen vorbeikam. Ein guter Platz, um während des Schnees unter den Fellen zu liegen…

 

Die Augen der Frau neben ihm waren interessiert auf ihn gerichtet und so begann er, jenen Ort, dem sie zustrebten, für seine Zuhörerin genauer zu beschreiben, die Wälder, deren Beeren und Pilze sie sammeln konnte, das reichliche Wild, das ihre Wintervorräte ergänzen würde. Er, Harl, würde ausreichende Holzvorräte anlegen und sie würden keinen Mangel leiden müssen.

 

Das Lächeln auf Scharis Gesicht gefiel ihm, doch gleichzeitig fiel ihm bei seiner Betrachtung zum ersten Mal auf, wie erschöpft sie aussah.

Die blauen Augen lagen in tiefen, dunklen Höhlen und ihr sonst so weiches, seidiges Haar hing ihr zerzaust und staubig ins Gesicht. Einzelne Tränen hatten auf der ebenfalls verdreckten Haut ihrer Wangen mäanderartige Spuren hinterlassen.

 

Harl brummte. Was hatte er sich nur dabei gedacht, sie derartig ohne Pause vorwärts zu scheuchen, noch dazu mit dem schweren Packen auf ihren Schultern? Wenn sie ihm auf dem Weg über den Pass zusammenbrach, hatte er ein Problem, das er kaum würde lösen können. Und er wollte auch nicht als verständnisloses Raubein vor ihr dastehen.

Sie würden einen zusätzlichen Tag für den Weg benötigen, wenn er die Wanderung verlangsamte, aber dabei auch ihre Kräfte schonen.

 

Als habe er es schon immer so vorgesehen, verkündete Harl nun, dass sie vor der Überquerung des Passes natürlich neue Kräfte sammeln müssten und deshalb heute und morgen nur bis zum Mittag wandern würden. Schari nickte und es schien ihm, als würde sie bei dem Gedanken an Rast und Schlaf ein wenig zuversichtlicher aussehen.

 

Der Weg wurde nun schmaler und folgte einem kleinen Bach, so dass Harl Scharis Hand loslassen musste und wieder vor ihr ging.

 

Nachdenklich betrachtete die Schamanentochter die Rückansicht des Mannes. Erst jetzt, nachdem er sie so besitzergreifend an der Hand genommen hatte, begann sie sich zu fragen, was Harl bewogen haben konnte, sie mitzunehmen.

Er rettete ihr damit das Leben. Sie wusste das. Allerdings waren ihr die Gründe hierfür unerklärlich.

 

Von den Männern im Dorf hatte sich keiner für sie interessiert und auch, als sie in ein Alter gekommen war, in dem man junge Frauen an ihre Gefährten gab, hatte sich nie einer der ungebundenen Männer näher um sie bemüht. Sie war einfach zu anders, als dass sie zu einer Gefährtin für einen der Dörfler hätte werden können.

Schari verstand das und auch wenn es sie manchmal traurig machte, akzeptierte sie ihre Einsamkeit.

 

Die junge Frau zuckte schließlich mit den Schultern. Bestimmt wollte Harl nur eine helfende Hand für den kommenden Winter. So musste es sein! Eine Frau, die das Feuer bewachte und die Kleidung in Ordnung hielt, die Felle gerbte und Nahrung suchte - und das konnte sie für Harl durchaus tun.

 

Ja, sie würde für ihn sorgen, diesen einen Winter lang. Über das nachzudenken, was sie danach tun würde, bliebe noch genügend Zeit, wenn erst der Schnee gefallen war. Bis dahin würde sie sicher sein. Und da sie Harl ganz gern mochte, sah sie für die kommende Jahreszeit  keine Schwierigkeiten.

 

Harl hingegen plagten ganz andere Fantasien und er musste sich sehr beherrschen, um nicht die Reise zu unterbrechen und sich näher mit der Schamanentochter hinter sich zu beschäftigen.

Sicher lag es daran, dass er schon lange keine Frau mehr unter sich gehabt hatte, mutmaßte der Jäger. Anders ließ es sich wohl kaum erklären, dass ein unschuldiges Hand-in-Hand-gehen ein solches Ziehen in seinen Lenden hervorrief.

 

Noch immer konnte er die Wärme ihrer Handfläche wie ein feines Kribbeln spüren. Der Handrücken war weich gewesen, obwohl er wusste, dass Schari hart zu arbeiten verstand. Und sie hatte einen festen, entschlossenen Griff. Auch das gefiel ihm.

 

Schari gefiel ihm. Allein aus diesem einen Grund war er ja zurückgekommen!

Nun musste er sie sich nur noch zu eigen machen! Harl beschloss, damit nicht zu warten, bis sie das Winterlager erreicht hatten. Je früher sie ihre zukünftigen Pflichten kennenlernte, um so besser!

 

In Gedanken versunken wanderten sie stetig weiter, bis die Sonne bereits hoch am Zenit stand. Dann erreichten sie einen kleinen See und ließen erleichtert ihre schweren Packen fallen.

 

Ohne Übergang lief Schari zu dem klaren, glitzernden Gewässer, fiel auf die Knie und trank gierig. Als wolle er ihr dabei Gesellschaft leisten, war nun auch Einohr herangekommen, der sonst in einigem Abstand gefolgt war, und kostete vorsichtig von dem eisigen Wasser.

Schari beugte sich nun noch tiefer über die Wasseroberfläche, um ihr Gesicht zu waschen. Dass sie Harl dabei einladend ihr Hinterteil entgegen reckte, bemerkte sie nicht. Und selbst wenn, hätte sie sich nichts dabei gedacht.

 

Harl aber betrachtete ihre Haltung sehr interessiert. Das war es! Genau so wollte er sie vor sich haben, nur mit viel weniger Kleidung auf dem Leib. Vorfreudig brummte der Mann in sich hinein. Bis zum Abend würden sie hier bleiben und Schari sollte essen und sich ausruhen. Für das, was er mit ihr vorhatte, würde sie ihre Energien gewiss brauchen.

 

Er lächelte in sich hinein. Wenn sie erst von seiner Kraft gekostet hatte und von der Lust, die er ihr schenken konnte, würde sie nie mehr etwas anderes sein wollen, als seine Gefährtin.

Die Frau, deren Zukunft er gerade in Gedanken festgelegt hatte, kam vom Ufer zurück. Wassertropfen glänzten auf ihrem Gesicht und sie lächelte.

 

Harl gab den freundlichen Blick zurück. "Ich werde jetzt versuchen, noch ein Kaninchen oder ein paar Hörnchen zu fangen, damit wir etwas Frisches zu essen haben. Du solltest die Zeit nutzen, um zu baden und auch, um Holz zu beschaffen."

Er wartete ihr zustimmendes Nicken noch ab, dann ergriff er seinen Bogen und ging.

 

Schari aber sammelte das herumliegende Gepäck ein, versteckte es in den ufernahen Sträuchern und machte sich auf die Holzsuche. Dabei nahm sie ein grobes Tuch mit. Sicher würde es in der Nähe essbare Pilze oder Wurzeln geben, vielleicht auch Beeren.

Harl hätte gegen ein frisches Zubrot bestimmt nichts einzuwenden.

 

So gingen sie beide ihren Aufgaben nach. Erst, als die Sonne  schon golden den Nachmittag verkündete, kam Schari ins Lager zurück. Von Harl war noch nichts zu sehen oder zu hören. Müde streckte sich die junge Frau, dann beschloss sie, sich und auch ihre Kleidung zu waschen. Noch immer trug sie das Wollkleid, mit dem sie von Tongruben zurückgekommen war. Es war fleckig und inzwischen  roch es streng. Auch Harls Hemd und Hose würde sie waschen müssen. Sicher trug der Jäger ebenso wie sie Ersatzkleidung  bei sich.

 

Schon im Dorf hatte Schari nicht viel besessen. Nun gab es neben dem, was sie am Leib trug, nur noch ein Lederkleid mit Beinlingen, das für die kälteren Tage bestimmt war und einen Umhang aus Pelz, der aus dem Fell eines Auerochsen gemacht war.

Für derlei Dinge hatten sich die Räuber nicht interessiert und zum Glück war nicht alles im Dorf verbrannt gewesen.

 

Tief in Gedanken versunken schwamm Schari in den kleinen Bergsee hinaus. Vollkommene Stille lag über dem Gewässer und die Teichrosen spiegelten sich in der klaren Oberfläche.

Vorsichtig, um so wenig wie möglich Wellen zu schlagen, tauchte Schari an die Blüten heran. Libellen flitzten durch das Schilf und die Schamanentochter beobachtete andächtig das Schauspiel.

 

Obwohl der Überfall ihre ganze Welt zerstört hatte, war der Frieden der Natur doch unverändert. Für das Leben auf und um den See war ihr eigenes Leid vollkommen ohne  Bedeutung.

Nachdenklich dachte Schari an die Worte ihres Vaters, mit denen er ihren Blick für die kleinen Dinge im Leben zu schärfen versucht hatte. "Jeder von uns ist nur ein winziger Teil des Ganzen", schien sie seine Stimme zu hören. "Egal, wie stark und mächtig wir uns fühlen. Wir sind nichts ohne die Natur und ohne unser Volk. Die Welt um uns herum kann sehr gut auf uns verzichten, wir aber nicht auf sie."

 

Damals hatte sie gedacht, dass es nicht nötig gewesen wäre, etwas so selbstverständliches auszusprechen. Heute sah sie zum ersten Mal, dass in diesen einfachen Weisheiten viel mehr verborgen war, als sie es sich damals hätte vorstellen können.

 

Während Schari ihre Kleidung wusch, sie in den Sträuchern zum Trocknen aufhängte und dann eine Feuerstelle vorbereitete, machte sich auch Harl auf den Rückweg.

Zunächst war der Jäger lange Zeit ergebnislos durch den Wald gestreift. Der Wunsch, erfolgreich zu sein und sich vor Schari zu beweisen, hatte ihn unruhiger und ungeschickter gemacht, als er es gewohnt war.

Erst, als er mit aller Konzentration seine Gedanken  weg von der Frau und auf die Jagd gerichtet hatte, war er wieder eins mit der Natur und den Lebewesen um ihn herum geworden.

 

Er nahm das scheue Rotwild wahr, das auf einer kleinen Lichtung äste und entdeckte die Spuren eines mächtigen Keilers. Doch eine so große und unförmige Beute konnten sie heute nicht gebrauchen.

Mit dem, was sie bereits auf ihren Rücken trugen, waren sie ausreichend belastet. Große Mengen an Fleisch durften da nicht hinzukommen.

 

Erneut wollten die Gedanken des Jägers abschweifen, doch nun zwang er sich streng zu mehr Aufmerksamkeit. Wachsam streifte er durch das Unterholz und entdeckte endlich einen Kaninchenbau - genau das Richtige für ein Abendessen.

 

Hätte er einen Grabstock zur Hand gehabt, wäre er schneller an das frische Mahl gekommen. So, nur mit Bogen und Speer bewaffnet, hieß es für Harl warten.

 

Nun konnte er seine Gedanken erneut schweifen lassen und wie von selbst führten sie ihn zurück an jenen kleinen See und zu Schari. Er hatte ihr absichtlich nichts anderes als das Holzholen aufgetragen. Sie sollte zur Ruhe kommen und Zeit für sich haben.

Die tiefen Augenringe und die eingefallenen Gesichtszüge hatten ihn mehr erschreckt, als er es sich hatte anmerken lassen.

 

Harl versuchte sich zu erinnern, wie es für ihn gewesen war, damals, als die Nordmänner in sein Dorf gekommen waren. Er musste tagelang blind umhergeirrt sein, blind vor Trauer und blind vor ohnmächtigem Zorn.

Hätte ihm damals ein Fremder nahekommen wollen, er hätte um sich geschlagen wie ein wildes Tier.

 

Ein Rascheln ließ Harls Konzentration zu dem Kaninchenbau zurückkehren, doch dann sah er, dass er nur die Bewegung einer vorwitzigen Elster gehört hatte, die in dem Baum vor ihm gelandet war. Der Jäger erstarrte erneut ins einer Lauerposition. Lange würden die kleinen Nager nicht mehr auf sich warten lassen.

 

Immer noch war er mit sich selber uneins, wie er später mit Schari umgehen wollte. Zum Einen reizte es ihn sehr, sie zu besitzen und sein Körper stimmte diesem Wunsch eindeutig zu. Andererseits, wenn er sich an seinen eigenen Verlust erinnerte, konnte es sein, dass sie noch nicht bereit dazu war, sich ihm hinzugeben. Harl war unzufrieden. Situationen wie diese, die keine eindeutige Lösung bereithielten, waren ihm verhasst.

 

Beinahe erleichtert atmete er deshalb auf, als ein leises Rascheln und Kratzen ankündigte, dass die Kaninchenfamilie ihren Bau nun verlassen würde. Und siehe da, ein erstes Langohr ließ sich endlich blicken.

Harl ließ den Tieren Zeit, sich auf der Wiese zu  tummeln. Je weiter sie vom Bau entfernt wären, um so größer war seine Chance, mehr als eines der Tiere zu erlegen.

Tatsächlich musste nicht mehr viel Zeit vergehen, bis zwei der schmackhaften Nager an seinem Gürtel baumelten.

 

Zufrieden reinigte Harl Pfeil und Speer. Wieder einmal waren sie zuverlässig gewesen und seine Hand ruhig. Mehr als auf die Pflege seiner Kleidung oder seines Schuhwerks legte der Jäger Wert auf Sorgfalt beim Umgang mit seinen Waffen. Ohne Bogen und Speer war er in der Wildnis ein Nichts und das wusste er.

Der Rückweg verlief ohne Überraschungen und bald sah Harl den kleinen See durch die Zweige des Uferbewuchses schimmern.

 

Vorfreudig schlug sein Herz schneller und der Mann war verwundert, wie viel ihm der Anblick des einfachen Lagers zu bedeuten schien. War es das, warum sich die Siedler so hartnäckig an ihre Dörfer klammerten; war das jenes Gefühl des Nachhausekommens, das auch Thorbrand ihm immer wieder als lohnendes Ziel in Aussicht gestellt hatte, wenn er sich je niederlassen würde?

 

Harl wusste es nicht und es erschien ihm müßig, gerade jetzt darüber nachzusinnen. Er war inzwischen so nah an den Lagerplatz gekommen, dass er den reichlichen Stapel Holz erkennen konnte, den die Schamanentochter aufgeschichtet hatte. In einem Busch nahe am Ufer hing ihr Kleid, das der Wind sanft hin und her schaukelte.

Leise trat Harl näher. Wo war sie?

 

Nachdem sie auch noch ihre Kleidung gesäubert hatte, war Schari erschöpft gewesen und hatte sich seufzend in ihren Pelzumhang gehüllt. Nur einen Moment lang wollte sie ausruhen und dann das Feuer entzünden und die Pilze zubereiten, die sie gefunden hatte.

 

Doch die Wärme des dichten Pelzes und das müde Ziehen in ihrer Rückenmuskulatur ließen die junge Frau schnell einschlafen.

Wohlig in den weichen Pelz gekuschelt schlief sie neben dem Brennholzstapel und hier fand sie nun auch Harl, der den Platz inzwischen aufmerksam gemustert hatte.

 

Es war ihm schnell klargeworden, dass Schari viel mehr getan hatte, er ihr von ihm gesagt worden war. Bei dem Blick auf Beeren und Pilze lief dem Jäger das Wasser im Mund zusammen. So viele Vorräte würden sie beide heute und auch morgen sättigen.

Als er nun die Schläferin musterte, die ihre Ruhe mehr als verdient hatte, wurden seine Gesichtszüge duldsam und weich. Er hatte in Schari eine wertvolle Gefährtin gefunden.

 

Der Jäger legte seine Beute neben ihre gesammelten Schätze und beschloss, erst einmal ebenfalls zu baden. Sollte sich seine Frau ruhig noch eine Weile ausruhen.

Ebenso ausgiebig wie sie genoss er nun das Bad in dem kleinen Weiher und nahm es danach sogar auf sich, seine Beinlinge und das Hemd auszuwaschen.

Bald flatterten die seine Kleider einträchtig mit Scharis Gewand im Wind.

 

Zurück an der Lagerstätte fand er jedoch eine kleine Veränderung vor, die all seine guten Vorsätze umgehend in Frage stellte. Die Wärme des dichten Pelzes hatte Schari dazu gebracht, sich von einem Teil des Pelzes zu befreien und so ruhte sie nun mit entblößtem Oberkörper und träumte weiter in einem erholsamen Schlaf.

Ungläubig starrte Harl auf die helle Haut ihrer festen, kleinen Brüste. Das konnte doch unmöglich ihr Ernst sein?

 

Längst hatte ihn der Anblick in einen Zustand unterschwelliger Erregung versetzt - das ruhige Auf und Ab ihres Brustkorbs hob ihm entgegen, was er nur zu gern mit beiden Händen umfassen und erkunden wollte. Ihr Mund, so fiel ihm jetzt auf, war leicht geöffnet und die rosigen Lippen würden sich weich und warm anfühlen, wenn er sie küsste.

 

Harl konnte gar nicht anders und kniete neben Schari nieder. Mit dem Handrücken strich er ihr Haar zur Seite, so dass er nun auch ihren Hals betrachten konnte und jene Stelle, an der sich die Schlüsselbeine trafen und eine kleine Kuhle bildeten. Durch die Wärme des Pelzes hatten sich dort Schweißtropfen angesammelt und glänzten einladend.

 

Vorsichtig, um die Frau noch nicht zu wecken, tupfte Harl mit einem Finger die salzige Feuchtigkeit auf und kostete. Dabei stieg ihm der Duft ihres Körpers verlockend in die Nase.

Der Mann wurde mutiger und ließ sich mehr und mehr auf sein Verlangen ein.

 

Mit dem Handrücken fuhr er über die Vertiefung zwischen ihren beiden Brüsten und umfasste schließlich eine von beiden mit der Hand. Als sei sie nur für ihn geschaffen, schmiegte sie sich in seine Handfläche.

Harl genoss das warme, weiche Gefühl. Bald ließ er der Hand seinen Mund folgen und erst, als er begann, an den harten rosigen Spitzen zu knabbern, erwachte Schari unter ihm.

 

 

 

In einem Schwebezustand zwischen Traum und Wirklichkeit spürte sie, wie etwas ihre Brust gerührte. Unwillkürlich fuhr ihre Hand auf, um abzustreifen, was auch immer sich dort befand. Doch so weit kam sie nicht und ihre Finger landeten in Harls dichtem Haarschopf, der nach dem Bad noch immer feucht und kühl war.

 

Die Überraschung weckte Schari nun zuverlässiger als die sanften Bewegungen des Jägers, der inzwischen seine freie Hand auf Wanderschaft über ihren Bauch geschickt hatte und sie so mehr und mehr entblößte.

 

Auch, wenn er ihr dabei nicht weh tat, fühlte sich Schari von seinem Übergriff überrumpelt. Harls Körper so dicht bei ihr - er war eindeutig viel zu nah!

 

Natürlich wusste die Schamanentochter, was Männer und Frauen miteinander taten, wenn sie im Schutz der Dunkelheit das Lager miteinander teilten, oder wenn sie heimlich zusammen im Wald verschwanden. In dieser Hinsicht konnten die Paare ihre Geheimnisse nicht lange vor dem Dorf verbergen. Auch ihr Vater Thorbrand war bei seinen Ausführungen zu dem, was ein Mann sich von ihr wünschen würde, sehr eindeutig geworden.

 

Harls unerwartete Annährung jedoch verwirrte sie zu sehr. Nichts hatte in den vergangenen Tagen darauf hingedeutet, dass er sie anziehend fand.

 

Entschlossen schob Schari beide Hände zwischen sich und Harls Oberkörper. Bevor sie mit dem weitermachten, was er eindeutig vorhatte, sollte er seine Wünsche erklären und ihre Einwilligung erbitten. Die Zeiten, in denen Frauen einfach das Eigentum der ihnen weit überlegenen Jäger waren, gab es nicht mehr.

Natürlich durfte Harl sie nehmen, aber nur, wenn sie es auch wollte!

 

Sie versuchte, den schweren Männerkörper von sich zu schieben, um ein wenig Raum für einen Blickkontakt zu bekommen.

Harl aber, den seine Wünsche längst weit von aller Vernunft fortgetragen hatten, empfand ihre vorsichtige Abwehr eher als Einladung. Mit einem Knurren fing er Scharis Hände ein. Ihre Gelenke waren so schmal, dass er beide mit einer Hand umschließen  konnte, als er sie nun ungefragt über ihrem Kopf zusammenhielt. Doch in seinem Rausch entging ihm selbst das schmerzhafte Zischen, dass sie unwillkürlich ausstieß, als er ihre Arme so unnatürlich verrenkte.

 

Ohne sich weiter mit irgendeinem Vorspiel aufzuhalten, riss er den Umhang nun gänzlich von ihr. Als sie sich stärker zur Wehr setzte, hielt er sie mit seinem Körper enger fest.

Sie war so warm und weich, wie er es sich vorgestellt hatte und ihr Duft begeisterte seine Nase, die er in ihrem Haar vergraben hatte. Dass sie sich gegen ihn zur Wehr setzte, nahm er nur ganz flüchtig am Rande wahr. Ihm erschien es eher als ein Spiel, das sie spielte, um ihn noch mehr zu reizen. Selbst, als sie ihre Zähne in seine Schulter grub, konnte ihm der halbherzige Biss nur ein lustvolles Grollen entlocken.

 

Dass es Schari bitterer Ernst war und sie sich nur deshalb zurückhielt, weil sie ihn nicht verletzen wollte, entging dem Jäger.

 

Schon wollte er die Vereinigung herbeiführen und schob ein Knie zwischen ihre geschlossenen Beine, als ihn ein heftiger Schmerz in seinem linken Bein jäh aus dem Sinnestaumel riss.

 

Hatte Einohr zu Anfang Harls Tun nur aufmerksam beobachtet, so war selbst dem Wolfshund bald klargeworden, dass dieser Mann seiner Herrin wehtat. Schari hatte ihn nicht signalisiert, dass sie Hilfe brauchte. Also war der Rüde unentschlossen und mit eingezogener Rute hin und her gerannt. Dann aber, als Schari erneut schmerzhaft aufwimmerte, griff das Tier an.  Die Schamanentochter war sein Rudel, sein Leitwolf. Egal, wie stark Harl auch war, in Bezug auf seine Familie ließ der Wolf nicht mit sich spaßen.

 

Also hatte sich das Tier mit hochgezogenen Lefzen auf den Angreifer gestürzt und ihm die Fänge in den Oberschenkel getrieben.

 

In blinder Wut fuhr nun auch Harl herum und sah sich sofort dem Wolf gegenüber, der ihn drohend anknurrte. Doch er hatte den Jäger unterschätzt. Unfähig, die Situation ruhig zu bedenken, griff Harl nach einem der Flusskiesel, die Schari um die Feuerstelle geschichtet hatte. Dass er ihr dabei sein Knie schmerzhaft in den Bauch rammte, war ihm in seiner Raserei egal.

 

Schon sprang Einohr ein weiteres Mal auf ihn zu, als der Jäger den Arm erhob und dem Wolf mit seiner Waffe den Schädel einschlug. Ein widerliches Knirschen der Knochen bestätigte den Treffer. Ein leises letztes Jaulen ließ sich vernehmen, dann herrschte Ruhe.

 

Wie erstarrt lag Schari unter dem zornbebenden Mann. Das, was hier gerade geschah, war so weit entfernt von allem Vorstellbaren, dass sie der Situation in keiner Weise gewachsen war. Und als sich Harl ihr nun erneut zuwandte, ihre Schenkel teilte und sich nahm, was ihm seiner Meinung nach zustand, ließ sie es ohne Regung geschehen. Irgendwann, nach einer empfundenen Ewigkeit, fand seine Begierde in ihr ein Ende.

Stöhnend rollte er sich neben sie und bedeckte sie beide mit Scharis Umhang. Diese rührte sich nicht, um die Aufmerksamkeit des Mannes nicht erneut auf sich zu lenken. Ihr ganzer Körper schmerzte, doch all das war nichts gegen die Leere und die Trauer, die sie in ihrem Herzen empfand. Als sich nun noch Harls Hand auf ihre Brust legte, konnte sie den Ekel, der in ihrer Kehle aufstieg, kaum wieder hinunterschlucken.

 

Vergessen waren für Harl Feuer und Essen. Erschöpft von Wanderung, Jagd und seiner Vereinigung mit Schari, schlief er bald darauf ein, die Frau, die er erfolgreich als sein Eigen beansprucht hatte, sicher im Arm.

 

Erst, als die Sonne schon weit höher als eine Handbreit über dem Horizont stand und ein Schwarm Elstern krächzend miteinander stritt, erwachte der Jäger. Die Schwere der Müdigkeit war vergessen und er genoss mit geschlossenen Augen die Wärme der Sonne auf seiner Brust. Der vergangene Abend kam ihm in den Sinn. Er hatte Schari besessen! Ein Lächeln legte sich bei diesem Gedanken auf seine Lippen. Er hatte sie zu seiner Frau gemacht!

 

Doch dann kam ihm auch in den Sinn, wie er dies getan hatte und dass er ihren Wolf, ihren treuen Begleiter, in seinem Zorn einfach erschlagen hatte.

 

Was war nur mit ihm losgewesen? Er war über Schari hergefallen wie ein brünstiger Hund über sein Weibchen. Ob er ihr wohl sehr wehgetan hatte?

 

Ruckartig setzte sich Harl auf. Er musste nach Schari sehen, sehen, wie es ihr ging. Er musste unbedingt mit ihr reden und ihr erklären, dass sie ihm etwas bedeutete und dass er ihr nie mehr wehtun würde.

 

Doch das Lager neben ihm war leer und je länger und genauer sich Harl umsah, um so deutlicher wurde, dass Schari nicht mehr da war. Ihre Kleidung, ihr Packen, ein Teil des Proviants waren verschwunden und nur Einohrs Kadaver verriet noch, was sich gestern abgespielt hatte.

 

 

 

 

Die Zeit schien nicht voranzuschreiten, während Schari wie erstarrt neben Harl lag und dessen Hand besitzergreifend auf sich spürte. Das Erlebte ließ keinen klaren Gedanken zu außer dem einen, so schnell wie möglich von diesem Mann fortzukommen, der sie sich schmerzhaft zu Eigen gemacht hatte.

Nie und nimmer wollte sie auf diese Weise länger mit ihm zusammen sein. Zorn stieg in ihr auf und verdrängte das Gefühl der Leere und Schmerzes.

 

Ja, sie war stumm! Sie war nicht wie andere Frauen. Doch das gab Harl nicht das Recht, sie zu unterwerfen wie Tier.

 

Aufmerksam lauschte sie den ruhigen Atemzügen des Mannes und wartete, bis er sich im Schlaf bewegte und sie freigab.

Dann schob sie sich langsam Stück für Stück von dem gemeinsamen Lager. Noch glomm das Feuer und ließ sie im Dunkeln das Nötigste erkennen. Leise sammelte sie jene Dinge ein, auf die sie Anspruch zu haben glaubte, ihre Kleidung, zwei wärmende Felle, da Harl ja von ihrem Umhang bedeckt war, den sie deshalb nicht mitnehmen konnte, einen Teil des Proviants und schließlich ergriff sie mit einem Seufzen auch Harls Speer.

 

Sie wusste wohl, dass der Jäger diesen Raub nicht ruhig hinnehmen würde, doch sie brauchte neben ihrem kleinen Steinmesser eine größere Waffe für die Jagd und auch, um sich vor Raubtieren und dem Mann selbst zu schützen.

 

Schari handelte ruhig und schnell. Kaum hatte sie ihre wenigen Besitztümer auf den Rücken gebunden, eilte sie davon. Der Pfad ins Gebirge hinein lag offen vor ihr. Eine kurze Zeit lang folgte sie dem im Mondlicht sichtbaren Weg. Dann, als ein kleiner Bach dem Pfad folgte, wich sie von der vorherigen Richtung ab und nutzte das Bachbett, um in ein kleines Seitental vorzudringen. Das Wasser, so wusste sie, würde ihre Spuren zuverlässig verbergen.

 

Doch der Bach barg auch Gefahren, die sie nicht hatte voraussehen können. Runde Kiesel folgten dem zunächst meist sandigen Bachbett und unterhalb einer kleinen Stromschnelle versank sie plötzlich bis an die Hüfte im eisigen Wasser.

Der Packen auf ihrem Rücken sog sich sofort voll und nur mühsam entkam Schari dem sprudelnden Becken. Klatschnass und zitternd schleppte sie sich ans Ufer. Das Wasser in ihren Schuhen machte blasige Geräusche, wie auch der Schlamm unter ihren Sohlen.

 

Resigniert zuckte Schari mit den Schultern. Diese Spur konnte sie unmöglich verbergen!

Doch sie war viel zu betäubt von dem Erlebten und zu müde, um wirklich Ärger zu verspüren. Die Kälte hatte auch etwas Gutes, dachte sie bitter. Sie übertönte den brennenden Schmerz, den Harls Eindringen in ihr hinterlassen hatte.

 

Die Leere jedoch und das Gefühl der grenzenlosen Enttäuschung verdrängte die Kälte nicht.

 

Schari ließ mit einem stillen Seufzen ihre Last auf den Boden gleiten. Die triefend nassen Felle waren viel schwerer geworden und sie musste versuchen, zumindest ein wenig des Wassers daraus zu entfernen, bevor sie weiterzog.

 

Mühselig begann sie, die beiden dicken Häute einzurollen und zu kneten und tatsächlich verloren sie so einen Teil des Wassers und ihres Gewichts. Um den durchnässten Proviant und ihre Kleidung würde sie sich später kümmern. Nun galt es, so viel Strecke wie möglich zwischen sich und den unberechenbaren Jäger zu bringen.

 

Schari nahm Harls Speer wie einen Wanderstock und zog im Halbdunkel der Mondnacht langsam weiter. Bald schon führte ihr Weg sie nur noch durch niedrige Büsche und borstige Sauerwiesen. Auch hier versank sie hin und wieder in Modderlöchern, die das feuchte Gelände durchzogen. Längst hatte das aufgeweichte Leder der Schuhe  ihre Fersen aufgerieben, doch die Bedrohung durch Harl wog viel zu schwer, als dass sie sich eine Pause gegönnt hätte. Auch bewahrte sie die Bewegung vor der ärgsten Kälte.

 

Als der Morgen graute, war sie tief in das schmale Seitental vorgedrungen und im Licht des frühen Tages kehrte sie zu jenem Bach zurück, der sie zu Beginn ihres Weges begleitet hatte.  Inzwischen war aus ihm ein schmales, fröhlich plätscherndes Rinnsal geworden, das sich munter durch das steinerne Bett seinen Weg suchte.

 

Durstig trank die Schamanentochter direkt aus der Hand und kühlte dann auch ihre wunden Füße.

 

Jetzt würde der Pfad steiler werden und der Anstieg mühseliger als bisher. Aufmerksam  musterte Schari das vor ihr liegende Terrain. Über einem anspruchsvollen Anstieg quer durch eine zerklüftete Felswand schien erneut ein Plateau zu liegen. Zumindest schien es ihr, als ob zwischen der oberen Kante der nahen Felswand und den dahinter liegenden Gipfeln ein weiter Abstand lag.

 

Doch bevor sie sich an den Aufstieg machte, brauchte sie eine Pause. Unweit von ihrem Rastplatz erkannte sie am Ufer eine gelb blühende Pflanze, deren Wurzelknollen schmackhaft waren. Um den kleinen Dolch nicht vorzeitig stumpf werden zu lassen, grub sie die karge Mahlzeit mit den Händen aus.

Sorgfältig bedeckte sie die Stelle mit einem Grassoden. Nein, sie wollte von Harl bestimmt nicht gefunden werden!

 

Schließlich aber trieb sie die Unruhe weiter und so zog sie ihre dünnen Lederschuhe wieder über die Füße, griff nach ihren Habseligkeiten und stieg in die poröse Wand ein.

 

Zunächst schien ihr das Glück auch gewogen zu sein. Tritt für Tritt und Griff für Griff gelangte sie höher und höher. In ihrem Dorf gab es keine Felsen dieser Art zu bezwingen und so ahnte Schari nicht, wie sehr sie das Schicksal mit ihrer  gewagten Art zu klettern herausforderte. Instinktiv war sie einem schrägen Felsband gefolgt und bis zu dessen Ende war alles gut gegangen. Doch dann wurde der Fels glatt und die Trittmöglichkeiten sehr schmal.

 

Unsicher sah die junge Frau in die Tiefe. Ein Zurück gab es für sie nicht. Der Weg nach unten erschien ihr viel zu steil und zu bedrohlich, um jetzt noch einmal umzukehren. Vorwärts also. Kaum ließ sich das Zittern ihrer Hände und Knie noch unterdrücken. Schari hatte Angst! Angst vor Harl, Angst vor dem Berg, Angst vor ihrer Zukunft und vor dem Ungewissen, zu viel Angst, um entschlossen und besonnen zu klettern.

 

Es war letztlich nur eine Prise Sand, ein feiner Abrieb der uralten Felsen, eine Folge der Winde und des Frostes. Geradeso hatte die Kletternde einen Vorsprung gefunden, an dem ihre Finger Halt fanden. Sie zog die Last ihres Körpers auf diesen Arm. Krampfhaft klemmten die Finger am Fels und hielten sie mit Mühe in  der Wand. Sie musste schnell sein, um die Last besser zu verteilen, das hatte sie bereits von ihrem bisherigen Aufstieg gelernt.

 

Tastend fuhr ihre freie Hand über den Fels. Da – eine weitere schmale Kante, ein knapper Absatz in dem sonst so glatten Stein. Nun fanden auch die anderen fünf Finger Halt.

 

Vorsichtig löste Schari nun einen Fuß und ließ diesen ebenfalls auf die Suche nach einem Tritt umhergleiten.  Sie fand einen Vorsprung, fand Halt mit einem Teil ihrer Fußsohle, belastete die vermeintliche Stufe – und rutschte im selben Moment schmerzhaft ab.

 

Ihre eiskalten Finger gaben ebenso schnell nach, wie der Schmerz vom reißenden Gewicht ihres Körpers die Gelenke erreichte. Es gab kein Halten mehr und sie stürzte ab.

 

 

 

Unentschlossen war Harl eine Zeitlang durch das Lager und um Einohrs Kadaver herumgeschlichen.  Er hasste es, wenn die Dinge um ihn herum eskalierten und er keine eindeutige Richtung vor sich sah. Dann war er wieder der Junge, dessen Vater erschlagen am Strand lag und der sich nicht entschließen konnte, einem seiner Stammesangehörigen in ein anderes Dorf zu folgen.

Der Jäger kratzte sich mehr als einmal Bart und Kopf, bevor er eine Entscheidung traf. Ja, er war damals allein losgezogen und hatte sich bis heute mehr oder weniger gut durchgeschlagen. Doch er war auch ein Mann und er wusste, dass es oftmals nur seine körperliche Stärke gewesen war, die ihn vor einem unrühmlichen Ende bewahrt hatte.

 

Schari aber war wesentlich kleiner und schwächer als er. Sie selbst mochte es zwar nicht sehen, aber ein so verletzliches Geschöpf wie sie konnte niemals ohne fremde Hilfe den kommenden Winter überstehen. Auch wenn - und hier musste Harl nun endlich doch in sich hinein lächeln - seinen Speer mitgenommen hatte.  Egal, was sie damit anstellen wollte, ein kräftiger Wurf, um damit einen Keiler oder auch nur ein Reh zu töten, würde ihr nicht gelingen.

 

Harl stand auf und trat nun entschiedener als zuvor an die Reste ihrer Habseligkeiten heran. Bogen, Köcher, ein Messer, der Umhang, ein Wasserbehälter aus dicht vernähtem und gewachstem Leder, Proviant für zwei bis drei Tage … er packte das Gewählte in ein weiteres Fell und versteckte den Rest unter einem Strauch mit dichten, dornenbewehrten Zweigen. Den Kadaver des Hundes trug er ein Stück zur Seite. Wenn Raubtiere diese Witterung aufnahmen, sollten sie nicht auch noch die restlichen Vorräte plündern.

 

Dann warf er sich den Packen über Schulter, schob das Messer in den Gürtel, griff seinen Bogen und begann seine Suche nach Schari, indem er in immer weiteren Kreisen nach jener Spur suchte, die das Lager verließ.

 

Es fiel ihm nicht schwer, den Weg der Schamanentochter herauszufinden. Sie hatte den Pfad ins Gebirge hinein genommen und trotz aller Sorgen musste Harl lachen. Auch, wenn es nicht ihre Absicht war, machte sie es ihm leicht.

Schnellen Fußes schritt der Jäger nun hinein ins Gebirge, sich hin und wieder vergewissernd, dass die Fährte der Frau noch vor ihm lag. Das Gelände stieg leicht an und Harl fing an zu pfeifen. er würde sich seine Gefährtin schon zurückholen!

 

Doch dann fiel ihm kurze Zeit später etwas auf, das ihn schnell wieder ernst werden ließ. Neben den Fußspuren mit den tief eingedrückten Zehen, die auf einen schnellen Lauf hindeuteten, sah er hier und da winzige rotbraune Tropfen - Blut.

 

Harl kniete nieder, um sich zu versichern, dass er sich nicht irrte. Schari war verletzt! Nachdenklich rieb der Jäger die zähe Flüssigkeit zwischen den prüfenden Fingern. Ja, er hatte sie gestern im Rausch des Augenblicks gegen ihren Willen genommen, so viel war ihm trotz aller Gier in Erinnerung geblieben und er schämte sich für diese Unbeherrschtheit. Dennoch! Er hatte sie mit Sicherheit nicht blutig geschlagen oder sie anderweitig schwer verletzt. Oder doch?

 

Harl folgte der Spur nun konzentrierter. Irgendwann wich der weiche Boden einem felsigeren Untergrund und die Fußabdrücke verloren sich ebenso wie die feine Blutspur, der er hätte weiter folgen können. Nachdenklich folgte der Jäger dem Weg. Schari musste einfach vor ihm sein, einen Abzweig hatte es nicht gegeben und ihre Fährte, so dachte er, hätte er auf jeden Fall bemerkt, wenn sie von dem Felsenpfad abgewichen wäre.

 

Das nächste Tal belehrte ihn jedoch eines Besseren. Die Senke des Plateaus war sumpfig und bis zum nächsten Anstieg lösten sich Moorlöcher mit Sauergrasinselchen ab. Gründlich durchforstete Harl jede Handbreit des Talanfangs, doch eine Spur ließ sich selbst für sein Auge nicht finden. Niemand außer ihm und ein paar Wildschweinen hatte das Hochtal in den letzten Tagen betreten.

 

Der Jäger fluchte erbittert. Wollte ihn das kleine Biest tatsächlich an der Nase herumführen? Viel mehr als die geahnte Herausforderung bedurfte es nicht, um die versteckten Instinkte des Mannes zu wecken. Die Jagd war sein Lebensinhalt und eine so große Beute wie eine Frau konnte, nein – durfte ihm einfach nicht entkommen.

 

Schritt für Schritt verfolgte Harl nun seinen Weg zurück, bis er endlich vor sich sah, was ihm bei seinem schnellen Gang die Anhöhe hinauf zuvor entgangen war. Ein kleiner Bach, ein schmales, unscheinbares Wässerchen kreuzte den Pfad gerade an einer der Stellen, die felsig und glatt waren und somit jegliche Spur verbargen.

 

Talwärts wurde der Boden schnell wieder morastig und hätte Schari verraten. Zum Oberlauf hin aber stieg ein Seitental an und das Bachbett war sandig, mit einigen runden Flusskieseln, die die Schamanentochter als Tritte benutzt haben konnte.

 

Langsamer nun und voller Konzentration studierte Harl die neue Möglichkeit von Scharis Weg. Das Tal erschien zunächst nur sanft ansteigend, unbedenklich. Doch weiter in der Ferne, schon in leichten Dunst gehüllt, machte das geübte Auge des Jägers die steil ansteigenden Felswände aus.

 

Wenn sie dort hinauf wollte … Ungläubig schüttelte Harl den Kopf. Dieser Weg war schlecht! Ganz schlecht! Schon einmal hatte er sich in einer Felswand verstiegen und musste zwei Nächte lang in dem steilen Gestein ausharren, bis es ihm gelang, einen Rückweg zu finden. Aus jener Zeit wusste er, dass ein Abstieg durchaus schwerer sein konnte, als hinauf zu gelangen.

 

Die Füße des Jägers schlugen wie von allein ein schnelleres Tempo an und bald bestätigten Scharis Spuren ihm nur zu deutlich, dass er sich auf der richtigen Fährte befand. Er sah, wo sie abgerutscht und ins Wasser geglitten war, wo sie ihr Bündel abgelegt und wo sie die Felle ausgewrungen hatte.

 

Dumm war sie ja nicht, das musste er ihr lassen. Und sie wollte tatsächlich weg von ihm, auch das sah Harl bald ein. Doch viel Zeit, sich zu besinnen, fand der Mann nicht. Die sauren, aufgeweichten Wiesen und Moorlöcher forderten ihm bei der Spurensuche allerhand ab. Bald schon sah er neben Scharis Fußabdrücken einen dritten, runden Abdruck. er grinste. Sie benutzte doch tatsächlich seinen Speer als Wanderstab! Still lachte er in sich hinein. Wenn sie einen Stock wollte, würde er ihr schon einen schnitzen. Die schmale Eschenholzstange, aus der er den Schaft seiner Waffe geformt hatte, war nicht zum Wandern geeignet.

 

Schon sah er sich in Gedanken an einem munteren Feuer hocken und mit seinem Steinmesser Span für Span von einem frischen, duftenden Holz lösen, als sie ihm auffielen.

Dort, weiter hinten im Tal, wo sich schon die Felsen in die Höhe erhoben, kreisten Raubvögel zielstrebig über der Wand.

 

Hatte Schari die Bergraben aufgescheucht? Gab es vielleicht eine ganz andere Beute und Harls erdachter Weg kreuzte sich nur zufällig mit dem der aufgescheuchten Vögel?

 

Der Jäger vergeudete keine Zeit mit dem Erraten dieses Rätsels. Die Raben spornten ihn an und Harl hetzte nun geradezu den Weg voran.

 

Doch die Raben waren nicht grundlos über dem kleinen Tal aufgestiegen und nach einem hastigen, anstrengenden Marsch wurde das auch Harl klar, noch bevor er unterhalb der ersten Felsstufe angekommen war.

 

Ungeduldig kreisten die Vögel immerzu über ein und derselben Stelle und ebenso ungeduldig strebte Harl diesem Punkt entgegen. Bald reckte er seine geballte Faust den krächzenden Raben zornig entgegen, doch trotz aller Anspannung kam er nicht schneller voran, indem er ihnen drohte.

 

Die Sonne stand schon fast im Zenit, als er endlich jene Stelle erreichte, an der Schari in den Fels eingestiegen war. Sein Erscheinen hatte das Rabenvolk höher steigen lassen und nun lastete ein unheilvolles Schweigen über dem Tal.

 

Es brauchte nicht viel, um Harl erkennen zu lassen, was die Aasfresser angelockt hatte, ja, er konnte von Glück reden, dass es heller Tag war. Wenn den Raben in der Dämmerung die Wölfe gefolgt wären …

 

Der Jäger ließ Bogen und Traglast achtlos fallen, als er die reglose Gestalt am Fuße der Felswand entdeckte. Schlamm spritzte auf, als er den kleinen Bach durchschritt, doch es fiel ihm nicht einmal auf …

 

Schari, seine wunderschöne Gefährtin, lag reglos und in einer unnatürlichen Haltung unterhalb des Felsens! Harl konnte kaum glauben, was er da vor sich sah. Schnell begriff er, dass sie beim Klettern herabgestürzt sein musste. Doch dass sie danach einfach liegengeblieben war? Sie konnte nicht, sie durfte doch nicht tot sein! Wahllose Gedankenfetzen stürmten auf ihn ein und ließen ihn keine Meinung fassen.

 

Erst, als er neben ihr auf die Knie fiel und sah, dass sich ihr Brustkorb ein wenig hob und senkte, kehrte sein Verstand zurück. Schari lag mit dem Rücken auf einem flachen Felsblock und offenbar hatte der dicke Packen einen großen Teil des Sturzes abgefangen.

 

Vorsichtig hob Harl sie von der steinernen Platte und zog ihr dabei die Riemen von den Schultern. Als ihr Kopf dabei in den Nacken fiel, versuchte er diesen zu stützen. Doch als er ihr in die langen Haare griff, spürte er jene warme, klebrige Nässe, die er nur zu gut kannte – Blut!

 

Er zog den Kopf ein wenig weiter nach vorn und sah nun eine hässliche Platzwunde, um die sich bereits eine dicke Kruste aus altem, geronnenen Blut und verklebten Haaren gebildet hatte. Unter dem Riss schimmerte es hell, dort, wo der Schädelknochen blank lag.

 

Vorsichtig tastete Harl den Riss mit zwei Fingern ab. Scharis Schädel schien dennoch fest zu sein. Nichts deutete darauf hin, dass sich irgendein Knochenstück eindrücken ließ. Dennoch war der Jäger beunruhigt. Seine plumpe Untersuchung hätte ihr Schmerzen verursachen müssen, doch das Gesicht der Schamanentochter war regungslos geblieben. Der Schlag auf den Felsen musste den Kopf schwer getroffen haben.

 

Der Jäger fluchte leise vor sich hin, legte seine Last allerdings vorsichtig ab und bettete auch Scharis Kopf sanft in das warme Gras.

 

Nun betrachtete er den verletzten Körper genauer und sofort fiel ihm eine weitere Verletzung ins Auge. Scharis Bein war unterhalb des Knies unnatürlich verdreht und der Fuß inzwischen bereits dick angeschwollen.

 

Wieder einmal kam Harl in den Sinn, dass er sich einfach abwenden und davongehen könnte. Schari würde ohne seine Hilfe vermutlich nicht einmal mehr aus ihrem Dämmerzustand aufwachen. Oder er konnte sie mit einem schnellen Schnitt über die Kehle von ihrem Leiden erlösen. Harl wusste, dass er keinesfalls sicher sein konnte, dass die junge Frau diesen Sturz überhaupt überleben würde. Warum also sollte er sich Mühe für etwas so ungewisses machen?

 

Doch der Jäger lief nicht davon. Und es war nicht die Erinnerung an ihren warmen, weichen Körper, die ihn zurückhielt, sondern ein ganz anderes, eigentlich harmloses Bild: Scharis Lächeln, als er sie zum ersten Mal an der Hand genommen hatte, ihre stille Schüchternheit, die, gepaart mit ihrer kindlichen Neugier, etwas in ihm berührt hatte. Nein, er würde sie hier nicht einfach liegenlassen. Sollten die Wölfe nur kommen, er, Harl, würde auf sie aufpassen und wenn es das Letzte war, was er tun konnte.

 

So, mit dem Antrieb des einmal gefassten Entschlusses, begann der Mann ernsthaft über seine Möglichkeiten nachzudenken. Zunächst einmal sollte er Scharis Wunden versorgen und ihr Bein richten, so lange sie noch bewusstlos war. Darin war er sich sicher. Danach würde er sich nach einer geschützten Bleibe umsehen und erst dann wollte er weiter als bis zu diesem Ort denken.

 

Viel gaben seine Vorräte nicht her. Das erkannte Harl schnell. Doch als er nach seinem Packen auch Scharis Last durchsuchte, fand er in deren Lederkleid ein brauchbares Material, um daraus Verbände für ihre Wunden zu machen. Tatsächlich trug sie sogar ein kleines Päckchen mit getrocknetem Moos, einigen ihm unbekannten Blättern und Weidenrinde bei sich. Hier hatte wohl Thorbrands Ausbildung gewirkt.

 

Harl ließ ein wenig Wasser über Scharis Hinterkopf laufen, um das meiste alte Blut abzuwaschen. Dann zerkrümelte er das Torfmoos, streute es in die Kopfwunde, in der sich die Substanz wie ein Schwamm mit Blut und Wundwasser vollsaugen würde, und band die Wunde mit einem weichen Lederstreifen einfach zu. Damit hatte er schon viel mehr tun können, als er es sich erhofft hatte.

 

Nachdenklich betrachtete er dann Scharis Bein. Wunden hatte er ja schon häufiger versorgen müssen. Doch noch nie war von ihm verlangt worden, einen Knochenbruch zu richten.

 

Harl war nicht dumm. Er wusste, dass seine Gefährtin nie wieder richtig würde laufen können, wenn ihr Bein so krumm zusammenwachsen würde. Es wäre dann kürzer als das andere und sie müsste dauerhaft Schmerzen erdulden.

 

Der Jäger war sich sicher, dass er die Lage des Beines irgendwie verändern musste. Doch es fehlte ihm ein klein wenig Selbstvertrauen, sodass er sich zunächst auf die Suche nach einem möglichst geraden Stück Holz machte. Der Bewuchs des kleinen Tals war spärlich und so blieb ihm nur die Möglichkeit, eine kleine Eberesche abzuschlagen, deren Stämmchen ihm halbwegs gerade und lang genug erschien.

 

Mit der frisch gefällten Schiene in der Hand kniete er sich nun neben dem verletzten Bein nieder, den Bruch argwöhnisch und mit gerunzelter Stirn betrachtend.

Dann zog er Schari zunächst den Schuh vom Fuß und inspizierte ihre zerschundene Ferse und den geschwollenen Knöchel. Doch es ließ sich ja nicht vermeiden, dass er nun handelte und so legte er zögernd seine Hände oberhalb und unterhalb des Bruchs auf ihr Bein. Er drückte und schob ein bisschen, doch die Stellung des Bruchs veränderte sich nicht. So ging das also nicht. Knochen und Muskel waren viel fester, als er es erwartet hätte.

 

Schließlich fasste sich der Jäger ein Herz und ergriff den Fuß seiner Gefährtin. Die andere Hand legte er über ihr Knie und während er dieses mit harter Hand auf dem Boden fixierte, zog er am Knöchel der Frau. Das hörbare Aneinanderreiben des sich bewegenden Knochens verursachte ihm Übelkeit und er biss die Zähne zusammen, um sich nicht zu übergeben. Doch während sich der Unterschenkel mit einem Ruck in seine ursprüngliche Position begab, zuckte Scharis Gesicht unter den unerträglichen Schmerzen.

 

Harl sah diese Regung und auch, wenn sich der Körper der Frau sofort wieder entspannte und in seine Betäubung zurückfiel, nahm der Jäger das kleine Zeichen als das, was es war, Hoffnung.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 3:

 

 

"Seht weit in der Ferne,

ein fahles Licht des Feuers.

Seht weit in der Ferne, es erlischt,

geht ein im Mantel der Nacht."

(Weit in der Ferne von Menhir)

 

Schari erwachte von einem dumpfen Kopfschmerz, der ihren Schädel zu zerreißen drohte. Pulsierend wie das Blut hämmerte das Gefühl durch Stirn und Hinterkopf.

 

Der beißende Geruch von Feuer in ihrer Nase verbesserte das ungute Gefühl ebenfalls nicht. Eine Stimme keuchte angestrengt in ihrer Nähe und ein mehrstimmiges Knurren ließ ihren Herzschlag schneller werden. Urplötzlich erklang ein dumpfer Schlag und ein klägliches Heulen ließ sie in Angst aufschrecken.

Schari fuhr sich ächzend mit der Hand an die Stirn und versuchte dann, gegen den natürlichen Widerstand ihres Körpers, die Augen zu öffnen.

Der Anblick, der sich ihrem halb verschwommenen Blick nun bot, war so unfassbar, dass sie glaubte, noch in einem Traum gefangen zu sein.

 

Keine vier Schritte vor ihr stand ein aus ihrem Blickwinkel riesiger Mann mit dem Rücken zu ihr und hielt drohend seinen Speer erhoben. Das Feuer, dessen Duft sie schon erkannt hatte, flackerte unruhig zwischen ihm und ihr und zusätzlich hielt der Mann einen brennenden Ast in die Höhe, mit dem er zornig versuchte, drei vierbeinige Kreaturen abzuwehren, die ihn zu umgehen suchten.

 

Wieder und wieder griffen die Tiere an und Schari begriff zu ihrem Entsetzen, dass es drei Wölfe waren, die Harl, den sie nun inzwischen ebenfalls erkannt hatte, belagerten.

 

Schari wollte sich aufrichten, um dem Jäger zur Seite zu stehen, doch schon bei dem geringsten Versuch, ihr Bein zu bewegen, ließ sie ein rasender Schmerz auf den Boden zurücksinken.

 

Ungläubig starrte sie auf ihren Unterschenkel, der straff zwischen zwei Holzstangen eingebunden war und so furchtbar weh tat. Ihr Bein war verletzt und so, wie er weiter vor sich hin hämmerte, offenbar auch ihr Kopf. Schari konnte sich nicht entsinnen, wie sie sich diese Verletzungen zugezogen haben sollte. Sie war doch mit Harl ins Gebirge gewandert, nachdem Eindringlinge ihr Dorf zerstört hatten. er war jagen gegangen und nachdem sie genügend Holz und Nahrung gesammelt hatte, musste sie offenbar eingeschlafen sein, bevor er zurückgekommen war.

Ob und was sie danach erlebt haben könnte … sie erinnerte sich nicht. Nun aber lag sie hier offenbar schwer verletzt und Harl versuchte, diese Wölfe von ihr fern zu halten. Angestrengt versuchte Schari sich zu konzentrieren.

 

Eine unterschwellige Angst erfasste sie, wenn sie Harl betrachtete, doch sie konnte nicht sagen, ob es nun an ihm oder der bedrohlichen Szene lag, die sie vor sich sah.

 

Der Jäger jedenfalls schien inzwischen erfolgreich bei der Vertreibung der Wölfe gewesen zu sein. Der brennende Ast in seiner Linken ließ die Tiere mit eingezogenen Schwänzen zurückweichen.

 

Harl war nicht so dumm, ihnen weiter zu folgen und Raum zwischen sich und Schari kommen zu lassen. Er wusste ganz genau, dass die Raubtiere einzig und allein von deren Geruch nach frischem Blut angelockt worden waren.

 

Der Jäger war Konkurrenz, keine Beute. Wenn er Schari allein ließ, würden die Tiere möglicherweise versuchen, ihren Feind zu umgehen, um doch noch erfolgreich Beute zu machen.

 

Doch der Abstand zu den Wölfen erlaubte ihm nun, nach seinem Bogen zu greifen, den er vor der Nacht ebenfalls bereitgelegt hatte.

 

War es zunächst sein Plan gewesen, Schari und sich an einem anderen, sichereren Ort zu bringen, so hatte ihn die Furcht, sie während ihres Dämmerzustands  aufzuheben, schließlich dazu gebracht, zähneknirschend an jenem ungünstigen Platz zu verharren. Zumindest bot die steile Felswand hinter ihnen einen einseitigen Schutz!

 

Harl hatte Schari noch einmal das Blut von Kopf und Händen gewaschen und sie dann in alle Felle gehüllt, die sie bei sich getragen hatten. Er wusste zwar, dass er den Duft, der von ihren Wunden ausging, nicht ganz verstecken konnte, doch vielleicht war sie so ein wenig geschützter?

 

Ein weiterer, guter Schutz würde ein großes Feuer sein. Der Jäger hatte so lange Holz gesammelt, bis die Dämmerung hereingebrochen war. Dann hatte er Stein und Zunder zur Hand genommen und geduldig Funken geschlagen, bis eine kleine, fröhliche Flamme aufgezüngelt war. Die Wärme und das Licht waren tröstlich gewesen.

 

Lange Zeit hatten Harls Vorkehrungen auch ausgereicht und sie waren unbehelligt geblieben. Er hatte viel Zeit gehabt, über den vergangenen Tag und sich selbst nachzudenken. Immer wieder hatte er die bewusstlose Frau neben sich betrachtet, hin und wieder an ihrem Handgelenk nach ihrem Herzschlag getastet und sie dabei viel deutlicher wahrgenommen als je zuvor.

 

Die Kleinheit ihrer Hände war ihm aufgefallen und die Wärme, die von ihrem Körper ausging. Er hatte nachdenklich ihr Gesicht betrachtet, das im Schlaf glatte, friedliche Züge trug und nichts von ihrer Angst und ihrer Flucht vor ihm verriet. Und er hatte hin und wieder ihr langes Haar gestreichelt. Es war weich gewesen und er hatte die gleichmäßige braune Farbe bewundert, die ihn an reife Nüsse erinnerte. Wie seltsam, dass ihre Augen trotz des dunklen Haares blau waren!

 

Harl dachte an den Vater seiner Gefährtin, dessen Augen ebenfalls den Ton klaren Wassers gehabt hatten. Woher wohl diese seltsame Farbe stammte? Harl hatte hin und wieder Wanderer aus anderen Gruppen und Regionen getroffen und stets war ihm aufgefallen, dass sich die Menschen doch manchmal sehr unterschieden. Scharis ungewöhnliche Augenfarbe gefiel ihm.

 

Ihm wurde klar, dass er gern wieder in diese Augen sehen wollte, wenn sie lachten oder ihn neugierig betrachteten. Doch würde sie das noch einmal tun? Irgendwann im Laufe der Nacht gestand er sich ein, dass es seine Schuld war, dass sie nun hier verletzt bei ihm lag.

Und es wurde ihm klar, dass er wiedergutmachen wollte, was er verschuldet hatte. Wenn er nur die Möglichkeit bekäme!

 

Harl war kein sehr gläubiger Mann. Wann immer die Schamanen der anderen Gruppen von Geistern und Göttern erzählten, schweig er lächelnd dazu.

Doch in dieser Nacht, im Schein des tröstlichen kleinen Feuers und mit dem Gefühl, eine neuerliche Einsamkeit nicht mehr ertragen zu können, falls Schari starb, rief seine innere Stimme doch nach den Unbekannten und deren Hilfe. Eine Antwort bekam er darauf nicht, doch der Gedanke, nicht ganz untätig gewesen zu sein, beruhigte ihn einigermaßen.

 

Dann aber, als schon ein schmaler Schein am Horizont die baldige Dämmerung ankündigte, waren sie gekommen - ein vierköpfiges Wolfsrudel, dessen Erscheinen zuerst ihre irrlichternden, das Feuer widerspiegelnden Augen verrieten.

 

Waren sie zunächst nur um das behelfsmäßige Lager herumgeschlichen, so zog sie der Duft Scharis bald immer näher und schließlich überwog die Gier gegenüber der Angst und sie griffen an.

 

Harl aber, der sich in der bald zu Ende gehenden  Nacht viel enger an Schari gebunden hatte, als er es wusste, stellte sich dem Rudel. Mit Speer und Fackel in der Hand wehrte er die Meute immer wieder ab und gerade als Schari erwachte, gelang es ihm, den ersten der vier mit der eisernen Spitze zu treffen. Jaulend zog sich der kleine Rüde zurück.

 

Drohend schwenkte der Jäger seinen brennenden Ast und verschaffte sich so ein wenig Zeit und Raum. Wohl wusste er, dass auch der Bogen in dem flackernden Zwielicht nur wenige Vorteile gegenüber dem Speer bot, doch er musste es versuchen.

 

Auf die Dauer würde es nicht ausreichen, die Raubtiere nur erneut zurückzutreiben. Er musste den Anführer des Rudels erkennen und diesen töten. Erst dann würde sich die Räuberbande wirklich zurückziehen.

 

Hinter sich spürte er eine leichte Bewegung und blickte sich kurz um. Schari hatte den Kopf erhoben und er konnte sehen, wie sich die Flammen des Feuers in ihren großen, angstgeweiteten Augen spiegelten. Wilde Freude durchfuhr ihn, doch er durfte sich jetzt keinen Fehler erlauben. So grüßte er seine Gefährtin nur kurz durch ein Anheben des Bogens in seiner Rechten und wandte sich dann wieder den verbleibenden drei Feinden zu.

 

 

Harl spürte den Blick der Frau im Rücken, als er nun kraftvoll den brennenden Ast nach den Angreifern warf. Funken stoben auf und das Holz zerbarst in viele kleine Stücke, die wie ein Feuerregen auf die Wölfe herabfielen. Das klagende Jaulen der Tiere schien in den Ohren des Jägers regelrecht zu dröhnen. Nun war es an der Zeit, sich vor Schari zu beweisen. Zumindest fühlte es sich für ihn so an.

 

Der Bogen nahm seinen Weg in die Hand, die zuvor die Fackel gehalten hatte. Der Pfeil wurde passgenau an der Sehne eingesetzt. Arm, Auge, Pfeilspitze und Schaft wurden zu einer Einheit. Die Bogenhand drängte nach vorn, während Hand und Fuß der anderen Seite in einer fliesenden Bewegung nach hinten auswichen. Während sich Harls linker Arm nun straffte, zog seine Rechte die Bogensehne mit Macht zu sich heran.

 

Dann erstarrte die Bewegung in ihrem Fluss, das Auge suchte und fand das Ziel und mit einem klingenden Zischen schoss der Pfeil aus der Waffe. Ein dumpfes Reißen verkündete den Einschlag, gefolgt von einem schnell verstummenden Aufjaulen. Das Geschoss hatte sein Ziel gefunden.

 

Doch der Jäger gab sich mit dem ersten Sieg nicht zufrieden. Während die letzten beiden Wölfe die Ruten einzogen und an ihrem gefallenen Anführer schnupperten, griff Harls Rechte erneut in den Köcher, förderte einen weiteren Pfeil zutage und begann die Jagd von neuem.

 

In schneller Folge huschten zwei weitere Pfeile von der Bogensehne. Während der nächste sein Opfer nur streifte und damit wirkungsvoll vertrieb, fand der letzte abgeschossene Pfeil ebenfalls sein Ziel.

 

Das Geschick mit der Waffe schien dem Jäger im Blut zu liegen, trotzte er doch Dämmerung und dem irrlichternden Schatten der Flammen.  

 

Schari war der Jagd aufmerksam gefolgt. Fraglos musste sie Harls Geschick anerkennen. Er war ein großartiger Jäger! Er war ein Mann, der sie zweifellos gegen die Unwägbarkeiten der Natur zu verteidigen wusste! Seine körperliche Stärke machte ihn überlegen.

 

Die Schamanentochter wusste, dass sie ihm jetzt, nach dem Verlust ihrer Heimat,  auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Mit ihren Verletzungen hätte sie ohne ihn gegen das Wolfsrudel keine Chance gehabt. Dennoch war Schari beunruhigt.

 

Da war dieses unterschwellige Empfinden von Angst und der Wunsch, davonlaufen zu können, wenn sie Harl betrachtete. Ein Gefühl, dessen Ursprung sie nicht erklären konnte.

 

Was war zwischen ihrem Weggang aus dem Dorf und diesem Augenblick passiert, dass es in ihr den Wunsch nach Flucht wachrief? Noch immer ließ der pulsierende Schmerz in ihrem Hinterkopf nicht zu, dass sie sich wirklich konzentrierte. Die Augen taten ihr trotz des sanften Dämmerlichts weh und auch die Knochen ihres Unterschenkels hämmerten schmerzhaft im Takt ihres Herzschlags.

 

Sie würde nicht laufen können! Sie würde niemals in der Lage sein, mit Harl den Pass zu überqueren, von dem der Jäger gesprochen hatte. Bitterkeit überkam sie, als sie darüber nachdachte, wie sinnlos es eigentlich war, dass Harl sie gerade verteidigte.

Im Dorf, ja, da hätte man ihr helfen und sie pflegen können, bis ihre Knochenbrüche  und Wunden geheilt gewesen wären. Doch hier, mitten in der Wildnis des Vorgebirges, gab es aus ihrer Sicht kein Versteck, in das sie sich verkriechen konnte.

 

Andere Raubtiere würden kommen und beenden, was Harl mit seinem Bogen heute Nacht verhindert hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie an den Folgen des Sturzes sterben würde. Warum hatte der Jäger das nicht erkannt und sie den Wölfen überlassen?

 

Fröstelnd zog Schari die Felle enger um sich zusammen. Wenn er sie weiter schützen wollte, würden sie hier beide sterben. Die junge Frau schloss erschöpft die Augen. Sie musste Harl wegschicken. Es war nicht gerecht, dass er sich für sie opferte!

 

Der Mann aber, über dessen Handeln die Schamanentochter gerade nachdachte, ahnte nicht, welche Entschlüsse sie soeben getroffen hatte.

Harl war glücklich. Schari war wach geworden! Ihr Blick war ihm klar erschienen und auch, wenn die Angst aus ihren Augen gesprochen hatte, so würde sie sich nun, da die schlimmste Gefahr gebannt war, beruhigen.

 

Der Jäger schritt zu den Kadavern der Wölfe und zog seine Pfeile aus der Beute. Nun würde es etwas zu essen für sie beide geben!

Er ergriff eines der erlegten Tiere, eine Fähe, bei den Hinterläufen und zog sie näher an die Lagerstätte.

Nicht, dass das feste, fettlose Fleisch der Wölfe eine Leckerei gewesen wäre, doch Harl wollte zunächst einmal die Leber und Teile der Keulen für sie rösten. Schari brauchte alle Kräfte, die sie bekommen konnte, wenn das hier überleben sollte.

 

Doch bevor Harl sich an die Zubereitung des Fleisches machte, war noch etwas anderes zu tun, was ihm unter den Nägeln brannte. Er würde mit Schari sprechen und sich bei ihr entschuldigen. Und er würde ihr erklären, was er in der vergangenen Nacht beschlossen hatte; wie sich ihre Pläne ändern sollten, nun, da sie ihre Wanderung unterbrechen mussten.

 

Zusammengerollt in ihre Felle, saß seine Gefährtin am Feuer und sah ihm entgegen, noch immer angstvoll, wie ihm schien. Es war auch kein Wunder, nach allem, was geschehen war, dachte sich Harl. Sicher würde sie jeden anderen Mann lieber um sich haben wollen als ihn. Ein wenig verunsicherten ihn seine eigenen Gedanken. Bisher hatte er sich wenig Sorgen darüber gemacht, was andere von ihm hielten. Sein überragendes Jagdgeschick hatte ihm immer den nötigen Respekt verschafft und bisher hatte ihm das gereicht.

 

Von Schari aber wünschte er sich mehr!

Langsam ging Harl auf sie zu und versuchte, sein Gesicht so friedlich wie möglich aussehen zu lassen. Er wollte nicht, dass sie seine Unruhe wahrnahm.

 

Schließlich hockte er sich neben sie und strich ihr ein paar verirrte Haarsträhnen aus dem Gesicht.

"Du bist wach!" Er lächelte. "Ich bin so froh, dass du wieder aufgewacht bist."

 

Harl ließ sich neben Schari nieder und als diese begann, sich mit Händen und Mimik verständlich zu machen, folgte er ihren Bewegungen aufmerksam.

Eine Hand von ihr wies auf die Felswand hinter ihnen und drei Finger beschrieben das Steigen im Fels. Dann wies die offene Hand auf den zurückliegenden Weg und deutete an, wie sie gewandert war.

Die Schultern zuckten nach oben. Beide Hände fuhren an Scharis Kopf. Ihre Augen schlossen sich einen Moment lang. Dann hob sie beide Hände mit den offenen Handflächen und deutete ein neuerliches Schulterzucken an.

 

Harl versuchte ihr zu folgen, doch er brauchte mehrere Anläufe, bis er verstand, dass sie sich nicht entsinnen konnte, wie sie hierher gekommen war. Doch woran erinnerte sie sich?

Kurzerhand begann Harl, ihren Weg ins Gebirge hinein für Schari zu beschreiben. Wie sie das zerstörte Dorf verlassen hatten, wie sie sich die ersten Tage still und trauernd durch den dichten flussnahen Wald gequält hatten und wie sie schließlich vorgestern an jenem See angekommen waren und beschlossen hatten, zeitig zu rasten.

 

An diesem Punkt sagten ihm Scharis Gesten, dass ihr die weitere Erinnerung fehlte. Wie also war sie hierher gekommen? Hände und Blick der Frau flogen, als sie ihre Frage mehrmals für Harl wiederholte. Das 'Warum', dass hinter ihren Gesten stand, konnte er nicht übersehen.

 

Doch es war auch eine große Versuchung, ihr sein Versagen an jenem Abend einfach zu verschweigen. Sie hatte sich nicht nach Einohr erkundigt und vielleicht konnte er ihr erzählen, dass sie sich verlaufen hatten und deshalb in die Felswand eingestiegen waren?

 

Konnte er nicht einfach alles weglassen, was ein falsches Licht auf ihn warf? Harl grübelte. Ja, es wäre ihm am liebsten gewesen, wenn er das Geschehene einfach im Dunkel des Vergessens hätte lassen können.

 

Allerdings war es gar nicht sicher, dass Scharis Erinnerungen für immer verschwunden waren. Wenn er jetzt schwieg und sie sich eines Tages doch noch ihrer ersten gemeinsamen Nacht entsann …

 

Zögernd ergriff der Jäger die kleine Hand seiner Gefährtin und betrachte ihre miteinander verschlungenen Finger nachdenklich. Würde sie mit der Wahrheit zurechtkommen? Würde sie nun noch weiter vor ihm zurückweichen? Weglaufen konnte sie nun ja erst einmal nicht mehr, dachte Harl bitter. Und letztlich war es seine Schuld, dass es so war.

 

Auch, wenn der Jäger viele Erinnerungen aus seinem Leben in der Dorfgemeinschaft in Frage stellte. Eines hatte er gelernt: Ehrlichkeit untereinander war grundlegend für ein Zusammenleben.

 

Harl fasste einen Entschluss. Dann atmete er noch einmal tief ein und begann …

 

Scharis Hand blieb von den langen, kräftigen Fingern des Jägers weiter umschlossen, während er berichtete. Und da der Mann sie nicht ansah, während er sprach, konnte die Schamanentochter ihre ineinander verschlungenen Finger beim Zuhören mustern.

Harl war ihr gegenüber ehrlich. Das verstand sie, als er ihr ungeschönt von jenem Abend berichtete, dessen Schmach sie durch ihren Sturz aus ihrem Gedächtnis gelöscht hatte.

 

Harl hatte sie mit seinem Überfall verletzt. Deshalb also war sie weggelaufen. Er hatte seine Stärke gegen sie ausgespielt und sich genommen, was sie zu geben noch nicht bereit gewesen war. Schari wusste, dass sie richtig gehandelt hatte, indem sie vor Harl geflüchtet war.

 

Doch nun saßen sie hier. Er hatte sie gefunden und auch, wenn sie gegen seinen Willen gehandelt hatte, war sie von ihm vor den Wölfen beschützt worden. Harl hatte eingesehen, dass er sie sich nicht einfach unterwerfen konnte und es tat ihm leid. Auch das glaubte sie, denn seine Worte sprachen eine sehr deutliche Sprache. Der Jäger mochte sie, daran konnte sie nach dem Gehörten nicht mehr zweifeln.  Und auch, wenn es sie irritierte, dass sie ihn auf diese fast schon unheimliche Art erregt hatte, konnte sie nun zumindest verstehen, warum er so unbeherrscht gehandelt hatte. Er würde das kein zweites Mal tun. Und so war es wohl das Beste, ihm diesen Moment der Unbeherrschtheit zu verzeihen.

 

Viel gemeinsame Zeit würde ihnen sowieso nicht mehr bleiben und es gab keinen Grund, warum sich Harl  weiter mit dieser Schuld belasten sollte.

 

Irgendwann endete der Bericht des Mannes und als Harl schweigend weiter zu Boden starrte, strich Schari mit ihrer freien Hand tröstend über die bärtige Wange des Mannes.

 

Erstaunt hob der Jäger den Kopf und musterte sie forschend. So viel Unsicherheit lag in diesem Blick, dass Schari lächeln musste. Sie wiederholte ihre Berührung und ließ ihre Finger dann weiter wandern, über die Schläfe zurück zur Wange und von dort zu Harls angespannten Lippen.

 

Noch immer wurde sie dabei von Harl stumm beobachtet und so fasste sie sich ein Herz und legte ihre Hand schließlich auf seinen Brustkorb, dorthin, wo unter dem Lederhemd sein Herz schlug.

 

Bei dieser Berührung überlief den Jäger ein unkontrolliertes Zittern und eine einzelne Träne löste sich aus seinem Auge, etwas, was auch er selbst nie erwartet hätte. Scharis Verständnis traf ihn viel tiefer, als es jede Abwehr getan hätte.

 

"Du verabscheust mich nicht?", versuchte Harl Scharis Gesten flüsternd zu deuten. Ein lautes Wort wäre inmitten der unerwarteten Harmonie viel zu schrill gewesen.

Als die Schamanentochter nun lächelnd den Kopf schüttelte, spürte Harl, wie ihn die Erleichterung durchflutete. Er hatte seine Gefährtin nicht verloren!

 

Vorsichtig, ihre Verletzungen nicht vergessend, zog er sie an seine Brust. Dann, als er den Duft ihres Haares einatmen konnte und sein Kinn auf den nussbraunen Flechten ruhte, hatte er das Bedürfnis, sich ihrer Verbindung weiter zu versichern. Und so flüsterte er ihr wieder und wieder zu, dass sie ihm nun vertrauen konnte, dass er ihr nie wieder weh tun und dass es ihr bei ihm gut gehen würde.

 

Hier nun spürte er, wie Schari versuchte, ihn von sich zu schieben. erstaunt gab er dem Willen der Frau nach und verstand zunächst gar nichts, als sie mit Händen und Mimik erneut auf ihn einredete. Dreimal musste Schari ihre Gesten wiederholen, bis Harl begriff. Bittere Ernüchterung überkam ihn, als er Scharis Zeichen endlich deutete.

 

"Du willst, dass ich fortgehe?" Ungläubig gab der Jäger wieder, was er verstanden zu haben glaubte. "Du schickst mich fort?"

 

Schari nickte entschlossen und gleichzeitig rannen ihr Tränen über die Wangen und sie senkte den Kopf, um ihr Leid vor ihm zu verbergen. Sie musste ihn doch gehen lassen! Niemals würde sie von Harl dieses Opfer verlangen, dass er bei ihr blieb und mit ihr unterging.

 

Ja, wenn sie laufen könnte … dann hätte sie den Jäger mit dem Wissen um seine Zuneigung sehr gern in die winterliche Höhle begleitet. Sie hätten Gefährten sein können und sich im Frühjahr auf die Suche nach einem Dorf oder einer Gruppe machen können, um neu anzufangen.

 

Doch mit dem gebrochenen Bein wäre sie für Harl nur ein nutzloses Hindernis, ein Klotz am Bein, ja, noch mehr, ein lebensbedrohliches Risiko.

Sie konnte den Pass nicht überqueren und wenn sie hier blieben, waren sie den Unbilden des Wetters und den Angriffen der Raubtiere schutzlos ausgesetzt. Sie würden beide sterben. Das aber konnte Schari Harl nicht antun. Ja, sie hätte es auch dann nicht getan, wenn der Jäger seine Fehler nicht eingesehen hätte.

 

Harl musste einfach gehen und sie hier zurücklassen. Die Wölfe würden schon bald zurückkommen und beenden, was ihnen in der vergangenen Nacht nicht gelungen war. Es würde ganz einfach sein! Diese Raubtiere töteten schnell. Sie durfte sich nur nicht wehren.

 

Doch der Jäger ließ sich nicht so einfach wegschicken, wie es sich Schari gewünscht hatte. Dafür war sie ihm in dem vorangegangenen Augenblick viel zu nahe gekommen. Harl verstand ihre Beweggründe nicht. Sie hatte ihm doch vergeben, oder nicht? Ihm war klar, dass Schari niemals allein überleben konnte und sie musste das doch auch wissen!

 

"Ich kann dich nicht alleine lassen", versuchte er, ihr Vernunft beizubringen. "Es werden andere Wölfe kommen, schon in der nächsten Nacht, wenn wir hier nicht verschwinden. Sie riechen dich!"

 

Die Schamanentochter nickte traurig. Das war die reine Wahrheit, zu der es nichts mehr zu sagen gab. Noch einmal machte sie eine unmissverständliche Geste, dass Harl verschwinden solle.

 

Doch der Jäger ging nicht. Im Gegenteil trieb ihn das neuerliche Unverständnis in den Zorn. Fluchend schlug er auf den Grasboden. "Was soll das, Schari?" wurde er nun laut. "Bin ich für dich so abstoßend, dass du lieber sterben willst, als einen Winter mit mir zu verbringen? Glaubst du wirklich, ich würde dich hier einfach liegen lassen?"

 

Die Augen des Mannes wurden schmal, als er sie erneut musterte. "Dann, Mädchen, hätte ich dich schon am Fluss zurücklassen sollen. Das hätte mir viel Mühe erspart. Du wirst mitkommen, und wenn ich dich zwingen muss!"

 

Der Zorn des Jägers tobte über Schari hinweg, doch er konnte sie nicht berühren. Ein verzichtendes Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie bedeutete ihm offenbar mehr, als sie geahnt hatte. Und auch er war ihr nicht einerlei. Deshalb sollte er ja gehen.

 

Geduldig, wie sie mit einem trotzigen Kind ihres Dorfes umgegangen wäre, versuchte Schari nun auch Harl ihre Beweggründe zu erklären.

 

Zunächst wies sie auf Harl und sich, deute den Weg an, den sie gekommen waren und den Pfad, den sie in Richtung Passhöhe nehmen musste. Harl seufzte auf und versuchte sich trotz seiner Wut auf ihre Gesten zu konzentrieren. Inzwischen kam ihm ihre Stummheit nicht mehr so wohltuend wie zu Anfang vor. Nein, es wäre ihm viel lieber gewesen, wenn sie hätte sprechen und sogar schreien können. Vielleicht wären sie dann gar nicht hier, sondern gemeinsam auf dem Weg in das nächste Tal?

 

Doch es war, wie es war und während Harl Scharis Gesten folgte, beruhigte er sich zumindest so weit, dass er sie verstehen konnte.

Also wiederholte er, welchen Weg sie geplant hatten, auch, wenn er den Sinn hinter den Gesten noch nicht verstand.

 

Dann deutete Schari auf sich selbst und ihr verletztes Bein. Zwei Finger deuteten die Bewegung des Gehens an und ein Kopfschütteln verriet, dass sie es nun nicht mehr konnte.

Die Hand wies zum Berg, dann auf ihre Brust und Schari schüttelte erneut den Kopf. Nein, sie konnte nicht über den Pass gehen! Eine weitere Geste zeigte nun auf sie beide und verneinte den Weg ein weiteres Mal. Dann, am Schluss deutete der Finger auf Harl allein und wies den Pfad ins Gebirge hinein. Nur er konnte gehen, nur er!

 

Nun begriff auch Harl. Ja, er verstand noch viel mehr als nur die Tatsache, dass Schari zurückbleiben wollte, weil sie nicht in der Lage war, den Weg zu meistern.

Sie stellte sein Leben über ihres. Der Jäger betrachtete die Schamanentochter nun beinahe ehrfürchtig. Wie konnte sie so selbstlos sein, nach allem, was sie mit ihm erlebt hatte?

 

Zwar verspürte er auch Ärger, dass sie ihn für so egoistisch hielt, dass er tatsächlich gehen würde, doch das Gefühl hatte keinen Bestand.

 

Harl zwang sich zur Ruhe. Er wollte sie nicht noch mehr einschüchtern.

Wieder ergriff er ihre kleine Hand, doch nun sah er ihr in die Augen, als er sprach. "Hör zu, Schari!", forderte er sie auf. "Wir werden das hier gemeinsam schaffen. Ich werde dich nicht den Wölfen überlassen, nachdem ich dich in der letzten Nacht vor ihnen gerettet habe."

 

Scharis Hand versuchte sich aus seiner zu lösen. Vermutlich wollte sie widersprechen. Doch Harl war sich seiner Sache sicher. Entschlossen ergriff er auch noch die zweite Hand seiner Gefährtin und hielt sie fest. "Hör mir erst einmal nur zu!", wies er an. "Wir müssen diesen Pass nicht sofort überschreiten. Wir haben noch fast einen Mond Zeit, bis der erste Schnee kommt. Und auch dann werden die Wege nicht unbegehbar sein."

 

Er lockerte seinen Griff um Scharis Handgelenke ein wenig. "Wir werden alles, worauf wir verzichten können, zurücklassen. Nur die Waffen, eine Decke und ein wenig Proviant." Harl holte tief Luft.  "Ich werde dich tragen. Ich werde dich tragen, bis ich nicht mehr weiter kann. Wir gehören zusammen." Er schwieg einen Moment lang und sah in die von ungläubiger Hoffnung geweiteten Augen seiner Gefährtin. "Wir werden das schaffen. Gemeinsam!"

 

 

Einen halben Tag später wusste Schari kaum mehr, wie lange sie heute schon unterwegs gewesen waren. Oder war bereits ein neuer Tag angebrochen und sie hatte es im Trance ihres Schmerzes gar nicht bemerkt?

Es war schwer zu sagen, ob nun das dumpfe Hämmern ihres Kopfes oder das anhaltende Brennen ihres gebrochenen Unterschenkels mehr zu dem Dämmerzustand beitrugen, in dem sie sich befand.

 

Am Morgen, als Harl einen der Wölfe zerlegt und die besten Teile für sie beide über dem Feuer geröstet hatte, war ihr ihr Körper stärker vorgekommen. Die neu aufkeimende Hoffnung, doch zu überleben, hatte ihr genug Kraft gegeben zu essen, was auch immer der Jäger ihr vorhielt.

 

Ja, sie hatte ihm dabei geholfen, als er am Ufer des kleinen Baches versucht hatte, sie, so gut es eben ging, zu waschen und vom Blut ihrer Kopfverletzung zu befreien.

Dann hatte er ihren Umhang sorgfältig betrachtet und ihn schließlich mit ihrem kleinen Messer so zurechtgeschnitten, dass daraus eine Art Tragbehältnis entstand, mit dessen Hilfe er Schari auf seinem Rücken festbinden konnte.

 

Mehrmals hatte sie probiert, mit dem verletzten, geschienten Bein zu gehen, doch so oft sie es auch versuchte, misslang es ihr kläglich, auch nur länger als einen Wimpernschlag zu stehen.

 

Harl hatte ihren Versuchen zunächst geduldig zugesehen, doch als sie nicht aufgab, ließ er sie mit wenigen Worten wissen, dass er das Bein am Vortag erst gerichtet hatte und nun nicht dulden würde, dass sie seine heilende Arbeit zunichte machte. Er war stark genug, sie auf seinem Rücken zu tragen und das würde er nun tun. Sie solle einfach stillhalten und ihm vertrauen.

 

So waren sie losgezogen, als die Sonne knapp zwei Handbreit über dem Horizont gestanden hatte und inzwischen war das Gestirn bereits über den Zenit hinweg geschritten.

Schari vernahm den Schmerz inzwischen nur noch als eine namenlose, alles übertönende Empfindung und es war dabei ganz egal, ob sie nun an Kopf, Bein, Rücken oder ihre Hände dachte. Das Gefühl war überall und zog sie immer tiefer in eine unerträgliche Trance.

 

So bekam sie es zuerst gar nicht mit, als Harl seine Last vorsichtig ins Gras gleiten ließ und neben seiner Gefährtin erschöpft zu Boden sank. Eine so lange Strecke würde er kein zweites Mal an einem Tag gehen können. Schon, als sie den kleinen See noch gar nicht hatten sehen können, war er an der Grenze angekommen und nun, da sie an ihren verlassenen Rastplatz  zurückgekehrt waren, zitterten ihm die Knie und die Schultern brannten.

 

Ein Bad würde ihm guttun, dachte Harl, und ein Schluck Wasser. Doch bevor er sich selbst versorgte, wandte er seine Aufmerksamkeit Schari zu. Das, was er am Morgen begonnen hatte, würde Harl nun immer weiter fortsetzen, bis sie wieder ganz genesen wäre. Sie würde für ihn an erster Stelle stehen, noch vor seinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen.

 

Also sorgte er dafür, dass sie bequem lag und weckte sie dann aus ihrem leichten Schlaf, um ihr ein wenig Wasser einzuflößen. Die versteckten Vorräte wurden herangeholt und neben einem Fell, dass er ihr unter den Kopf schob, fand auch eine Decke ihren Weg über ihren Körper. Die bequeme Lage und die Wärme, die von ihrem Lager ausging, ließen Schari schnell wieder einschlafen und nun erst erfüllte sich auch Harl seine Wünsche. Er trank und ging dann wie geplant in den See zum Baden.

 

Erschöpft richtete er sich dann neben seiner Gefährtin ebenfalls ein Lager ein. Noch war helllichter Tag, der die Tiere abhalten würde zu jagen. Die Landzunge, auf der sie sich befanden, würde die Räuber zusätzlich hindern, sie anzugreifen.

 

Harl wusste, dass er in den kommenden Nächten wahrscheinlich allein wachen musste, so erschöpft wie Schari nun einmal war. Er musste sich vorbereiten.

 

An diesem ersten Tag zeigte sich, wie wichtig Harls Erfahrungen aus der Wildnis waren. Der Jäger kannte die Natur, den Wald und die Tiere in ihm viel besser als jeder Bewohner des Flussdorfes es je gekonnt hätte. Und er kannte seinen Körper und dessen Kräfte und konnte einschätzen, wie viel er zu leisten im Stande war.

 

Harl schlief bis zum Beginn der Dämmerung. Dann fühlte er sich wach und erfrischt und machte sich daran, Holz für ein nächtliches Feuer zu sammeln. Als er mit dem Arm voll trockener Äste zurückkehrte, sah er Schari aufrecht in ihren Decken sitzen.

 

Ein glückliches Gefühl machte sich in ihm breit und er ließ das Holz schwungvoll zur Erde poltern, bevor er sich neben sie hockte. Die junge Frau begrüßte ihn mit einem Lächeln, das Harl gern erwiderte. Die Spuren der Erschöpfung in ihrem Gesicht waren weniger geworden, doch ein leichtes Glitzern in den Augen ließ Harl achtsam werden. Vorsichtig legte er seine Hand auf Scharis Stirn. Ihre Haut war trocken und heiß!

 

Scharis Pupillen weiteten sich, als sie spürte, was auch Harl fühlte. Die Hitze, die ihren Körper frösteln ließ, war nicht gut. Oft schon hatte die Schamanentochter diese Hitze bei Anderen ertastet. Sie war Ausdruck dafür, dass der Körper mit ihren Verletzungen kämpfte. Doch der Ausgang eines solchen Kampfes war immer ungewiss.

 

Einmal hatte sie ein Kind gesehen, dessen Stirn immer wärmer geworden war, bis es sich mit verrenkten Armen und Beinen und starren Augen auf dem Lager krümmte. Aus diesem Angriff der Geister war der Kleine nicht mehr lebend erwacht. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass man die Hitze so schnell wie möglich aus dem Körper vertreiben müsse. Kälte würde dagegen helfen - natürlich - und der Tee aus bitterer Weidenrinde.

 

Schari ergriff Harls Hand. Auch, wenn der Jäger ihr Kräuterpäckchen sicher nicht mitgeschleppt hatte, Weiden gab es an diesem See mehrere und nun musste sie ihm nur noch erklären, was sie brauchte.

 

Hände und Gesicht begannen zu gestikulieren und als Harl nicht schnell genug verstehen wollte, ergriff Schari ungeduldig ein Stöckchen, das der Jäger sicher zum Entzünden des Feuers gedacht hatte und zeichnete einen jener langhaarigen Bäume auf den Boden neben der Feuerstätte.

 

Ihr Finger fuhr über den Stamm und als sie aufschaute, sah sie in Harls grinsendes Gesicht. Siegesbewusst hielt er eine Handvoll Weidenrinde hoch, die er längst gesammelt hatte. Auch Harl kannte jene Hitze, die Verwundete oftmals befiel und hatte vorgesorgt. Ein Trinkhorn würde das Tongefäß ersetzen müssen, wenn er später in der heißen Asche des Feuers Wasser für den Sud erwärmen würde.

 

Vielleicht war es dieser Moment, in dem Schari verstand, dass sie ihm wirklich vertrauen konnte. Harl mochte oftmals ruppig sein und er hatte sicher Fehler gemacht, über deren Bedeutung sie nicht nachdenken wollte. Doch hier, inmitten der bedrohlichen Wildnis war er der Einzige, auf den sie sich verlassen konnte.

 

Erschöpft ließ sich Schari zurücksinken. Harl war da und er würde für sie sorgen. Mit diesem tröstlichen Wissen übermannte sie der Fieberschlaf, nur unterbrochen von dem Mann, dem ihre letzten Gedanken gegolten hatten und er ihr in der kommenden Nacht geduldig den Weidensud einflößte.

 

 

Harl musste lange warten, bis Schari wieder erwachte, fast zu lange für seinen Geschmack. Er war kein Mann mit großer Geduld, doch das wusste er längst.

Es waren auch nicht die vier Tage erzwungenes Nichtstun, die ihn mürbe machten, sondern die Ungewissheit, die Scharis Bewusstlosigkeit mit sich brachte.

 

Ein paar Mal hatte er versucht, sich von  dem Lager und seiner Frau eine Zeit lang loszureißen und jagen zu gehen. Doch dann war er stets nach den ersten Schritten wieder umgekehrt. Zu groß war die Angst, dass während seiner Abwesenheit etwas geschah, dass erneut Wölfe angriffen oder auch nur ein Regenschauer die fiebernde Schari durchnässte und ihr den Tod brachte.

 

Dass der Himmel ausnahmslos sonnig war, ließ Harl dabei nicht gelten, ebenso wenig die feste Gewohnheit der Rudel, stets im Dämmerlicht zu jagen. Also blieb es für den Jäger bei ein paar Fischen, die er im nahen See fangen konnte und den Pilzen, die auch in Sichtweite des Lagers wuchsen.

 

Jeden Morgen und jeden Abend wusch er Schari den Fieberschweiß vom Körper und wann immer sie ein wenig aus ihrem Dämmer erwachte, flößte er ihr den Weidensud ein, den er stets vorrätig hielt. Dazwischen fand er Zeit, ihre Habe sorgfältig zu sichten und festzulegen, was er alles auf dem Weg über den Pass mitnehmen wollte. Viel war es nicht, was er zusätzlich zu seiner Gefährtin tragen konnte. Doch er würde ein Depot anlegen, dass er irgendwann, wenn es Schari besser ging, leeren konnte. Für zusätzliche Felle, Messer und Proviant würde sich eine erneute Überquerung des Passes allemal lohnen.

 

Doch bis es soweit war und sie an ein Weiterziehen auch nur konnten, vergingen schließlich fünf  Tage. Inzwischen war Harls Geduld fast erschöpft. Ja, er hatte sich bereits einmal bei dem Gedanken ertappt, Schari doch noch ihrem Schicksal zu überlassen. Danach war er wütend auf sich selber gewesen. Wie konnte er auch nur daran denken, sie zurückzulassen? Zornig war er schwimmen gegangen und hatte so lange den kleinen See durchpflügt, bis er völlig erschöpft gewesen war.  Dennoch war ein leiser Zweifel geblieben, ob das, was er hier tat, überhaupt irgendeinen Sinn machte.

 

Es war für Harl somit eine doppelte Erleichterung, als Schari am Abend des fünften Tages richtig erwachte. Wie an den Tagen zuvor, hatte der Jäger ihr mit einem Stück angefeuchtetem Pelz das Gesicht gewaschen und die Kälte des Wassers hatte Schari aus ihren wirren Träumen gelockt. Tief lagen ihre Augen in den Höhlen und ihr Gesicht war viel schmaler als vor dem Fieber. Dennoch sah Harl ein munteres Leuchten, als sie ihn anlächelte und mit einem Mal war auch dem Jäger das Glück anzusehen. Seine Gefährtin war zurückgekehrt, den Göttern sei Dank!

 

Harl lachte auf und wurde für seine Heiterkeit mit einem überraschten Blick Scharis bedacht. Überschwänglich nahm er sie in die Arme, vorsichtig, sanft,  tröstend. So lange war sie für ihn unerreichbar, so ungewiss war die Situation gewesen! Doch nun war sie zurückgekehrt und sie durften hoffnungsvoller an die Zukunft denken.

 

Der Jäger sorgte an diesem Abend dafür, dass seine Gefährtin ausreichend aß und trank. Er sah nach ihren Verletzungen, wie an den Vortagen auch und kontrollierte die Schienung des gebrochenen Beines, die nun, da Schari sich bewegte, wieder wichtiger wurde. Bei allem, was er tat, folgten ihm aufmerksame Blicke.

 

Die Schamanentochter war heute erstmals fieberfrei und beobachtete überrascht, mit wie viel Sorgfalt sich Harl um sie kümmerte. Es war eine ganze Reihe kleiner Dinge, die sie erstaunte. Und als Harl zu Einbruch der Nacht seine Pläne für die weitere Wanderung vor ihr offenlegte, war Schari sich ganz sicher, dass er es ernst meinte. Er hatte sie nach ihrem Sturz gerettet, sie in den vergangenen Tagen versorgt und gepflegt und nun schien er sich sicher zu sein, dass er es auch weiterhin mit ihr versuchen wollte.

 

Ja, sie erinnerte sich noch gut an alles, was er ihr über die Zeit erzählt hatte, die für sie immer noch im Dunklen lag. Und sie wusste auch, dass er den Tod ihres vierbeinigen Freundes Einohr zu verantworten hatte, der ihr fehlen würde. Dennoch strahlte Harl an diesem Abend so viel Sicherheit und Zuverlässigkeit aus, dass Schari sich auch dann auf ihn eingelassen hätte, wäre sie nicht verletzt gewesen.

 

In der Nacht unterhielt Harl ein kleines Feuer und immer, wenn die Schamanentochter aus ihrem unruhigen Schlaf erwachte, saß er wachsam neben den irrlichternden Flammen und starrte in die Dunkelheit.

 

Dennoch war Harl am Morgen wach und nach einer kurzen Mahlzeit nahmen sie in Angriff, was ihr Überleben sichern sollte, den Weg über den Pass.

 

 

Kapitel 4: Im Wintertal

 

 

 

Noch stand die Sonne zwei Handbreit über dem Horizont und Harl wusste, er würde nun geduldig warten müssen, bis sie sich den Tannenspitzen näherte, die den Waldrand kennzeichneten.

 

Der Jäger war auf große Beute aus und die Dämmerung, in der die Sauen mit ihren inzwischen beinahe ausgewachsenen Frischlingen am Waldrand nach Eicheln gruben, war die beste, um eines der Jungen oder im besten Fall gar zwei zu erlegen.

 

Bis es soweit war, würde noch einige Zeit vergehen. Doch es war gut, sich rechtzeitig auf die Lauer zu legen, damit kein Geräusch die vermeintliche Idylle der Lichtung störte, wenn die vorsichtigen Wildschweine hervorkamen.

 

Harl hatte sich einen gemütlichen Laubhaufen zusammengeschoben und ruhte versteckt im Unterholz des Waldrandes. Ein Eichkätzchen erklomm einen Stamm, nur einen Steinwurf von ihm entfernt und in den Eichenkronen stritten sich zwei Eichelhäher um Futter. Drüben, hoch über der Wiese stand er volle Mond, weiß und kalt schimmernd, scheinbar beinahe durchsichtig, endlos weit entfernt.

 

Der Jäger betrachtete das Nachtgestirn und unwillkürlich trifteten seine Gedanken ab zu dem letzten Vollmond, den er erlebt hatte. Es war Morgen gewesen und wie heute, stand der Mond tagsüber am Himmel. Ja, er hatte geglaubt, dass er seine Gefährtin einfach so auf dem Rücken über den Pass tragen könne. Harl lachte still in sich hinein. Wie sehr er doch von sich selbst eingenommen gewesen war! Keinen halben Tag hatte er gebraucht um einzusehen, dass er sein Versprechen an Schari nur mit Aufwendung aller Kräfte würde einhalten können. Und selbst dann würden sie viel länger brauchen, als er angenommen hatte.

 

Mit zusammengebissenen Zähnen war er bergauf gestapft, immer weiter, noch ein bisschen, ein paar Schritte … bis sie ihm an einem Wäldchen entschlossen gegen die Brust geklopft hatte. Da sie, was er inzwischen nicht zum ersten Mal verfluchte, nicht im herkömmlichen Sinn mit ihm sprechen konnte, hatte er sie abgesetzt.

 

Dann nahm der Fluss ihrer Gesten seinen Lauf und bald verstand er Scharis Idee, die sie einfach ausprobieren mussten, wenn er nicht schon vor dem Pass gnadenlos erschöpft sein wollte. Bildhaft hatte sie ihm bedeutet, was sie sich vorstellte und so war er überzeugt auf die Suche gegangen.

 

Tatsächlich war ihr Einfall gut gewesen und auch, wenn er sah, dass sie Schmerzen dabei hatte, mussten sie es darauf ankommen lassen, dass sie, so oft es eben ging, auf ihn und den neuen, knorrigen Stock mit Astgabel gestützt, neben ihm her humpelte.

 

Noch konnte sie das geschiente Bein nicht belasten. Dennoch nahm sie ihm damit so viel Last ab, dass sie auf diese Weise langsam aber stetig voran kamen.

 

Lächelnd erinnerte sich Harl an das Gefühl, sie so nahe bei sich zu haben, an ihren Duft, ihre Wärme, die er nur zu deutlich neben sich spürte. Doch es waren auch ihre Ausdauer und ihre Zähigkeit, die ihn faszinierten. Was für eine Frau!

 

Längst hätte er viel dafür gegeben, sich mit ihr zu unterhalten und nicht darauf angewiesen zu sein, ihre Handzeichen zu deuten. Doch es war, wie es war und vielleicht würde er es ja irgendwann wieder gut finden, dass sie von Stille umgeben war?

 

Harl sann über Schari nach und über die Tage, die ihrer schweren Wanderung gefolgt waren. Sie tragend oder stützend hatten sie schließlich den zum Glück immer noch schneefreien Pass überquert. Dann, als das Wintertal vor ihnen lag und im Licht des frühen Herbst verlockend in Rot- und Goldtönen leuchtete, hatte Schari zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch wieder unverkrampft und glücklich gelächelt.

 

Offenbar ließ sie der Anblick einen Moment lang alle Schmerzen und Sorgen vergessen. Harl hatte ihr den kleinen dunklen Fleck am Fuß einer Felswand gezeigt, der ihr neues Zuhause war.  Dann hatte er die überraschte Frau in einem Überschwang von Freue und Euphorie auf seinen Rücken gehoben und war mit ihr losgetrabt - hinein in das geschützte Tal, hinein in ein neues Abenteuer, einen neuen Anfang.

 

Und seine Zuversicht hatte Schari mitgerissen! Sie hatten schon zwei Tage später ihre neue Höhle bezogen und zu Harls großer Erleichterung waren die Waffen und Werkzeuge, die er hier neben ein paar Vorräten deponiert hatte, unangetastet in ihrem Versteck geblieben. Ab sofort verfügten sie also über Messer, Nadeln, zwei zusätzliche Felle und einige Lederbehälter mit Trockenfleisch. Zusammen mit dem, was sie noch sammeln und jagen konnten, sicherten ihnen diese Dinge ein bescheidenes Auskommen.

 

Und Harl ließ keine Zeit verstreichen, um mehr Reserven für den Winter anzulegen. Nachdem er Schari einen Tag zur Erholung gegönnt hatte, ließ er sie mit reichlich Brennholz und einem Trinkhorn voll Wasser in der sicheren Höhle zurück, um Nahrung zu beschaffen.

 

Am Anfang waren es kleines Wild und ein paar Nüsse, die er fand und aus denen Schari Suppen kochte. Bald aber konnte er die Schamanentochter nicht mehr untätig in der Höhle halten. Als er am vierten Tag nach ihrer Ankunft von der Jagd zurückkam, war das Dornengestrüpp am Höhleneingang zur Seite geschoben und der Platz seiner Gefährtin war leer.

 

Noch immer lief dem Jäger ein Schauer über den Rücken, sobald er sich an  diesen Moment erinnerte. Schari war einfach verschwunden gewesen! Harl schüttelte sich trotz aller guten Vorsätze bei dieser Erinnerung und ein Rotkehlchen, das direkt vor ihm im Gebüsch saß, flatterte empört über die Störung davon.

 

Harl verfolgte den Flug des winzigen Dings mit den Augen. Bis zur Dämmerung blieb noch viel Zeit und so triftete er erneut in die Erlebnisse der vergangenen Tage ab. Wie erleichtert war er gewesen, als er Schari nur Augenblicke später etwas entfernt vom Höhleneingang ausgemacht hatte. Sie saß mit dem Rücken zu ihm in den halbhohen borstenartigen Sträuchern, die es hier überall gab und zupfte Blaubeeren von den Zweigen. Eine Schale stand bereits gefüllt neben ihr und er sah ihr zu, wie sie sich trotz des geschienten und ausgestreckten Beins nicht ganz ohne Anmut von Strauch zu Strauch bewegte.

 

Das Gefühl, das sich in seiner Brust bei diesem Anblick breitmachte, war ihm gleichzeitig vertraut und doch irgendwie neu. Fühlte es sich so an, nachhause zu kommen?

 

Entschlossen hatte er mit dem Speer auf den felsigen Boden vor der Höhle geklopft und ihr Lächeln, als sie sich daraufhin umwandte, gefiel ihm so sehr, dass er darin einstimmte.

 

Auch jetzt lächelte er beim Gedanken an Scharis schönes Gesicht und so entging ihm zunächst die Unruhe, die sich unter den Eichelhähern und anderen Vögeln bemerkbar machte. Eine Bewegung am Waldrand ließ ihn dann aber doch aufmerksam auf den beweglichen Punkt starren. War dort ein mutiges Reh unterwegs oder kamen gar schon die erwarteten Sauen mit ihren Jungen auf die Lichtung? Der kleine See mit Suhle lag direkt vor den schwankenden Zweigen des Unterholzes.

 

Doch es war nur ein kleines Tier, das da aus dem Unterholz auftauchte. Angestrengt kniff Harl die Augen zusammen. Ein Frischling war das nicht! Die Schatten der Bäume ruhten bereits auf der Lichtung, sodass er das unbekannte Lebewesen nicht zuordnen konnte. Viel Zeit ließ ihm der kleine Eindringling auch nicht, denn nach einem schnellen Gang zum See verschwand er wieder unter den niedrigen Zweigen.

 

An besseren Tagen hätte die Neugier des Jägers ihn dazu getrieben, der Sache auf den Grund zu gehen. Doch heute stand die Beute so klar im Vordergrund, dass Harl trotz aller Wissbegier auf seinem Platz verharrte. Schari brauchte zu essen. Das war wichtiger als die Erkundung eines unbekannten Tieres.

 

Gestern hatte er ihr dabei geholfen, erstmals das verletzte Bein vorsichtig zu belasten. Vermutlich war es ein wenig zeitig gewesen, mutmaßte Harl, denn sie hatte dabei gezittert - ob vor Schmerzen oder Aufregung, konnte er nicht herausfinden, ohne sie bei ihren Bemühungen zu unterbrechen.

 

Doch sie war endlich wieder aufgetreten und, auf ihren Stock und ihn gestützt, ein paar Schritte gegangen. Danach hatte er sie zurück auf die Felle getragen und sie im Arm gehalten, als sie vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen war. Es hatte ihn alle Zurückhaltung gekostet, es dabei bewenden zu lassen. Nach dem Abend am See hatte es keine weitere Annäherung mehr zwischen ihnen gegeben und Harl war schon dankbar, dass er Schari überhaupt noch berühren durfte, ohne, dass sie ihn abwies.

 

Manchmal, wenn sie unruhig schlief und sich im Traum gegen einen unsichtbaren Gegner wehrte, bis er sie weckte, befürchtete er, sie könne auch von ihn, Harl, träumen. Doch er war zu feige, um Schari danach zu fragen. Manche Dinge ließ er besser auf sich beruhen. Und trotzdem zehrte die Situation ans einer Geduld. Je mehr Abstand er sich auferlegte, um so dringender wurde der Wunsch, Schari zu besitzen.

 

Auch gestern hätte er ihr am liebsten das Lederkleid von den Schultern gestreift, um ihren Duft besser wahrzunehmen, hätte sie gern unter sich gehabt, nur, um sie dann voller Genuss zu besteigen und in ihr zu sein, bis sich diese fast unerträgliche Spannung endlich löste. Doch nach allem, was gewesen war, konnte er das von Schari nicht verlangen …

 

Harl verlagerte seine Beine ein wenig, um bequemer zu liegen. Nichts hatte sich so entwickelt, wie er es am Anfang erhofft hatte. Der Winter würde verflucht lang werden…

 

Diese Grübeleien, so überlegte er, fraßen ihn noch auf. Darum war der Jäger im Stillen froh, als endlich ein Grunzen und Rascheln das erwünschte Wild ankündigte. Zwischen die Geräusche der Schweine mischte sich ein leises, ängstliche Fiepen, das Harl jedoch nicht interessierte. Jetzt ging es um die Sauen und um nichts anderes!

 

Harl ließ den Tieren viel Zeit, um die Lichtung zu betreten und sich zu versichern, dass keine Gefahr drohte. Es lagen einige Speerlängen zwischen der Suhle und ihm, sodass er darauf setzen musste, dass die Tiere weniger wachsam waren, sobald sie sich im Schlamm pflegten. Doch dazu musste er ihnen Sicherheit vorgaukeln.

 

Der Wind stand gut, die wachsamen Vögel schwiegen und nach und nach kamen die Tiere seinem Versteck auf ihrem Gang zur Suhle immer näher.

 

Harl hatte seinen Bogen in der Höhle gelassen. Bei dem, was er heute plante, war die Waffe nicht gut zu gebrauchen. Für die dicke Haut der Schweine war ein Speer viel geeigneter, da er kraftvoller und tiefer traf. Drei dieser Waffen besaß Harl derzeit und alle drei führte er nun mit sich, als er vorsichtig und mit vielen Unterbrechungen ein wenig näher robbte. Jetzt, da die Sonne hinter den Bäumen versunken war, stieg eine unangenehme Kälte vom Boden auf. Harl fröstelte trotz der Konzentration.

 

Dann, als er aus seiner Sicht nahe genug gekommen war, sprang er mit einem gleitenden Schritt auf und verringerte in scharfem Tempo den Abstand zu seiner Beute, bis er den ersten Speer schleudern konnte. Hart schlug das Metall in dem warmen Tierkörper ein und ein schmerzliches Quieken verriet den Treffer des erfahrenen Jägers. Harl ließ einen zweiten Speer folgen, doch dieser verfehlte sein Ziel um einige Handbreit, da der erschrockene Frischling klug zur Seite hin ausgewichen war.

 

Wachsam hielt Harl seinen letzten Speer bereit. Nun ging es nicht mehr um Beute, sondern um eine mögliche Verteidigung. Wenn die Muttersau angriff, anstatt mit ihren verbliebenen Jungen zu flüchten… Doch so weit kam es nicht.

 

Grunzend und quiekend galoppierte die Schweinefamilie in das schützende Unterholz und ließ Harl mit seiner Beute zurück.

 

Nachdem der Jäger sicher war, dass ihm keine Gefahr von den flüchtenden Tieren drohte, stieß er den verbliebenen Speer in den Boden und näherte sich seiner Beute. Der halbwüchsige Eber, den er getroffen hatte, war bereits verendet, sodass er sein Messer zunächst zurück in den Gürtel schob, bevor er Beute und Waffen barg.

 

Dann trug er den Kadaver an den Waldrand, hängte das Tier an den Hinterbeinen in einen Ast und schlitzte ihm die Kehle auf. Ausgeblutet würde die Beute weniger schwer auf seinen Schulter lasten.

 

Während Harl darauf wartete, dass der rote Lebenssaft aus dem Tierleib floss, hörte er es wieder - ein Rascheln und ein weinerliches Fiepen. Was auch immer es war, der Duft des Blutes schien das unbekannte Tier anzulocken, denn die Geräusche kamen zögerlich näher.

 

Der Jäger verharrte still. Vielleicht konnte er ja doch noch eine weitere Beute machen? Selbst, wenn es ein Dachs oder Fuchs war, wie es die Laute vermuten ließen, konnten sie Fleisch und Fell gebrauchen.

 

Und tatsächlich war die braune Schnauze, die etwas später unter einem tiefhängenden Ast hervor lugte, nicht größer als die eines Fuchses. Allerdings erschien sie weniger spitz und dem Fell fehlte die rötliche Farbe des Mäusejägers.

 

Erneut leise fiepend und unsicher schnuppernd kroch schließlich ein halbwüchsiger, abgemagerter Wolfswelpe unter dem Busch hervor und trabte zielsicher zu Harls Wildschwein, um sofort gierig das frische Blut vom Boden aufzulecken.

 

Harl stand wie erstarrt und beobachtete das ausgezehrte Tier. Als Nahrung war der Kleinen völlig ungeeignet, dachte er und wollte den jungen Wolf schon verscheuchen, indem er sich regte. Doch dann kam ihm eine Idee, die so gut war, dass er gar nicht anders konnte.

 

Ganz langsam und vorsichtig zog er sich seinen Umhang von den Schultern. Auch, wenn der kleine Wolf mager war, schnell wäre er dennoch. Also schlich Harl so geräuschlos wie möglich näher.

 

Dann, als der Wolf ein erstes Zeichen von Unruhe zeigte, warf er ihm das Auerochsenfell über und stürzte sich ebenfalls sofort auf den Gefangenen. Der Kampf war ungleich und darum schnell vorbei. Triumphierend hielt Harl bald den völlig in seinen Mantel eingewickelten Wolf im Arm. Er hatte einen neuen Wächter für Schari gefunden, auch, wenn dieser hier noch beide Ohren besaß. Hatte sich der Wolf erst einmal an die Menschen gewöhnt und seine neue Herrin akzeptiert, würde er ihr genauso treu und ergeben sein, wie der alte Einohr. Harl grinste von einem Ohr zum anderen. Was für eine Jagd!

 

Wenngleich es sich schwierig gestaltete, ließ er den Wolf nicht aus seinem Arm, während er das Wildschwein vom Ast holte und sich über die Schulter warf. Speere, Wolf und Schwein ließen sich mehr schlecht als recht zusammen tragen, doch Harl war so gut gelaunt, dass ihm das erst einmal egal war. Munter trat er auf die Lichtung, das zappelnde Bündel Welpe fest an sich gepresst.

 

Doch er hatte sich wohl überschätzt! Gerade, als er am Ufer des kleinen Sees entlang lief, entzog sich der Welpe seinem Griff, schlüpfte, sich windend und kratzend, aus dem Umhang und sprang mit einem Platsch ins seichte Wasser. Beide, Mann und Wolf, verharrten einen Moment überrascht, dann versuchte der Wolf, so schnell es ging, davonzukommen und Harl warf seine Last ab, um den Ausreißer wieder einzufangen. Beide jagten durch das seichte Wasser, dass die Tropfen nur so spritzten. Mehrmals hätte Harl die Rute des Welpen beinahe packen können, doch immer wieder entzog sich der Kleine seinem Griff.

 

Dann, als der Jäger es erneut versuchte, bekam er ein Bündel Fell und Haut zu fassen. Laut fiepend warf sich der kleine Wolf herum und versenkte seine Zähne in die Hand des Angreifers. Fluchend packte Harl fester zu und nahm seine Linke zu Hilfe, um die Schnauze des bissigen Welpen festzuhalten.

 

Dabei verlagerte er sein Gewicht immer mehr auf das linke Bein. Harl rutschte, der schlammige Untergrund gab ein laut schmatzendes Geräusch von sich und beide, Mann und Wolf fielen mit einem Platsch in den eiskalten See.

 

Sofort war der Jäger bis auf die Haut durchweicht. Den Welpen noch immer fest gepackt, rappelte sich Harl spuckend und fluchend auf. Der Biss in seinem Handrücken brannte und Wasser tropfte ihm aus Haaren und Kleidung. Die gute Laune war verschwunden. Ohne besondere Fürsorge wurde der widerspenstige kleine Wolf im Genick gepackt und ans Ufer gebracht. Ohne große Rücksicht stopfte Harl den Kleinen erst einmal wieder in seinen Umhang. Das Auerochsenfell war das einzige, was halbwegs trocken geblieben war. Harls sonstige Kleidung troff nur so vor Wasser.

 

Der Jäger fröstelte. Schnell entledigte er sich des Hemdes und der Beinlinge und wischte sich dann einmal durch das halblange Haar, um es so weit zu trocknen, dass es nicht mehr tropfte. Dann wrang er die Stoffe aus und befreite den Wolf aus seinem felligen Gefängnis. Auch der Kleine wurde kurz abgerubbelt. Dann rollte Harl ihn einfach in Hemd und Beinlinge ein. Er würde seine Speere hier zurücklassen müssen, wenn er keine weiteren Abenteuer mit dem kleinen Zappler erleben wollte.

 

Harl wickelte sich in seinen Umhang,  warf sich das erbeutete Wildschwein erneut auf den Rücken und packte den verschnürten Wolf wärmend ebenfalls unter das Auerochsenfell, direkt an seine Brust. Der Kleine zitterte vor Kälte und Harl rieb ein paar Mal wärmend über das fiepende Bündel. Dann schritt er weit aus, um bald seine Höhle zu erreichen.

 

Bis es allerdings soweit war, zitterte selbst der abgehärtete Jäger bitterlich vor Kälte. Der Herbstwind fegte durch das abendliche Tal und verstärkte die Kälte auf der klammen Haut immer weiter, bis die Lippen des Jägers bereits blau wurden. Da half auch die körperliche Anstrengung nicht. Allein das flackernde Licht des nahen Feuers, das durch die schützenden Dornenzweige hindurch Harl einladend entgegen schimmerte, verhieß Wärme.

 

Endlich konnte Harl das stachelige Geäst beiseite schieben. Direkt neben dem Feuer saß Schari und sah ihm erwartungsvoll entgegen. Gerade war sie dabei, ein aufgespanntes Fell der letzten Jagd von Fett und Geweberesten zu befreien.

 

Als sie sah, in welcher Verfassung Harl war, stand sie trotz des schmerzenden Beines auf und nahm ihm seine Last ab. Der Jäger sah die vielen Fragen in ihren Augen, die sie sicher liebend gern ausgesprochen hätte.

 

"Ich bin in den See gefallen", versuchte er sie zu beruhigen, obwohl seine Zähne inzwischen unbeherrschbar aufeinanderschlugen. "Keine Verletzung, Schari, nur Wasser". Er versuchte zu lächeln. "Es ist nur schon so furchtbar kalt …"

 

Doch das hatte die Schamanentochter längst begriffen. Entschlossen zog sie Harl näher ans Feuer, drückte ihn, der sich auch gehorsam fügte, neben den Flammen zu Boden und als er saß, zog sie ihm den klammen Umhang von den Schultern, um ihn durch eine warme und trockene Decke zu ersetzen.

 

Neben dem Feuer hatte sie eine aufgespannte Haut, in der sie gekocht hatte und so füllte sie Harl nun eine Schale mit heißer Brühe und drückte sie dem fröstelnden Jäger in die Hand. Dann, als sie sah, dass er noch immer ungehemmt zitterte, ließ sie ein leises Schnauben hören, dass bei einer anderen Frau vielleicht ein Seufzer gewesen wäre und setzte sich vorsichtig hinter Harl. Noch einmal hörte der Jäger ein leises Geräusch wie ein verhaltenes Keuchen, dann spürte er, wie sich Schari weich und warm an seinen Rücken anschmiegte. Sie wärmte ihn!

 

Lange Zeit traute sich der Jäger nicht, auch nur eine kleine Bewegung zu machen aus Angst, er könne sie damit verscheuchen und die unglaublich angenehme Nähe zerstören. Langsam ließ die Kälte nach und von innen und außen angenehm gewärmt, entspannte sich Harl in Scharis Armen.

 

Doch auch der kleine Wolf bekam von der Wärme etwas ab und nachdem er sich lange Zeit ebenfalls still verhalten hatte, schien ihn nun die Enge mehr und mehr zu stören. Er begann zu zappeln.

 

Erschrocken fuhr Schari bei den unerwarteten Bewegungen des kleinen Bündels zurück. Bisher hatte sie nur auf Harl und dessen Befinden geachtet, sodass ihr der kleine Gast völlig entgangen war.

 

Nun drehte sich Harl zu ihr um und begann, langsam und mit einem Lächeln, sein Geschenk für Schari auszupacken. Dann, als er den Welpen aus den inzwischen völlig verwirrten Kleidern gewickelt hatte, drückte er ihr den Kleinen einfach in den Arm.

 

"Der ist für dich!", erklärte er der völlig überraschten Schari. "Dein neuer Wächter!"

 

Der Wächter schnappte empört nach Scharis Hand, die ihn streicheln wollte und nachdem sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, lachte Schari. Es war kein lachen, wie Harl es von anderen kannte, kein melodisches Geräusch. Doch es war ein Ton und an ihrem Gesicht sah er, dass sie Spaß an der Reaktion des Welpen hatte.

 

Harl lockerte nun die Decke, die Schari fest um ihn geschlungen hatte und begann, das Fell des Wolfes noch einmal gründlich trocken zu rubbeln.  Irgendwann gab der Welpe seine Gegenwehr auf und verhielt sich in Scharis Armen ganz still.

 

Harl suchte in ihren Reserven nach einem kleinen Stück Fleisch und schnitt für den neuen Gast ein paar Stückchen zurecht. Die Fütterung schien dem Welpen zu gefallen und nach ein paar Happen ließ er es zu, dass Harl ihm ein Lederband um den Hals legte, mit dem sie ihn am Weglaufen hindern konnten. Dass er angebunden wurde, schien den Welpen erst einmal nicht zu stören. Er fraß und rollte sich dann völlig erschöpft zusammen. Die Schnauze mit dem dünnen Schwanz bedeckt, schlief er bald danach ein.

 

Schari hatte das Treiben des Kleinen ganz genau beobachtet und als er nun ruhig schnaufte und ganz offensichtlich schlief, wandte sie sich Harl zu. Hatte der Jäger nun mit einer ganzen Reihe von sprechenden Gesten gerechnet, so irrte er sich gründlich. Irgendetwas hatte sich in den letzten Momenten verändert, denn Schari rückte nur dicht zu ihm und streichelte ihm über die Wange, dann kuschelte sie sich erneut bei ihm an.

 

Einen Moment lang war Harl verwirrt. Ob sie wusste, was sie mit dieser Annäherung bei ihm auslöste? Wieder fühlte sich der Mann von der Nähe zu seiner Gefährtin völlig gefesselt.

 

Aber auch Scharis Gefühle überschlugen sich, als sie Harl so nahe kam. Sicher hatte sie den Jäger schon mehrmals nackt gesehen und kannte dessen sehnigen Körper. Doch die Kraft des Mannes zu fühlen, seine Atemzüge und sein Herzklopfen zu hören, ließen auch ihr Herz schneller schlagen. Schüchtern strich sie dem Mann über die Brust und spürte, wie er scharf einatmete.

 

Harl ließ sie erst einmal einfach gewähren. Er wollte sich sicher sein, dass sie sich nicht vor ihm zurückzog, bevor er ihre unsicheren Zärtlichkeiten erwiderte. Doch Schari blieb weiter dicht bei ihm und ihre streichelnden Hände lockten den Jäger bald, es ihr gleichzutun. Auch, wenn seine Zärtlichkeiten viel wissender waren als ihre, blieb er sanft und näherte sich Schari vorsichtig.

 

In dieser Nacht bekam Harl, was er sich seit Tagen immer dringender gewünscht hatte - eine hingebungsvolle Gefährtin, deren Körper sich weich und warm an ihn schmiegte, nachdem er sich mit ihr vereinigt hatte.

 

Und doch war es ganz anders gewesen, als es sich der Jäger hatte vorstellen können. Schari hatte nicht nur seinen Körper gestreichelt und liebkost. Sie hatte in dieser Nacht erneut seine Seele berührt. Und auch, wenn die Schamanentochter davon nichts ahnte, hatte sie den Jäger an sich gebunden, allein indem sie das Vergangene ruhen ließ und Harl eine zweite Gelegenheit gab, sich als ihr Gefährte zu bewähren.

 

 

Schari erwachte, als eine ungewohnte Schwere verhinderte, dass sie sich unter ihren Fellen zurecht räkelte. Noch im Halbschlaf versuchte sie, das Hindernis beiseitezuschieben. Doch als sie nach der Last auf ihrer Hüfte griff und dabei die weiche, warme Haut von Harls Unterarm zu tasten bekam, kehrten mit dem Erwachen auch die Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück. Ein, zwei Mal strich sie fasziniert über Harls rechte Hand, die sicher auf ihrer Hüfte ruhte und ihr seinen starken Schutz versicherte. Dann ließ sich die Schamanentochter wohlig zurück in die Umarmung ihres Jägers fallen. Die Nähe und Wärme des schlafenden Mannes an ihrem Rücken war viel zu gut, als dass sie sich davon auch nur einen Moment entgehen lassen wollte. Lange Zeit genoss sie still und regungslos das ungewohnte Glücksgefühl, das gemeinsam mit Harls Wärme direkt auf sie einzustrahlen schien. Dann schlief Schari erneut ein.

 

Das nächste Mal wurde sie von einem empörten Fiepen geweckt und sofort fiel ihr auf, dass ihr wärmender Gefährte das Lager verlassen hatte. Auch, wenn sie unter ihren Fellen kein bisschen fror, fehlte ihr doch sein starker, atmender, lebendiger Körper, der sich in der vergangenen Nacht so großartig neben ihr angefühlt hatte.

 

Verwirrt öffnete Schari die Augen und versuchte sich im morgendlichen Halbdunkel der Höhle zu orientieren. War Harl schon gegangen, weil sich aus seiner Sicht nicht geändert hatte? Oder hatte er es vielleicht sogar als unangenehm empfunden, bei einer Frau wie ihr zu liegen, einer Frau, die ihm keine leisen Verlockungen ins Ohr flüstern konnte, ja, die nicht einmal sicher wusste, wie sie ihn berühren sollte, um ihm eine Freude zu machen?

 

Schari schluckte heftig. Die Euphorie des Morgens verflog so schnell, wie sie gekommen war. Ernüchtert setzte sie sich auf und sah sich um. Tatsächlich! Harl hatte die Höhle verlassen. Dass auch ihr neuer junger Wächter fehlte, fiel ihr in diesem Moment gar nicht auf. Traurigkeit überkam Schari. Dann war das alles also gar nicht von Bedeutung für ihn? Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, griff die junge Frau nach den Fellstreifen, die sie als Beinlinge benutzte und begann, ihre Waden damit zu umwickeln. Sie würde jetzt nicht weinen!

 

Erst, als sich die Höhle verdunkelte, sah sie auf. Die große Gestalt im Eingang versperrte der Morgensonne den Eintritt - Harl war zurückgekommen! Zweifelnd starrte Schari den Mann an, dessen Rücken so breit war, dass er die Sonne aussperrte. Trotz aller grüblerischen Gedanken konnte sie ihr heftiges Herzklopfen bei seinem Anblick nicht ändern. Dann, als sie trotz des Zwielichts sah, dass er bei ihrem Anblick ein breites, liebevolles Lächeln zeigte, zwang sie ihre Zweifel ein wenig zurück. Schüchtern erwiderte sie seinen fröhlichen Morgengruß.

 

Vielleicht war es ganz gut, dass Harl sie weniger gründlich beobachtete, als es ihr Vater getan hatte. Thorbrand wäre ihre verwirrte Miene niemals entgangen. Der Jäger aber kam nun schwungvoll zurück ans Feuer und drückte ihr dann in den Arm, weswegen er das warme Lager unverhofft schnell hatte verlassen müssen.

"Dieser kleine Wildfang hier hat es faustdick hinter den Ohren", verkündete er lachend der erstaunten Schari, als er den kleinen Wolf auf ihren Schoß legte. "Kaum, dass ich ihn noch einfangen konnte …"

 

Die Schamanentochter musterte den kleinen Welpen und stellte schnell fest, dass die dünne Lederschnur, mit der sie ihn gestern angebunden hatten, gründlich durchgenagt war. Wieder konnte sie ein Lachen nicht unterdrücken, obwohl sie wusste, wie seltsam das Geräusch aus ihrem Mund klang. Harl aber, der sich an den Klang schon gewöhnt hatte, freute sich, dass Schari Spaß hatte und streichelte zärtlich über ihren nackten Rücken.

Das Gefühl seiner rauen Handfläche, die vorsichtig über ihre Wirbelsäule glitt, trieb einen Schauer über ihre Haut und Röte auf ihre Wangen. Verwirrt starrte Schari auf den kleinen Wolf in ihrem Arm und wusste nicht, wie sie auf Harls Annäherung eingehen sollte.

 

Doch der Jäger schien nicht einmal zu bemerken, wie sehr er sie aus der Fassung brachte. Nachdem er seine Beute zurückgeholt hatte, musste er dafür sorgen, dass der kleine Ausreißer kein zweites Mal die Flucht antrat. Also suchte er aus ihren Vorräten ein wesentlich festeres, geflochtenes Lederseil, mit dem er den Wolf nun sicher in der Höhle verwahren konnte.

Er nahm das kleine kratzbürstige Bündel und trug es zurück auf das Lager, das dafür vorgesehen war. Dann warf er dem kleinen Racker noch eine große Portion Fleischreste hin, die er vor der Höhle gefunden hatte, weil sie Schari noch nicht vergraben konnte.

Als der Welpe sich geschlagen gab und zu fressen anfing, wusch er sich die Wolfshaare und einige Blutstropfen von den Händen.

 

Schari hatte den Jäger bei seinem Treiben aufmerksam beobachtet und sich dabei unbewusst das Fell wieder bis ans Kinn gezogen. Jetzt, als sich der Mann ihr erneut zuwandte, spürte sie ihren Herzschlag bis in die Haarspitzen. Würde sie ihm vielleicht doch gefallen? Die junge Frau nahm allen Mut zusammen und zwang sich, ihre verkrampften Finger zu öffnen. Langsam glitt das Fell auf ihre Hüften. Die Morgensonne schien auf ihren Oberkörper und verlieh ihrer Haut einen einladenden Glanz. Die herbstliche Kälte fuhr darüber und reizte ihre Brustspitzen. Doch von dem Ganzen bekam Schari gar nichts mit. Schüchtern bot sie sich dem Jäger an, nach wie vor unsicher, ob der erfahrene, ältere Mann überhaupt noch Interesse an ihr hatte. Schließlich, als sie seinen forschenden Blick nicht mehr aushalten konnte, senkte sie den Kopf.

 

Harl aber sah die Schönheit, die Schari so großzügig und dennoch so schüchtern vor ihm entblößte. Fasziniert beobachtete er, wie die Sonne zarte Muster auf ihrer Haut zeichnete, wie einladend ihr Haar glänzte. Ihr Körper war wirklich anziehend! Eine solche Einladung konnte und wollte der Jäger nicht ausschlagen, auch wenn er geplant hatte, heute Morgen seine Speere zu holen. Doch das hier - Schari - war ihm viel wichtiger! Sollten sie doch im Regen verrotten …

 

Zwei, drei große Schritte brachten Harl zurück zum Lager und keinen Moment später kniete er neben seiner schüchternen Gefährtin, die doch tatsächlich den Blick gesenkt hatte! Das brauchte sie nun wirklich nicht zu tun! Freundlich aber bestimmt legte Harl eine Hand unter das Kinn seiner Gefährtin und hob ihren Kopf so weit an, dass sie ihm in die Augen sehen musste. Unsicherheit schaute ihm entgegen und Harl musste schmunzeln. Wie wenig sie doch über sich selber wusste!

"Du siehst wunderschön aus, Schari!", flüsterte er zutraulich. "Du musst dich nicht verstecken."

Als sich die Pupillen seiner Frau weiteten, wusste Harl dass er mit seiner Rede ins Schwarze getroffen hatte. Nun ja! Durch ihre Stummheit hatten sich sicher nicht viele Männer im Bärenclan um sie bemüht. Wenn er genau darüber nachdachte, war sie ihm in der letzten Nacht beinahe zu unerfahren vorgekommen. Doch danach würde er jetzt nicht fragen! Jetzt ging es darum, ihre Zusammengehörigkeit zu festigen und Scharis Zuneigung zu gewinnen.

Vorsichtig fuhr Harl die geschwungenen Konturen ihrer Lippen nach, bevor er seinen Mund darauf legte. Weich waren sie, fast wie Kirschen oder Pfirsiche. Harl lächelte in sich hinein. Im kommenden Sommer würden sie hier reichlich von diesen Obstsorten finden. Doch heute durfte er und nur er, in den Genuss kommen. Ausgiebig erkundete er Lippen und Mund seiner Gefährtin, ließ zu, dass sie sich ihn ebenso zu eigen machte.

Dann, als er ihre tastenden Hände auf seinem Rücken spürte, neigte er sich ein wenig an ihr Ohr und flüsterte ihr seine Gedanken über Kirschen und Pfirsiche zu. Schön war es, Scharis Lächeln bei seinen Worten zu beobachten! Das wollte er noch viel öfters sehen!

 

Doch Schari war durch seine liebevollen Scherze ein wenig gelöster geworden. Vorwitzig begann sie an Harls Lippen zu knappern, was dem Mann eine Gänsehaut und ein wohliges Gefühl im Unterleib verursachte. Dann, als ob sie seine Erregung gespürt habe, rückte sie ein wenig von ihm ab. Lächelnd zeigte sie ihm mit wenigen sprechenden Gesten, wie lecker er gewesen sei.

 

Nun war es an Harl, in ein herzhaftes Gelächter auszubrechen. Noch immer unter seinem Lachen bebend, zog er die Schamanentochter an sich. Nun musste er seine Berührungen und Küsse einfach fordernder werden lassen! Sie lockte ihn mit jeder noch so kleinen Geste!

Ganz bewusst ließ er seine Linke auf ihrer Brust ruhen, wohl wissend, dass der leichte Druck ihre Aufmerksamkeit wecken musste. Währenddessen verwickelte er sie erneut in einen lockenden Kuss und gestattete ihr nicht, sich danach von ihm wieder zurückzuziehen.

Entschieden presste er seine rechte Hand gegen ihren Rücken, als sie ihm Platz zum Luftholen machen wollte.

"Nein!", flüsterte er an ihrem Ohr. "Lass mich dich weiter spüren."

 

Ein schnelles Einatmen verriet ihm, dass seine Worte gehört worden waren. Doch noch besser war es, als sich Schari hierauf an ihn schmiegte. Für die Kühle des Herbstmorgens blieb kein Raum mehr. Ihre Hand strich von seinem Rücken nach vorn. Gespannt ließ er zu, wie sie erst seine Oberarme und später auch die Muskeln seines Brustkorbes erkundete. Ihre Berührungen gingen ihm nah und es brauchte nicht lang, bis sich seine Erektion hart und drängend an ihren Bauch schmiegte. Harl konnte gar nicht anders, als sich immer wieder verlangend an ihr reiben. Viel zu sehr genoss er, was seine Schari ihm da gerade schenkte.

 

Fast von selbst fuhren nun auch seine Hände zu ihren Hüften und von dort weiter über den kleinen behaarten Hügel ihres Unterleibs bis zu ihrer Mitte. Wie von selbst öffnete Schari ihre Schenkel in Stück und gewährte ihm, sie auf diese einmalige Art zu berühren. Erneut wurde sie offenbar von der Intensität des Gefühls überrascht, denn sie hielt plötzlich ganz still, als Harl sie besitzergreifend zu streicheln begann. Nur ihr schneller Atem und der fast bittende Blick, mit dem sie jede Veränderung seines Gesichtsausdrucks verfolgte, verrieten ihre Anspannung.

 

Auch Harl beobachtete genau, welche Gefühle er bei Schari auslöste. Jede andere Frau hätte ihm durch kleine Worte oder Seufzer zu verstehen gegeben, dass sie für ihn bereit war. Bei Schari, so glaubte er, musste er sich auf sein Gespür verlassen …

Dann allerdings, und so viel Mut hätte er ihr nach der letzten Nacht eigentlich zutrauen sollen, rückte Schari ein wenig näher zu seiner Hand und drückte ihr Becken seinem Körper entgegen. Ein letztes Mal streichelte Harl noch einmal über Scharis Scham, dann löste er sich seufzend von ihrem Anblick und schob sich höher, bis er, abgestützt auf beiden Unterarmen, ganz über ihr war.

 

In ihrem Gesicht war alle Neugier verschwunden und er sah in ihren Augen dieselbe drängende Erwartung, die auch er verspürte. Entschlossen schob Harl eine Hand unter ihr Becken und hielt sie fest, während er sie endlich nahm. Er hatte sich vorgenommen, langsam zu sein und ihr Geduld entgegenzubringen, weil er wusste, dass Frauen so etwas mochten. Doch dann schlang sich ihr gesundes Bein um seine Hüfte und ihr Schoß drängte sich näher an ihn. Einer solchen Einladung konnte auch Harl nicht widerstehen und so überließ er sich nun ganz seiner Lust. Verschwommen nahm er wahr, wie sich Schari fest an ihn klammerte und keuchend unter ihm erzitterte. Dann war die Ekstase da und riss sie beide mit sich.

 

Erst, als auch die letzte kleine Welle dieser großartigen Empfindung in ihr abgeklungen war, nahm Schari wahr, wie atemlos sie war. Noch klopfte ihr Herz viel zu schnell und ihr Schoß pulsierte immer noch leicht von dem eben Erlebten. Harl, ihr Jäger, lag halb auf ihr und ließ ihr durch die Last seines Körpers kaum Raum zum Luftholen. Doch das war der jungen Frau nur recht. Sie wollte ihn fühlen, ihren starken Jäger, ihren Mann, der sie so sehr um den Verstand bringen konnte … Als sich Harl ein wenig zur Seite drehte, um ihr mehr Raum zu lassen, konnte sie gar nicht anders und folgte ihm.

Eng umschlungen ruhte das Paar, bis die Sonne fast im Zenit stand und ein kleiner Wolf durch klägliches Fiepen um Aufmerksamkeit jammerte.

 

 

Der kleine Wolf beschäftigte Schari und Harl auch in den kommenden Tagen. War der Kleine erst ängstlich und versucht, ständig wegzulaufen, so gewannen nach und nach sein Hunger und die Sehnsucht nach einem Rudel und Nähe die Oberhand und der Welpe ergab sich seinem Schicksal und den beiden Menschen, die er kurzerhand zu seinen Anführern machte. Doch auch, wenn der winzige Rüde nun Schari auf Schritt und Tritt folgte und somit genau das tat, was Harl sich von ihm gewünscht hatte, blieb ihm genug Raum für allerlei Schabernack. Weggetragene Felle und angenagte Schuhe waren nur ein Teil dessen, was sie ihm abgewöhnen mussten. Schlimmer noch war sein jämmerliches Heulen, wenn er sich alleine fühlte. Damit konnte er sie alle verraten.

 

Doch Schari war dabei gewesen, als ihr Vater Einohr unterrichtet hatte. Sie hatte zugesehen und mitgeholfen, wenn Thorbrand den Rüden seine Befehle lehrte. Und sie hatte Zeit genug, sich Gedanken über ihren Wolf und dessen Erziehung zu machen. Da gesprochene Befehle für sie unmöglich waren, fand sie bald andere Geräusche, mit denen sie den Welpen rief - Klicken, Schnalzen, ein leises Klopfen auf den Boden - dem Wolf war es egal, wie sie sich mit ihm verständigte. Harl hatte dem Kleinen einen Namen gegeben - Tatze. Und wenn Schari die riesigen Wolfsfüße betrachtete, die so gar nicht zu dem kleinen Körper zu passen schienen, war der Name richtig treffend. Tatze also lernte schnell und schon bald hatte Schari einen Begleiter auf ihren Sammelausflügen in die Umgebung. Noch konnte der Welpe nicht als Beschützer gelten, doch es war schön, in den langen Stunden, in denen Harl auf der Jagd war, nicht alleine zu sein.

 

Das milde Wetter des Herbstes hielt noch einen ganzen Mondumlauf an und so hatten sie genug Zeit, um ihre Vorräte für den Winter auszubauen. Schari sammelte Nüsse und kleine Wildäpfel, die sie zunächst einfach in einer abgegrenzten Ecke der Höhle aufhäufte. Beeren musste sie vor dem Einlagern trocknen. Doch auch hier kam ihr der glatte Fels vor der Höhle zu Hilfe. Die Kraft der Sonne nahm zwar von Tag zu Tag ab, doch die Steine speicherten die Wärme und halfen so, den Früchten die Nässe zu entziehen. Mit Reißig schütze sie ihre Schätze vor den allgegenwärtigen Vögeln. Tatze hatte ebenfalls Spaß daran, die gefiederten Nascher von ihren Vorräten zu vertreiben, ja, er ging sogar gegen ein paar vorwitzige Mäuse an, die sich in die Höhle verirrt hatten. So kamen sie in ihren Wintervorbereitungen gut voran und als eines Morgens Schnee auf den Gipfeln lag, gab es für Schari und Harl keinen Grund, sich vor der kalten Jahreszeit zu fürchten.

 

Scharis Bein heilte weiterhin gut und bald ließ sich die Verletzung nur noch für einen guten Beobachter erkennen, wenn Schari ging. Dann zog sie das gebrochene Bein ein wenig nach. Lief sie schnell, wurde ihre Bewegung ungleichmäßig und sie kam hin und wieder ins Stolpern. Doch das war nichts im Vergleich zu der Verkrüppelung, die sie ohne Harls Eingreifen hätte erleiden müssen. Wann immer die Schamanentochter daran zurückdachte, überkam sie eine große Liebe für ihren Jäger. Er hatte ihr etwas geschenkt, was sie in ihrem Leben nicht erwartet hatte: Liebe und auch Respekt. Trotz ihrer Stummheit wurde sie von ihm anerkannt. Und wenn er ihr in den Nächten zuflüsterte, wie schön und begehrenswert sie für ihn war, so glaubte sie ihm. Ja, sie selber hatte inzwischen volles Vertrauen zu Harl. Er hatte sein Leben riskiert, um ihres zu retten. Mehr musste sie nicht wissen!

 

So vergingen die Tage in einer ruhigen, friedlichen Stimmung und es gab nichts, was die Idylle des Tals getrübt hätte. Ja, sie lebten viel einfacher und entbehrungsreicher als im Dorf. Das ließ sich nicht bestreiten. Doch mit dem, was sie hatten, kamen sie zurecht. Schließlich mussten sie es nur bis zum Frühjahr schaffen, zu überleben. Dann konnten sie weiterziehen, bis sie die Möglichkeit fanden, sich einer neuen Gruppe anzuschließen oder alleine eine richtige Wohnstatt zu gründen.

Schari mochte das Wintertal. Auch, wenn sie die Gesellschaft ihrer Gruppe vermisste, fiel es ihr nicht schwer, mit Harl alleine zu leben. Durch ihre Stummheit, war sie auch im Dorf oft gemieden worden. Obwohl es für sie einfacher gewesen war, inmitten anderer Menschen zu leben, so vermisste sie die Abneigung und die Missbilligung, die man ihr oft entgegengebracht hatte, nicht. Die Stille des Tals und die gebieterische Schönheit der hohen Berge, die sie schützend einschlossen, gefielen ihr. Sie hatte Harl, sie hatte ein neues Zuhause. Mehr wünschte sich Schari in diesem Herbst nicht.

 

Und auch Harl erging es ähnlich. Durch sein Wanderleben war er die Einsamkeit schon lange gewohnt. Doch nun an einen Ort zurückzukehren, wo er erwartet wurde und wo ihn ein behagliches, friedliches Zuhause erwartete, war schöner, als er gedacht hatte. Oft beobachtete er sich selbst erstaunt, wie er auf dem Rückweg von seinen Streifzügen ungeduldig darauf wartete, den Schein ihres Feuers zwischen den Bäumen zu erkennen, wie es ihn drängte, Schari in seine Arme zu ziehen, sie zu spüren, zu liebkosen. Am Anfang hatte er geglaubt, die Intensität ihrer Vereinigungen würde abnehmen, je öfter sie beieinanderlagen. Doch so war es nicht - im Gegenteil! Je besser er Schari kennenlernte, um mehr zog es ihn zu ihr. Ihr Körper lockte ihn mit unzähligen kleinen Reizen immer wieder zu sich. Doch es war mehr als nur ihr Aussehen und ihr Liebesspiel, das ihn an sie band. Ihr Wesen, ihre liebevolle, ungespielte Zuneigung und ihr wirklich bedingungsloses Vertrauen, machten sie für ihn einmalig schön.

 

Längst hatte Harl vergessen, dass er Schari eigentlich wegen ihrer Stummheit gewollt hatte, dass es die Stille gewesen war, die gelockt hatte. Und sie war ja gar nicht still! So, wie die Schamanentochter bestimmte Geräusche für ihren Wolf erfunden hatte, so hatte sich auch ihre besondere Verständigung mit Harl entwickelt. Längst waren es nicht mehr nur Gesten, mit denen sie sprach. Nachdem sie einmal ihre Schüchternheit ob der ungewohnten Laute überwunden hatte, verständigte sie sich mit allerlei Geräuschen auch über weitere Strecken hinweg mit ihm. Und sie konnte zeichnen! Die kalte Asche vergangener Feuer diente bald dazu, Wege im Tal zu beschreiben, Orte zu kennzeichnen, wo es etwas zu sammeln gab oder auch, um schwierige Worte in Bildern darzustellen, bevor sie ein neues Handzeichen dafür erfanden. Immer ausgeklügelter wurden ihre Gesten, bis sie sich von Harls Sprache kaum mehr unterschieden. Schari ging in dieser Art der Verständigung vollkommen auf. Endlich konnte sie mit ihrem Jäger fast ohne Hindernisse reden! Dass diese Art der Verständigung nur auf sie beide anwendbar war, entging ihr in der Freude, sich endlich ihm gegenüber ausdrücken zu können. Doch es war auch nicht wichtig, so lange sie beide sowieso alleine blieben.

 

 

So vergingen die Tage und eines Morgens lag die weiße, kalte Stille über dem Tal, die sie schon erwartet hatten. Die Kälte ließ Sträucher und Blätter unter feinem Reif erstarren und kroch bis hinein in ihre gemütliche Höhle. Die Vögel schwiegen, als habe auch sie der erste richtige Schnee überrascht und selbst das Plätschern des kleinen Flüsschens unterhalb ihrer Behausung schien leiser als sonst zu ihnen herauf zu klingen. Fröstelnd drängte sich Tatze näher ans Feuer, als Harl dieses mit einem Bund Ästen ermunterte, heller und wärmer zu brennen. Dann gesellte er sich zu seiner Gefährtin, die still vor dem Höhleneingang stand und fasziniert das Tal musterte. Dabei hatte sie sich in den Pelz eines braunen Bären gehüllt, ein Fell, auf das Harl sehr stolz war.

 

Zwar war es schon fast ein ganzes Jahr her, dass Harl das Raubtier erlegt und dessen Haut in der Höhle für kalte Tage aufbewahrt hatte, doch die Bewunderung, mit der Schari das Fell betrachtet und ihre Freude, als er es ihr als Geschenk vor einigen Tagen um die Schultern gelegt hatte, waren in Harls Erinnerung noch ganz frisch. Und so sah er mit einem gewissen Besitzerstolz auf seine Frau herab, als er sich ihrer Betrachtung anschloss.

Das Tal bot an jenem Morgen aber auch einen besonders beeindruckenden Anblick. Erste Sonnenstrahlen ließen die Gipfel der hohen Berge im Westen in einem reinen Weiß erglänzen, das dort, wo sich Gletscher in die höheren Täler schoben, fast bläulich schimmerte. Das sonst so dunkle Grün der Tannen und Fichten war ebenfalls der sauberen Farbe des Winters gewichen und da jetzt, am frühen Morgen kaum Spuren den Schnee durchbrachen, erstrahlte das ganze Wintertal in einer reinen, unberührten Frische.

 

Lange standen die beiden einzigen menschlichen Bewohner dieses Ortes und sahen schweigend hinaus in die Weite. Dort, wo Schari vor allem die Schönheit sah, ließen sich für Harl aber auch bereits die Probleme und Sorgen des Winters erahnen. Heute musste er den Eingang der Höhle verkleinern. Dazu hatte er bereits allerhand Äste und Steine zusammengetragen. Doch da der enge Ausgang auch den Rauch länger in ihrem Wohnraum halten würde, hatte er mit dem Bau immer noch gezögert. Jetzt musste er Hand anlegen.

 

Andere Vorbereitungen waren längst getroffen und so lagerten nicht nur Vorräte in der geräumigen Höhle, auch Brennholz hatten Harl und Schari in großen Mengen angehäuft. Die Äste und Zweige lagerten bereits so am Höhleneingang, dass auch sie diesen schmaler machten. Durch den immerwährenden Luftzug war das Brennmaterial trocken und gut entzündbar.

All diese Dinge überschlug Harl im Stillen, bevor er seiner Frau einen Arm um die Schulter legte. "Wir sind vorbereitet", versicherte er ihr leise. "Wir werden diesen Winter gut überstehen."

Die Schamanentochter nickte leicht und wandte sich ihrem Jäger zu. Es gab keine geeignete Geste, mit der sie ihm sagen konnte, dass es hauptsächlich sein Verdienst war, wenn sie die kommende Jahreszeit gut überstanden. Harl hatte genau gewusst, was zu tun war, um sich auf den Winter einzustellen. Doch das ließ sich nicht ausdrücken. Zeigen konnte sie ihm nur ihre Zuneigung. Alles andere musste der Jäger selbst erahnen. Doch die die liebevolle Geste, mit der Schari nun über sein Gesicht strich, war gar nicht falsch zu verstehen. Harl erwiderte die Zuneigung Scharis, indem er sie in seine Arme nahm. Dann zog er sie spielerisch zurück in die Höhle, schichtete ein paar erste Reisigbündel am Eingang auf und machte sich dann an seinem Lager zu schaffen. Erst, als Schari schon Wurzeln und Trockenfleisch in heißes Wasser warf, um ihre Morgensuppe zu kochen, brachte er zum Vorschein, was er für seine Frau heimlich gemacht hatte.

Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen trat er ans Feuer.

"Ab jetzt wird es schwer werden, sich in diesem Schnee vorwärts zu bewegen", gab er ihr einen Denkanstoß. Schari nickte. Sie hatte ebenfalls einen ähnlichen Gedanken gehabt und Harl schon vor einigen Tagen ein neues Paar Schuhe gereicht, das durch drei dicke Schichten Leder an der Sohle und reichlich Wildschweinfett der Kälte und Nässe trotzen konnte. Auch für sich selbst hatte sie ein solches Paar Stiefel gefertigt. Zum Glück hatte sie damals mehrere kräftige Eisenahlen aus ihrem zerstörten Dorf mitgenommen. An Metallwerkzeuge würde sie so schnell nicht mehr herankommen.

 

Nachdenklich sah sie zu Harl auf, der inzwischen dicht zu ihr herangekommen war. Nichts an seinem Gesicht verriet ihn, bis er strahlend sein Geschenk hinter dem Rücken hervorzog - Schneeschuhe[1]. Schari war fassungslos vor Überraschung. Dass er hin und wieder Weidenzweige geglättet hatte, während sie ihre Häute schabte, war ihr nicht entgangen. Sie hatte immer geglaubt, dass er damit seine Beute zusammenband und die schmalen Streifen dann wegwarf. Doch Harl hatte etwas ganz anders damit vorgehabt.

Während er ihr nun seine wertvolle Gabe in den Schoß legte, erzählte er der immer noch verblüfften Schari, wie er sein Werk beim letzten Jagdausflug vollendet hatte. Da er die Suhlen der Wildschweine inzwischen gut kannte, war ihm ein schneller Jagderfolg beschieden gewesen. Und während Schari noch im Wald war, um ein paar letzte Nüsse zu sammeln und nach Birkenporlingen[2] Ausschau hielt, hatte er die Schneeschuhe zusammengesetzt. Hier also waren sie nun. Ob sie ihr gefielen?

 

Die letzte Frage riss Schari aus ihrem regungslosen Erstaunen und mit vielen Gesten und einem strahlenden Lachen dankte sie ihrem Jäger für das Geschenk. Mit Schneeschuhen würde sie auch im Winter viel weniger an die Höhle gebunden sein als gedacht. Doch sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, Harl um eine so zeitaufwendige Arbeit zu bitten. Ja, sie hatte zugesehen, als er seine eigenen Schneeschuhe gebaut hatte. Doch er brauchte die Laufhilfe für die Jagd. Für sie gab es auch innerhalb der Höhle im Winter genug zu tun. Dass er ihr dennoch diese Freiheit schenkte, bestätigte Schari ein weiteres Mal, dass sie ihrem Jäger etwas bedeutete.

 

So begann ihr Winterabenteuer mit guten Voraussetzungen. Während Schari sich in dieser Zeit hauptsächlich mit der Herstellung neuer Kleidung beschäftigte, da der hohe Schnee die Nahrungssuche im Wald fast gänzlich unmöglich machte, ging Harl an jedem niederschlagsfreien Tag auf die Jagd. Nun war er es, der von Tatze begleitet wurde, denn dem kleinen Wolf war es in der Höhle bald schon zu eng und er drängte hinaus. Dass Harl ihm oftmals schon kurz nach dem Erlegen der Beute deren Innereien zuwarf, förderte den Zusammenhalt von Jäger und Wolf noch mehr.

Bald schon begann der Jäger, Tatzes Unterstützung bei der Spurensuche und beim Aufbringen des Wildes zu nutzen. Gerade jetzt im Winter war es für ihn sehr hilfreich, wenn der Vierbeiner die Beute für ihn aufscheuchte. Dass Schari während dieser Zeit ganz allein in der Höhle blieb, erschien weder ihr noch ihm besonders schlimm. Bisher hatten sie keine weiteren großen Raubtiere in ihrer Umgebung ausgemacht und falls es tatsächlich Wölfe im Tal gab, würden diese sich nicht so nah an die ihnen unbekannte Höhle herantrauen. Feuer war ein sicherer Schutz gegen die Räuber.

 

So lebten sie einträchtig zusammen und es der Mond hatte bereits drei Mal seine volle Form verloren, als Harl an Schari etwas auffiel, was ihm trotz aller Nähe bisher entgangen war.

Wieder einmal hatten sie sich in der tröstlichen Wärme des Feuers miteinander vereinigt und Harl strich am Ende ihres Liebesspiels wie so oft zärtlich über die Brüste seiner Gefährtin, als ihm diese trotz aller Vertrautheit weicher und größer als sonst erschienen. Doch es war Winter und Harl war sich sicher, dass Schari in den letzten Monden eher dünner als kräftiger geworden war. Etwas anderes hätte er auch gar nicht erwartet, waren sie doch sparsam mit ihren Vorräten umgegangen.

"Du fühlst dich irgendwie ungewohnt an", flüsterte er seiner Gefährtin zu. "Geht es dir gut?"

Überrascht von der unerwarteten Aussage, bedachte Schari ihren Gefährten mit einem fragenden Blick. Wieder fuhr Harl ihr über die Brust.

"Dein Körper hat sich ein wenig verändert …"

 

Schon wollte er ihr genauer beschreiben, was ihm aufgefallen war, da kam ihm eine Szene in Erinnerung, die er damals, vor ein paar Jahren, eher bedeutungslos gefunden hatte. Er war in einem der südlicheren Dörfer gewesen, als sein Gastgeber, einer der typischen strengen Familienväter, im Beisein von Harl seiner Tochter einen heftigen Vorwurf gemacht hatte: 'Deine Brust wächst und dein Bauch wird rund', hatte der Alte damals getobt. 'Glaubst du wirklich, du könntest es mir noch weiter verheimlichen, dass du dich wieder einmal von ihm hast besteigen lassen und nun ein Kind erwartest?'

Harl hatte damals still die Hütte verlassen. Dennoch war es ihm nicht entgangen, dass der Alte kurz darauf seine Tochter verstoßen hatte. Offenbar war ihm der Vater seines Enkels nicht willkommen gewesen. Die Szene hatte ihn damals nachdenklich werden lassen und er hatte sich seither versichert, dass es, wenn er bei einer Frau lag, keine unbequemen Väter oder Brüder gab, die ihm ein Weib hätten aufdrängen können. Doch heute erinnerte er sich aus einem ganz anderen Grund.

 

Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, schob Harl die Pelze und Decken von Scharis nacktem Körper. Unbestreitbar hatte er eine körperlich sehr anziehende Gefährtin gefunden, ging es ihm wieder einmal durch den Kopf, als er sie beruhigend streichelte. Dann aber richtete er seinen Blick dorthin, wo er das kleine Geheimnis seiner Frau vermutete. Und wirklich, auch ihr flacher Bauch hatte eine kleine, noch kaum erkennbare Rundung angenommen. Seine Schari erwartete ganz offensichtlich ein Kind.

 

Tief atmete Harl ein. Er würde Vater werden - zum ersten Mal. Doch anders, als jener Mann, an dessen Ausbruch er sich gerade erinnert hatte, erschien ein Kind für Harl plötzlich gar nicht mehr so unvorstellbar. Es könnte sich gut anhören, wenn das Geschrei seines Sohnes die Höhle erfüllte … oder vielleicht eine eigene Hütte?

Erstaunt schüttelte Harl über sich selbst den Kopf. Wohin seine Gedanken nun schon reisten!

Liebevoll strich er über die kleine Rundung, unter der sich, warm und sicher, sein Kind verbarg.

Schari war den Gesten des Jägers mit den Augen gefolgt und als nun auch sie erkannte, was Harl aufgefallen war, erstarrte sie. Konnte es wirklich sein, dass Harl mit ihr ein Kind gezeugt hatte? So oft, wie sie beieinander gelegen hatten, wäre das nicht sonderlich überraschend, auch, wenn sie selbst nicht daran gedacht hatte. Zu viel Neues hatten die letzten Monde gebracht, als dass sie sich Gedanken über eine Familie gemacht hätte. Sie, Schari, konnte sich durchaus vorstellen, Mutter zu werden. Schon immer war sie mit den Kindern ihres Dorfes gut zurecht gekommen. Doch was sollte ein Wanderer, ein ruheloser Jäger wie Harl mit einem Kind? Was sollte er mit einer schwangeren Frau?

 

Unsicher, was sie von dieser Neuigkeit halten sollte, schaute Schari auf. Würde Harl sie nun von sich weisen? Doch in dem Blick, dem sie nun begegnete, las sie eine vollkommen andere Botschaft. Und während Harl weiter ihren Bauch streichelte und nun auch in Worte fasste, was sie beide erkannt hatten, ließ sich die junge, werdende Mutter ungläubig vor Glück von ihrem Jäger überzeugen, dass es auch für ihn nichts Schöneres geben konnte, als Vater ihres gemeinsamen Kindes zu sein. Zärtlich lauschte sie in sich hinein, ob sie die Veränderungen in ihrem Bauch bereits spüren konnte, während sie ihrem Jäger dabei zuhörte, wie er ihr beschrieb, welche Ideen er für ihre gemeinsame Zukunft hatte.

 

 

Je länger Harl sich damit beschäftigte, Vater zu werden, umso mehr Zweifel kamen ihm an ihrem derzeitigen Leben. Ja, Schari und er fühlten sich in ihrer Höhle tagtäglich wohl. Sie kamen zurecht und die Einsamkeit inmitten des Wintertals schien auch seine Gefährtin nicht zu stören. Doch wie sollten sie hier ohne Hilfe von anderen ein Kind großziehen? Eigentlich brauchte Schari schon vor der Geburt eine erfahrene Frau an ihrer Seite, die ihr half, wenn sie schwere Arbeiten verrichten musste und die ihr die Angst vor dem Kommenden nahm. Dass seine Frau Bedenken hatte, konnte sie vor den aufmerksamen Blicken des Jägers nicht immer verstecken.

 

Manche Dinge wusste der Mann aus seinen Besuchen in anderen Dörfern und seinen Winteraufenthalten beim Bärenclan. So überließ er Schari regelmäßig die Leber seiner Beutetiere und an den wenigen wärmeren Tagen schickte er sie aus, um nach Wurzeln zu suchen, die ihre Speisenauswahl verbesserten. Es sorgte, so oft es ging, für frische Luft in der Höhle, indem er während sonniger Mittagsstunden den Eingang freiräumte und achtete darauf, dass Schari sich nicht zu viel zumutete. Doch er konnte ihr nicht die Sicherheit und Geborgenheit eines Dorfes ersetzen, ihr nicht die Erfahrungen vermitteln, die sie von anderen Müttern des Bärenclans hätte übernehmen können. Ja länger Harl darüber nachdachte, umso sicherer war er, dass sie noch vor der Ankunft ihres Kindes weiterziehen mussten, um einen Clan zu finden, der sie aufnehmen würde.

 

Doch so einfach, wie er es bei ihrem abendlichen Zusammensein manchmal erzählte, sollte es nicht werden. Die beiden nächstgelegenen Dörfer, das wusste Harl, waren von Menschen bewohnt, die Scharis Stummheit nicht akzeptieren würden. Sie waren abergläubig, vermuteten hinter jeder Missernte den Einfluss ungnädiger Götter und würden in der Anwesenheit der Schamanentochter ein schlechtes Omen für ihr Erntejahr sehen. Erst weiter im Süden gab es eine Gruppe, von der Harl glaubte, dass Schari und er dort gern aufgenommen werden würden. Ähnlich wie Thorbrand war der Schamane der Baumanbeter, wie er die Gruppe bei sich nannte, ein aufgeschlossener Mann, der eher versuchte, den Dingen auf den Grund zu gehen, als an Götterwirken glaubte. Wenn er im Eichenhain Opfer brachte, dann meist, um ein Bündnis oder eine ausgeräumte Zwistigkeit zu besiegeln. Den Jahreslauf selber versuchte der Alte nicht von den Göttern beeinflussen zu lassen. Wenn es für Schari ein neues Zuhause geben konnte, dann dort. Doch Harl wusste auch, dass er beim letzten Besuch gute zwei Mondumläufe gebraucht hatte, um vom Dorf der Baumanbeter zurück ins Gebirge zu kommen. Mit der schwangeren Schari war eine solche Wanderung undenkbar.

 

Der Jäger grübelte Tag für Tag. Vielleicht hätte er es besser wissen und von Anfang an den Weg nach Süden einschlagen sollen? Doch mit Scharis gebrochenem Bein wäre der Marsch eine unsägliche Tortur für seine Gefährtin gewesen. Vielleicht sollte er es darauf ankommen lassen und doch bei den nahegelegenen Dörfern Schutz suchen - zumindest, bis ihr Kind geboren wäre? Doch was, wenn gerade in dieser Zeit eine Krankheit oder ein Todesfall Zweifel bei den Dörflern verursachte? Wenn ihr Kind vielleicht ebenfalls stumm wäre, wie Schari? Würde er das Neugeborene oder seine Geliebte überhaupt gegen eine Horde uneinsichtiger, zorniger Dörfler verteidigen können? Harl wusste, dass es nicht so war.

 

Dann aber kam ihm eine andere Idee, die ihm mehr und mehr zusagte. Es gab tatsächlich etwas, das die Dörfler beitragen konnten, ohne Schari zu gefährden - sie konnten in ein Tauschgeschäft einwilligen. Schon immer waren in den Ebenen Pelze ein gutes Tauschobjekt gewesen. Wenn er sich nur genügend anstrengte und Schari beim gerben mithalf, konnten sie genügend Felle sammeln, um sie gegen zwei der zotteligen kleinen Pferde einzutauschen, die die Dörfler als Last- und Reittiere nutzen. Auch, wenn Harl den ängstlichen, störrigen Tieren nicht so richtig traute, waren sie eine Möglichkeit, die Baumanbeter noch vor Scharis Niederkunft zu erreichen.

 

Noch am selben Tag berichtete er Schari von seinen Überlegungen und das Strahlen auf ihrem Gesicht, als sie hörte, dass er sich mit ihr einem neuen Clan anschließen wollte, war mehr als genug, um Harl zu beweisen, dass seine Vorstellungen richtig waren. In den kommenden Tagen beobachtete er genau, wo sich jene Pelztiere verbargen, die er aufgrund der geringen Fleischausbeute bisher unbehelligt gelassen hatte. Bald schon trockneten die ersten Marder- und Wieselfelle an der Höhlendecke und der Jäger war voller Zuversicht, dass er bis zum baldigen Frühjahr genügend Tauschobjekte sammeln konnte. Mehr und mehr war ihm auch der kleine Wolf bei der Jagd eine Hilfe und da das Erlegen von Pelztieren nun vordringlich war, ließ Schari ihren Wächter gern für Harl arbeiten. Später hielt sich der Jäger diesen Fehler immer wieder vor, doch in jenen Wintertagen gab es keinen Hinweis darauf, dass sie im Tal Gesellschaft hatten.

 

Am nächsten Morgen weckte sie der Schein der Sonne und es hielt beide nicht lange in ihrer sicheren Höhle. Bewaffnet mit Bogen und Speer machte sich Harl in Begleitung von Tatze auf, nach Beute zu suchen. Schari hingegen griff sich ihr Tragetuch und einen Grabstock. Unten am Fluss kannte sie eine Stelle, wo im Herbst die letzten gelben Blüten Pflanzen mit essbaren Wurzeln verraten hatten. Heute, wo die Sonne den Boden ein wenig auftaute, hoffte sie, dort Nahrung zu finden. Mehr und mehr verlangte es sie nach etwas Frischem. Die getrockneten Pilze und Beeren oder die schrumpeligen Äpfel waren eine Abwechslung neben dem alltäglichen Fleisch, doch sie boten wenig Genuss. Ob das Kind in ihr die Gier nach Frischem förderte oder ob es einfach der ausklingende Winter war, wusste Schari nicht. Doch als sie sich auf den Weg zum Fluss machte, freute sie sich auf die zu erwartende kleine Köstlichkeit am Abend.

 

Die Schamanentochter schritt fröhlich aus und es dauerte nicht lange, so hatte sie ihr Ziel erreicht. Noch immer ragten die abgestorbenen Blütenstängel aus dem Boden und ließen sie schnell jene Stelle finden, an der sie graben wollte. Halb verborgen im Uferdickicht machte sie sich ans Werk. Der Boden war durch den Fluss und die Sonnenwärme tatsächlich weich genug, um die kostbaren Knollen freizugeben. Bald hatte Schari mehrere Handvoll der nahrhaften Wurzel gesammelt. Schon wollte sie mit ihrem Tragetuch ans Ufer gehen, um die Knollen abzuwaschen, als sie hinter sich ein verräterisches Rascheln vernahm. Angstvoll packte sie ihren Grabstock fester und fuhr herum. Doch sie kam nicht mehr dazu, sich gegen den völlig unerwarteten Angreifer zur Wehr zu setzen. Eine feste Faust fuhr herab und traf sie zielgenau an der Schläfe. Unfähig, auch nur eine abwehrende Bewegung zu machen oder einen Laut auszustoßen, sank die Schamanentochter zu Boden. Den in dicke Felle gehüllten Mann, der sich nun über sie beugte und ihr Gesicht aufmerksam betrachtete, nahm sie nicht mehr wahr.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Spuren im Schnee

 

Harl war ein guter Fährtenleser. Als er in der Dämmerung nach Hause gekommen war und die Höhle verlassen vorgefunden hatte, war er sofort wieder losgegangen, um nach Schari zu suchen. Wenn sie sich im Wald verspätet hatte, würde er ihr gern all die gesammelten Schätze zurücktragen. Je schneller sie in die Felle kamen, um so besser. Problemlos folgte er der Fährte seiner Frau an den Fluss. Richtig, sie hatte ja nach essbaren Knollen suchen wollen! Hoffentlich hatte sie sich nicht zu lange in den feuchten nassen Auen am Fluss aufgehalten. Kaum zu glauben, dass sie sich trotz des Kindes, das sie in sich trug, noch dieser Strapaze aussetzte. Harl knurrte verhalten. Manchmal war ihm dieser selbstverständliche Fleiß seiner Gefährtin ein Rätsel. Nie, wirklich nie hatte er Unmut über die harte Arbeit bei ihr bemerkt und meist tat sie noch mehr, als sie vorher gemeinsam festgelegt hatten. Schon wenige Tage, nachdem er mit ihr losgezogen war, hatte ihn diese Emsigkeit gefallen. Doch nun musste er sie wirklich bremsen! Nicht, dass dem Kind in ihr damit ein Schaden zugefügt wurde!

 

Geruhsam trottete Tatze neben seinem Herrn. Der Tag war lange gewesen und auch, wenn ihm der Jäger reichlich mit dem Fleisch der erlegten Marder versorgt hatte, wollte der Wolf sich nun lieber am Feuer zusammenrollen, als weiter durch die Gegend zu streifen. Bald wäre es soweit!

Doch dann hob der kleine Rüde aufmerksam den Kopf und sein Nackenfell stellte sich auf. Ein neuer Geruch war in seine Nase gedrungen, den er noch nicht zuordnen konnte. Aufmerksam drehte er seine Ohren, um mehr zu erfahren, doch der Wald schwieg. Tatze ließ ein warnendes Knurren hören und legte dann die Ohren an. Sein Herr nahm die Welt anders wahr als er. Das hatte der Kleine schon lange begriffen und versuchte so, sein Rudeloberhaupt zu warnen.

 

Die Unruhe des Wolfes entging dem Jäger nicht. Doch der Wald war für ihn ohne Hinweise auf etwas, das den kleinen Tatze zu seiner Unmutsbekundung getrieben haben könnte. Die Vögel riefen unbekümmert in den Bäumen und der Wind trug zumindest ihm, Harl, nichts Unerwartetes zu. Dennoch war der Jäger nun auf der Hut. Sorgsam hielt er seinen Speer griffbereit und lockerte ein Messer im Gürtel. Bald würden sie am Fluss sein und Schari hoffentlich unversehrt antreffen. Der Wunsch, seine Gefährtin bei sich haben zu wollen, verstärkte sich in Harl und der Mann schritt schneller aus.

 

Dann - noch hatten sie den Talgrund nicht erreicht - kreuzte eine Fährte ihren Weg, die Harl erstarren ließ. Prüfend hockte er sich neben die Abdrücke. Hier waren Menschen gewesen! Die Größe der Abdrücke ließ ihn sofort sicher sein, dass sie Männer waren. Der Rand ihrer Spuren war schon durch den Wind abgeflacht und im Inneren der Abdrücke hatte sich Wasser angesammelt und war hier und da zu Eis erstarrt - sicher waren sie schon am Mittag auf dem Weg hinaus aus dem Tal gewesen. Einer der Abdrücke war viel tiefer als die beiden anderen - ein sehr dicker Mann? Doch was sollte jemanden, der kein Jäger war, hierher verschlagen? Viel eher hatte der Fremde eine schwere Last getragen. Das Gefühl beim Betrachten der Spuren glich einer eisigen Faust, die nach Harls Mut griff. Was hatte dieser Mann getragen? Wo waren sie hingegangen? Wo war Schari? Getrieben von Angst und Ungewissheit, sprang Harl auf. Er musste wissen, was hier geschehen war. Wo war sie?

 

Harl rannte nun fast schon, als er der Spur zu ihrem Ursprung folgte. Dann, im weichen, schlammigen Ufer des Flusses, konnte er nur zu gut eine Geschichte lesen, die ihm allen Mut nahm. Schari hatte, wie er sah, ihre Knollen ausgegraben. Das Bündel lag noch am Ufer, unbeachtet von einem der Männer, der sich ihr genähert hatte, halb in den Morast getreten. Daneben konnte er erkennen, wie ein Körper auf dem Boden seinen Abdruck hinterlassen hatte - Schari! Doch es gab keine Spuren eines Kampfes, kein Blut, keine Kleidungsfetzen. Was wollte der Mann von seiner Gefährtin?

 

An der Tiefe der Spur, die vom Ufer wegführte, war deutlich zu sehen, dass er seine Beute weggetragen hatte. Unnachgiebig ging Harl der Sache nach. Schon bald stieß er auf die Abdrücke der anderen beiden Männer, die ihren Kumpan hier offenbar erwartet hatten. Eine ganze Reihe von Abdrücken ohne wirkliche Richtung ließ ihn vermuten, dass sie hier gestanden und diskutiert hatten. Dann waren sie davongegangen, mit Schari, seiner Gefährtin.

Was sollte Harl nun tun?

 

Erschöpft von der überwältigenden Erkenntnis, dass man ihm seine Frau einfach weggenommen hatte, während er unwissend auf der Pirsch gewesen war, ließ sich Harl zu Boden sinken. Lange Zeit verbarg er seinen Kopf in seinen Händen und versuchte nachzudenken. Die Fremden waren zu dritt, während er ganz allein dastand. Sie mussten Jäger sein, vielleicht ebenso wie er auf die Felle kleiner Raubtiere wie Iltis oder Marder aus. Sicher waren sie bewaffnet und nur halb so ausgezehrt wie er. Was konnte er schon gegen eine ganze Gruppe von Feinden ins Feld führen? Harl seufzte laut auf. Eigentlich hatte er überhaupt keine Chance, sich Schari zurückzuholen. Es konnte sogar sein, dass die Jäger nicht zu Fuß in ihrer Gegend unterwegs waren. Oftmals hatte er die kleinen Packpferde gesehen, derer sie sich in anderen Dörfern gern bedienten und die er auch zu nutzen gedacht hatte, um mit Schari zu den Baumanbetern zu ziehen. Wenn sie über Reittiere verfügten, waren sie ihm vielfach überlegen! Sollte er einfach in seine Höhle zurückkehren und Schari den Fremden überlassen? Harl grübelte.

 

Tatze hingegen hatte aus den Spuren seinen eigenen Schlüsse gezogen. Es roch nach Schari! Neugierig schlich er um den Abdruck, der tief in den Boden eingedrungen war. Er roch auch nach seiner Herrin und nach etwas anderem. Es war derselbe Duft, der ihm schon früher am Tag irritiert hatte. Was war hier los? Hilflos und voller Ungeduld begann der kleine Wolf zu heulen. Er wollte zu Schari, wollte, dass sie ihn kraulte und hinter den Ohren kitzelte wie an jedem anderen Abend. Doch sie war nicht da! Tatze lief hin und her und wiederholte sein unzufriedenes Heulen, bis Harl aufsah.

 

Der klagende, jammernde Ton des Heulens von Tatze ging auch Harl zu Herzen und plötzlich war ihm völlig klar, was zu tun war. Sie brauchten Schari, alle beide! Und Schari brauchte sie, ihre Hilfe. Was war er nur für ein Narr, dass er auch nur einen Moment daran gedacht hatte aufzugeben, bevor er nicht sein Möglichstes versucht hatte? Doch es ergab auch wenig Sinn, kopflos drauflos zu laufen. Sie brauchten Proviant, wärmende Felle und Waffen - vor allem die. Harl sprang mit neuem Mut auf und pfiff nach Tatze. Sie würden sich ausrüsten, eine kurze Nacht lang Kräfte sammeln und beim ersten Dämmerlicht aufbrechen. Kampflos würde er ihnen Schari nicht überlassen - wer auch immer jene waren, die in sein Tal eingedrungen waren und seinen wertvollsten Besitz geraubt hatten. Sie würden ihm nicht davonkommen!

 

~ Fortsetzung folgt ~

Gefangen

 Schari erwachte von halblauten Stimmen, die sich um etwas stritten. Im Übergang zwischen Schlafen und Wachen nahm sie den fremdartigen Dialekt der diskutierenden Männer wahr und glaubte, vielleicht noch zu träumen. Doch es gelang ihr nicht richtig, dem Gespräch zu folgen, weil mit dem Erwachen auch ein rasender Kopfschmerz ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Missmutig wollte sie sich an den Kopf greifen. Warum musste sie ausgerechnet heute mit Schmerzen erwachen?

Es war doch schon so lange her, dass sie sich am Schädel verletzt hatte und das dröhnende Hämmern hinter der Stirn hatte eigentlich in den vergangenen Monden immer mehr abgenommen …

Dann, als irgendetwas verhinderte, dass sie ihre Hand an die Schläfe hob, erwachte sie vollkommen. Kälte machte sich an ihrem Rücken bemerkbar. Wieder versuchte sie, ihre Hände zu heben, doch es ging nicht!

 

Verunsichert schlug Schari die Augen auf und fand sich auf einer ihr unbekannten Waldlichtung wieder. Ihre Hände waren zusammengebunden und zusätzlich mit einem Strick um ihre Hüften befestigt. Auch ihre Füße waren gefesselt, musste sie ungläubig feststellen. Was war hier los?

Die Angst gab Schari mehr Kräfte, als sie eigentlich hatte und sie drückte sich in eine sitzende Haltung. Ihr Sichtfeld wurde größer und dann sah sie sie - vier große, fremde Männer, die sich im Abenddämmer um ein kleines Feuer versammelt hatten. Noch war ihnen nicht aufgefallen, dass ihre Beute erwacht war. Wer waren diese Männer und wie war sie hierher gekommen? Schari wusste es nicht. Doch ihr war klar, dass sie so schnell wie möglich Antwort auf diese Fragen bekommen musste. Wo war Harl und was wollten diese Fremden von ihr?

Vorsichtig ließ sich Schari langsam wieder zu Boden sinken. Vielleicht war es besser, wenn sie sich erst einmal weiter schlafend stellte und versuchte, ihre Fesseln zu lösen? Prüfend ruckelte sie an jedem der festen Schnüre, wobei sich das geschmeidige Leder aber kein bisschen lockern ließ. Nein, es zog sich eher noch fester um ihre Handgelenke zusammen. Hier war im Moment gar nichts zu machen. Ängstlich rollte sich Schari ein wenig mehr zusammen. Wenn sie sich nicht befreien konnte, war sie den vier Fremden hilflos ausgesetzt. Was wollten sie von ihr? Sie begann zu lauschen.

 

"… du weißt, dass Arbogast  sie am dringendsten braucht", rechtfertigte sich gerade einer der Männer. "Mit seinen drei Kindern kann mein Bruder nicht einmal mehr auf die Jagd gehen. Überlass sie ihm! Überlass sie ihm und ich komme mit, falls du mit den Uferdörflern um eine Frau handeln willst."

Sein Gesprächspartner schien an der Idee des anderen keinen Gefallen zu finden.

"Ich habe sie aber zuerst entdeckt, Gerwald , sie gehört somit mir. Wenn dein Bruder eine Frau für sein Lager will, soll er sich gefälligst selber eine suchen. Ich verschenke sie nicht so einfach!"

"Gebt Frieden, alle beide", brummte ein dritter Sprecher. "Es ist auch so schon schwer genug nach dem Fluch, da müsst ihr euch nicht noch um eine der neuen Frauen streiten. Lindrad! Gerwald hat schon recht, wenn er sagt, dass Arbogast sie am dringendsten braucht. Sein Sohn ist noch so klein. Wie soll er denn ohne eine Mutter aufwachsen?"

 

Vorsichtig wandte Schari ihren Kopf, um die Sprecher zu betrachten. Ein wenig war sie erleichtert, dass man sie offenbar zumindest nicht mitgenommen hatte, um sie zu töten. Wenn es in dem Gespräch um sie ging, so waren die Männer offenbar auf Raub gegangen, um Frauen für ihr Dorf zu fangen. Auch, wenn diese Art der Brautbeschaffung beim Bärenclan nicht mehr üblich war, so wusste Schari doch aus den anzüglichen Geschichten mancher Männer, dass noch vor wenigen Generationen diese Art der Brautbeschaffung gängig gewesen war. Manchmal hatten sich die jungen Männer auch ins Nachbardorf geschlichen und sich mit den dortigen Mädchen angefreundet, bevor sie sie mitnahmen. Romantisch war das Schari damals erschienen, mutig und nicht wenig verlockend.

Doch nun war sie offenbar selbst von jenem Brauch betroffen. Ob sie den Männern erklären sollte, dass sie schon einen Gefährten hatte und ein Kind erwartete? Doch wie sollte sie das tun, ohne sich vor den Fremden zu entblößen oder ihre Stummheit sofort zu verraten? Bestimmt wollte keiner der Männer eine Frau, die nicht sprechen konnte. Dass es noch andere gab, die wie Harl dachten, glaubte Schari nicht. Selbst der Jäger akzeptierte sie ja nur deshalb, weil er sich durch seine Besuche im Haus ihres Vaters nach und nach an ihre Stummheit gewöhnt hatte. Wäre er ihr unvorbereitet begegnet, hätte auch er sicher ganz anders gehandelt.

 

Schari beschloss, sich erst einmal ruhig zu verhalten und so wenig wie möglich preiszugeben. Vielleicht, wenn die Männer sie schwach glaubten, würden sie weniger wachsam sein und ihr gelänge es doch zu entkommen? Flucht war wohl der einzige Weg, sich dem unsicheren Schicksal in den Händen eines fremden Mannes zu entziehen. Kämpfen konnte sie schließlich nicht. Wieder starrte Schari zum Feuer und fragte sich, wie die Männer wohl auf sie reagieren würden, wenn sie ihre Schwächen besser kannten. Wollte sie das überhaupt herausfinden?

Der Schmerz in ihren Händen ließ sie einen Moment lang ihre Vorsicht vergessen und sie versuchte, sich in eine etwas bequemere Lage zu drehen. Ein Ästchen knackte unter ihrem Rücken. Der Mann am Feuer, den sie Gerwald genannt hatten, hob lauschend den Kopf und wandte sich dann um.

Ein wissendes Lächeln trat auf sein Gesicht und er erhob sich.

"Sieh mal an, unser Schätzchen ist endlich aufgewacht!"  

 

*****

 

"Sieh mal an, unser Schätzchen ist endlich aufgewacht!"

Missmutig beobachtete Lindrad, wie sich sein Begleiter dem Mädchen näherte, das er gefunden hatte. Was dachte sich Gerwald bloß, Anspruch auf eine Beute zu erheben, die nicht seine eigene war? Sicher war Arbogast ein armes Schwein, dass er in einem Herbst Mutter und Frau verloren hatte. Dennoch! Auch seine, Lindrads, Schwester war gestorben und auch er stand ohne Hilfe da, wenn er abends die leere Hütte am Waldrand betrat. Ein wenig Gesellschaft hätte ihm gefallen und eine geschickte Hand, die Essen kochte und seine verschlissene Kleidung wieder herrichtete, wäre auch nicht zu verachten gewesen. An die Freuden eines geteilten Lagers mit einer Frau, die ganz zu ihm gehörte, gar nicht zu denken.

 

Lindrad beobachtete scharf, wie sich Gerwald der jungen Frau näherte. Spielerisch hob dieser ihren Kopf an, als sie sich verschämt wegdrehen wollte.

"Na, Kleine, hast du den Schlag auf den Kopf gut überstanden?", spottete er und starrte unverhohlen in das ängstliche Gesicht vor ihm. "Ein bisschen mager siehst du schon aus", fuhr er dann fort. "Du solltest etwas zu essen bekommen." Gerwald fummelte an einem der Beutel an seinem Gürtel und zog ein Stück altes Brot hervor. Dann hielt er das schon recht unansehnliche Gebäck vor den Mund der jungen Frau. "Hier, Mädchen, komm und iss!"

 

Ungläubig starrte Schari auf den Mann, der sich ihr so unverfroren genähert hatte. Die Finger an ihrem Kinn waren rau gewesen und hatten viel zu hart zugegriffen. Dass er nun von ihr verlangte, sie solle ihm aus der Hand essen wie ein Hund, war zu viel für die angespannten Nerven der geraubten Frau. Angeekelt warf sie einen Blick auf das Brot mit den Schimmelflecken, dann spuckte sie dem Räuber ins Gesicht und presste ihre Lippen zusammen. Niemals würde sie etwas so Erniedrigendes tun, und sich wie ein Tier füttern lassen. Harl kam ihr in den Sinn, der ihr auch Essen gereicht hatte, Wolfsfleisch, Pilze, den Weidensud. Doch bevor sie noch diesen tröstlichen Gedanken an ihren Jäger weiterspinnen konnte, traf sie die Ohrfeige von Gerwald mit voller Kraft und riss ihren Kopf zur Seite.

"Was fällt dir ein, du kleine Ratte …" fauchte er und holte ein zweites Mal aus. Doch er kam nicht dazu, erneut zuzuschlagen. Eine kräftige Hand hatte seinen Unterarm gepackt und hielt den wütenden Jäger zurück, erneut auf Schari einzuprügeln.

"Lass das, Mann!"

Lindrad war aufgesprungen, als die Gefangene Gerwald angespuckt hatte. Er wusste sehr gut, wie schnell Gerwald brutal und jähzornig wurde. Darin standen sich die beiden Brüder in nichts nach.

"Behalte deine Fäuste bei dir, Mann, oder du bekommst es mit mir zu tun!", unterstrich er seine Mahnung noch einmal. "Egal, ob du sie nun für Arbogast bekommst, wenn wir im Dorf sind, oder nicht. Bis es soweit ist, gehört die Frau mir und nur mir, hast du das verstanden?"

"Lindrad!" Eine mahnende Stimme drang vom Feuer zu ihnen herüber, doch der Jäger, der Schari erbeutet hatte, ließ sich davon nicht stören. Drohend musterte er Gerwald, dessen Arm er inzwischen auf den Rücken gedreht hatte und den er um gut einen halben Kopf überragte.

"Du wirst sie in Ruhe lassen, Gerwald, bis wir im Dorf sind. Dann - und erst dann - wird Ragin[3] entscheiden, ob sie an Arbogast geht oder ob ich sie behalten darf. Bis dahin ist sie meine Beute - und nur meine!"

 

Lindrad drückte Gerwalds Hand bedeutungsvoll noch ein wenig nach oben und der so Behandelte keuchte unterdrückt auf. "Hast du das jetzt verstanden, Mann?"

Gerwald nickte mit zusammengebissenen Zähnen und Lindrad war sich sicher, dass er sich in diesem Moment keinen Freund gemacht hatte. Trotzdem! So, wie sich der andere Jäger aufführte, ging es nun wirklich nicht! Er pflückte den Brotkanten aus Gerwalds Hand und besah sich die Speise genauer. Dann lachte er lautstark auf.

"Diesen Fraß wolltest du ihr jetzt nicht wirklich anbieten, oder? Da wird selbst mir schon beim Anblick schlecht. Und es wäre sicher kein Spaß geworden, wenn sie uns auf dem ganzen heutigen Ritt gekotzt hätte."

Er drückte dem überraschten Gerwald sein Schimmelbrot wieder in die Hand und schlug den Weg zum Feuer ein. Vorsichtig löste er eine Vorderkeule von einem der beiden Hasen, die über den Flammen rösteten, dann kam er zurück. Nachdenklich betrachtete er die halb liegende Frau vor sich, die sich abgewendet hatte. Das ging ja wirklich gut los, dachte er zynisch. Anstatt sie für ihren Clan einzunehmen, hatte Gerwald sie jetzt noch so richtig in die Abwehr getrieben.

 

Lindrad seufzte unterdrückt. Das alles lief ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Ihm hatte die schmale, fleißige Frau gefallen, die so konzentriert beim Knollensammeln gewesen war. Ansonsten hätte er sich ihr gar nicht erst genähert. Dazu war die Gefahr viel zu groß. Wenn aber Gerwald so weitermachte, oder sie gar an Arbogast ging, der sie sicher bald völlig beugen würde, blieb von der Schönheit, die sie in jenem Moment verkörpert hatte, nichts mehr übrig. Und es wäre seine, Lindrads Schuld, wenn es so weit kam. Doch er hatte getan, was er getan hatte. Nun musste auch er mit den Konsequenzen leben.

Vorsichtig, um sie nicht noch mehr zu verängstigen, löste der Jäger jene Fessel, die die Hände der Frau an den Hüften hielt. Dann zog er sie in eine sitzende Position und hielt ihr die duftende Hasenkeule hin. "Hier iss! Nicht mehr lange und wir ziehen weiter. Dann bleibt hierfür keine Zeit mehr!"

 

Ungläubig hob seine Gefangene den Kopf und Lindrad sah sich mit einem Mal zwei wunderbaren hellblauen Augen gegenüber, die selbst im Halbdämmer des anbrechenden Tages verlockend schimmerten. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, starrte der Mann auf dieses Augenpaar, das ihn so wach und prüfend musterte. Bei Donar! In diesem Blick konnte sich wirklich jeder Mann verlieren! Mit einem Mal wurde Lindrad klar, wie wertvoll seine Beute möglicherweise auch anderen war. So, wie sie aussah, würde der Mann, dem er sie weggenommen hatte, mit Sicherheit nach ihr suchen. Eine solche Frau ließ man nicht einfach gehen. Lindrad fühlte bei diesen Gedanken die Kälte in sich aufsteigen. Dort, wo er sie gefunden hatte, war nur Wildnis gewesen, Wildnis und sonst nichts. Wenn ein Mann mit ihr allein dort hinaufgegangen war, so musste es schon ein wirklich erfahrener Jäger oder Krieger sein. Sich im Winter so weit von einem Dorf zu entfernen, erforderte Mut. Und ein mutiger Mann war zu allem fähig, wenn man ihn reizte. Die Sicherheit, in der sich der Jäger gewiegt hatte, verflog wie ein Rauchwölkchen im Wind. Sie mussten hier weg, je schneller, desto besser.

 

Fordernd drückte er der Frau das Essen in die Hand. "Los jetzt! Wir haben keine Zeit zu verlieren!" Dann aber, als sie seine Gabe nicht verweigerte und hungrig, ja fast gierig in die Hasenkeule biss, konnte er sich ein winziges Lächeln nicht verkneifen. Sie gefiel ihm. Ja, sie gefiel ihm so gut, dass er sie später mit zu sich aufs Pferd nahm, anstatt sie auf eines der Lastponys zu binden. Dass sie dadurch schneller vorankamen, war eine schwache Ausrede, die ihm zum Glück von den anderen abgenommen wurde. Unauffällig steckte er der jungen Frau vor sich noch einen Apfel zu, der zwar schon schrumpelig war, den sie jedoch ebenso schnell aß wie die Keule. Da sie sich beim Essen nicht am Pferdehals festhalten konnte, presste sie ihren Rücken unwillkürlich an ihn. Wenn das so weiterging, würde er sich mit Arbogast um die Frau schlagen. Darin war sich Lindrad bald sicher.

 

Wigberg[4], der voran ritt, schlug bald ein schnelles Tempo an, sodass Schari sich nun unwillkürlich an die Mähne des struppigen Pferdes klammern musste. Jeder Schritt und jeder Sprung des Tieres ließ den Abstand wachsen, der sich zwischen Harl und ihr nun auftat. Auch, wenn ihr Jäger ein guter Läufer war und Tatze ihm beim Fährtenlesen beistehen konnte, blieb bei diesem Tempo nun nur eine kleine Chance, dass er die Räuber einholen konnte, um sie zu befreien.

 

Schon näherten sie sich einem Bach und die Schamanentochter wusste nur zu gut, dass im Wasser ihre Spur noch viel schneller verschwinden würde. Unauffällig ließ sie das Kernhaus des Apfels fallen, das sie bisher versteckt in der Hand gehalten hatte. Dann lehnte sie sich ein wenig weiter als nötig auf den weichen Pferdehals und tat als würde sie sich an der Mähne des Tieres festhalten. Dabei tastete sie fieberhaft nach einer Stelle, auf deren Berührung das Tier vielleicht reagierte. Sie musste Harl ein paar Zeichen hinterlassen! Nie und nimmer würde sie freiwillig mit dieser Bande von Wilden gehen!

 

Entschlossen kniff sie in einen der Muskelstränge und drehte ihre gefesselten Hände ein wenig um die eigene Achse. Sofort begann das Tier unter ihnen einen erschrockenen Tanz aufzuführen und Schari wusste, dass ihre Spur nun ein wenig tiefer und auffälliger geworden war.

Ein sicheres: „Ruhig!“ und ein entschlossener Ruck an den Zügeln brachte das Pferdchen jedoch sofort wieder zurück zu einem gehorsamen Trab. Lindrad trieb seine Stute in den flachen Bach und folgte seinen Freunden flussabwärts weiter aus dem Gebirge hinaus. Er hatte die kurze Bewegung der Frau durchaus gesehen, war sich aber nicht sicher wie viel Absicht hinter ihrem Treiben gesteckt hatte. Sie sofort zu bestrafen, kam ihm nicht in den Sinn. Doch ermahnen konnte er sie ja wohl, oder?

 

„Du solltest nicht so fest zufassen“, riet er seiner Gefangenen. „Du tust Eila[5] damit weh – am Hals und an der Mähne ist sie sehr empfindlich.“ Lindrad hoffte, sich verständlich gemacht zu haben, doch die junge Frau vor ihm schwieg entschlossen weiter. Was für ein Sturkopf sie doch war! Nicht einmal, als Gerwald sie eher ruppig vor ihren Wächter aufs Pferd gehoben hatte, war ein Laut von ihren Lippen gekommen. So langsam begann ihr Trotz Lindrad zu stören.

„Hast du mich verstanden?“, forschte er deshalb etwas lauter nach. Wieder schwieg sie und er wiederholte seine Frage nun drohender. Endlich kam eine Reaktion von ihr – ein angedeutetes Nicken mit dem Kopf, das ihm signalisierte, dass sie ihn gehört hatte und offenbar doch seine Sprache verstand. Lindrad lächelte in sich hinein. Es war auch ein Zeichen von Stärke, wenn sie ihm trotzte, und eine spannende Herausforderung an ihn, ihren Widerstand zu brechen, ohne ihr dabei unnötig Angst zu machen. Spielerisch zog er die Hüfte seiner Mitreiterin ein wenig näher zu sich. Es fühlte sich wirklich gut an, sie so dicht bei sich zu haben!

 

Schari hingegen sah immer deutlicher, auf was für eine Katastrophe sie zusteuerte. Früher oder später würden sie herausfinden, dass sie stumm war. Eher früher als später, dachte sie grimmig. Und der Mann hinter ihr hatte ein ganz eigenes Interesse an ihr – auch das konnte er nicht sehr gut verstecken. Sie spürte, wie er sich beim Auf und Ab des Pferderückens immer wieder provozierend an ihr rieb. Seine Wünsche waren nur zu offensichtlich. Angewidert versuchte Schari, seinem Drängen auszuweichen und rückte ein Stück von ihm ab. Dabei griff sie erneut schmerzhaft in den Hals des Pferdes, das ebenso reagierte wie zuvor und eine für sie sehr befriedigende Spur in den Ufersand tänzelte. Doch der Mann in ihrem Rücken ließ ihre Flucht nicht zu. Erneut zog er an ihrem Becken und rückte sie ein wenig zurecht. Dabei schwieg er und schien auch von ihr nicht zu erwarten, dass sie etwas sagte. Becken und Beine fest an sie gepresst, nahm er nun die Zügel mit nur einer Hand und ließ seine Linke an ihrem Bauch auf Wanderschaft gehen.

 

Entsetzt hielt Schari die Luft an. Das konnte doch wohl jetzt nicht sein ernst sein? Sie gehörte zu Harl! Er war es, der sie berühren, sie liebkosen durfte. Niemand, und erst recht kein fremder bedrohlicher Räuber, durfte sich an ihrem Körper zu schaffen machen. Doch den Mann, der inzwischen den Weg unter ihr Oberteil gefunden hatte, schien sein Gewissen nicht zu belasten. Genießerisch strich er über die weiche Haut ihres warmen Bauches. Dabei gab er ein wenig die Zügel nach und nahm es hin, dass Eila langsamer wurde und ein wenig zurückfiel. Das hier brauchten seine Gefährten nicht zu sehen!

 

Lindrad fuhr bewundernd über Scharis Bauch. Sie war gut genährt für eine Frau aus den Bergen! Ihr Gesicht hatte ihn anderes vermuten lassen und ihre zarten Hände hatten nicht verraten, dass sie keinen Mangel kannte. Wie es der fremde Jäger wohl angestellt hatte, seine Frau in der kargen Berglandschaft so gut zu versorgen? Unwillig über diesen Gedanken konzentrierte sich der Mann wieder auf seine tastenden Finger. Bald begann er, die weichen Löckchen ihres Schamhügels zu erkunden. Wie gut sie sich anfühlte! Fast konnte Lindrad sich nicht beherrschen und hätte um ein Haar sein Pferd ganz gezügelt, um seine Beute vor sich auf den Boden zu werfen und sich Erleichterung zu verschaffen. Doch er ermahnte sich. Das, was er gerade tat, war nur ein kleines Spiel. Ein Spiel, mit dem er das unbekannte blauäugige Mädchen ein wenig verführen und für sich empfänglich machen wollte. Ein Spiel, das er sonst gern am abendlichen Feuer mit den unverheirateten Frauen seines Dorfes gespielt hatte. Sie waren meist gern auf sein Verlangen eingegangen, hatten sich ihm genussvoll hingegeben!

 

Lindrad versank so tief in seinen Träumen, dass ihm nicht auffiel, wie Schari sich mehr und mehr abwehrend versteifte. Das Gefühl, von einem Fremden ungewollt berührt zu werden, wo sonst nur Harls Körper ihrem nahe kommen durfte, war schrecklich. Am liebsten hätte sie einfach irgendeinen Laut ausgestoßen. Doch es war wie immer, wenn sie Angst hatte – dann versagten auch noch die kleinen, klanglosen Töne, die sie manchmal hervorbrachte, wenn sie lachte oder von Harl in die Ekstase getrieben wurde. Sie wurde noch stummer, als sie es sonst war, sie wurde vollkommen lautlos.

 

Das Schweigen der Frau war es aber auch, das Lindrad unbedacht weitermachen ließ. Immer wieder fuhr er über Scharis Bauch und durch ihre weichen Schamhaare. Eilas Auf und Ab schien ihn dabei zu unterstützen. Erst, als kühle Tropfen auf die Hand fielen, mit der er die Zügel hielt, unterbrach er irritiert sein Tun. Der Rücken der Frau vor ihm war gekrümmt und zitterte still. Sie weinte! Abrupt unterbrach er seine Berührung und ließ es zu, dass sie erneut von ihm wegrückte. Dabei nahm er wahr, dass sie angestrengt versuchte, wieder keinen Laut von sich zu geben. Nur ein leises Keuchen verriet, dass sie verletzt war, auch, wenn er ihr ganz sicher körperlichen Schmerzen zugefügt hatte. Ihre gefesselten Hände stützten sich jetzt auf Eilas Widerrist ab und sie versuchte angespannt, sich aufrecht zu halten. Wieder und wieder fühlte er die kalten Tränen, die auf seine Hand tropften.

 

Lindrad schallte sich selbst einen Narren. Hatte er wirklich geglaubt, mit ein paar streichelnden Handbewegungen könne er eine Frau wie sie für sich gewinnen? Eine Frau, die gewiss Zuneigung genossen hatte, so schön, wie sie war, die verwöhnt und gehütet worden war, wenn man vom Wert der Felle ausging, die sie trug und ihren körperlichen Zustand dabei mit in die Rechnung einbezog? Wütend auf sich selbst trieb der Mann seine Stute erneut an. Wenn sie dieses Mal tänzelte, so war es seine eigene harte Hand, die Eila dazu getrieben hatte.

 

 

Harl macht sich auf den Weg:

 

Während sich Schari unaufhaltsam vom Gebirge entfernte und immer mehr Abstand zwischen ihr und der schützenden Höhle ihres Tales entstand, war auch Harl nicht untätig geblieben. Zurückgekehrt in die Wohnhöhle, hatte er noch am Abend seine Waffen geschärft und Proviant für ihre Verfolgung zusammengestellt. Von Unruhe getrieben hatte der Jäger kaum schlafen können und dem kleinen Wolf war es ebenso ergangen. Schari fehlte ihnen beiden, das spürte Harl nun wieder deutlich. Nicht nur, dass es kein Abendessen gab und die Felle, unter denen er sich verkrochen hatte, kalt waren. Am meisten fehlte ihm ihr leises Atmen neben seinem Ohr und der leichte, beruhigende Duft, der nachts von ihr ausging. Es war ihm gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er sich in seinem Herzen an Schari gebunden hatte. Vielleicht hätte er ihr seine Zuneigung deutlicher zeigen, ihr öfter sagen sollen, wie wichtig sie ihm war? Nun war sie ihm genommen worden und es war zu spät, über vertane Möglichkeiten zu grübeln.

 

Während Harl am nächsten Morgen den Höhleneingang vor neugierigen Blicken verbarg, indem er trockene Zweige und Reisig davor aufstapelte und die Äste nahegelegener Sträucher unauffällig miteinander zu einem Blickschutz verband, kam ihm noch ein weiterer ernüchternder Gedanke. Was, wenn sich Schari bei den Fremden wohler fühlte als bei ihm?

Doch dann stellte sich Harl das Leben in den nächstgelegenen Dörfern genauer vor und auch über die Männer, die dort lebten, machte er sich genauere Gedanken. Wenn einer von ihnen seine Gefährtin dorthin verschleppen würde, konnte Harl froh sein, wenn er sie gesund und mitsamt ihrem Kind wiedertraf. Zwar gingen die Männer mit ihren eigenen Frauen ähnlich respektvoll um, wie es im Bärenclan üblich war. Gefangene aber, Witwen oder Frauen, die aus irgendwelchen Gründen keine Kinder bekamen, hatten ein schweres Leben. Sie mussten tun, was niemand sonst erledigen wollte, niederste Arbeiten verrichten. Dabei kam es nicht selten vor, dass sie vom Hausherrn an dessen Freunde oder Gäste für ein erzwungenes Beilager verliehen wurden. Auch Harl hatte schon solche Angebote bekommen und sie auch zu jenen Zeiten nicht abgelehnt. Meist waren diese Frauen schon froh gewesen, wenn er ihnen nicht wehtat.

 

Der Jäger knirschte mit den Zähnen. Sich vorzustellen, dass man so mit seiner Schari umging … Doch es konnte sogar noch schlimmer kommen. Wenn Harl ehrlich war, erschien ihm diese Möglichkeit sogar wahrscheinlicher. Die Dörfler am Fuße der Berge waren schrecklich abergläubig. Jede Begebenheit war der Wille der Götter, überall sahen sie den Einfluss böser Omen und Geister. Einmal hatte Harl miterlebt, wie eine Frau aus dem Dorf vertrieben wurde, weil sie ein missgestaltetes Kind geboren hatte. Das Kleine, dessen Fuß verkrüppelt gewesen war, hatte seinen ersten Tag auf der Erde nicht überlebt. Der Schamane des Dorfes, Ragin, brachte den Jungen Donar zum Opfer und das ganze Dorf schaute dabei zu. Wenn Männer wie dieser Ragin Schari in die Hände bekamen und ihre Stummheit erkannten, würden sie darin sofort eine Bedrohung ihres Dorfes sehen. Ob sie es dann dabei beließen, seine Gefährtin in die Wälder zurückzujagen, darin war sich Harl gar nicht sicher.

 

Unwillig stieß der Jäger einen letzten schweren Stein vor den Höhleneingang, dann pfiff er nach Tatze und machte sich auf den Weg. Ganz egal, wie gering seine Erfolgsaussichten waren, er würde nach Schari suchen und nur ihr Tod konnte ihn davon abhalten, sie sich zurückzuholen.

Der kleine Wolf, der offenbar begriff, wohin ihre Wanderung ging, fiepte aufgeregt und sprang um Harl herum. Mit einem Fingerschnipsen wies der Mann ihn an, vorweg zu gehen. Der Kleine begriff auch sofort und machte sich an die Arbeit. Schnuppernd und flehmend versuchte er Scharis Spur zu entdecken.

 

Der Jäger machte sich nicht die Mühe, den Umweg an den Fluss zu nehmen. Er war sich sicher, dass seine Feinde mit Schari das Tal verlassen würden und so strebte auch er dem Ausgang zu. Und er hatte richtig geraten. Bald stießen Tatze und er auf Spuren, die eindeutig von Pferden stammten. Der Gang der Tiere war eilig und nur hier und da ließ sich erkennen, wenn eines der Reittiere in Schritttempo verfallen war. Harl fluchte. Das hier wurde immer schwieriger! Wenn die Räuber nun auch noch ritten, würde er kaum eine Chance haben, ihnen auf den Fersen zu bleiben.

 

Harl lief den ganzen Tag, bis ihn die Dunkelheit zu einer Pause zwang. Noch war die Spur der vor ihm wandernden Gruppe deutlich zu erkennen. Doch schon ein einziger Regenguss konnte alles vernichten und ihn unwissend zurücklassen. Die Nerven des Jägers lagen blank. Da half es auch wenig, dass der neue Tag mit strahlendem Sonnenschein erwachte. Kaum, dass er einen Happen gegessen und ein paar Hände Wasser aus dem Bach getrunken hatte, eilte Harl erneut talwärts. Noch bevor die Sonne im Zenit stand, stieß er auf ein verlassenes Lager, doch die Asche des Feuers war kalt. Zu lang war die Feuerstätte schon verlassen.

Tatze jedoch entdeckte mehr als sein Herr. Dort, wo das Gras ein wenig niedergedrückt war, fand er einen Fetzen ausgerissenen Pelz, den er zu Harl trug. Zunächst schien den Jäger den Fund des kleinen Wolfes nicht weiter zu interessieren. Was half es schon, ein paar Tierhaare an einem Lagerplatz wie diesem zu entdecken? Doch dann, schon weitergehend, musterte er das Büschel Fell doch noch einmal genauer - das war Bärenpelz! Aufmerksam starrte Harl nun auf die Botschaft in seiner Hand. Bärenfelle waren selten und es gab kaum einen Jäger, der ein solches Zeichen seines Jagdgeschicks wirklich als Kleidung trug. Schari aber hatte es getan. Wann immer sie im Winter die Höhle verlassen hatte, war sie in jenes Braunbärenfell gehüllt gewesen, dass er ihr geschenkt hatte. Wenn er nun ein Stück Pelz von eben diesem Material fand, so galt das auch als Zeichen, dass sie hier gewesen war. Ein wenig optimistischer als vorher machte sich Harl daran, den Flüchtigen weiter zu folgen.

 

Bald fand er neben der Pferdespur ein abgeknabbertes Kernhaus und ein wenig später waren die Spuren eines Pferdes unruhig und ausgetreten. Niemals hätte er, Harl, einen solchen Trampelpfad hinterlassen. Die fremden Männer mussten sich sehr sicher fühlen! So verging erneut ein Tag und nachdem Harl am Abend insgesamt drei Stücke des Bärenpelzes gefunden hatte, wurde ihm klar, dass Schari ihm kleine geheime Zeichen zu hinterlassen versuchte. Einerseits war Harl glücklich, dass sie sich offenbar sicher war, dass er ihrer Spur folgte. Dann wieder machte sich der Jäger große Sorgen, was geschehen könnte, wenn die fremden Räuber hinter ihre Absichten kämen.

 

 

Hilflos

 

 

Als am nächsten Tag die Vorräte zur Neige gingen, bestimmte Wigberg, dass es Zeit war, jagen zu gehen und ihre Reserven aufzufüllen. So kam es, dass die vier Männer bereits am frühen Nachmittag einen Lagerplatz bestimmten. Schari war jede Verzögerung ihrer Reise recht. Auch, wenn ihr der Mann, den sie Lindrad nannten, kein weiteres Mal zu nahe gekommen war, wollte sie so viel Raum zwischen ihm und sich wissen, wie es nur ging. Außerdem gab die unerwartete Pause Harl Gelegenheit, den Vorsprung zu verkleinern, den die Pferde zwangsläufig herausgelaufen hatten. Schari hoffte so sehr, dass ihr Jäger noch kommen und sie befreien würde. Sie ahnte, dass ihr die Fremden nicht wohlgesonnen bleiben würden, wenn sie erst ihre beiden Geheimnisse kannten und hatte Angst.

 

Aufmerksam verfolgte sie das Treiben der Männer beim Aufbau des Lagers. Lindrad hatte ihr wie schon gestern nur die Hände zusammengebunden und ihr befohlen, sich an den Stamm einer alten Eiche zu setzen. Dann hatte er das Bärenfell über sie gelegt und war zu den anderen gegangen. Die vier beachteten ihre Beute nicht, da sie offenbar bei der Arbeitsverteilung in einen Streit geraten waren. Lautstark versuchte jeder von ihnen das Vorrecht auf die kommende Jagd zu erhalten. Wigberg, der offenbar als Anführer galt, setzte sich schließlich mit einem zornigen Knurren durch: "Schluss jetzt! Ich habe euch gesagt, dass Lindrad und ich gehen werden und dabei bleibt es! Es geht heute nicht um die Felle, sondern um das Fleisch. Steht zu, dass ihr das Lager aufgeschlagen habt, wenn wir zurückkommen."

Er trat zu seinem Packpony als Zeichen, dass die Auseinandersetzung für ihn beendet war. Das unwillige Brummen von Gerwald beachtete er nicht. Sorgsam stellte er seine Waffen zusammen und Schari beobachtete, dass Lindrad dasselbe tat. Es dauerte auch nicht lange, bis beide davonschlichen, um für ein Abendessen zu sorgen. Genau wir Harl, dachte sie, verfielen die Männer schon beim Verlassen des Lagers in ihre typische lauernde Haltung und ihr Gang wurde federnd und geschmeidig. Wieder ließ sich die Schamanentochter von ihren Sorgen und Erinnerungen davontragen, während Gerwald und sein Mitstreiter Sarolf[6] das Lager sicherten und Feuerholz zusammentrugen. Keiner von ihnen wollte am späteren Abend rohes Fleisch essen. Deshalb war es am besten, wenn sie schon jetzt einen kleinen Brand entfachten, auf dessen glühenden Kohlen sie später den Braten rösten konnten.

 

Das Herrichten des Lagers dauerte indes nicht den ganzen Nachmittag und als die Dämmerung hereinbrach, hatten die Männer die Pferde getränkt und gefüttert, das Gepäck in Ordnung gebracht, ein paar Reparaturen am Zaumzeug der Tiere ausgeführt und das Feuer geschürt. Gerwald saß an seinen Sattel gelehnt und aß einen Kanten Brot, während Sarolf noch in seinen Vorräten kramte. Dann trat der Jäger zu Schari und hielt ihr einen Apfel hin, der ebenso schrumpelig war wie der, den sie von Lindrad erhalten hatte. Schon wollte die Schamanentochter nach der Frucht greifen, als Gerwald plötzlich aufsprang. "Lass das!", fauchte er. "Soll Lindrad sie doch füttern. Immerhin hat er uns diesen Ballast aufgebunden. Ohne das Weib wären wir jetzt längst um ein Dutzend Felle reicher und könnten später viel besser handeln."

Unbeherrscht trat er nach Schari, die erschrocken versuchte, dem Fuß des Mannes auszuweichen und ihre Hände schützend vor ihren Unterleib hielt. Ihrem Kind durfte doch nichts passieren!

 

Sarolf beobachtete stirnrunzelnd das Geschehen. Aus diesem Blickwinkel hatte er Lindrads eigenmächtiges Handeln noch gar nicht betrachtet. Außerdem war bei der Ausweichbewegung der Frau ihr Oberteil ein Stück hochgerutscht und gab nun dort, wo sie am Oberschenkel nicht mehr von den Beinlingen bedeckt wurde für einen kurzen Moment den Blick auf ihre glatte Haut frei.

Sarolf knurrte lüstern. "Mag schon sein, dass Lindrad sie besser im Wald gelassen hätte", stimmte er listig seinem Freund zu. "Doch nun ist sie einmal hier und bis Wigberg und er zurückkommen, wird noch genug Zeit vergehen, um ein bisschen Spaß zu haben. Oder was meinst du?"

 

Neugierig musterte er sein Gegenüber. Der ließ seinen Blick inzwischen gründlicher über die Frau zu seinen Füßen gleiten. Dann beugte er sich zu Schari hinunter und nahm ihr Kinn in die Hand. Widerwillig versuchte sie sich, dieser erzwungenen Berührung zu entziehen. Das Herz schlug schmerzhaft in ihrer Brust und sie spürte, wie ihr die Angst vor dem, was nun unweigerlich kommen würde, die Luft zum Atmen nahm. Doch der Mann, der bedrohlich vor ihr aufragte, ließ sich von ihrer Abwehr nicht beeindrucken.

"Ich mag es, wenn sie nicht ganz so willig sind", verriet er Sarolf.

Der nickte und ließ sich hinter Schari auf die Knie nieder.

"Es ist dann weniger langweilig", flüsterte er ihr ins Ohr und schob eine Hand unter ihr Oberteil. "Mach sie los, damit wir ihr das hier ausziehen können", forderte er von Gerwald.

Das ließ sich dieser nicht zweimal sagen. Er zog ein Messer aus dem Gürtel und schnitt kurzerhand Scharis Handfesseln durch. Danach stieß er die Eisenklinge achtlos in den Waldboden und drückte Schari näher an Sarolf. Schon zog dieser ihr Gewand in die Höhe, als die Schamanentochter ihre freien Hände dazu nutzte, sich gegen diese Behandlung zur Wehr zu setzen. Zunächst hielt sie nur den Rand ihres Lederhemdes fest, doch als Sarolf energischer daran zog, schlug sie ihm panisch einen Ellenbogen in den Bauch und begann, mit beiden Beinen zu strampeln.

 

Gerwald lachte auf. Mühelos gelang es ihm, sich auf Scharis Oberschenkel fallen zu lassen. Mit der flachen Hand schlug er der Schamanentochter mehrmals ins Gesicht, um sie zur Vernunft zu bringen. Auch Sarolf packte nun härter zu und bald hatten die Männer ihr schmales Opfer unterworfen. Die Schläge hatten Scharis Lippe zum Bluten gebracht und ihr Kopf fühlte sich an, als sei er in weiche Daunen gepackt worden. Nur wie aus weiter Ferne spürte sie, dass sie herumgeworfen und auf die Knie gezwungen wurde. Eine feste Hand hielt ihre Schultern an Ort und Stelle und sie musste sich auf beiden Unterarmen aufstützen, um nicht in den Dreck gedrückt zu werden. Grob wurden ihre Schenkel auseinander gedrückt und eine Hand wühlte sich ihre langen Haare. Die Tränen nahmen ihr fast die Sicht und als der Schmerz von Gerwalds Eindringen sie durchfuhr, krallte sie die Hände in den feuchten Waldboden. Nur Sarolf nahm das kratzige Keuchen wahr, dass sie ausstieß, als der Mann sie nahm. Doch auch er war viel zu sehr von Gerwalds Tun und der Vorfreude auf seinen eigenen Genuss abgelenkt, als dass er sich darüber ernsthafte Gedanken gemacht hätte. Ebenso wenig bemerkte er, wie Scharis Finger plötzlich etwas Hartes erspürten. Gerwalds Messer steckte direkt vor ihr!

 

Schmerz, Angst und die Demütigung der erzwungenen Vereinigung ließen nicht zu, dass Schari kühl und mit Bedacht vorging. Während Gerwald grunzend und stöhnend auf ihr lag, richtete sich ihre ganze Konzentration nur noch auf diese vermeintliche Rettung. Sich schwer gegen Sarolf lehnend lockerte sie die Belastung auf ihrem rechten Arm und schob ihre verkrampften Finger um den Messergriff. Sich mit aller Kraft gegen ihre Angreifer aufbäumend zog sie dann die kleine Waffe aus dem Erdboden. Sarolfs linker Oberschenkel war der Klinge am nächsten und so stieß die Schamanentochter sie ohne zu denken in einer fließenden Bewegung in das Bein des Mannes, der vor ihr kniete und sie festhielt. Fluchend wurde sie weggestoßen und losgelassen.

Schari nahm sich nicht die Zeit, nachzusehen, ob sie Sarolf richtig getroffen hatte. Noch immer war Gerwald hinter ihr und die Überraschung der beiden Männer würde nicht allzu lange anhalten.

Schari spürte die Körperwärme von Gerwalds Bauch an ihrem Rücken. Die Klinge in ihrer Hand fühlte sich an wie ein Teil von ihr, als sie blindlings nach hinten zustieß. Dabei machte sie sich keine Gedanken darüber, ob sie den Mann auf diese Art wirklich ernsthaft verletzen konnte. Die Angst und die Ausweglosigkeit ließen sie blitzschnell handeln.

 

 

Ein schmerzhaftes Aufjaulen gab den erneuten Treffer kund. Gerwald zog sich von ihr zurück und Schari kam auf die Beine. Schon wollte sie loslaufen und sich in Sicherheit bringen, als eine feste Hand ihren Knöchel packte und sie niederwarf. Ohne sich irgendwie abfangen zu können, schlug sie mit Brust und Bauch auf der harten Erde auf. Noch immer waren ihre Finger um den Messergriff gekrampft, doch nun konnte ihr die kleine Waffe nicht mehr helfen. Sarolf war auf die Beine gekommen und blockierte ihre rechte Hand, indem er seinen stiefelbewehrten Fuß darauf stellte.

Seine Faust fuhr herunter und noch einmal und noch einmal. Wie von Sinnen prügelte der Mann auf sie ein und gab ihr keine Gelegenheit, sich auch nur ein wenig mit den Armen zu schützen. Ein Hieb auf die Schläfe ließ sie schließlich in eine alles vergessende, stille Ohnmacht fallen. Sie sah nicht mehr, dass sich nun auch Gerwald aufrappelte und sich die Hand auf einen oberflächlichen Schnitt an seiner rechten Flanke presste. Wütend versetzte er ihr noch einen heftigen Tritt, dann ließen die Männer von Schari ab und widmeten sich ihren Wunden.

 

Noch war der Stich in Sarolfs Oberschenkel nicht vollständig verbunden, als Wigberg und Lindrad zurückkehrten. Sie hatten relativ schnell eine Wildschweinsuhle gefunden und es war ihnen gelungen, eine junge Bache zu erlegen. Das schon gehäutete und ausgeweidete Tier an einer Stange gebunden und zwischen sich tragend, kamen sie lachend und schwatzend ins Lager. Bei dem Anblick, der sich ihm nun bot, ließ Wigberg entsetzt die Birkenstange mit dem erbeuteten Wildschwein sinken. Auch Lindrad ließ seine Last fallen und während der Anführer noch stumm und fragend vor den beiden Zurückgebliebenen stand, eilte er zu Schari und versuchte die von ihm geraubte Frau aufzurichten. Das Mädchen, dass ihn am Fluss so beeindruckt hatte, dass er es unbedingt für sich haben wollte, lag nun zerschlagen und entblößt vor ihm auf dem nassen Waldboden. Ihr Gesicht war verschwollen und Blut sickerte von ihrer Unterlippe. Das linke Auge war dunkelblau unterlaufen. An der Augenbraue darüber hatte sie eine aufgeplatzte Wunde, deren Blut bereits getrocknet war und an ihrer Schläfe eine dicke Kruste bildete. Ein weiterer Bluterguss an ihrer Brust deutete auf einen heftigen Tritt hin und ihre Knie waren aufgeschürft. Doch das, was Lindrad viel mehr entsetzte, war der kleine Bauch, der jetzt für alle sichtbar unbedeckt war und ihn deutlich wissen ließ, dass diese Frau ein Kind trug.

Stumm starrte er auf die kleine Rundung, die mitnichten vom guten Essen kam. Die Folgen, die sich aus dieser neuen Entdeckung ergaben, wollte sein Verstand gar nicht zulassen.

 

Doch auch Wigberg war inzwischen klar geworden, was sich in seiner Abwesenheit im Lager abgespielt haben musste. Zornig donnerte er los und forderte von den beiden raubeinigen Männern Rechenschaft. Lindrad, der Schari inzwischen zumindest zugedeckt hatte, trat neben ihn.

Das würden Gerwald und Sarolf bitter bereuen!

Dann aber, als die beiden sich zu rechtfertigen begannen, blieb ihm beinahe die Luft weg. Gerwald beschuldigte ihn, Lindrad, an dem ganzen Geschehen Schuld zu sein. Schließlich habe er ja die stumme Frau mit ins Lager gebracht und damit erst den Zorn der Götter aus sie gelenkt. Jeder wisse doch, dass diese Missgeburten magische Kräfte hätten und großen Einfluss auf das Verhalten eines Mannes nehmen könnten. Sarolf und er hätten sich einfach nicht gegen die Anziehung wehren können, die die Zauberin auf sie ausgeübt hätte. Sie wären gar nicht mehr richtig bei Verstand gewesen. Erst, als er ihr schon fast zu Willen gewesen sei, habe er, Gerwald, erkannt, wie sehr ihn Lindrad hintergangen habe. Ja, vielleicht sei dieser auch an dem Übel schuld, das ihr Dorf im letzten Sommer betroffen habe?

 

Ungläubig hörte Lindrad Gerwalds Rede zu, obwohl er die ganze Bedeutung der Anschuldigung noch gar nicht realisieren konnte. Das Mädchen war also wirklich stumm. Lindrad nickte. Eigentlich hätte er so etwas ahnen können, denn in der ganzen Zeit, die sie bei ihm verbracht hatte, war kein einziges Wort über ihre Lippen gekommen, keine Schmerzäußerung, kein Laut der Klage oder der Trauer. Auch Wigberg schien diese Beobachtung gemacht zu haben, denn er stimmte in das Nicken Lindrads ebenfalls ein. Dennoch war er ein Mann mit regem Verstand und nicht gewillt, ein vorzeitiges Urteil abzugeben. Also ließ er sich von Gerwald und Sarolf genauer schildern, wie sie zu dem Ergebnis gekommen waren, dass die junge Frau stumm sein müsse. Immerhin schien sie die Männer doch gut zu verstehen und habe deren Aufforderungen durchaus befolgt.

Während Sarolf berichtete, wurde allen klar, dass Gerwalds Geschichte sich nicht ganz so zugetragen haben konnte, wie dieser es geschildert hatte. Sarolf verstrickte sich mehr und mehr und Ungereimtheiten und nachdem Wigberg sich dessen Gestotter eine Weile angehört hatte, rief er die beiden Unruhestifter energisch zur Ordnung. Nach und nach und unter gehörigem Drängen von Seiten ihres Anführers gab Gerwald schließlich die ganze Geschichte preis. Ja, Sarolf gab sogar zu, dass er es gewesen war, der Gerwald auf die Idee gebracht hatte, die Gefangene für ein wenig Genuss zu benutzen.

Zornig wies Wigberg die beide Männer an, sich vom Feuer nicht fortzubewegen. Er musste Klarheit darüber bekommen, ob das Makel der Stummheit tatsächlich an Lindrads Beute haftete. Erst dann konnte er ein Urteil sprechen. Wenn die beiden Männer recht hatten, würde er das Mädchen töten lassen. Am besten von Lindrad selber, der sie in diese gefährliche Situation gebracht hatte. Wenn sie aber sprechen konnte, würde er von den beiden Männern eine Entschädigung für Lindrad verlangen. Wer wusste schon, ob dieser die verletzte Frau überhaupt bis zum Dorf bringen konnte?

 

Lindrad war während des weiteren Verhörs wieder zu Schari gegangen und hatte versucht, ihr ein wenig beizustehen. Obwohl die junge Frau offenbar nicht mehr ohne Bewusstsein war, schien sie in eine Art Dämmerzustand versunken zu sein, Denn sie reagierte kaum auf seine vorsichtigen Berührungen. Nicht einmal, als er ihr das Blut von dem zerschlagenen Gesicht wischte, bewegte sie sich. Lindrad fluchte still in sich hinein. Eigentlich sollte er ihre Wunden auswaschen und sie verbinden.

Auch, wenn sie tatsächlich nicht sprechen konnte - hier hilflos im Dreck zu liegen hatte sie nicht verdient! Zwar sah auch er den Makel, der in ihrem Schweigen lag, doch so recht mochte er nicht glauben, dass sie deshalb einen Götterfluch in sich trug. Immerhin mussten auch andere diese Ansicht teilen, sonst würde die erwachsene und offensichtlich von ihrem Gefährten geachtete Frau gar nicht hier vor ihm liegen. Über diesen Widerspruch grübelnd, bettete er sie erst einmal auf ihr Bärenfell und legte seinen Mantel auf ihre Blöße. Als Wigberg zu ihm trat, war er bereit, sich seinem Anführer zu stellen.

"Ich habe sie wirklich nicht sprechen hören", gab er leise zu. "Doch das ist kein Grund, eine hilflose Frau so zu behandeln."

 

Seufzend besah sich Wigberg Scharis zerschlagenes Gesicht.

"Vielleicht nicht! Wenn sie aber wirklich magische Kräfte hat und die Männer damit beeinflusst …" Er schwieg zögerlich. Wer wusste schon, wo die Welt, die sie kannten, endete und der Willen der Götter begann? Jeder von ihnen hatte schon in frühester Kindheit gelernt, dass es Unglück brachte, Menschen, die anders waren, im Dorf zu behalten. Wotan sei Dank hatten sie in den letzten Jahren keine solchen Missgeburten mehr gehabt. Dennoch war im vergangenen Sommer ein Fluch über das Dorf gekommen und auch, wenn er Lindrad mochte und ihm nicht Böses wünschte, konnte er dennoch nicht zulassen, dass dessen unbesonnenes Handeln sie alle in Gefahr brachte.

Andererseits war der jüngere Jäger wirklich ein guter Freund und ein ansonsten besonnener Mann. Die Schuld, die Gerwald und Sarolf ihm zuwiesen, würde seinem Ansehen im Dorf unwiderruflich schaden. Es war denkbar, dass Ragin ihn aus der Gemeinschaft verbannte. Man wusste nie, welche Entscheidungen die Götter dem Schamanen einflüsterten oder wem er bei seinen Urteilen den Vorzug gab. Dass er allerdings gegen Gerwald und Sarolf sprach, glaubte Wigberg nicht. Zu oft hatte er die drei Männer zusammen mit Arbogast beieinander sitzen und Pläne schmieden sehen. Durch diese unerwartete Entwicklung war Lindrad in eine schwer einzuschätzende Gefahr geraten. Ja, es mochte sogar sein, dass Ragin ein Opfer forderte, um die Götter zu beruhigen …

 

Wigberg musste es genau wissen. Er hatte keine Zeit, abzuwarten. Hier und jetzt musste geklärt werden, ob Gerwalds Anschuldigungen Bestand hatten. Waren sie erst im Dorf, hatte er keine Möglichkeit mehr, seinen Freund Lindrad zu schützen. Selbst jetzt und hier konnte er nur einen der beiden Beschuldigten retten. Und sein Freund hatte es verdient, unbescholten weiterzuleben.

Über die verletzte Frau wusste Wigberg nichts und so erschien es ihm ganz natürlich, dass er einen Schiedsspruch zugunsten von Lindrad sprechen wollte, ganz gleich, was er noch dafür tun musste.

Achtunggebietend beugte er sich zu der verletzten Frau hinunter.

"Kannst du mich hören?", forschte er nach.

Doch obwohl Schari seine Annäherung wahrnahm, war sie so sehr in ihren Schmerzen und ihrer Benommenheit gefangen, dass sie nicht verstand, was er von ihr wollte, noch war sie in der Lage, ihm durch irgendeine Geste zu antworten.

"Sag etwas!", forderte die Stimme sie auf, doch sie konnte nicht reagieren. Ein Kneifen an der Schulter ging in der Fülle der anderen Schmerzen unter.

Wigberg brummte unmutig und sah dann Lindrad nachdenklich an. Die Zeit drängte. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass Sarolf bereits aufgestanden war und sich ihnen näherte.

"Du weißt, dass ich mir Sicherheit verschaffen muss", versuchte er sein kommendes Handeln zu rechtfertigen. Er musste dieses Mädchen einfach dazu bringen, einen Laut von sich zu geben und wenn er sie vor Schmerzen schreien ließ. Alles war besser, als dass ihre vermeintliche Stummheit Lindrad und ihr zur Last gelegt werden musste.

Widerwillig rang sich der Angesprochene ein Nicken ab. Gegen Wigberg zu sprechen, was auch immer er nun tun wollte, würde die Sache nur noch schlimmer machen.

 

Der Anführer der Jäger sah sich nachdenklich um, dann erhob er sich aus seiner hockenden Position und ging zum Feuer. Mit einem glühenden Ast kam er zurück und zog Lindrads Mantel von der liegenden Frau. Noch ehe dieser irgendeinen Einwand vorbringen konnte, hatte er das Ende des glühenden Holzes auf Scharis Bauch gepresst und ihr zu ihren anderen Verletzungen eine birkenblattgroße Verbrennung hinzugefügt. Auch, wenn sein Freund ihn nun hart beiseite stieß, war das Brandmal schon gesetzt. Sie beide und auch Sarolf hatten deutlich gesehen, wie das Mädchen sich unter den neuerlichen Schmerzen gewunden und lautlos geschrien hatte. Lindrads Gefangene war ohne jeden Zweifel stumm.

 

 

 

Lindrad ging erschöpft in die Knie. Das Grauen des im Dämmerlicht bereits endenden Tages schob sich nur langsam in seinen Verstand. Die Frau, die er am Fluss für sich beansprucht hatte, war stumm. Doch es war nicht so sehr die Tatsache, dass dieses Mädchen nicht sprechen konnte, sondern die unüberschaubaren Konsequenzen, die sich nun für sie und auch für ihn aus diesem Makel ergeben mussten.

Schon sah er, dass sich Sarolf und Gerwald dem Platz näherten, an dem Wigberg vor der jungen Frau stand. Der Freund betrachtete das gequälte, in sich zusammengekrümmte Wesen zu seinen Füßen nachdenklich.

„Sie ist eine Missgeburt!“, begann Sarolf nun bissig zu murmeln und starrte dabei auf den Rücken Wigbergs, der sich noch immer auf die am Boden liegende Frau konzentrierte. „Teiwaz[1] hat sie zu uns geschickt, um unsere Standhaftigkeit zu erproben.“ Er trat ein paar Schritte näher. „Sie wird Kummer und Elend über unser Dorf bringen, wenn wir sie gewähren lassen.“ Schon hatte der Jäger ein Messer aus dem Gürtel gezogen und trat damit gefährlich weit an das Lager der Frau heran. Deutlich ließ er die Klinge in seiner Hand erkennen, als er sich nun direkt Wigberg zuwandte. „Wir müssen dem ein Ende setzen, je schneller, desto besser!“

 

Ungläubig, dass sein Jagdgefährte noch nicht einmal irgendeine Art von Gericht oder Prüfung abwarten wollte, bevor er den Tod von Lindrads Mädchen einforderte, rappelte dieser sich auf. Ja, Ragin hatte ihnen allen wieder und wieder verkündet, dass Menschen, die anders waren, Not und Elend über ihr Volk hereinbrechen lassen konnten. Doch irgendetwas hielt Lindrad davon ab, diese Erklärung unbedacht hinzunehmen. Sein Vater hatte vor Zeiten in einem Zweikampf einen Arm verloren und konnte danach durchaus als ‚anders‘ gelten. Doch er, Lindrad hatte nie auch nur einen Hauch von Not oder Leid durch ihn erfahren müssen. Ebenso war er wie alle anderen durch Waffen oder Wundbrand versehrten Krieger in der Gruppe anerkannt. Wenn die Frau zu seinen Füßen nun auch einen Unfall erlitten hatte und so ihre Sprache verloren hatte …

Lindrad kam auf die Beine und stellte sich schützend vor das schmale Bündel Mensch, um dessen Schicksal der Streit sich drehte. „Wir sollten ruhig und bedacht …“ Doch er kam nicht weit. Drohend kam nun auch Gerwald zu ihnen und baute sich neben Sarolf auf.

„Ruhig und bedacht hättest du in dem Moment sein sollen, wo du sie aufgespürt hast. Ohne sie wären wir heute viel besser dran - hätten Felle erbeutet, Tauschware für neues Saatgut und würden nicht Hals über Kopf aus unseren Jagdgebieten weichen müssen. Besonnenheit ist nichts, das du noch zu fordern das Recht hättest …“, fauchte er.

 

Wieder war es Wigberg, der das Schlimmste verhinderte und die Männer schließlich dazu brachte, sich wieder am Feuer niederzulassen. Längst war ihm klargeworden, dass sein Freund Lindrad die geraubte Frau nicht so schnell aufgeben würde. Ja, es mochte sogar sein, dass er den Gehorsam verweigern würde, sollte Wigberg ihn auffordern, sie zu opfern. Vielleicht hatte der Freund im letzten Sommer zu viel Leid gesehen, als dass er wie früher mit kühlem, berechnenden Kopf handeln konnte? Lindrad war einer derjenigen, die nicht nur die Frau, sondern auch die Kinder verloren hatten. Das lange Alleinsein hatte ihn verändert. Nur zu gut konnte sich der Anführer der kleinen Jagdgemeinschaft vorstellen, dass er die Aussicht auf ein wenig Gesellschaft und vielleicht sogar Zuneigung nicht kampflos aufgeben würde.

Besorgt strich sich Wigberg durchs Haar. Er musste sehr vorsichtig sein mit dem, was er den Männern vorschlug. Erst, wenn sie seine Idee als mögliche Lösung anerkannt hatten, würde er Lindrad verraten, welchen Ausweg er für ihn sah.

„Ihr habt recht“, stimmte er Gerwald und Sarolf listig zu. „Diese Frau darf unser Dorf nicht betreten. Es wäre viel zu gefährlich. Nach dem Fluch des letzten Sommers sind wir viel zu angreifbar. Wir müssen die Götter um jeden Preis gnädig stimmen.“

Ungläubig starrte Lindrad den Sprecher an und holte schon tief Luft, um erbost gegen diese Meinung zu stimmen, als Gerwald triumphierend nickte und sofort losredete. „Wir sollten sie Donar zum Opfer bringen“, schlug er vor. „Der Fluch im Sommer kam mit einem Gewitter. Wenn wir den Donnerer durch ihren Tod gnädig stimmen, werden wir wieder Glück haben und erneut eine gute Ernte einbringen können.“

Sarolf stimmte seinem Kumpan sofort zu. „Wenn wir Donar befrieden, werden auch wir wieder Frieden haben.“

 

Nachdenklich betrachtete Wigberg seine rechte Hand, an der drei schwarze Streifen von getöteten Feinden erzählten. Noch während Sarolfs Rede hatte er Lindrad mit einer strengen Handbewegung Schweigen geheißen. „Es wäre wirklich gut, wenn wir Donar mit einem Opfer befrieden könnten“, gab er zu. Lindrad konnte nur schwer an sich halten und wäre dem Freund um ein Haar trotz dessen eindeutiger Warnung ins Wort gefallen. Noch hielt ihn aber der Respekt vor dem Älteren zurück.

„Einen Gott gnädig zu stimmen, ist immer gut“, fuhr der Anführer der Jäger besonnen fort. „Doch es wird uns nicht von Nutzen sein, wenn wir zwar Donar Gunst erlangen können, dafür aber Frigg mit dem Opfer verärgern. Es lässt sich nur schwer sagen, ob ihr Zorn nicht noch schlimmer wäre als der des Donnerers. Immerhin steht sie direkt neben Wotan.“

 

Stille legte sich über das Lager, als die Männer den Sprecher ungläubig anstarrten. Gerwald und Sarolf wussten nicht, was sie sagen sollten. Hatte Wigberg ihnen nicht zugestimmt? War nicht auch er auf der Seite derer, die das Opfer verlangten? Was konnte ihn nun davon abhalten, wieso sah er Frigg als eine Gefahr bei ihrem Tun?

Es war Lindrad, der als erster verstand, worauf sein Freund hinaus wollte. Nun war es wohl besser, dessen Redegewandtheit und Schläue anzuerkennen und den Mund zu halten, wenn er die erbeutete Frau doch noch retten wollte.

 

„Was bei Donars Eiche hat Frigg damit zu tun?“, ließ sich Gerwald nach einer Eile in verständnislosem Ton vernehmen. „Sie wird doch wohl kaum einen Anspruch auf das Weib erheben können, oder?“

Aufmerksam sahen nun die beiden Ankläger zu Wigberg, dessen Schläue selbst sie widerwillig anerkennen mussten. Neben Ragin gab es kaum einen Mann in ihrem Dorf, der den Götterhimmel so gut kannte, dass er die Wünsche der Asen erahnen konnte.

„Frigg, meine Freunde“, erklärte Wigberg geduldig, „ist die Göttin der Ehe und Mutterschaft.“ Das Stirnrunzeln Gerwalds übersah er großzügig, als er weitersprach. „Und auch, wenn wir nicht wissen, wie es dazu kommen kann, dass ein Mann eine Missgeburt wie diese Frau besteigt, so hat es doch schon vor längerer Zeit einer getan.“ Er schwieg einen Moment lang und ließ seine Worte und auch den versteckten Hohn gegenüber Gerwald in die Sinne der Männer einziehen. „Ihr Bauch ist schon rund“, fuhr er dann gnadenlos fort über das Offensichtliche zu sprechen. „Sie trägt ein Kind in sich und so wie es der Gehörnte nicht dulden würde, dass ihr trächtige Tiere jagt, wird Frigg es nicht hinnehmen, wenn ihr eine Mutter tötet.“

 

Hätte der Blitz in eine der umstehenden Eichen geschlagen, so wären die Männer nicht schockierter gewesen. Gerwald ging so weit, dass er aufstand, zu dem Mädchen eilte und sich vergewisserte, dass Wigberg recht hatte. Zornig schnaufend kam er daraufhin ans Feuer zurück und griff demonstrativ nach einem Stück Braten. Das Fleisch noch halb unzerkaut im Mund, brachte er seine widerwillige Frage nur mühsam hervor: „Was also schlägst du nun vor?“

 

Lindrad spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Von dem, was Wigberg nun sagen würde, hing auch seine Zukunft ganz erheblich ab. Wenn er forderte, dass das Mädchen dorthin zurückgebracht wurde, wo sie herkam … Selbst wenn es ihm, Lindrad gelingen konnte, den Mann, den Jäger zu finden, zu dem sie gehörte … Was würde dieser wohl mit ihm machen, sobald er sah, in welchem schrecklichen Zustand seine Gefährtin war, zumal sie vermutlich sein Kind trug? Der Mann musste vor sich selber zugeben, dass der Gedanke an den Gefährten der geraubten Frau nichts war, was ihn ruhiger stimmte.

Andererseits wollte er auch nicht, dass sie ausgesetzt wurde. Zerschlagen, wie sie war, würde sie in der Kälte des ausklingenden Winters gewiss nicht überleben. Egal, wie er es drehte und wendete, er kam zu keinem Ergebnis, das ihm gefiel. Blieb nur noch Wigbergs überlegener Verstand. Vielleicht hatte der Freund ja eine bessere Lösung? Schon bald jedoch sollte Lindrad einsehen, dass dem offenbar nicht so war.

 

"Es wird Lindrads Aufgabe sein, sich um diesen gefährlichen Ballast zu kümmern", begann Wigberg ungerührt, obwohl sein aufgeregter Freund unwillig bei dem Wort 'Ballast' auffuhr. Mit einer energischen Geste gedeutet er dem Jüngeren zu schweigen.

"Er war es, der die Frau gefunden hat und nun ist es auch an ihm, sie wieder loszuwerden."

Zustimmendes Gemurmel von Seiten Gerwalds und Sarolfs begleitete die Rede, deren Art und Weise Lindrad mehr kränkte als die Tatsache, dass es ihm allein überlassen bleiben würde, sich um das Mädchen zu kümmern. Aber dass sein Freund ihn auf diese Art und Weise bloßstellte, verletzte ihn nicht wenig. Eigentlich hatte er Wigberg für einen Mann gehalten, dem er vertrauen konnte. Doch die Furcht vor den Göttern schien stärker zu sein als ihre Freundschaft. Das wurde bald noch deutlicher, als der Anführer festlegte, dass Lindrad schon am kommenden Morgen aufbrechen sollte, um seine Beute zurück an ihren Fundort zu schaffen. Dort würde er die Frau dann der Gerechtigkeit der Götter überlassen, was hieß, dass er sie aussetzen musste. Waren die Götter ihr gnädig, konnte man darauf vertrauen, dass sie ihr ihren Gefährten schickten. War sie, wie es Gerwald und Sarolf annahmen, eine von den Ewigen verlassene Missgeburt, die nur durch Glück bisher der Strafe entgangen war, so würden die Götter sie schon richten.

 

"Du aber, Lindrad", schloss Wigberg, "hast das Wohl unseres Dorfes für einen Frauenrock aufs Spiel gesetzt. Auch das darf ich nicht ungesühnt lassen."

Der so Angesprochene hatte bereits mit einem Urteil über sich selbst gerechnet. Wenn Wigberg derart hart strafte, würde er den Auslöser des Problems nicht ungeschoren davonkommen lassen. Lindrad richtete sich stolz auf und sah seinem Gegenüber direkt in die Augen. Er war kein Feigling, der vor seinem Urteil Angst hatte!

Wigberg nickte anerkennend.

"So höre also, Lindrad, wie mein Urteil über dich ausgefallen ist. Durch deine Unbesonnenheit war die Sicherheit unserer Familien in Gefahr. Sie sollen aber keine Bedrohung mehr in dir sehen, wenn du ihnen wieder gegenüberstehst. Nur die Zeit kann ihnen ihre Angst nehmen. Deshalb sei es dir bei deinem Leben untersagt, vor dem nächsten Frühjahr in unser Dorf zurückzukehren. Bis dahin werde ich über deinen verbliebenen Besitz wachen. Wann immer du dein Hab und Gut nach diesem Jahr zurückforderst, wird es dir gehören."

 

Wigberg sah das triumphierende Grinsen auf Gerwalds Gesicht ebenso wie den Spott in Sarolfs Augen, als diese den Verurteilten eindringlich musterten. Lindrad jedoch sah nur Wigberg in die Augen, als er nickte.

"Ich nehme dein Urteil an", stimmte er zu, "auch, wenn ich mich nicht schuldig bekenne. Ich konnte nicht wissen, dass diese Frau stumm ist und wir alle hier waren der gleichen Ansicht, dass unser Dorf dringend Frauen braucht."

Der Anführer der Jäger nickte verständnisvoll. "Das weiß ich, Lindrad, und ich habe es bei meiner Entscheidung über dich mit bedacht. Doch schützt Unwissenheit nicht vor Fehlern und so sei es für uns alle eine Warnung vor unbesonnenem Handeln." Er nickte dem Freund zu und machte ihm eine kleine, unauffällige Geste, es auf sich beruhen zu lassen. "Geh jetzt und stell euer Gepäck zusammen. Bei Sonnenaufgang müsst ihr aufbrechen."

 

Während Lindrad nun der Anweisung folgte und seine Reittiere fütterte, Proviant und Zaumzeug kontrollierte und seine Waffen schliff, durchforstete auch Wigberg seine Vorräte auf der Suche nach einem kleinen Lederschlauch, den er mitgenommen hatte, um vielleicht eine besonders erfolgreiche Jagd zu feiern. Nun musste der Met darin dafür sorgen, dass Lindrad einen ordentlichen Vorsprung bekam und dass er, Wigberg, ihm vorher noch jene Ratschläge mitgeben konnte, die ihm und seinem stummen Mädchen das kommende Jahr erträglich machen würden.

"Lasst uns darauf trinken, dass wir unser Dorf vor neuen Gefahren geschützt haben", verkündete er vollmundig, als er ans Feuer zurückkehrte. Großzügig reichte er den Trinkschlauch an Gerwald, der den wachsumhüllten Stöpsel auch sogleich zog und mit einem kräftigen Schluck des starken Mets seine Kehle befeuchtete. Sarolf tat es ihm nach und während beide ordentlich zulangten, aß auch Wigberg ausgiebig, blieb aber beim Trinken zurückhaltend und nippte jeweils nur leicht an dem Schlauch, wenn er ihm gereicht wurde. Nach und nach wurden seine beiden Trinkkumpane redselig und prahlten mit ihren Großtaten. Noch war der Abendstern nicht am Horizont verblasst, als beide friedlich am Feuer schnarchten. Der Anführer der kleinen Gruppe wartete noch geduldig, bis eine Zeitspanne verstrichen war, die ihm sicher genug erschien, seinen Plan nun auszuführen.

 

Vorsichtig weckte er Lindrad, der sich neben seiner verletzten Gefangenen niedergelegt hatte, ganz offensichtlich, um sie mit seiner Körperwärme vor der Kälte der Nacht zu schützen. Als der Freund sich überrascht vom Lager erhob, unterließ er es dabei nicht, die Frau neben sich in seine Felldecke einzuhüllen. Wigberg musste lächeln. Es war so offensichtlich, dass er richtig gehandelt hatte. Sein Freund würde das Mädchen auf jeden Fall schützen wollen, ganz egal, was er dafür in Kauf nehmen musste. Und es gab im Dorf nicht viel, dem er nachtrauern würde. Nach dem Tod seiner Frau und ihrer zwei Kinder war Lindrad niemand geblieben, den er als seine Familie betrachten konnte. Hab und Gut allein aber machten nicht glücklich.

 

Umsichtig führte er seinen Freund aus der Hörweite der beiden Trinker am Feuer. Auch, wenn sich Wigberg ziemlich sicher war, dass die Beiden erst erwachen würden, wenn die Sonne schon hoch stand, wollte er ganz sicher gehen, dass sie nicht ungewollt belauscht würden. Dann aber, als sie schon außer Sichtweite des Lagers waren, kam er zu dem, weswegen er Lindrad geweckt hatte.

"Ich konnte vor Sarolf und Gerwald nicht anders sprechen", versuchte er sich an einer Erklärung seines vorherigen Urteils. "Du weißt, wie sie sind. Wenn ich dich nicht verbannt hätte, wären sie sofort zu Ragin gelaufen und hätten ihm wer-weiß-was erzählt. Ich bin mir sicher, dass sein Urteil dir gegenüber viel härter ausgefallen wäre."

Nachdenklich betrachtete Lindrad seinen Freund. Aus der Perspektive hatte er dessen Urteil noch gar nicht bedacht. Und, wenn er ehrlich war, hatte Wigberg mit seinen Worten durchaus recht. Sein Freund, er selbst und ein paar andere Männer mit fortschrittlichen Gedanken waren bei Ragin nicht allzu gut angesehen. Wenn der Schamane eine Gelegenheit erkannt hätte, sich seiner geschickt zu entledigen und den anderen damit gleichzeitig eine Warnung auszusprechen - Ragin hätte garantiert nicht gezögert, ihn vor dem Dorf zu verurteilen. Eine Verbannung für begrenzte Zeit wäre wohl noch das Gnädigste gewesen, was er hätte erwarten können.

 

Lindrad nickte, um seinem Freund zu bestätigen, dass er mit ihm einer Meinung war. Dennoch war das Urteil hart - hart vor allem für die unschuldige Frau, die es an seiner Stelle traf. Das auszusprechen unterließ Lindrad zwar, doch Wigberg wusste auch so, was sein Gegenüber dachte.

Er lächelte leicht und fuhr sich mit einer Hand über das Kinn. "Du hast genau zugehört, was ich von dir verlangt habe?", forschte er dann nach.

Als Lindrad das bestätigte, ließ er ein verschmitztes Grinsen sehen. "Ehrlich gesagt, glaube ich das nicht!", widersprach er.

"Ich bringe sie zurück in die Berge", erläuterte Lindrad, inzwischen schon eher ungeduldig, "zurück an den Fluss und setze sie dort aus." Zornig inzwischen ballte er beide Hände zu Fäusten, wütend darüber, dass er am Schicksal des Mädchens so gar nichts mehr ändern konnte. "Dann verschwinde ich für ein Jahr und komme irgendwann zu euch zurück, als sei nichts gewesen!"

 

Bei Lindrads zorniger Rede hatte sich Wigberg bald auf die Unterlippe gebissen, um seinen Freund nicht zu schnell zu unterbrechen. Jetzt aber, als er sah, dass dieser seine Wut kaum mehr unter Kontrolle hatte, legte er ihm versöhnlich eine Hand auf die Schulter.

"Ganz so habe ich es nicht gesagt", korrigierte er ihn. "Bring sie dorthin zurück, wo sie herkam - das muss nicht das Tal in den Bergen sein", ließ er sich nun auf eine Erklärung ein. "Sie kam auch von unserem letzten Lagerplatz, oder nicht?"

Lindrad nickte, schien ihn aber noch nicht zu verstehen. Also wurde Wigberg deutlicher. "Wenn es nach mir geht, würde ich dir nicht empfehlen, sie in die Berge zurückzubringen. Wer weiß, ob dort noch irgendjemand ist, der sich ihrer Verletzungen annehmen könnte? Doch du musst ein Stück zurückreiten, bevor du, was ich dir dringend anraten möchte, nach Norden weiterziehst. Lass deine Frau in unserem letzten Lager ein wenig ausruhen, wende ihr eine Zeitlang den Rücken zu. Und dann kehre zu ihr zurück! Niemand hat gesagt, dass nicht du ihr von Frigg gesandter Schutz sein darfst, wenn du es denn möchtest."

 

Wigberg sah erleichtert zu, wie sich Lindrad bei seiner Rede mehr und mehr entspannte. Der Freund hatte tatsächlich geglaubt, dass er, Wigberg, ihn heute im Stich lassen würde. Freundlich legte er ihm eine Hand auf die Schulter.

"Du weißt, ich bin viel herumgekommen, bevor mich Gelsa[8] für sich gewonnen hat und ich sesshaft wurde. Ungefähr einen halben Mondumlauf von hier Richtung Norden gibt es einen Stamm, der sich von uns ganz erheblich unterscheidet. Sie haben ihre Siedlung auf der Kuppe eines Berges aufgeschlagen. Man sieht sie weithin. Doch sie ist nicht so ungeschützt, wie man vielleicht von weitem denken könnte - du wirst es selber sehen, wenn du dorthin kommst. Was sie aber besonders auszeichnet, ist, dass sie in Menschen, die anders als der Großteil sind, die verwirrt, verkrüppelt oder auch stumm sind, ein Zeichen der Götter an sich sehen. Sie nennen sie Götterkinder und nehmen sie in ihren Stamm auf, ja sie verehren einen Teil der so Gezeichneten sogar, weil sie glauben, dass aus ihrem Mund die Ahnen oder die Ewigen sprechen."

 

Wigberg schwieg und Lindrad betrachtete den Älteren staunend.

"Du hast wirklich an alles gedacht!", gab er nun unumwunden zu. "Ich werde zu diesen Bergbewohnern gehen. Und ich werde meine Frau dorthin mitnehmen. Ich will daran glauben, dass du auch heute die Wahrheit sprichst und mich nicht ins Unglück schickst. Du bist mein bester Freund, Wigberg! Ich vertraue dir!"

 

Doch es war nicht so einfach die Gruppe zu verlassen, wie Lindrad es sich nach dem Gespräch mit Wigberg vorgestellt hatte. Vielleicht war es Zufall und der Druck einer vollen Blase hatte Gerwald wirklich geweckt, wie es der Jäger vorgab, vielleicht hatte der Mann aber auch weniger getrunken, als sie gedacht hatten.

Nachdem er sich ein wenig abseits vom Lager erleichtert hatte, trat er jedenfalls fröstelnd an den Ort, an dem Lindrad neben Schari ruhte. Verständnislos musterte er das Bild, das sich ihm bot - das stumme Mädchen im schützenden Arm des Jägers.

"Du willst diesem jämmerlichen Fehler der Natur also wirklich den Vorzug geben?", blaffte er heraus, als ihm langsam klarwurde, was er da vor sich sah. Den Liegenden mit seinem Blick fixierend, kam er näher. "Ich verstehe dich nicht, Lindrad", fuhr er dann fort. "Du hast doch wirklich ein gutes Leben im Dorf gehabt. Wieso kannst du nicht einfach so sein wie wir anderen? Wieso musst du unsere Welt immer in Frage stellen, hmm?"

 

Der so Angesprochene nahm sich nicht die Zeit, die Frau neben sich wieder zuzudecken. Ruckartig sprang Lindrad auf, um sich Gerwald zu stellen. Er befürchtete das Schlimmste. War der Andere gekommen, um doch noch das Opfer zu vollziehen, das Wigberg mit seinem Urteil hatte abwenden wollen? Schützend stellte er sich vor die Frau am Boden, die sich trotz aller Schmerzen nun aufzurichten bemühte und versuchte, trotz der zugeschwollenen Augen etwas zu erkennen. Tastend fuhr sich das Mädchen über das verunstaltete Gesicht, während es von Gerwald wie ein lästiges Insekt gemustert wurde.

 

"Sieh dir doch an, was du bekommst, wenn du mit ihr davongehst", bohrte dieser weiter nach. "Sie kann nicht mit dir sprechen, sie trägt das Kind eines anderen, ja sie wird vielleicht sogar eine Missgeburt zur Welt bringen, wie sie selber eine ist." Spöttisch lachte der Redner auf. "… wenn sie sich überhaupt so lange auf den Beinen halten kann. Was also hindert dich, ihr den Dolch über die Kehle zu ziehen und diesen Unsinn hier ein für allemal zu beenden?"

 

Abwartend stand Gerwald vor Lindrad und dieser bedachte sich genau, bevor er antwortete. Wenn er den jähzornigen Mann zu sehr reizte, würde er alles noch schlimmer machen. Doch er wollte auch nicht als ein Verlierer scheiden, der er aus seiner Sicht nicht war.

"Ich wusste nicht, was sie ist, als ich sie fand", stellte er noch einmal klar. "Doch nun, da ich sie aus ihrer Heimat und von ihrem Gefährten fortgerissen habe, muss ich auch meine Pflicht ihr gegenüber erfüllen. Und wenn diese Pflicht darin besteht, sie in die Berge zurückzubringen, so soll es so sein. Ich will die Götter nicht noch mehr erzürnen und mir vielleicht Friggs Unmut zuziehen, indem ich gegen das Urteil verstoße. Ich werde Wigbergs Rechtsspruch folgen. So die Götter mir wohlgesonnen sind, werde ich in einem Jahr zu euch zurückkehren."

 

Man sah Gerwald an, dass er mit dieser Rede nicht zufrieden war. Vielleicht hatte er ja mit einer unbesonneneren Reaktion des anderen gerechnet? Knurrig ließ er seinen Unmut hören. Dann aber, nachdem er Schari ein letztes Mal gemustert hatte, beugte er sich an Lindrad vorbei zu ihr hinunter und zog ihr mit einem schnellen Ruck das Bärenfell von den Schultern. Zufrieden registrierte er dabei ihr ängstliches Zusammenzucken. Die Faust um das Fell geballt, hielt er Lindrad seine Beute provozierend entgegen.

"Wenn ihr die Götter wohlwollen, wird sie das hier ja kaum brauchen", drohte er. "Sieh es als kleine Wiedergutmachung für all jene Felle, die wir wegen dir nicht erbeuten konnten." Mit einem letzten Blick auf die zitternde Frau zu seinen Füßen, wandte er sich ab. "Wenigstens einer kann dann heute Nacht warm schlafen!"

 

Nach diesem Zwischenfall fand Lindrad keine Ruhe mehr. Zunächst hatte er sein Mädchen einfach in die verbliebene Decke gehüllt, an der Gerwald offenbar kein Interesse gehabt hatte. Dann war ihm aber der Gedanke gekommen, dass er nun, da die Frau wieder wacher war, besser nach ihren Verletzungen sehen sollte. Leise hatte er ihr erklärt, was er tun wollte und wirklich hatte sie zugelassen, dass er sie entblößte, wusch und dann zumindest ihre Rippen mit einem festen Lederstreifen bandagierte. Vorsichtig hatte Lindrad auch nach ihrem Bauch gefühlt und war für diese Berührung mit einem winzigen Ruckeln des Kindes belohnt worden. Dem Kleinen, egal, ob es nun ein Junge oder ein Mädchen sein mochte, ging es zumindest gut. Still atmete Lindrad auf und auch die Frau in seinen Armen schien die Kindsbewegung gefühlt zu haben, denn sie legte eine Hand auf die Stelle, an der er die Bewegung gespürt hatte.

 

"Es geht ihm gut", flüsterte Lindrad an Scharis Ohr. "Es hat das alles gut überstanden." Er strich das lange Haar der Frau aus ihrem Gesicht und fuhr ihr mit einem feuchten Stück Leinenstoff über die geschwollenen Lider. "Und auch das hier wird bald besser werden", versicherte er ihr. "Sie werden dir nichts mehr tun. Ich werde dich von hier wegbringen."

 

Und das, was er im Dunkel der Nacht versprochen hatte, tat Lindrad dann auch, sobald ein leichter Schimmer erster Dämmerung seinen Weg erhellte. Gerwald war inzwischen in einen festen Schlaf versunken - das zu Unrecht geraubte Bärenfell schien ihn gut zu wärmen - und auch Sarolf schlief noch immer tief. Wigberg aber, dem der letzte nächtliche Streit nicht entgangen war und der von Lindrads Besonnenheit sehr beeindruckt gewesen war, erhob sich, um von seinem Freund Abschied zu nehmen. Zusätzlich zu den schon am Abend bereitgelegten Vorräten drückte er dem überraschten Mann eine seiner beiden Lederdecken in die Hand, die von der Nacht noch warm war. Zu zweit unter einer Schafwolldecke konnten das scheidende Paar der Kälte des zeitigen Frühlings kaum trotzen. Er aber, Wigberg, würde bald wieder in der Wärme seiner Hütte sitzen. Noch einmal ließ er Lindrad versprechen, nach dem kommenden Jahr ins Dorf zurückzukehren oder zumindest eine Botschaft zu senden. Dann half er dem Freund, sich hinter der stummen Frau auf seine Stute zu schwingen. Wigberg reichte ihm das Halfter des Packpferdes. Ein leichter Schlag auf dessen Kruppe brachte das gutmütige Tier zum Losgehen und schon bald verschwand Lindrad im Dunkel des frühmorgendlichen Waldes.

Seufzend ging Wigberg zurück ans Feuer und legte sich zwischen die anderen Schläfer. Nun musste er nur noch dafür sorgen, dass diese beiden Hitzköpfe nicht auf die Idee kamen, seinem Freund zu folgen.

 

Zwei Tage lang hatte die junge Frau ohne eine Regung vor Lindrad auf dem Pferd gesessen. Nachdem sie am Mittag des ersten Tages an ihrem ehemaligen Lagerplatz angekommen und dort abgesessen waren, hatte sich der Jäger an Wigbergs Vorschriften gehalten und war für eine kurze Zeit weggegangen, um den Göttern die Möglichkeit zu geben, sein Handeln zu korrigieren, falls er in ihren Augen Unrecht tat. Leise hatte er für das Wohlergehen des Mädchens gebetet, während er in den Wald geschritten war.

Dann, als er glaubte, dass genug Zeit verstrichen war und er zurückkehren konnte, musste er feststellen, dass sie sich kein bisschen vom Fleck gerührt hatte. Sie ließ sich von ihm aufs Pferd heben, stieg ab, wenn er das wollte, aß, was er ihr vorhielt und gab sonst mit keiner Geste, keiner Regung in ihrem vollkommen verschlossenen Gesicht zu verstehen, dass sie ihre Umwelt wahrnahm. Abends hatte er ihre Wunden verbunden und als er versehendlich mit dem Ellenbogen über ihre Brandnarbe am Bauch strich, war sie selbst bei dieser schmerzhaften Berührung stumm geblieben, als wäre ihr Körper gar nicht zu ihr gehörig.

 

Auch jetzt, als er sie am Abend des zweiten Tages ihrer Reise von seiner Stute hob, zeigte sie keine Anteilnahme. Auf seine Geste hin setzte sie sich willenlos auf die Erde und ließ es zu, dass er ihr eine Decke um die Schultern legte. Langsam wusste Lindrad nicht mehr, ob es richtig war, was er hier tat. Zu verletzt erschien ihm das Mädchen, als dass er, der in diesen Dingen gänzlich unerfahrene Jäger, ihr hätte helfen können. Fast schien es, als hätte sich ihr Geist aus ihrem Körper zurückgezogen. Und wenn er ehrlich war, konnte Lindrad das sogar recht gut verstehen.

 

Nur sehr ungern ließ er sie jetzt im Dämmerlicht ganz allein an dem kleinen Lagerfeuer sitzen. Doch er hatte auch keine Wahl. Die Vorräte gingen schnell zur Neige und er musste zumindest kurz auf die Jagd gehen oder eine andere Nahrungsquelle finden. Vielleicht konnte er an dem nahen See einige Fische mit dem Speer erlegen? Innerlich nickte Lindrad sich zu. Fischen war bestimmt die schnellste Möglichkeit, an ein Abendessen zu kommen. Mit ein paar Resten des alten Brotes würde er hoffentlich bald Erfolg haben …

Leise erklärte er der stillen Frau am Feuer, was er tun wollte. Dann ging er davon, um seine Pläne in die Tat umzusetzen.

 

Lindrad stand noch nicht lange reglos mit erhobenem Speer im knietiefen Wasser, als er dort, wo das Schilf in einen Streifen Sandboden überging, eine leichte Bewegung beobachtete. Die Aufmerksamkeit des Kriegers wandte sich dem schmalen Strand zu. Würde er tatsächlich heute so viel Glück haben und ein frühes Reh kam trotz seiner Anwesenheit zur Tränke? Lindrad fasste seine Waffe ein wenig fester und hob den Eschenschaft mit der scharfen Bronzespitze noch eine Handbreit höher.

Was würde er gleich zu Gesicht bekommen? War es eine jagdbare Beute?

 

Doch als der gespannt wartende Jäger nun sah, was oder besser wer nun vorsichtig in das kalte Wasser hinein trat, erstarrte er nicht aus Vorfreude auf eine Jagd. Ohne ihn auch nur andeutungsweise zu beachten, schritt die von ihm geraubte Frau zügig hinein in den eiskalten See. Noch im Gehen griff sie nach dem Sand des weichen Grundes und begann, sich gründlich zu waschen. Im Dämmer der untergehenden Sonne schimmerte ihre helle Haut wie Elfenbein. Ihr braunes Haar hob sich stark von ihrer Blässe ab und ließ sie wie eines jener fremden Wasserwesen erscheinen, von denen ihre alten Sagen erzählten.

Gebannt starrte Lindrad zu dem Mädchen, das ihn bislang noch nicht bemerkt hatte. Inzwischen stand sie bis zu den Hüften im Wasser und schrubbte noch immer ihren sicher bereits vor Kälte zitternden Körper. Sollte sie sich nicht mehr beeilen? Doch die Frau schien das eisige Wasser nicht zu stören. Immer wieder beugte sie sich tief hinab, um Sand für ihre Wäsche zu ergreifen. Immer wieder fuhr sie sich damit über den Brustkorb und ebenso oft rieb sie sich kraftvoll, fast wie von Sinnen, zwischen ihren Beinen. Und bei diesem energischen Tun, bei dem ihre Schultern unkontrolliert zuckten, verstand nun auch Lindrad, was er da sah. Vor sich hatte er ein zutiefst gedemütigtes, verletztes Wesen, das versuchte, den Schmutz der erzwungenen Vereinigung und der ungewollten Berührungen von sich abzuwaschen, das vielleicht ebenso versuchte, damit die Erinnerungen loszuwerden, die sich in ihren Verstand gebohrt haben mussten. Was, bei Frigg, hatte er nur getan?

 

Lindrad wusste zwar, dass er sie möglicherweise erneut erschrecken würde, wenn er jetzt zu ihr ging. Doch er konnte sie auch nicht weiter in dem eisigen Wasser stehen lassen.

Entschlossen ging er zunächst selbst an Land und stieß seinen Jagdspeer in den weichen Frühlingsboden. Dann ergriff er seinen Mantel, den er neben seiner Beinkleidung am Ufer

zurückgelassen hatte und ging hinüber, wo das Schilf vom Sand abgelöst wurde.

 

Laut räusperte sich der Mann, bevor er entschlossen ins Wasser trat. Die kältezitternde Frau vor ihm zuckte zusammen, als sie den Ankömmling hinter sich hörte und fuhr herum. Angstvoll bedeckte sie ihre Brust mit beiden Händen und trat ein paar Schritte zurück - tiefer in den kalten See hinein.

Lindrad blieb sofort stehen. Sie durfte nicht noch mehr auskühlen, sollte endlich aus dem See heraus. Mit leisen, gütigen Worten rief er sie zu sich, versicherte ihr, dass sie von ihm nichts zu befürchten habe. Doch die Frau rührte sich nicht. Wie vom Donner gerührt stand sie in dem stillen Waldsee.

Lindrad war unsicher. Wenn er jetzt zu ihr ging, würde er vielleicht noch mehr kaputtmachen, als sie es schon getan hatten. Und er wollte dieser Frau nicht weiter wehtun. Wenn er sie aber einfach im Wasser stehenließ, konnte sie schwer erkranken, zumal sie schon so verletzt war. Auch das konnte er nicht in Kauf nehmen!

 

Also streckte der Jäger vorsichtig eine offene Hand nach dem verschüchterten Mädchen aus und fuhr fort, ihr gut zuzureden. Dabei ging auch er nun langsam immer tiefer in das Wasser hinein. Die hellen Augen der Frau, deren Namen er noch nicht kannte, musterten ihn aufmerksam. Dann, als er noch gute vier Schritte von ihr entfernt war, wartete Lindrad. Noch einmal wollte er sie nicht erschrecken.

"Komm her, meine Schöne!", forderte er sie auf. "Komm her und lass mich dich aus der Kälte bringen." Mehrmals musste er seine Aufforderung wiederholen. Doch dann kam das Mädchen mit den hellen Augen zögernd nähe. Lindrad ergriff entschlossen die schüchtern ausgestreckte Hand und führte sie sicher ans Ufer. Ohne sich noch näher mit den verführerischen Formen ihres Körpers zu befassen, hüllte er die Zitternde in seinen Mantel ein, warf ihr dann noch die von ihr mitgebrachte Decke über und hob sie kurzerhand in seine Arme. Als er spürte, wie sie sich versteifte und gegen seine Gegenwart zur Wehr setzte, ließ er sie noch einmal zurück auf ihre Füße gleiten. Dabei hielt er ihre Schultern fest, dass sie ihn ansehen musste.

"Ich werde dir nichts tun", versicherte er ihr. "Ich verspreche es bei allen Göttern, die mir heilig sind, bei Odin, wenn du das willst. Aber du musst zurück an die Wärme unseres Feuers, wenn du nicht krank werden willst. Und wenn ich dich jetzt dorthin trage, geht das viel schneller, als wenn du läufst."

Er sah ihr in die tiefblauen, ungläubigen Augen und versuchte sich an einem Lächeln. "Lass mich das für dich tun. Du hast viel mehr als das verdient."

 

Als das Mädchen nun nachdenklich nickte, spürte Lindrad, wie die unerträgliche Anspannung der letzten Tage zumindest ein wenig von ihm abfiel. Sie war wieder da, war mit ihrem Geist, ihrem Verstand in diese Welt und irgendwie auch zu ihm zurückgekehrt. Er wollte diesen Fortschritt als ein gutes Omen sehen, das ihm Zuversicht für die Zukunft gab.

Schwungvoll hob er die Frau in seine Arme, zog sie dicht an sich und kehrte mit ihr zurück zum Feuer. Nun würden sie keinen frischen Fisch braten können, sondern mit ein paar Streifen Trockenfleisch vorlieb nehmen müssen, doch das war dem Jäger erst einmal egal. Er setzte seine wertvolle Last vorsichtig neben den noch glimmenden Holzkohlestückchen ab und begann dann sofort, das Feuer neu zu schüren.

 

"Ich möchte, dass du weißt, wie meine Pläne für uns aussehen", begann er nach einer stillen Bedenkzeit. "Doch bevor ich dir davon erzähle, würde ich gern deinen Namen wissen." Nachdenklich sah er die stumme Frau an. "Es muss doch eine Möglichkeit geben, wie man sich mit dir verständigen kann, oder?"

Das Mädchen nickte, nun schon ein wenig eifriger bei der Sache. Sie machte ein paar sehr beredte Gesten mit den Händen und Lindrad begriff, dass sie sich offenbar durch Handbewegungen mit ihren Leuten unterhielt. Er lachte überrascht. Wieso war er da nicht schon viel eher draufgekommen? Immerhin war das etwas, was sie alle fast immer taten - ihre Worte mit Gesten unterstreichen.

Mit dem Zeigefinger aus seine Brust deutend stellte er sich nochmals vor. "Ich bin Lindrad."

Das Mädchen nickte und bewegte dann spielerisch ihre Hände, als wolle sie einen großen Baum in die Luft malen. Dann deutete sie auf ihn.

Lindrad nickte fröhlich. "Ja, man hat mich nach dem Lindenbaum benannt. Aber es bedeutet auch soviel wie Ratgeber." Er machte eine kurze Pause. "Doch jetzt bist du dran", fuhr er danach fort. "Wie heißt du?"

Mit einem Mal verschwand das schöne, leichte Lächeln aus dem Gesicht der jungen Frau und wich angespannter Konzentration. Lange schwieg das Mädchen, bewegte dabei hin und wieder unsicher ihre Hände und schien immer trauriger zu werden. Dann sah sie ernst zu ihm auf und schüttelte den Kopf. Eine einzelne Träne lief über ihre Wange. Sie hatte keine Möglichkeit, ihm ihren Namen zu nennen. Lindrad nickte getroffen. Es gab Namen, deren Bedeutung man nicht mit den Händen nachspielen konnte. Das verstand er. Doch er begriff auch, dass er ihr mehr als nur ihr Zuhause entrissen hatte. Er hatte ihr sogar ihren Namen genommen. Als ihre Tränen nun stärker flossen, weil sie auch die Bedeutung dieser Unfähigkeit einsah, nahm er sie vorsichtig in den Arm.

"Wir werden deinen Namen herausfinden", versicherte er ihr leise.

Dann kam Lindrad eine Idee, von der er hoffte, dass sie seinem Mädchen gefallen würde. Innerlich lachte er sich noch jedesmal aus, wenn er sie an sie als "sein Mädchen" oder "seine Frau" dachte, denn das war sie noch lange nicht. Doch er konnte auch nicht anders. Stirnrunzelnd vertrieb er den unliebsamen Gedanken, dass ihr Jäger ihnen vielleicht längst auf der Spur war.

"Bis ich aber weiß, wie du wirklich heißt, möchte ich dich Ostara nennen", fuhr er leise fort und dachte einen Moment nach. Dann korrigierte er sich sofort. "Natürlich nur, wenn du es auch willst, meine ich. Aber es ist der Name der Frühlingsgöttin und du bist im Frühling zu mir gekommen. Er würde großartig zu dir passen!"

 

Auch, wenn der Name Schari verunsicherte, war er besser, als namenlos zu bleiben. Also nickte sie lebhaft, als Lindrad ihr diese Idee vortrug. Und so kam es, dass an diesem Abend aus dem Mädchen mit den blauen Augen Ostara wurde. Und auch, wenn sie schon am nächsten Morgen beizeiten weiterzogen, blieb ihr der Ort ihrer Namensgebung im Gedächtnis. Hier hatte der fremde Jäger erstmals voller Freundlichkeit versucht, mit ihr in Kontakt zu kommen. Ja, es stimmte. Harl war auch in Sachen Handzeichen und Unterhaltung viel geschickter und geduldiger als dieser Lindrad. Doch Schari oder Ostara, wie sie sich nun manchmal selber korrigierte, hatte auch keine große Wahl. Für ihr Kind musste sie den Weg in den Norden überleben. Und außer Lindrad gab es keinen, der ihr dabei von Nutzen sein konnte. Sie war auf den Jäger angewiesen und so versuchte sie, ihre Trauer um Harl und ihr verlorenes Glück jeden Tag wieder zu verdrängen und sich auf Lindrads Freundlichkeit einzulassen.

 

Der Jäger wiederum war klug genug, dass er seine Ostara zu nichts drängte. Noch trug sie das Kind eines anderen Mannes und würde die Erinnerung an Vergangenes nicht so schnell ablegen können. Also wollte Lindrad ihr Zeit lassen, sich an ihn als ihren neuen Gefährten zu gewöhnen. Auch, wenn es ihm manchmal sehr schwer fiel, Abstand zu wahren, sollte sie es sein, die sich ihm zuerst näherte.

So reisten sie mit sehr unterschiedlichen Wünschen und Träumen immer weiter nach Norden und obwohl sich Lindrad Zeit ließ und auch auf das Kind Rücksicht nahm, dass seine Frau unter ihrem Herzen trug, erreichten sie nach nicht ganz einem Mondumlauf jene Ebene, hinter der wie ein flacher Kegel am Horizont der Kahle Berg in den Himmel ragte. Dort oben, dicht über der Baumgrenze lag jene Siedlung, in der nach Wigbergs Worten das Volk wohnte, das Ostara akzeptieren würde. Beide waren gespannt auf die fremde Gruppe. Doch da, wo in Ostaras Gesicht nur frohe Erwartung lag, weil auch schon ihr Vater von solchen Menschen erzählt hatte, mischten sich in Lindrads Erwartungen auch Sorge und Angst um das Wohlbefinden der Frau, die er inzwischen schon ziemlich ins Herz geschlossen hatte. Nur langsam ließ er Eila ins Tal hinabgehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Harls Wege

 

Harl hatte viel Spuren gefunden - zu viele, um an ihnen erkennen zu können, wohin die Fremden Schari gebracht hatten. Eine Zeitlang war Tatze ihm noch eine gute Hilfe gewesen - mit seiner feinen Nase waren ihm auch kleine Hinweise nicht entgangen, die er als Mensch nie hätte wahrnehmen können.

Doch dann, nach fünf langen Tagen, waren sie an eine Stelle gekommen, an der selbst der kleine Wolf versagt hatte. Ein Lager, ein Gewimmel aus frischeren und älteren Spuren, die sich in mehrere Richtungen verstreuten - Harl konnte nicht erkennen, welche der Fährten diejenige war, der er folgen musste. Nachdenklich hatte er in der kalten Asche eines vergangenen Feuers gestochert und überlegt, was er jetzt tun sollte. Alleine zurückkehren in die trostlose Höhle in den Bergen? Nein! Daran wollte er gar nicht denken! Doch einfach willkürlich einer der Spuren zu folgen, erschien ihm ebenso sinnlos. Es war sowieso sehr wahrscheinlich, dass auch diese Spur bald von anderen Fährten gekreuzt würde. Je näher er an die Siedlungen kam, umso mehr Wege und Pfade würde er finden.

 

Aber waren nicht gerade die Siedlungen auch eine Möglichkeit, nach Schari zu suchen? Ein paar Mal war Harl in jedem der drei Dörfer gewesen, die in der Ebene nahe des Gebirges lagen. Vermutlich waren die Jäger - und etwas anderes konnten die Fremden aus Harls Sicht nicht sein - aus einer der Siedlungen gekommen und würden dorthin auch zurückkehren - zusammen mit Schari. Wenn er die Dörfer einfach der Reihe nach aufsuchte … Der einsame Mann wusste, dass er sich beeilen musste, um Schari so schnell wie möglich wieder beschützen zu können. Dass die Dorfmenschen seine stumme Gefährtin in ihrer Mitte freundlich willkommen heißen würden, glaubte er, wenn er nüchtern darüber nachdachte, nicht. Also ließ Harl die Fährten Fährten sein und nahm den direkten Weg zu jener Siedlung, die für ihn am schnellsten zu erreichen war.

 

Zwei Tage später hatte Harl den Gebirgswald hinter sich gelassen. Mehr und mehr hatte er das Gefühl, dass die Zeit drängte. Schon war er auf die ersten breiteren Wege gestoßen und einen Tag später sah er in der Ferne die feinen aufsteigenden Rauchsäulen, die das erste der Dörfer ankündigten. Mit angelegten Ohren folgte Tatze seinem Herrn auf den Fuß. Der kleine Wolf hatte den Wald noch nie verlassen und die fremden Düfte und Geräusche irritierten ihn nicht wenig. Manchmal, wenn der Wind den Geruch der Feuer mit sich trug, drückte sich der halbwüchsige Welpe schutzsuchend an den Unterschenkel von Harl, als könne der große Mann ihn vor den drohenden Gefahren schützen. Dann ließ dieser wohl ein beruhigendes Brummen hören und fuhr dem Kleinen tröstend mit einer Hand über das Nackenfell.

 

Auch Harl fühlte sich unwohl - etwas, was er sehr lange nicht mehr empfunden hatte. Mit Schari zu wandern, war ganz anders gewesen. Ihre stille Anwesenheit hatte ihm alle Einsamkeit genommen. Mit ihr zu leben, hatte aus ihm einen glücklichen und zufriedenen Mann gemacht. Das alles sah Harl nun erneut vor sich und er wusste, was er wollte - er wollte seine Schari zurück und dann mit ihr gemeinsam heimkehren in ihre Höhle in den Bergen. Schon begann er sich vorzustellen, dass er dort unten am Fluss, wo sich die fruchtbaren Bergwiesen befanden, ein Stück Land für sie urbar machen könnte. Er könnte Getreide säen und Bohnen und Erbsen. Sie würden Nussreiser setzen und sogar ein paar wilde Apfelbäume pflanzen. Ja, vielleicht würde er seine Pelze gegen ein Pferd oder einen Esel eintauschen können. Dass er noch vor kurzer Zeit mit Schari zu den Baumanbetern gehen wollte, war vergessen. Viel zu gefährlich waren die anderen, als dass er Scharis Leben und das seines ungeborenen Kindes für ein wenig mehr Gesellschaft riskieren würde - wenn, ja, wenn er nur seine Gefährtin schnell wiederbekäme!

 

Harl schritt kraftvoll aus und erreichte schon am Abend das angestrebte Dorf. Noch bevor er das Tor durchschritt, das in den schützenden Palisadenzaun eingelassen war, fiel ihm die ungewöhnliche Stille auf, die über dem Ort lag. Kein Wächter beachtete ihn, als er vorbei an den beiden riesigen Torflügeln ins Innere der Siedlung trat. Hier und da sah er geschäftige Menschen hin- und hereilen, doch schon bald fiel ihm auf, was er vermisste: es war kein Kindergeschrei zu hören, kaum ein Lachen. Er hörte die Geräusche der hier lebenden Menschen, doch sie schienen ihm irgendwie gedämpft. Im Zweifel, was er davon halten sollte, hob Harl den kleinen Wolf auf seine Arme. Es war wohl besser, wenn Tatze hier erst einmal nicht frei umherstreifte.

Ein laut tönender Hammer fiel ihm auf und da er sich erinnerte, Arbogast, den Schmied des Dorfes zu kennen, ging er dem eindringlichen Geräusch nach. Bald schon fand er die Werkstatt des Mannes wieder und sah über die äußere Umzäunung ins Innere der Schmiede.

Zwei Männer arbeiteten hier. Während Arbogast den Hammer schwang und ein Eisen seinem Willen unterwarf, bearbeitete sein Bruder den Blasebalg mit stoischer Gleichmäßigkeit, um dem Schmied seine heiße Holzkohlenglut zu erhalten. Dabei schwiegen die Männer und konzentrierten sich auf ihre Arbeit.

 

Harl wartete ab, bis Arbogast sein Eisen zum Abkühlen in einen Holzeimer mit Wasser stieß, dann machte er sich bemerkbar. Durch den Wasserdampf hindurch, den das heiße Metall hatte aufsteigen lassen, starrten die beiden angesprochenen Handwerker ins Freie. Arbogast wischte sich mit einem Lappen den Schweiß von der Stirn, dann trat er vor die Werkstatt.

"Harl, der wandernde Jäger", stellte er überrascht fast. Und mit einem Grinsen, das seine Augen nicht wirklich erreichte, fügte er hinzu: "Du bist früh dieses Jahr. Wir haben noch gar nicht mit Gästen gerechnet."

 

Der so Angesprochene rückte den kleinen Wolf in seinem Arm so zurecht, dass er die Rechte freibekam und reichte dann Arbogast und auch dessen Bruder, der hinzugetreten war, die Hand. "Es stimmt", bestätigte er dem Schmied dessen Rede. "Ich bin früher als sonst." Nachdenklich beobachtete Harl die Brüder, während er sprach. Irgendetwas hier war ungewöhnlich. "Doch ich bin übers Gebirge gekommen und habe dort auch überwintert", fuhr er fort. "Nun zieht es mich hin zu ein wenig Gesellschaft und Gespräch. Eine helfende Hand war euch doch bisher immer willkommen, oder?"

 

Aufmerksam nahm Harl wahr, wie Gerwald bei der Erwähnung des Gebirges zusammenzuckte. Sollte er wirklich so viel Glück haben und schon hier, im ersten der drei Dörfer an sein Ziel gekommen sein? Doch er sah auch, dass die beiden Männer verschlossen blieben. Nun galt es vorsichtig zu sein und nicht zu viel preiszugeben. Der Jäger nahm sich vor, listig und besonnen vorzugehen. Wenn sie Schari hier irgendwo festhielten, durfte er keinen der Männer offen konfrontieren. Dann war es besser, seine Gefährtin heimlich und still aus dem Dorf zu bringen. Ihr Leben und das seines ungeborenen Kindes durfte Harl auf keinen Fall riskieren. Doch es gab noch mehr, das ihn störte als die offensichtliche Wachsamkeit Gerwalds. Das Dorf selber war es, das ihn verwirrte. Wo waren die Kinder und die sonst so geschwätzigen Frauen? Das war ein Rätsel, dem er ebenso auf den Grund gehen wollte, wie der Frage, wo seine schöne Gefährtin hingebracht worden war.

 

Als Arbogast ihn nun in sein Haus auf einen Begrüßungstrunk einlud, nahm er die Gelegenheit wahr und folgte dem Schmied in dessen Holzhütte.

Schon auf dem ersten Blick fiel ihm auf, das die Behausung ungewöhnlich schmutzig und heruntergekommen aussah. Eine altes Mütterchen hockte in der Ecke und kümmerte sich offenbar um ein Kleinkind, das in ihrer Nähe spielte. Mit müden Augen schien sie halbherzig an einem Hemd zu flicken, doch Harl sah, dass ihre knorrigen Finger die Stiche nur noch langsam und unregelmäßig setzten. Wo war Arbogasts Weib, deren Aufgabe es gewesen wäre, hier für Ordnung und Gemütlichkeit zu sorgen? Wie viel angenehmer hatten sie es doch in ihrer Felshöhle gehabt, dachte Harl wehmütig. Doch er ließ sich nichts anmerken und trank einen kräftigen Schluck von dem Honigbier, das der Schmied ihm anbot.

 

"Du kommst in einer schlimmen Zeit", begann Arbogast und Harl beobachtete, wie die alte Frau in der Ecke plötzlich aufmerksam den Kopf hob und die drei Männer beobachtete. Doch der Schmied und sein Bruder beachteten die Alte gar nicht.

"Ja", fuhr Gerwald fort, "viel schlechter hättest du es kaum treffen können."

Es war eine Einladung an den Jäger, Fragen zu stellen und genau das tat Harl nun auch, ohne dabei nach dem Verbleib einer ganz bestimmten Frau zu fragen, auch wenn ihm diese Sache eigentlich heiß unter den Nägeln brannte. Abwechselnd erzählten die beiden Brüder ihm nun, was dem Dorf seit dem letzten Herbst widerfahren war.

 

Der Sommer und mit ihm die Ernte waren zunächst recht gut gewesen. Wenige Jahre zuvor hatten sie von Reisenden aus dem Süden Saatgut eines neuen Getreides eingetauscht. Die Händler hatten das Korn Ruggn genannt und es über die Maßen angepriesen. Tatsächlich war die erste Ernte viel besser ausgefallen als erwartet. Obwohl der letzte Sommer viele Gewitter und manchen Regen gebracht hatte, war das Korn auch im vergangenen Jahr wieder gut gewachsen. Die Speicher waren schnell gefüllt und sie hatten reichlich Saatgut zurücklegen können. Ragin hatte ein großes Erntefest feiern lassen. Doch die Donner des Sommers, so erzählte es Gerwald, waren nur die Vorboten von Thors Zorn gewesen. Bald schon hatte er die Dorfbewohner für ihre offenbare Maßlosigkeit furchtbar gestraft. Viele Frauen und Kinder, ja sogar manche der Männer waren der Wut des Donnerers zum Opfer gefallen. Rasend schnell waren sie gestorben, nachdem sich ihr Innerstes nach außen gekehrt hatte.

Andere hatte der Gott mit Schmerzen und absterbenden Gliedern gestraft. Die, die der zornige Gott verschont hatte, waren gern bereit gewesen, ihm alle noch verbliebenen Vorräte zu opfern. Doch noch immer, so glaubte es zumindest Arbogast, war Thor nicht friedlich gestimmt. Harl sah, wie der Redner bei diesen Worten von seinem Bruder einen unauffälligen Stoß in die Seite bekam.

"Warum glaubst du, dass er euch noch immer zürnt?", forschte er nach. Arbogast schüttelte verlegen den Kopf und tischte dann eine ganz offensichtliche Ausrede auf: "Sieh dir doch das Dorf einfach an!"

 

Das Dorf ansehen war etwas, wozu sich Harl nicht zweimal bitten ließ. Tatze sicher an einer langen Lederschnur bei sich führend, schritt er, flankiert von den beiden Brüdern, über den Dorfplatz und einmal rund um die ganze Siedlung, vorbei an der mannshohen, hölzernen Palisade. Doch so sehr sich der Jäger es auch wünschte - Tatze blieb stumm. Nichts schien darauf hinzudeuten, dass hier irgendwo Schari versteckt gehalten wurde. Enttäuscht verabschiedete sich Harl von Arbogast und Gerwald, nicht ohne sein Bedauern über den traurigen Zustand der Häuser und Gärten geäußert zu haben. Bevor er sich genauer im Dorf umsah, musste er der Pflicht Genüge tun und Ragin aufsuchen, den Dorfvorsteher.

 

 

Ragins Gefährtin hieß den Gast ein wenig warten. Der Dorfvorsteher sei in einer dringlichen Sache unterwegs, werde aber bald zurückkommen. Harl war die Verzögerung ganz recht, bot ihm doch die Frau des Anführers ein kleines Mahl und ein wenig von ihrem selbstgebrauten Bier an. Lange schon hatte der Jäger kein Brot mehr gegessen, von anderen Getränken als Wasser und Kräutersud ganz abgesehen. Tatze lag ruhig vor dem Holzhaus auf einer Schilfmatte, die wie für ihn gemacht erschien. Auch er hatte einen Happen Fleisch bekommen und war zufrieden.

 

Noch einmal ließ sich Harl ausführlich von dem vermeintlichen Fluch berichten, der das Dorf getroffen hatte. Schweigend hörte er zu, während die Frau von Thors Zorn erzählte und dass auch Ragins erste Enkelin unter den Toten gewesen sei.

"Wir haben jetzt viel zu wenige Frauen im Dorf", schloss sie. "Die Arbeit nimmt und nimmt kein Ende."

'Dann müssen eure Männer eben mehr mithelfen', dachte Harl, sprach aber diese Wahrheit nicht aus. Er wusste, dass er damit nichts ändern würde. Den meisten war die Arbeitsteilung unter den Geschlechtern ganz recht. Das hatte er immer wieder bei seinen Besuchen in den Dörfern gesehen. Kochen, weben, gerben, die Kinder betreuen - das waren jene Aufgaben, die den Frauen übertragen waren und von denen sich jeder Mann, der etwas darstellen wollte, gern fernhielt. Er, Harl, war durch seine einsamen Reisen seltener in den Genuss gekommen, manche Tätigkeiten abgeben zu können. Erst mit Schari hatte er sich mehr auf den männertypischeren Teil der Arbeit konzentriert, doch war ihm dabei nicht entgangen, wie viel seine Gefährtin in der Zeit leistete, in der er auf die Jagd ging. Oft versuchte er, ihr bei den schwersten Dingen dennoch behilflich zu sein, sei es, dass er von seinen Jagdzügen ein Bündel Brennholz mitbrachte, oder dass er dem erlegten Wild schon im Wald das Fell abzog. Es waren kleine Gesten, doch sie sollten Schari auch zeigen, dass er ihre Anwesenheit und ihre Hilfe schätzte. Ob sie wohl manchmal noch an ihn dachte? Harl hatte Mühe, die Traurigkeit, die ihm beim Gedanken an seine schöne Gefährtin befiel, ein wenig zu verdrängen. Noch hatte er die Suche nicht aufgegeben.

 

Als Ragin schließlich nach Hause kam, fand er Wolf und Mann als auf den ersten Blick zufriedene Gäste vor. Der Schamane zeigte sich ebenso überrascht wie Arbogast, dass Harl schon so zeitig im Jahr erschienen war. Nichts in seiner Begrüßung verriet das Gespräch, das er gerade eben noch mit Gerwald geführt hatte. Die beiden Männer waren sich einig, dass sie mit Harl durchaus jenen Jäger vor sich haben könnten, der mit der stummen Frau, die Lindrads Beute geworden war, im Gebirge gelebt hatte. Jeder von ihnen wusste, dass der starke Mann, der in der Blüte seiner Jahre stand und dank seiner Lebensweise über vorzügliche Kräfte verfügte, für sie eine Bedrohung darstellte. Es war also gut, wenn sie ihn so schnell wie möglich wieder los würden.

 

Harl ahnte nichts von den Vereinbarungen, die hinter seinem Rücken getroffen worden waren. Unvoreingenommen begann er ein Gespräch mit Ragin, in dessen Verlauf er sich auch nach den Plänen der Dorfbewohner hinsichtlich des Frauenmangels erkundigte. Das, was er zu hören bekam, war für den Jäger nichts Neues. Sie würden in die umliegenden Siedlungen gehen und sich dort nach heiratswilligen Mädchen und jungen Frauen umsehen. Zur Not würden es auch Witwen tun, verriet Ragin. Fänden sie dort nicht, wonach sie suchten, würden sie weiter nach Süden gehen und bei einem der Stämme dort die eine oder andere Frau rauben. So war das schon immer gewesen und auch dieses Mal würden sie irgendwie Erfolg haben. Thor könne schließlich nicht ewig zürnen und wer solle ihm denn noch Opfer bringen, wenn das Dorf dem Mangel nicht standhielt?

 

Wieder einmal sah sich Harl dem tief verwurzelten Aberglauben der Siedler gegenüber. Innerlich seufzte er. Niemals wäre sein Freund Thorbrand auf die abwegige Idee gekommen, in einer Krankheit, die sein Dorf befiel, eine Strafe der Götter zu sehen. Ja, noch nicht einmal bei seinem eigenen Kind, bei Schari, hatte er eine solche Ausrede gelten lassen. Im Gegenteil hatte er sich der Herausforderung durch deren Stummheit gestellt und aus dem kleinen Kind, das bestimmt viele als Missgeburt gesehen hatten, war eine schöne, wertvolle Frau geworden.

Harl brummte. Was für eine Ungerechtigkeit, dass der komplette Bärenclan sterben musste, während dieses Dorf trotz des vermeintlichen Fluchs weiterleben durfte.

Im Hintergrund der Hütte hörte er ein unterdrücktes Lachen. Ragins Gefährtin hatte offensichtlich Besuch. Beim genaueren Hinsehen erkannte er die alte Frau, die Arbogasts Kind betreut hatte. Der Schmied schien auf die eine oder andere Weise heute überall zu sein.

 

Unwirsch strich er sich über die Stirn.

"Auch ich habe im letzten Jahr viel Leid gesehen", begann er nun seine Geschichte. Was blieb ihm auch anderes übrig, wollte er doch bei Ragin nach dem Verbleib seiner Gefährtin forschen? Also erzählte Harl ausführlich, was er über den Überfall auf Thorbrands Gruppe wusste, berichtete, wie er Schari gefunden und zu ihr Vertrauen gefasst habe. Ja, er schwieg nicht einmal dann, als er vor Ragin die Gründe für ihre Flucht und ihren furchtbaren Sturz benennen musste. Endlich einmal konnte er sich von der Seele reden, wie tief er von Scharis unglaublich schönem Wesen berührt worden war. Das Gespräch der Frauen im Hintergrund war längst verstummt, während er von ihrem Leben in den Bergen erzählte, von ihrem Verschwinden und seiner bisherigen Suche nach ihr.

 

Nur eines verschwieg Harl vorsichtig - dass er der Ansicht war, im Dorf Hinweise auf ihren Verbleib gefunden zu haben. Noch traute er Ragin nicht vollständig. Wie recht er damit hatte, wurde ihm erst viel später bewusst. Jetzt, als der Schamane ihm wortreich sein Mitleid versicherte und es glaubhaft zutiefst bedauerte, ihm so gar keinen Hinweis geben zu können, ließ sich Harl täuschen.

Vielleich hatte er ja doch Unrecht und das auffällige Verhalten der Schmiedegeschwister war dem eigenen Elend geschuldet, das deren Familien getroffen hatte?

 

Freundlich bedankte sich Harl schließlich und verließ Ragins Haus. Er wandte sich nicht um. Hätte er es getan, wäre ihm das triumphierende Lächeln des Schamanen nicht entgangen. Doch auch so wurde Ragins Reaktion gesehen. Osane, die alte Heilerin des Stammes machte sich ihre eigenen Gedanken über die Männer und ihr jeweiliges Verhalten. Gerade wegen ihres hohen Alters wurde sie von vielen im Dorf nicht mehr ganz ernst genommen. Schon als das neuartige Getreide diese schreckliche Krankheit mit sich gebracht hatte, gab es kaum jemanden, der auf ihre Ratschläge hatte hören wollen. Nur wenige, wie Wigberg und dessen Schwester waren ihr gefolgt, als sie davon abgeraten hatte, das unbekannte Getreide zu essen, an dem doch ganz offensichtlich schon viele gestorben waren.

Osane hatte es nicht verstanden, wieso sich die Dorfbewohner so offen gegen sie gestellt hatten. Erkannten sie nicht die Gefahr, die sich ihnen zeigte? Immerhin war dies nicht die einzige Pflanze, die Gift enthielt. Andere Gewächse mieden sie doch auch?

 

Aber Ragin war anderer Meinung gewesen und er war es, der die Vormachtstellung im Dorf innehatte. Osane hatte mit der Zeit gelernt zu schweigen und ihre Gedanken für sich zu behalten. Genauso hielt sie es jetzt, als sie sich ein Gespräch zwischen Arbogast und Gerwald ins Gedächtnis rief. Sie wussten, wo sich Harls Gefährtin aufhielt, hatten Lindrad mit ihr losgeschickt, um sie im Gebirge auszusetzen.

Osane rechnete nach. Einen guten halben Mond musste das nun schon her sein. Konnte eine Frau überhaupt so lange alleine in der Wildnis überleben? Und waren sich die Männer nicht sicher gewesen, dass sie sie schwer genug zugerichtet hatten, dass sie einfach sterben musste? Die alte Heilerin war sich unsicher. Ja, einerseits wollte sie Harl alles anvertrauen, was sie wusste. Andererseits war es klar, dass der Jäger danach Arbogast oder Gerwald zur Rede stellen würde, um mehr über den Verbleib seiner Gefährtin zu erfahren. Was, wenn diese beiden gefährlichen Männer erkannten, woher der Jäger sein Wissen hatte?

Osane beschloss, erst einmal zu schweigen und den Gang der Dinge zu beobachten. Wenn es gar keine andere Möglichkeit mehr gab, konnte sie immer noch im Vertrauen mit Harl reden …

 

 

Wigberg war dabei, die Zinken eines alten Heurechens zu erneuern, als es nachdrücklich an seiner Tür klopfte. Vorsichtig legte er den scharfen Beitel beiseite, mit dem den abgebrochenen Holzstift hatte entfernen wollen. Kaum war die Tür geöffnet, trat Gerwald herein, den Hausherrn noch mit seiner Rechten zurückschiebend und den Eingang sofort wieder verschließend.

"Hör zu", legte er sofort und sparte sich damit jede höfliche Vorrede. "Harl ist im Dorf. Er ist es auch, der mit dieser stummen Frau im Gebirge gelebt hat …" Gerwald verhaspelte sich vor Aufregung und schwieg einen Moment lang verwirrt, während Wigberg schnell begriff, was den anderen zu ihm geführt hatte.

"Und nun ist er hier und sucht nach seiner Gefährtin", schlussfolgerte er.

Gerwald nickte und hatte den Anstand, dabei rot an den Ohren zu werden. "Er darf unter keinen Umständen erfahren, was wirklich mit diesem Weib passiert ist", legte er dennoch stimmsicher fest. "Wenn er herausbekommt, dass wir ihr Verschwinden oder gar ihren Tod verschulden, sind wir unseres Lebens nicht mehr sicher. Der Mann ist gefährlich, Wigberg. Er würde jedem einzelnen von uns in den Wäldern auflauern, bis er seine Rache bekommen hat", malte sich Gerwald weiter aus. "Ich habe ihn gesehen, wenn er den Bogen oder den Speer bei der Jagd benutzt hat. Gegen seine Treffsicherheit kommt keiner von uns an."

 

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Wigberg den Sprecher. Dass Gerwald vor einem anderen Mann Angst hatte, war ja etwas ganz Neues. Der Jäger musste einen starken ersten Eindruck bei dem Schmiedegesellen hinterlassen haben. Wigberg lachte in sich hinein. Der starke Gerwald wurde also auch einmal kleiner.

"Du und ein Bruder seid aber doch keine schlechten Jäger und ebenso im Umgang mit den Waffen geübt", goss er nun noch ein Tröpfchen Öl ins Feuer. "Und an körperlicher Stärke werdet ihr diesem Jäger sicher deutlich überlegen sein - jeder von euch."

Gerwald zuckte mit den Schultern.

"Da wäre ich mir eben nicht so sicher. Und das macht mir ja auch Sorgen!" Streng musterte er den schweigenden Wigberg. "Ich möchte, dass du Harl aus dem Weg gehst!", wies er an. "wenn er dich nach der Stummen fragst, weichst du aus oder schweigst, bestenfalls tischst du ihm eine glaubhafte Lüge auf. Haben wir uns verstanden?"

Wigberg kniff die Augen zusammen und betrachtete den Sprecher gründlich.

"Warum sollte ich das tun, Schmied?", forschte er nach. "Welche Gegenleistung kannst du mir anbieten, damit ich für dich lüge und meinen guten Ruf riskiere?"

 

Man sah deutlich, wie schwer es Gerwald fiel, sich nun zu beherrschen. Er atmete mehrmals tief durch und verzog sein Gesicht zu einer angespannten Grimasse, bevor er antwortete. Er schwieg eine lange Zeit, dann aber sah Wigberg, wie sich das Gesicht des verschlagenen Mannes plötzlich erhellte.

"Ragin hat vor, deine unverheiratete Schwester an Arbogast zu geben, um dir eins auszuwischen. Wenn du uns hilfst, kann ich mich dazu durchringen, mit ihm und meinem Bruder zu sprechen, dass sie auf dieses Heiratsangebot verzichten. Wenn du es nicht tust …"

Gerwald ließ offen, was dann passieren würde. Doch Wigberg wusste es auch so. Wenn er nicht mitspielte, würde Ragin Tilrun[9] für Arbogast einfordern. Und da heiratsfähige Frauen derzeit im Dorf kaum mehr anzutreffen waren, würde der Schmied nach außen hin eine so gute Verbindung sein, dass eine Ablehnung kaum denkbar erschien. Dass der Mann brutal und aufbrausend veranlagt war, würde außer ihn niemanden stören.

 

Wigberg sah sich in der Zwickmühle. Irgendwie musste er seine Schwester schützen. Doch er war auch für Harls Gefährtin verantwortlich. Immerhin war er bei dem Raub dabei gewesen, auch, wenn er ihn nicht befohlen hatte.

"Ich werde Harl nichts davon erzählen, dass ich befohlen habe, seine Gefährtin zum Sterben zurück in die Berge zu bringen." Wigberg sah Gerwald fest in die Augen. "Wie dumm wäre ich auch, ihm dieses Schuldeingeständnis zu machen?"

Der Schmiedegeselle musterte Wigberg gründlich und ließ sich offenbar dessen Antwort noch einmal durch den Kopf gehen. Dann gab er sich zufrieden und nickte.

"So ist es richtig, Wigberg", stimmte er erleichtert zu. "Ich aber werde mein bestes tun, um für Arbogast eine andere Frau zu finden." Er grinste verschlagen. "Und nun, da du ja weißt, um wie viel es auch für dich dabei geht, solltest du dich unserem nächsten Beutezug vielleicht anschließen?" Sprach ´s, drehte sich um und ging mit durchgedrücktem Rücken zur Tür hinaus.

 

Wigberg aber ließ sich erschöpft auf den nächstbesten Hocker fallen. Dann, nachdem er den Inhalt des Gesprächs noch einmal bedacht hatte, fluchte er heftig. Wie sehr sich diese Bande doch aufspielte, seitdem Ragin sich mit Arbogast und seinen Raufbolden verbündet hatte. Es war wirklich eine schlechte Idee gewesen, dem Schamanen auch gleichzeitig den Rang des Dorfersten zuzugestehen. Er, Wigberg, hatte vor einer solchen Machtfülle für eine Person sogar noch gewarnt. Doch Ragins Nähe zu den Göttern war den Dorfbewohnern mehr wert gewesen als ein bedachter Anführer, der sich mit Ackerbau und Jagd auskannte.

So hatten sie Ragin gewählt und er musste sich seither dem Hass dieses Mannes stellen, der ganz genau wusste, was Wigberg von ihm dachte und nur auch irgendeinen Fehler von ihm wartete, um den unliebsamen Konkurrenten endlich loszuwerden. Nun versuchte er es also über Tilrun. Wigberg hatte die Nase von diesem selbsternannten Herrscher wirklich voll. Er musste mit seiner Schwester reden und dann, wenn diese mit seinen Plänen einverstanden war, würde er eine Möglichkeit suchen, unauffällig mit Harl zu sprechen. Immerhin hatte er Gerwald nicht zugesagt, dem Jäger zu verschweigen, dass er Lindrad nach Süden geschickt hatte, dorthin, wo nun auch er mit Tilrun Zuflucht suchen wollte, da ihm das Leben im Dorf mehr und mehr sinnlos erschien.

 

Harl war inzwischen noch ein wenig ziellos durch das Dorf gewandert und hatte sich relativ unbeteiligt angesehen, wie sehr die Siedlung unter den fehlenden Händen der Frauen litt. Das begann schon bei den Vorgärten, die sonst im Frühling erste Blumen wie Schneeglöckchen oder Winterlinge hervorbrachten. In diesem Jahr erstickten die ersten Blüten unter dem Unkraut vom letzten Herbst, das keiner weggeräumt hatte. Die Wege durchs Dorf waren nicht gefegt und hier und dort lagen Knochen und andere Abfälle herum. Es roch bedenklich. Selbst Tatze schien der Gestank zu stören, denn der kleine Wolf lief mit angelegten Ohren herum und fiepte hin und wieder jämmerlich. Er war von der Fülle der Eindrücke ebenso verwirrt wie Harl, wenn auch aus anderen Gründen.

 

Der Jäger wusste nicht so recht, was er nun tun sollte. Wäre es klug, noch ein paar Tage im Dorf zu bleiben und mit anderen Bewohnern zu sprechen? Vielleicht gab es doch Hinweise, von denen Ragin nur nichts gehört hatte? Oder sollte er ohne zu zögern weiterziehen und das nächste Dorf aufsuchen? Harl war sich unsicher. Eines zumindest stimmte ihn erleichtert. Schon beim Eintreffen war er an dem kleinen Ritualplatz vorbeigekommen, auf dem die Dorfbewohner den Göttern Opfer brachten. Erst hatte er sich bei dessen Betrachtung gar nichts gedacht. Nun aber, da er von den Ereignissen des Herbstes wusste und auch deren Deutung durch die Dörfler kannte, war es äußerst beruhigend, dass gar nichts darauf hindeutete, dass die Siedler in den vergangenen Tagen ein Menschenopfer gebracht hatten. Wäre das so gewesen, hätte der Ort ganz anders ausgesehen. So aber blieb Harl die Hoffnung, bisher nur am falschen Ort gesucht zu haben.

 

Gerwald kam ihm entgegen. Vielleicht sollte er ja noch einmal mit dem Bruder des Schmiedes sprechen? Harl setzte ein freundliches Lächeln auf und grüßte den anderen Jäger herzlich. Und das offene Entgegenkommen des Nomaden gab Gerwald so viel Sicherheit, dass er den Besucher in einem Überschwang von gefühlter Stärke und Überlegenheit in sein Haus einlud. Wer war dieser Wanderer schon, dass er, Gerwald, auch nur einen Moment lang hatte glauben können, er sei dem Mann unterlegen? Nachdrücklich legte er dem Jäger eine Hand auf die Schulter und stellte bei dieser scheinbar freundschaftlichen Geste fest, dass dieser gute zwei Fingerbreit kleiner war als er selber. Na also!

 

Gerwald wies Harl zunächst einen Platz auf der Bank vor seinem Haus an. Der Abend war sonnig und so konnten sie dort gut und gern noch einen Krug Bier trinken, bevor er den Jäger ins Haus holte, um ihm ein Mal anzubieten und möglicherweise sogar ein Nachtlager.

Nicht viel später saßen die beiden Männer einträchtig vor Gerwald Haus und tranken. Harl kannte die Brüder schon einige Jahre und auch, wenn er ihr aufbrausendes Wesen nicht so ganz verstand, zog er die bisherige Bekanntschaft mit den Schmiedegeschwistern nicht in Zweifel. Deshalb sah er auch keine Gefahr, als er begann, ein wenig von den Reisen des letzten Jahres zu erzählen. Listig führte Gerwald ihn immer weiter in die Geschichte hinein und ehe er es sich versehen hatte, waren sie auf Schari und deren Stummheit zu sprechen gekommen. Wortstark versicherte Gerwald ihm sein Bedauern, eine so schöne und fleißige Gefährtin verloren zu haben und ließ sich dann dazu herab, Harl zu versichern, dass seine Gefährtin sicher wohlauf wäre, wenn er, Gerwald, sie im Gebirge gefunden hätte. Doch leider, leider seien sie bei ihren Jagdzügen noch nicht einmal annähernd in jene Richtung gekommen.

 

Mag sein, es lag ein bisschen viel Verneinung in Gerwalds Rede, mag sein, er hatte schon ein wenig zu viel des vergorenen Getreidesuds getrunken. Harl jedenfalls kam seine Rede erneut merkwürdig vor. Doch es blieb ihm nicht viel Zeit, um sich weitere Gedanken um den Redner zu machen. Arbogast stieß zu ihnen und gemeinsam betraten sie Gerwalds Haus für das Nachtmahl. Tatze, der sich in der unbekannten Gegend nicht von seinem Herrn trennen wollte, bekam die großzügige Erlaubnis von Gerwald, ebenfalls mit ins Haus zu dürfen.

 

Doch die Sicherheit, in der sich der Schmiedegehilfe auch gegenüber dem kleinen Wolf wiegte, wurde ihm zum Verhängnis. Noch saßen die drei Männer nicht lange um den großen, grob behauenen Holztisch herum, als Tatze zu knurren begann. Harl, der das robuste Möbel, an dem er saß, genau betrachtet hatte und im Stillen darüber nachdachte, wie er etwas Ähnliches auch für sich und Schari bauen könnte, brummte den jungen Wolf ungeduldig an. "Gib Ruhe, Tatze!", ließ er den Kleinen wissen. Gerwald würde seinen vierbeinigen Begleiter schnell wieder vor die Tür setzen, wenn der sich daneben benahm.

Doch Tatze ließ sich nicht so einfach die Schnauze verbieten. Von der Bettstatt des Gastgebers duftete einfach zu gut zu ihm herüber, zu vertraut. Es roch nach Schari, roch nach seiner Herrin! Mit einem Satz sprang der Wolf auf das Leger und fand auch sofort heraus, woher der angenehme Duft kam - hier lag Scharis Bärenfell! Auch, wenn sich der Geruch der Frau inzwischen nur noch leicht an den langen Haaren des Braunen hielt - er war da! Begeistert zog und ruckelte Tatze an dem Umhang. Das musste sein Herrchen sehen!

 

Der nahm Tatzes unerwartete Räubereien auch schnell wahr und sprang auf. Noch ehe Gerwald oder Arbogast reagieren und dazwischen gehen konnten, war er bei dem Wolf und nahm ihm schimpfend das dicke Fell ab. Schon wollte er den Kleinen im Nacken packen und zornig nach draußen befördern, da wurde ihm klar, was er da eigentlich in den Händen hielt. Das war nicht irgendein Pelz, mit dem Gerwald sein Lager in der Nacht bequemer machte, das war sein Bärenfell. Er hatte diesen Braunbären vor gut drei Jahren getötet, ihm die Haut abgezogen und danach eigenhändig gegerbt. Tagelang hatte er das Fell geschliffen und gewalkt, bis es so weich war, dass man es wie eine Decke tragen konnte. Und genau das hatte Schari an jenem Tag getan, an dem sie verschwunden war.

 

Neugierig drehte Harl die Lederseite des Pelzes nach oben. Dort, wo seine Lanze getroffen hatte, war jene eine derbe Naht, mit der er die Einstichstelle verschlossen hatte. Verständnislos starrte Harl auf die Stiche. Wenn Scharis Kleidung hier war, sie aber nicht …

Antwortfordernd wandte er sich zu den Brüdern um, das Bärenfell noch immer in der Hand. Doch er hatte ein wenig zu lange gezögert. Arbogast hatte viel eher erkannt, was der Wolf des Jägers gefunden hatte. Er fand noch die Zeit, seinem Bruder ein "Du bist so ein Dummkopf!" zuzuraunen, dann erhob er sich leise und ergriff den Schemel, auf dem er eben noch gesessen hatte.

Gerwald tat es ihm schnell nach. Wie schade, dass er noch keine Messer auf den Tisch gelegt hatte! Doch es blieb keine Zeit mehr, nach besseren, gefährlicheren Waffen zu suchen. Schon wandte sich der Jäger fragend um …

 

 

Verwirrt wies Harl das Bärenfell vor - fragend!

"Das hier hat meiner Gefährtin gehört", stellte er klar. "Wie kommt das hierher, Gerwald, wenn du in diesem Frühjahr noch gar nicht im Gebirge gewesen bist?"

Vielleicht hätte der Schmiedegehilfe sich mit irgendeiner Ausrede noch aus der Schlinge ziehen können, doch Arbogast war der ungeduldigere der beiden Brüder und antwortete an dessen Stelle.

"Was geht dich das an, Harl, auf welchen Fellen mein Bruder schläft? Wenn du auf deine stumme Missgeburt besser aufgepasst hättest, wer weiß, ob dann nicht all das Elend des letzten Jahres einfach an unserem Dorf vorbeigegangen wäre?"

Schon wollte Harl aufbrausen und Arbogast zur Rede stellen, als auch Gerwald seinen Schemel drohend ein Stück höher hob.

"Ja, und du bist schuld, dass Lindrad aus unserer Gemeinschaft ausgestoßen wurde. Er war es nämlich, der diesen sprachlosen Irrtum der Götter aus dem Wald gezerrt hat."

Arbogast griff den Schemel ein wenig fester. "Und nun, da du es unbedingt willst, werden wir dem ganzen Spuk hier ein für allemal ein Ende bereiten!"

Entschlossen ging der Schmied auf Harl zu, der immer noch nicht so ganz begriff, was da auf ihn zukam. Vielleicht war es Tatzes leises Jaulen, das ihm den Ernst der Lage zeigte. "Wo ist sie, Arbogast?", bat er flehend. "Sag mir wenigstens das noch, bevor du tust, was du tun willst. Geht es ihr gut?"

 

Der Spott auf Arbogasts Gesicht sagte alles. "Du bist so ahnungslos, Harl", verhöhnte er den Jäger, "so gutgläubig." Gerwald lachte nun auch auf. "Sie ist längst tot, Mann. Lindrad sollte sie aussetzen, wenn er mit ihr fertig wäre. Und sie war schon ziemlich hinüber, als er sie mitgenommen hat, wenn du verstehst, was ich meine!"

Harl fiel gar nicht mehr auf, dass sie ihn absichtlich bis aufs Blut reizten, dass sie ihn zu dem trieben, was er nun tat. Harl hörte nur, dass sie seine Schari umgebracht hatten. Warum sie ihm das verrieten, spielte dabei doch gar keine Rolle. Blind vor Zorn und Trauer stürzte er vor. Nur einen dieser Mörder in die Hände bekommen! Er würde …

 

Doch Harl kam nicht weit. Während Arbogast seine Aufmerksamkeit auf sich zog, indem er seinen Schemel drohend anhob, schlug Gerwald dem Jäger das gestreckte Bein in die Seite, alle Kraft in den riskanten Sprung legend. Harl taumelte zur Seite und gab Arbogast so die Gelegenheit, nun seinerseits einen Schlag mit dem kleinen Holzstuhl anzubringen. Methodisch prügelten die beiden Schmiede auf den wehrlosen Mann ein und sicher hätten sie Harl getötet, wenn nicht das alles durchdringende Heulen des kleinen Wolfs Tatze andere Dorfbewohner auf den Plan gerufen hätte. Unter den aufmerksamen Augen der Nachbarn war an eine Fortführung der Schlägerei nicht mehr zu denken. Gerwald warf Harl, der sich nicht mehr rechtfertigen konnte, vor, er habe ein Fell stehlen wollen und er sei mit Arbogast nur zu dem Raub hinzugekommen. Da es keine andere Erklärung für das gewalttätige Handeln der Brüder gab, glaubte man ihnen sofort.

 

Ragin wurde gerufen, um weitere Entscheidungen bezüglich des diebischen Jägers zu treffen. Der Schamane erschien in würdiger Haltung. Geduldig ließ er sich von den Brüdern alle vermeintlichen Fakten schildern, hörte auch die zuerst hinzugekommenen Zeugen an und beobachtete dabei alle genau, die die Gruppe mit dem schwer verletzten Mann umstanden. Vielleicht, wenn nicht Wigberg dabei gewesen wäre und wenn nicht die alte Osane ihm gegenüber wissend eine Augenbraue in die Höhe gezogen hätte, wäre seine Entscheidung eine andere gewesen. Doch so war zumindest die Warnung der alten Heilerin eine eindeutige Geste. Sie würde es ihm nicht durchgehen lassen, wenn er einen zu harten Rechtsspruch fällte. Viel machen konnte sie zwar nicht, doch in der jetzigen Lage mochte es schon ausreichen, wenn sie seine Autorität infrage stellte.

 

Ragin atmete tief ein, straffte sich und nickte dann Osane unauffällig zu.

"Kannst du seine Wunden versorgen, Heilerin?", stellte er dann seine erste Frage und erhielt nur ein knappes Nicken zur Antwort.

Dann ließ der Schamane den Blick über die kleine Gruppe Menschen schweifen, die sich um ihn versammelt hatte.

"Da wir keine Zeugen haben, die Gerwalds und Arbogasts Aussagen bestätigen und da uns Harl momentan kaum etwas zu den Gründen seines Raubes sagen kann, werden wir in unserem Urteil zurückhaltend sein."

Ein zustimmendes Murmeln ging durch die Reihen und Ragin grinste innerlich. Wie leicht sich diese Leute doch führen ließen. Wenn er jetzt scheinbar Gnade vor Recht ergehen ließ und Harl nur aus dem Dorf verbannte, so hätte er nicht nur das Problem der unbequemen Anwesenheit des Jägers geklärt, er hätte vor allem auch seine Position im Ort wieder langfristig gesichert. Eine Idee stieg in ihm auf und ließ in schneller atmen. Wenn … Oh ja, diesen Versuch musste er einfach unternehmen. Wenn Wigberg oder Osane dennoch gegen ihn sprachen, würde er ihnen ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen konnten, wollten sie nicht vor dem ganzen Dorf ihr Gesicht verlieren.

Ragin holte tief Luft.

"Da Gerwald und Arbogast beides Männer von Wort sind und ich sie gut genug kenne, um hinter ihrer Rede keinen Betrug zu vermuten, ist Harl aus meiner Sicht der Schuldige an der Schlägerei. Auch, wenn er sich gerade nicht rechtfertigen kann, hat er doch den Grundstein für seine Verletzungen selbst gelegt."

Der so beschuldigte Mann am Boden begann sich langsam und vorsichtig zu regen. Ragin wusste, dass er sich nun beeilen musste.

"Harl ist als Gast und Freund zu uns gekommen und hat einen angesehenen Mann unseres Dorfes schamlos betrogen", führte der Schamane weiter aus. "Deshalb sei ihm das Betreten unseres Dorfes ab heute bei seinem Leben verboten."

Wieder ließ die Gruppe ein zustimmendes Murmeln hören. Ragin sah, dass Wigberg und auch Osane finstere Gesichter machten und Wigberg ansetzte, etwas zu sagen.

"Jeder, der Harl von heute an Zugang zu unserem Dorf gewährt oder ihn anderweitig bei seinem Tun unterstützt, wird ebenfalls aus unserer Mitte verbannt." Er gab sich lächelnd großzügig. "Doch da er ja verletzt ist, sei diese Regel so lange ausgesetzt, wie er die Hilfe der Heilerin braucht. Osane mag ihn versorgen" Er sah die Alte nun direkt an und jene konnte den Triumph in den Augen des Schamanen deutlich erkennen. "Doch solltest du das nicht hier tun, sondern draußen vor dem Dorf in der alten Hütte am Fluss. So ist sichergestellt, dass Harl unser Dorf nicht mehr durch seine Anwesenheit bedroht und du hast dennoch alles, was du für deine Hilfe benötigst."

 

Osane aber verständigte den Satz im Stillen. 'Wenn wir aber kommen und ihn doch noch umbringen, wird man seinen Tod dir anlasten und du wirst nichts mehr dagegen tun können und deine Stellung im Dorf endlich völlig verlieren.'

Die Heilerin und auch Wigberg sahen, auf welchen Wegen sich Ragins Gedanken bewegten. Gern hätte Wigberg dem Schamanen widersprochen. Doch er wusste nur zu gut, dass er dabei erneut allein gegen die Gruppe gestanden hätte. Und er begriff, dass es nun nicht mehr nur um Harl ging. Bevor er dem Jäger helfen konnte, seine Gefährtin wiederzufinden, über deren Verbleib er allein mehr wusste als Gerwald, Ragin oder Arbogast, musste er Osane aus der Schlinge ziehen, die Ragin für sie ausgelegt hatte.

Also biss sich Wigberg lieber die Lippe blutig, als dass er Ragin widersprochen hätte. Schweigend gingen sie auseinander und ein guter Beobachter hätte vielleicht in Ragins Blick erkennen können, dass ihm der friedliche Ausgang des Gerichts nicht so ganz gefiel.

Mit gespielter Hilfsbereitschaft erklärte sich Arbogast bereit, den Verletzten in die genannte Hütte am Fluss zu tragen. Doch zum Glück sprangen hier zwei junge Männer ein, die die Zusammenhänge des Ganzen nicht überschauten. Hilfsbereit erklärten sie dem Schmied, dass dieser sich nicht mit einer solch niederen Arbeit abgeben müsse. Sie würden den Jäger samt Wolf sicher aus dem Dorf bringen, während er, Arbogast, zu seinem unterbrochenen Abendmahl zurückkehren könne.

 

Gern hätte Wigberg gewusst, was zwischen Gerwald und dem Schmied nun bei diesem Essen gesprochen wurde. Doch er ließ es nicht darauf ankommen, entdeckt zu werden und ging lieber zu Tilrun, um mit ihr über die neuesten Entwicklungen und seine getroffene Entscheidung zu sprechen. Später, wenn es dunkel war und alle schliefen, mussten sie gemeinsam einen Weg finden, das Dorf mit dem nötigsten Gepäck zu verlassen.

 

 

Zwischen zwei starken Männern stolpernd hatte Harl unter Schmerzen den Weg zu einer kleinen Hütte vor den Toren der Siedlung hinter sich gebracht. Bei jedem Atemzug schmerzten seine Rippen und auch sein Knie, gegen das ihn Gerwald heftig getreten hatte, hämmerte bei jedem Schritt entsetzlich. Doch nichts davon tat Harl so furchtbar weh wie jener eine Satz von Arbogast, den ihm dieser an den Kopf geworfen hatte, bevor er losschlug: "Sie ist längst tot, Mann!"

Immer wieder hallte das eine Wort durch den Kopf des Jägers: Tot, tot, tot!

Wieder und wieder versuchet Harl seine Trauer zu verdrängen. Er würde sich vor diesen Fremden keine weitere Blöße geben. Wenn sie die Mörder Scharis waren, wäre es ihnen auch ein leichtes, ihn zu töten. Doch er hatte noch eine Aufgabe vor sich, bevor er sterben wollte: Er würde seine Gefährtin rächen, koste es, was es wolle.

So von verbitterten Gedanken gefangen, ließ sich Harl widerstandslos auf eine schmale Liegesatt betten und nahm es hin, dass die Heilerin, die sich ihm mit dem Namen Osane vorgestellt hatte, entkleidete. Gründlich besah sich die Alte alle Verletzungen, die aus der Schlägerei mit den beiden Schmieden resultierten, dabei leise vor sich hin brummend.

"Schari ist also der Name deiner stummen Gefährtin", versuchte sie dann mit dem verletzten Mann vor sich ins Gespräch zu kommen. "Ein schöner Name!"

Doch der Jäger schwieg und vielleicht hatte er nicht einmal zugehört, so gedankenversunken er war.

Osane schob nun beide Hände an Harls Brustkorb entlang und als sie jene Stelle fand, an der die gebrochenen Rippen verschoben waren, drückte die erfahrene Heilerin beherzt zu. Der Aufschrei des Verletzten kam für sie nicht unerwartet. Resolut schob sie den sich aufrichtenden Mann zurück.

 

"Deine Rippen waren nicht mehr an ihrem angestammten Ort", ließ sie ihn wissen. "Wenn ich sie so krumm gelassen hätte, wärest du für immer ein Krüppel geworden."

Harl biss die Zähne zusammen. Auch nachdem die Heilerin ihre Hände weggenommen hatte, war der Schmerz kaum zu ertragen. "Warum hast du mich nicht vorgewarnt?" fluchte er vorwurfsvoll. "Dann wäre ich vielleicht ein wenig vorbereiteter gewesen."

Die Alte lachte leise. Der Klang ihrer Stimme war warm und überraschte Harl, als sie nun freundlich antwortete.

"Sicher wärest du das gewesen. Doch gegen die Kraft deiner angespannten Muskeln wäre ich wohl kaum aufgekommen. Tut mir leid, mein Lieber, doch das musste sein."

Osane sah, dass sie nun Harls ganze Aufmerksamkeit hatte und wiederholte, was sie über den Namen seiner Gefährtin dachte. Geduldig sah sie dem Jäger dabei zu, wie sich seine Züge verhärteten. "sie ist tot", murmelte Harl, als könne er es selbst noch nicht glauben. "sie haben sie wegen ihrer Stummheit umgebracht."

Leise, als wolle sie alle nicht eingeladenen Ohren davon abhalten, sie zu hören, raunte sie ihm zu: "Ich glaube nicht, dass deine Gefährtin wirklich tot ist." Als der Jäger sich bei diesen Worten mühsam aufrichten wollte und sie ungläubig anstarrte, hielt ihre Hand ihn auf dem Lager zurück.

"Wigberg hat sie mit einem zuverlässigen Mann alleine gelassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lindrad an ihr zum Mörder geworden ist. Das passt einfach nicht zu ihm." Nachdenklich betrachtete sie den verletzten Jäger, dessen Wangen ein wenig von ihrer ungesunden Blässe verloren hatten. "Überhaupt passt vieles von dem, was Gerwald und Arbogast erzählt haben, nicht zusammen. Hab ein wenig Geduld. Ich werde versuchen, dir Wigberg hierher zu holen. Er war der Anführer jener Gruppe, die deine Schari mitgenommen hat. Er wird dir mehr sagen können, als die Schmiede oder Ragin, der auch nicht immer alles weiß."

 

Doch es war nicht Wigberg, der Harl schließlich die erlösende Nachricht brachte. Noch ließ die Sonne ein letztes Dämmerlicht durch das kleine Fensterchen der Hütte scheinen, als es leise an der Tür klopfte. Osane hatte Harl einen schmalen Dolch gereicht, den der Jäger unter seiner Decke verbarg. Sie beide, Osane und er, wussten genau, dass die Dorfbewohner ihm nicht wohlgesonnen waren. Die Heilerin hatte längst verstanden, dass Ragin durch seine Großzügigkeit lediglich eine Festigung seiner Position anstrebte und ganz bestimmt nicht zu Harls Gunsten agierte.

Doch als die Alte nun die Tür einen Spalt breit öffnete und vorsichtig hinausblickte, erkannte sie ein Gesicht, das ihr viel bedeutete. Tilrun, die Schülerin der Heilerin und Wigbergs Schwester stand draußen mit dem dicken Kräuterbündel der Alten und einem vollgeladenen Pferd am Halfter.

 

"Ich bin gekommen, um dir deine Heilmittel zu bringen und den nötigen Proviant", gab sie lauter bekannt als nötig. Dann drückte sie Osane das Bündel in die Hand, dass sie auf dem Rücken trug und die Alte keuchte überrascht von der unerwarteten Last des vermeintlichen Kräutertuchs. Doch wie von Tilrun erwartet, stellte sie keine unnötigen Fragen und trug den Packen scheinbar mühelos ins Haus. Wigbergs Schwester hingegen band das Pferdchen in der Nähe der Hütte an einen alten Baum, darauf bedacht, dem Tier zwar Bewegungsspielraum zum weiden zu geben, es aber sicher in Reichweite zu halten, bis sie es benötigten.

 

Im Inneren der Hütte hatte Osane derweil das Bündel geöffnet und neben einer Reihe der wichtigsten Heilkräuter auch zwei Kriegsäxte und mehrere Messer vorgefunden - Wigbergs bevorzugte Waffen. Lächelnd betrachtete die Alte diese Schätze. Hier gab es einen Plan, den sie sicher bald kennenlernen würde. Thor sei Dank!

Tilrun trug nun das restliche Gepäck in den kargen Raum. Doch anstatt danach zu bleiben, wandte sie sich noch einmal zur Tür.

"Ich habe noch etwas gefunden, das hierher gehört." Sie lächelte Harl freundlich an. "…oder besser jemanden." Mit diesen Worten zog sie die Tür noch einmal weit auf und mit einem winselnden, begeisterten Laut sprang der kleine Wolf Tatze auf Harls Lager. Lächelnd beobachteten die beiden Frauen die herzliche Begrüßung zwischen Mann und Wolf. Dann, als Harl sie fragend und bittend ansah, begann sie ihre Erklärung.

 

"Mein Bruder Wigberg wird später zu uns stoßen, wenn er das Dorf unauffällig verlassen kann", legte Tilrun dar und Osane nickte verständnisvoll. "Doch er hat mich gebeten, dir unbedingt zu sagen, dass deine Gefährtin mit großer Wahrscheinlichkeit lebt und wohlauf ist. Du sollst den Mut nicht verlieren!"

 

Ungläubig ob dieser unfassbaren Nachricht richtete sich Harl trotz aller Schmerzen auf seinem Lager auf. Schari sollte noch am Lebens ein? War das wirklich wahr? Konnte er das glauben, nach allem, was ihm Gerwald an den Kopf geworfen hatte?

Leise berichtete nun die neuangekommene junge Frau, was sie von ihrem Bruder über den Verbleib von Harls Gefährtin wusste. Manches, wie die Misshandlungen von Gerwald, gab sie nur in knappen Worten wieder. Wenn sie sich vorstellte, an Scharis Stelle gewesen zu sein … Und nun wollte dieser Arbogast sie zu seiner Gefährtin machen! Niemals würde sie sich dazu bereit finden, nicht, nachdem er so deutlich sein wahres Gesicht gezeigt hatte!

 

Doch Tilrun wusste ebenso wie ihr Bruder, dass der Schmied eine hervorragende Stellung in ihrem Dorf innehatte. Es gab wenig, das man ihm abschlagen würde, wenn er es denn forderte. Ohne die Kunst der Metallbearbeitung, ohne die Möglichkeit, Waffen und Werkzeuge herzustellen, war die Siedlung vollkommen schutzlos. Man würde Arbogast nicht bloßstellen, nur weil er eine stumme Frau bestiegen hatte, die in den Augen der meisten eine Missgeburt, ein Fehler der Götter war, den man beseitigen sollte. Dank ihrer Ausbildung bei Osane sah Wigbergs Schwester die Dinge ein wenig anders. Doch es gab nur wenige Dorfbewohner, die sich ihrer Meinung angeschlossen hätten. Und selbst, wenn sie ihr im Stillen zustimmten, war kaum einer gewillt, laut auszusprechen, was er glaubte.

 

Tilrun erinnerte sich an den Sommer vor zwei Jahren, als sie gerade begonnen hatte, Osane bei ihrer Tätigkeit als Hebamme zu unterstützen. Damals war sie dabei gewesen, als eine junge Frau ihr erstes Kind zur Welt gebracht hatte. Doch der Fuß des Jungen war unnatürlich gekrümmt gewesen. Wie ein kleiner Klumpen hing er am Knöchel des Neugeborenen. Seufzend hatte Osane den Kleinen dennoch in eine Decke gewickelt. Vielleicht gab es ja für das ansonsten kräftige Kind noch Hoffnung? Es war die Entscheidung des Vaters, ob er seinen Sohn anerkennen würde.

 

Yarik aber, ein alter Jäger und der Vater älterer, starker Söhne seiner ersten, verstorbenen Frau, hatte den missratenen Sohn nur kurz angesehen. Dann hatte er das Kind mit einer angewiderten Geste Ragin überlassen, der bestimmte, dass der Kleine sofort ausgesetzt werden müsse. Ansonsten würde seine Geburt ihnen allen nur Unglück bringen. Man hatte den Jungen weggebracht. Tilrun dachte noch immer mit Grauen an das leise Schreien des Neugeborenen und das herzzerreißende Schluchzen der jungen Mutter, der man ihr erstes Kind nahm.

Doch der Kleine blieb nicht lange allein auf seinem Weg zu Hel. Schon am nächsten Morgen war seine Mutter gefunden worden. Mit dem Kopf nach unten trieb sie im nahen Dorfteich. Der Schmerz über den Verlust ihres Kindes hatte sie ins Wasser getrieben. Yarik hatte ein wenig geflucht, doch sich noch im Herbst desselben Jahres eine neue Frau genommen. Tilrun aber hatte viel Zeit gehabt, sich über den Wert eines Lebens und die Abgründe der menschlichen Handlungen Gedanken zu machen. Damals hatte sie begonnen, manche Dinge infrage zu stellen. Wer konnte denn wirklich wissen, ob aus dem Jungen mit dem krummen Fuß nicht doch ein starker Mann geworden wäre, ein Tischler, ein Schnitzer, gar ein Heiler?

 

Schweigend und in Gedanken erwarteten die drei den Einbruch der Nacht. Osane hatte Harl einen starker Weidensud verabreicht und die Schmerzen in dessen Brust und Bein ließen langsam nach. In dem sicheren Wissen, dass sie sobald keine Gelegenheit mehr dazu haben würde, bereitete die alte Heilerin einen ganzen Wassersack voller Sud zu. Eifrig trug sie zusammen, was ihr vom Inventar der Hütte sonst noch nützlich erschien. Zwar hatten die wenigen Felle und Decken hier ihre beste Zeit schon hinter sich, doch würden sie dennoch wärmen, wenn die kommenden Frühjahrsnächte kalt wären.

 

Osane wusste, dass Wigberg sie nicht zurücklassen würde, wenn er mit seiner Schwester und Harl nun das Dorf verließ. Und sie wusste auch, dass sie sich den dreien gern anschließen würde. Die Missgunst, die seit Ragins Ernennung zum Dorfvorsteher unter den Bewohnern herrschte, traf auch sie. Ragin war sie mit ihrem Wissen ein Dorn im Auge. Ihm stand sie im Weg, wenn er die vollständige Macht erreichen wollte.

Und so stimmte sie Wigberg wenig später sofort zu, als dieser vorschlug, Lindrad und Schari nach Norden zu folgen.

Der aufmerksame Mann hatte schnell bemerkt, dass von Gerwald, Ragin und Arbogast heute Nacht keine Gefahr mehr ausging. Wieder einmal hatten die drei dem Met und Bier fröhlich zugesprochen, um ihren vermeintlichen Sieg über Harl und ihren Triumph über die ungeliebte Osane zu feiern.

 

Die Stille des Dorfes nutzend, hatte Wigberg viel mehr Proviant und Kleidung aus dem Dorf schaffen können als erwartet. Ja, es war ihm sogar gelungen, neben seinen drei Ponys auch Osanes Pferd von der Weide zu holen. Dank der Einzäunung machte sich in diesen friedlichen Zeiten niemand die Mühe, das Vieh rund um die Uhr zu bewachen. Nun herrschte in der kleinen Hütte rege Betriebsamkeit. Es wurde gepackt, geplant und vorbereitet. Harl bekam eine straffe Bandage, die ihm erlauben sollte, auch mit gebrochenen Rippen zu reiten. Wigberg hatte nur gegrinst, als er dessen Dank für die Hilfe hörte.

 

"Dein Eintreffen hat mir nur deutlich gemacht, was ich eigentlich schon länger wusste", gab er zu. "… nämlich, dass ich in diesem Dorf nicht mehr zuhause bin." Mit einem Wink in Richtung seiner Schwester fuhr er leiser fort: "Ich tue das hauptsächlich für sie. Eine Zukunft in Arbogasts Haus hat Tilrun nicht verdient. Ebenso wenig wie du den Tod und Osane ihre Armut. Wir werden neu anfangen, an einem Ort, der hoffentlich besser und vielleicht sogar gerechter ist. Wenn uns das gelungen ist und du deine Gefährtin zurückbekommen hast, dann magst du mir danken. Bis dahin aber sollten wir alle unser Bestes geben!"

 

Im Nebel des ersten Morgenlichts trabten sie schließlich ungesehen davon: Zwei Frauen und zwei Männer mit hoffnungsvollen Gedanken und großen Wünschen. Ein kleiner Wolf tobte ausgelassen zwischen den langen Pferdebeinen umher, den scharfen Hufen dabei wohlweislich aus dem Weg gehend. Noch lag der Norden im Dämmer und sie würden aufgrund der Verletzung des Jägers nicht weit kommen, doch der erste Schritt war getan.

Wigberg führte sie auf festen Wegen, die jede Spur verbargen, bis sie ihre Tiere am Mittag des Tages vorsichtig in den seichten Fluss lenkten. Nun kamen sie nur noch langsam voran. Doch da ihr Weg hinter ihnen unsichtbar blieb, würden sie möglichen Verfolgern  genug Rätsel aufgeben, um nicht gefunden zu werden.

 

 

 

Wigberg rastete zeitig an diesem ersten Tag und er tat gut daran. Harls Brustkorb schmerzte bei jedem Atemzug und sein Knie hämmerte nach dem Tritt, den Gerwald ihm versetzt hatte. Selbst Osanes Bandagen halfen da wenig. Dankbar nahm er die Gabe der Heilerin an, als ihm diese den Wasserschlauch mit dem Weidensud  reichte. Ein wenig würde der Trank die Beschwerden lindern. Dennoch wusste die alte Kräuterkundlerin, dass Harl eigentlich noch ganz andere Kräuter benötigte, die seine Atmung befreiten und die Lunge bei ihrer Heilung unterstützten. Morgen würde sie nach Huflattich und Knabenkraut Ausschau halten. Vielleicht war das Glück ja mit ihnen.

 

Während Harl also völlig erschöpft ein wenig ruhte, bereiteten Tilrun und Osane das Lager vor. Heute würden sie versteckt im Geäst des dicht bewachsenen Ufers sicher noch nicht mit Feinden oder Verfolgern rechnen müssen und so machte sich Wigberg daran, ein paar Fische für das Abendessen zu fangen. Bald schon drehten sich ein halbes Dutzend zarter Forellen über einem fröhlichen kleinen Feuer.

Der Weidensud hatte seine Pflicht getan und so war Harl, vom Duft der Fische angelockt, auch wieder zu ihnen gestoßen. Leise entschuldigte er sich, dass er nichts zu dem Essen beigetragen hatte. Doch die Freunde, und so wollte er seine drei Begleiter gern sehen, verstanden, dass es ihm schlecht ging. Selbst Tatze hatte sich nicht zum Jagen ins Gehölz verzogen, sondern war still und mit eingezogener Rute bei seinem Herrn geblieben, eng an dessen warmen Oberschenkel gepresst. Gerührt sahen die neuen Freunde Jäger und Wolf dabei zu, wie sie sich die abendliche Mahlzeit teilten.

 

Schon unterwegs hatte Wigberg ihm ausführlich von seinen Erlebnissen im Gebirge berichtet und Harl hatte ihm im Gegenzug von dem Überfall auf Scharis Dorf und ihrem Winterlager erzählt. Nun gab Wigberg auch mehr zu ihrem Ziel im Norden bekannt.

"Bevor ich mit meiner Gefährtin Gelsa  sesshaft wurde", erzählte der Mann, "war ich ein Wanderer wir du, Harl." Er lächelte dem Jüngeren freundlich zu. "Anders als du zog ich aber durch die Gegenden nördlich vom Gebirge. Es ist gefährliches Land", gab er zu. "Und ich verstehe, wenn du noch nie dort gewesen bist. Die Bedrohung durch die Nordländer ist größer als hier. Doch es ist auch ein Land voller Abenteuer, gutes Jagdgebiet. In einem Sommer vor gut zehn Jahren dann verletzte mich ein Keiler bei der Jagd schwer am Bein. Die Wunde eiterte und ich glaubte damals, sterben zu müssen, ganz allein, wie ich unterwegs war. Doch es kam alles anders und ich wurde von einer Gruppe Männer gefunden, die in den Gebirgsausläufern nach Erzen suchten. Einer von ihnen brachte mich zu ihrer Siedlung und so kam ich zu dem Volk vom Kahlen Berg, jener Gruppe, zu der ich Lindrad mit deiner Gefährtin geschickt habe."

 

Wigberg suchte Harls Blick bei diesen Worten, um ihm die Ernsthaftigkeit seiner Rede zu versichern.

"Dieses Volk unterschied sich von allem, was ich bisher gesehen hatte. Sie hatten sich nicht mit der Bedrohung aus dem Norden abgefunden, sondern begegneten ihren Feinden mit Abwehr und Waffengewalt. Ihre Häuser haben sie auf eine flache Bergkuppe gebaut, die so günstig gelegen ist, dass man nur auf einer Seite die Möglichkeit hat, hinaufzugelangen. Hier haben sie hohe Mauern und Wälle angelegt, die einen Eindringling zusätzlich abwehren. Ihre Waffen sind besser als alles, was ich bisher gesehen habe und ihr Eisen härten sie stärker, als wir es können."

 

Nachdenklich musterte er sein Gepäck, dann erhob er sich und zog aus einem der Packen eine Kriegsaxt, die er Harl reichte.

"Diese hier stammt von ihnen und wenn du sie mal mit unserem Eisen vergleichst, wirst du die Schärfe zu schätzen lernen."

Er sah dabei zu, wie Harl mit dem Daumen vorsichtig über die Klinge fuhr und dann erstaunt aufsah. Er nickte.

"Doch der Grund, warum ich deine Schari dorthin bringen ließ, ist ein  anderer."

Wigberg zögerte einen Moment lang und sah die drei Menschen, die mit ihm am Feuer saßen nachdenklich an. Dann senkte er den Blick auf seine Hände und zog die Linien seiner Handinnenfläche nach.

"Es ist ihr Glauben, der sich von unserem deutlich unterscheidet und der deiner Gefährtin Sicherheit geben wird", murmelte er dann leise.

Das überraschte Luftholen seiner Schwester und Harls wunderte ihn nicht. Osane blieb still. Was Wigberg hier erzählte, war für sie nichts Neues. In ihren jungen Jahren waren viele Gruppen durch das Land gezogen und sie hatte lernen müssen, dass die meisten davon andere Vorstellungen von den Ewigen hatten als ihr Volk.

 

Dann, als Plünderungen und Überfälle die Menschen ihres Dorfes immer mehr verminderten und schließlich in alle Winde zerstreuten, hatte sie sich mit ihrem Gefährten einer der wandernden Gruppen angeschlossen. Bald schon wurde klar, dass deren Götter weitaus blutdurstiger zu sein schienen als jene, die sie verehrte. Doch Osane hatte geschwiegen. Einen bedrohlichen Gott zu beleidigen, war selbst in ihren Augen keine gute Idee gewesen. Später, im Laufe vieler Jahre, war ihr klargeworden, dass es nicht die Götter allein waren, die die Riten und Opfer bestimmten. Doch auch dann hatte sie sich dem Unvermeidlichen gefügt.

Nun aber saß Wigberg hier, erzählte von der Verehrung der Bergbewohner für die Quellen und uralten Bäume auf ihrem Land, von Getreideopfern und deren Glauben, dass jene, die sich vom Normalen unterschieden, Kinder der Götter sein könnten.

 

Auch Tilrun lauschte den Worten ihres Bruders. Schon oft hatte er von seinen Reisen erzählt, doch sein Wissen über das Volk vom Kahlen Berg hatte er ihr verschwiegen. Vielleicht lag eine Absicht dahinter? Tilrun war sich ziemlich sicher, dass es Wigberg darum gegangen war, dieses Geheimnis vor den anderen Dorfbewohnern zu wahren. Wie gut er daran getan hatte, ging ihr beinahe sofort auf. Wüsste Ragin um das fremde Volk, wäre es ihm leicht gworden, sie zu verfolgen, da er ihr Ziel erahnen konnte.

 

Auch so bestand die Gefahr, dass Gerwald und Arbogast sie nicht einfach so ziehen ließen. Tilrun wusste das. Und so war sie froh, als Wigberg und Harl nach einigem Reden vereinbarten, in einem großzügigen Umweg für Verwirrung und Ablenkung zu sorgen. Sie würden zunächst nach Osten gehen und dann erst in einem weiten Bogen den Weg nach Süden wieder aufnehmen. Damit würden sie ihre Reise zwar verlängern, doch Wigberg war sich ziemlich sicher, dass keiner der Dörfler auf die Idee kommen würde, im östlichen Flachland nach ihnen zu suchen. Hier gab es zu viele Sümpfe und zu wenig nahrhafte Pflanzen, als dass man erwartete, dass sie diesen Weg einschlugen. Wigberg aber stellte sich vor, dass sie lediglich dem Rand der Sümpfe folgten, der sie letztendlich wieder Richtung Norden führen würde. Dass die Wälder dort dichter und die Wege schlammiger sein würden, wollte der erfahrene Wanderer für ihre Sicherheit in Kauf nehmen. Harl stimmte dieser Entscheidung sofort zu, auch, wenn er die Gegend nicht kannte. Nach allem, was er bisher von Wigberg gehört und gesehen hatte, verfügte dieser über ausreichend Erfahrung, um ihnen ein guter Führer zu sein. Osane und Tilrun schlossen sich der Meinung der erfahreneren Männer an. Und so kam es, dass sie am Morgen des nächsten Tages mit dem Blick in die aufgehende Sonne davonritten.

 

 

 

Noch einmal folgten sie dem Fluss, dessen seichte Ufer nun aber zunehmend schlammiger wurden. Die dunklen Erlen, die es begrenzten, ließen erahnen, dass dort, wo sich diese Bäume drängten, feuchter, wenn nicht gar mooriger Boden sein musste. Fliegen und Mücken umsummten sie und machten sogar die geduldigen Pferde unruhig. Tilrun zog sich ihr Schultertuch eng um den Kopf, sodass nur noch die Augen hervor sahen. Sie hasste es, von den aufdringlichen Insekten gestochen zu werden. Wigberg hingegen war weniger zimperlich. Nachdem er sich eine Handvoll Moorerde ins Gesicht gerieben hatte, schienen ihm die kleinen stechenden Biester allerdings auch weniger anzuhaben. Harl folgte dem Beispiel des Älteren bald, während Osane sich mit dem Saft eines fetten Blattes begnügte, das sie am Wegrand gefunden hatte. Tatze hingegen kam gegen die stechenden Plagegeister weniger gut an. Wieder und wieder schnappte er nach den juckenden, brennenden Stichen in seinem Pelz, bis sich Osane endlich erbarmte und den kleinen Wolf während einer Rast einsammelte. Obwohl sich der Welpe halbherzig dagegen zur Wehr setzte, wurde er von ihr gründlich mit dem Schlamm des Flusses eingerieben. Nun sah er eher wie ein Wassergeist, denn wie ein Raubtier aus, doch der feuchte Lehm kühlte angenehm die Stiche und hielt weitere Mücken ab, ihn zu ihrem Opfer zu machen.

 

Bald sahen die vier Reisenden aus wie lange unterwegs gewesene Nomaden, doch das störte sie nicht.

Viel mehr verunsicherte Harl bald eine einzelne Spur, die vor den Hufen seines Pferdes ebenfalls am Ufer des Flusses entlang führte. Leise machte er Wigberg auf die Abdrücke des großen Huftieres aufmerksam. Dieser zügelte sein Pferd, sprang von dessen Rücken und sah sich die Abdrücke der paarigen Hufe genau an.

"Ich denke, es ist nur eine einzelne Kuh", versicherte er Harl. "Solange wir es nur mit einer alten Einzelgängerin zu tun haben, droht gar keine Gefahr. Das sind ja sehr friedliche Tiere."

Doch so sehr Harl dem ebenfalls erfahrenen Jäger im Allgemeinen zustimmte, so wenig beruhigte ihn dessen Rede zum jetzigen Zeitpunkt.

"Wenn nicht gerade Frühjahr wäre, gäbe ich dir sicher recht", erwiderte er. "Doch wenn wir auf eine größere Herde Bisons stoßen, werden die Bullen ihre trächtigen Kühe ohne zu zögern verteidigen. Wir sollten genau auf weitere Spuren und vor allem auch auf Tierlaute achten!", wie er an.

 

Vorsichtiger noch als zuvor, ritten sie weiter. Endlich kamen sie an eine Stelle, an der sich der Fluss in zwei Arme teilte. Hierauf hatte Wigberg gewartet. Dieses seltsame Verhalten des Gewässers war einem einsamen Felshügel geschuldet, der wie hineingestellt in der Ebene aufragte. Warum der Fluss sich vor dem Hindernis teilte und es nicht, wie sonst üblich, umging, wusste Wigberg nicht. Doch er hatte diese auffällige Stelle als hervorragende Orientierung in Erinnerung behalten und lenkte die kleine Gruppe nun sicher weiter in Richtung Nordosten.

 

Zwei weitere Tage folgten sie dem Fluss und je länger sie durchs Land zogen, um so freier und gelöster wurden sie. Wigberg und Harl waren sich inzwischen einig, dass sie durch ihren geschickten Weg alle Verfolger in die Irre geführt hatten. Die Spuren der Waldbisons waren verschwunden und dank des fischreichen Flusses hatten sie Nahrung zur Genüge. So kamen sie weiter und weiter voran und am Ende des dritten Tages beschloss Wigberg, dass es nun an der Zeit war. Am kommenden Morgen wollten sie den Weg Richtung Norden aufnehmen.

 

Fröhliche Spannung machte sich unter den vier Freunden breit. Nun würden sie jeden Tag ihrem Ziel ein wenig näher kommen! Tilrun drängte ihren Bruder, mehr über das Volk auf dem Kahlen Berg zu erzählen und dieser tat ihr gern den Gefallen. Ausführlich schilderte er seine Beobachtungen, die er während seiner Genesung gemacht hatte. Es beruhigte die junge Frau, dass ihr Bruder trotz aller Unterschiede auch viel Vertrautes gesehen hatte. So lebten die Bergbewohner wie sie in festen Holzhäusern, oftmals große Familien gemeinsam in einem Raum. Sie bebauten ihre Felder in der Ebene und hielten Schafe und Rinder. Wigberg schilderte erfahrene Töpfer und begabte Handwerker. Und auch, wenn er sicher ein wenig übertrieb, blieb für alle die Hoffnung, bei den Bergbewohnern Aufnahme und ein neues Zuhause zu finden.

Einzig Harl blieb bei diesen Überlegungen still. Wenn sich Schari tatsächlich am Kahlen Berg befand, wie Wigberg es versicherte, und sie sich dort wohlfühlte, würde er darüber nachdenken zu bleiben. Doch nach dem, was er von seinem neuen Freund gehört hatte, war es ein großes Volk, dass dort auf engem Raum zusammenlebte. Harl waren solche Menschenmengen nicht geheuer. Es war laut, es stank und man war nie wirklich allein, egal, was man gerade tat. Schweigend lauschte er den anderen dreien, als diese ihre Zukunftspläne austauschten.

 

Vielleicht war es Osane, die das Gefühl des Jägers am ehesten verstand. Auch sie war keine Frau vieler Worte. Und so hielt sie sich am Morgen neben ihm, als sie ihre Reise wieder fortsetzten.

"Du kannst auch in die Berge zurückkehren, wenn du Schari gefunden hast", schlug sie Harl vor. "So, wie du es geschildert hast, ging es euch dort oben doch gut, oder?"

Der nachdenkliche Jäger sah die alte Frau neben sich überrascht an. War es so auffällig, dass er sich unwohl fühlte?

"Zuerst einmal muss ich sie finden", murmelte er. "Alles andere kommt danach." Harl zögerte, Er wollte nicht zu pessimistisch sein. "Und wer weiß, ob es ihr gut geht?", gab er dann seine größte Sorge zu. "Als sie geraubt wurde", hier blieb er absichtlich vage, um Wigberg nicht zu verletzen, der zwar dabei gewesen war aber eigentlich gar nichts für jene Schandtaten konnte, die seine Gefährten Schari angetan hatten. "Als sie geraubt wurde, trug sie unser Kind." Harl atmete tief durch. Noch immer begann sein Herz vor Angst schneller zu schlagen, wenn er daran dachte. "Sie haben sie verletzt und wer weiß, wie es ihr geht, wenn ich sie wiederfinde? Mag sein, sie hat das Kind verloren, mag sein, sie ist nicht mehr die Frau, die ich einmal kannte."

Osane seufzte schwer.

"Ich weiß, Harl", gab sie zu. "Auch ich mache mir Sorgen. Doch solange du dir über ihren Tod nicht sicher bist, solltest du die Hoffnung nicht aufgeben." Die Alte trieb ihr Pferd noch ein wenig näher zu Harl. "Solltet ihr aber wirklich irgendwann ins Gebirge zurückkehren, wäre es schön, wenn du darüber nachdenkst, ob ihr dort oben nicht eine Heilerin wie mich dabei haben wollt."

 

Sie hatten sich beide intensiv auf ihr Gespräch konzentriert und so war ihnen entgangen, dass Tilrun und Wigberg vor ihnen erschrocken ihre Pferde gestoppt hatten. Nun schlossen Harl und Osane schnell auf und der Jäger bekam gerade noch so die Zügel gestrafft, sonst wäre seine Stute an Wigberg vorbei getrabt. Das, was er nun zu sehen bekam, ließ ihn unwillkürlich die Luft anhalten. Vor ihnen graste eine unübersehbare Herde Waldbisons. Kälber standen bei ihren Müttern, die Bullen lagen aufmerksam am Rand der Herde. Noch schienen die Tiere sie nicht bemerkt zu haben.

"Ganz langsam zurück!", wies Harl an und zog vorsichtshalber sein Messer aus dem Gürtel, die einzige Waffe, die er noch besaß. Er verlagerte den Schenkeldruck so, dass sein Gewicht nun auf den Gesäßknochen lagerte und gab der Stute ein deutliches Zügelzeichen. Unwillig schnaubte das Tier, folgte aber dann doch dem Willen seines Reiters. Erleichtert sah Harl, dass es auch den anderen dreien gelang, sich zurückzuziehen.

 

Schon wollte er aufatmen und seinem Pferd den Befehl zur Wende gaben, als er es spürte. Da, wo eben gerade noch absolute Windstille geherrscht hatte, strich nun ein kühler Windhauch über seinen Nacken. Die kleine Frühlingsböe wehte über ihn hinweg und ließ die Blätter der Erlen rascheln. Ebenso schnell, wie er das Dilemma erkannt hatte, reagierten die Bisonbullen. Kaum hatte der Duft der Menschen ihre Nüstern erreicht, erhoben sich jene beiden Tiere, die ihnen am nächsten waren und wandten sich zornig den Eindringlingen zu. Tatze knurrte abwehrend. Wigberg tat mehrere Dinge gleichzeitig. Mit den Schenkeln drückte er sein Pferd herum und griff dabei auch in das Zaumzeug bei Tilrun, um diese und ihr Reittier mit sich zu reißen. Dann, als auch das Tier seiner Schwester die Wende bewerkstelligt hatte, schlug er diesem hart auf die Kruppe und brüllte ein lautstarkes "Weg!". Dann trieb er seinem eigenen Pferd die Fersen in die Seite und zog zur Sicherheit noch eine der beiden Streitäxte vom Rücken.

 

Während nun die Geschwister davon galoppierten, hatte Osane große Mühe, dem Pferd unter ihr ihren Willen aufzuzwingen. Der kleine Wallach war von den Bisons vollkommen verunsichert. Die bedrohlichen Riesen kamen immer näher! Seine Angst wurde so groß, dass er den Befehlen seiner Reiterin nicht mehr nachkommen konnte. Die Last auf seinem Rücken behinderte ihn! Schnaubend und schäumend vor Angst stieg das Tier und Osane, die aufgrund ihres Alters nicht mehr über ihre volle Körperkraft verfügte, konnte sich nicht auf dem Rücken des buckelnden Pferdes halten. Aufschreiend fiel die Heilerin auf den weichen Boden. Schnell sprang sie wieder auf. Sie musste ihr Pferd zurückgekommen! Doch so sehr sie sich auch bemühte, bekam sie weder Zügel noch Schweif des fliehenden Tieres zu fassen. Schon kam das Stampfen der Bisonhufe bedrohlich näher, als sie eine feste Hand am Arm packte und sie hinter Harl auf dessen Stute gezogen wurde. Mit einem lauten, fordernden Schrei trieb ihr Retter das ebenfalls ängstlich ausschlagende Tier an. In einem Regen aus Torfklümpchen und Matsch jagten sie davon und in Sicherheit.

 

 

Zwei Tage später war Harl sich sicher. Sie hatten Wigberg und Tilrun bei ihrer wilden Flucht vor den angreifenden Bisons verloren. Zwar gab der feuchte Untergrund den ersten Tag lang Auskunft über den Weg, den die beiden eingeschlagen hatten. Doch da der Jäger sich mit Osane beim Reiten abwechseln musste, weil sie das verbliebene Pferd nicht zu schnell ermüden wollten, wurde der Abstand zu den Geschwistern immer größer.

 

Ja, Harl hatte am Alter der Fährte deutlich gesehen, dass die beiden mindestens einen halben Tag lang auf sie gewartet haben mussten. Doch natürlich war es ihnen zu gefährlich erschienen, noch einmal zurückzugehen. Und Harl sah ein, dass auch er nicht anders gehandelt hätte. Bei den wenigen Waffen, über die sie verfügten, wäre keiner von ihnen in der Lage gewesen, ein ernst zu nehmenden Angriff eines Bullen abzuwehren. Wigberg war zudem für seine Schwester verantwortlich. Wenn sie irgendwann einander wiederfinden würden, dann in der Siedlung am Kahlen Berg. Den Weg dorthin würde er nun mit Osane allein beschreiten müssen. Dabei verspürte er eine gewisse Erleichterung, als er daran dachte, dass zumindest sein kleiner Wolf nach einem langen Tag der Ungewissheit zu ihnen zurückgekehrt war, schlammverspritzt und mit einem tiefen Kratzer über der Nase hatte sich der Kleine verängstigt ins Lager geschlichen. Doch bei genauerer Betrachtung war der Welpe weitestgehend unversehrt. Es war ihm vorgekommen, als ei ein vermisster Freund zurückgekommen.

 

Nachdenklich musterte der Jäger die alte Heilerin, die vor kurzer Zeit abgestiegen war und ihm den Platz im Sattel überlassen hatte. Rüstig schritt die Alte aus, den Rücken leicht gebeugt, die knorrigen Hände dahinter verschränkt. Sie war zäh, das musste man ihr lassen. Und Harl war froh, seinem schmerzenden Knie und seinem keuchenden Atem ein wenig Ruhe zu gönnen. Wie sehr man doch auf einen gesunden Körper angewiesen war, sinnierte er. Der Schritt vom Belauschen des eigenen Inneren zu Schari war klein. Ja, er hatte von Anfang an bewundert, wie klaglos und ausdauernd sie gekämpft hatte, als es galt, den herbstlichen Pass im letzten Jahr zu überwinden. Doch heute, mit der Erkenntnis, wie sehr Schmerz den Körper belasten konnte und wie gierig er an der Geduld und der Selbstbeherrschung nagte, sah er seine Gefährtin noch einmal in einem neuen Licht. Schari war einfach großartig! Und sie passte hervorragend zu einem so ruhelosen Mann wie ihm.

 

Der Jäger verzog das Gesicht zu einer gequälten Grimasse, als ihm klar wurde, dass er sich schon wieder ihre gemeinsame Zukunft vorstellte. Doch ob es jene kleine Hütte inmitten von Apfelbäumen und umgeben von einem Garten und ein oder zwei Feldern in ihrem Gebirgstal jemals geben würde, wussten allein die Götter.

 

Harl rief sich zur Ordnung. Es nützte niemandem auch nur das Geringste, wenn er hier in Tagträumereien schwelgte. Viel mehr musste er dafür sorgen, dass sie aus diesem Nebelwald herauskamen und den Weg zum Kahlen Berg fanden. So wie es ihm Wigberg geschildert hatte, lag noch ein guter halber Mond Wanderung vor ihnen. Rechnete man dazu, dass sie mit einem Pferd viel langsamer vorankamen als bisher, mochte es doppelt so lang dauern, bis sie ihr Ziel erreichten.

 

Der Jäger machte erneut eine Bestandsaufnahme. Es ließ sich nicht leugnen. Ihre Ausrüstung war denkbar spärlich und die wenigen Waffen, die ihnen verblieben waren, taugten nur sehr bedingt zur Jagd. Harl wusste zwar von Osane, dass diese über ein großes Wissen, essbare Pflanzen betreffend, verfügte, doch auch das Sammeln würde viel Zeit kosten. Zeit, die sie viel besser in ein schnelles Fortkommen stecken sollten. Doch sie mussten auch essen, sonst würden ihnen sehr bald die Kräfte schwinden.

 

"Wir müssen uns einen Tag Zeit nehmen, um einen Speer herzustellen, jagen zu gehen und Vorräte anzulegen", ließ er Osane wissen, die erstaunt zu ihm aufsah. Sie wusste natürlich, dass er um jeden Preis vorankommen wollte und musterte ihn daher nachdenklich. Doch Harl war sich seiner Sache sicher. "Wenn wir uns darauf verlassen, dass wir unterwegs irgendeine Nahrung finden, kann das übel ausgehen", gab er ihr zu bedenken. "Und wenn wir die Gelegenheit zur Jagd bekommen, aber nicht über eine passende Waffe verfügen, nützt uns das beste Kaninchen gar nichts."

 

Osane lachte bei seinem grimmigen Blick leise auf. "Du hast recht. Mit der Axt kann man einen Hasen kaum erschlagen. Was also schlägst du vor?"

Ausführlich erklärte der Jäger nun, wie er den Bau eines Speeres bewerkstelligen wollte. Immerhin verfügten sie zusammen über ganze drei Messer. Eine der Klingen ergab bestimmt eine brauchbare Speerspitze und alles andere würden sie über kurz oder lang auf ihrem Weg nach Norden finden.

 

Noch einmal tauschten sie die Plätze und dann hielten die beiden Reisenden schweigend Ausschau nach einer gerade gewachsenen Esche oder einem großen Haselstrauch und nach einer Weide. Dank des wasserreichen Gebiets war  letztere auch bald gefunden und sie deckten sich großzügig mit den schmalen, biegsamen Ruten des Baumes ein. Die Suche nach einem gerade gewachsenen Eschenstämmchen gestaltete sich dann etwas schwieriger, doch als die Sonne im Zenit stand, war auch ein passendes Bäumchen gefunden. Nun kam Wigbergs Kriegsaxt zum Einsatz und Osane musste still schmunzeln, als sie daran dachte, wie entsetzt der Krieger wäre, könnte er Harl nun sehen. Der Jäger benutzte die Waffe wie ein Werkzeug, kaum daran interessiert, Kratzer oder gar Scharten zu vermeiden. Kraftvoll fuhr die Klinge nieder und schon bald hielt Harl den Schaft seiner neuen Lanze in den Händen.

 

Nun suchten sie sich einen geeigneten Lagerplatz und während Osane auf die Suche nach essbaren Wurzeln und Knollen ging, machte sich Harl ans Werk. Schon bald hatte der Eschenschaft seine Rinde verloren, war die Messerklinge vom Griff gelöst. Nun ging der Jäger ruhig und konzentrierter zu Werke. Gründlich betrachtete er noch einmal die Form der Eisenklinge, froh, dass es kein Steinmesser war und fuhr die Ränder des Gusses nachdenklich mit den Fingerspitzen ab. Dann erhielt der Eschenschaft eine ähnliche gründliche Betrachtung, bevor Harl das obere Ende des Stämmchens mit dem zweiten Messer spaltete. Sorgfältig schälte er die Kerben in die Öffnung, bevor er die Klinge einsetzte. Schließlich griff er zu dem Bündel Weidenruten und suchte sich die längsten und biegsamsten aus. Diese bekamen ebenfalls eine vorsichtige Behandlung mit dem Messer, doch hier schob Harl nur die obere Schicht der Rinde ab. Dann schlang er den Bast straff um die Halterung der Speerspitze. Eine weitere Bastschicht fand ihren Weg um den Eschenstamm, um jene Stelle zu verstärken, an der Harl später die Waffe anpacken würde. Schließlich entzündete der Mann ein kleines Feuer, über dem er Schaft und Bast langsam trocknete. Durch die Hitze zog sich die Umwicklung noch enger um das Holz und bald schon saß die Klinge fest, als habe sie nie einem anderen Zweck gedient.

 

Harl war zufrieden. Endlich besaß er wieder eine Jagdwaffe, die diesen Namen verdiente. Stolz präsentierte er den Speer der Heilerin, die mit zwei Handvoll Knollen ins Lager zurückgekehrt war. Nachdem sie ihren größten Hunger an dem rohen Gemüse gestillt hatten, ging Harl zusammen mit Tatze erstmals nach dem Bisonangriff wieder auf Jagd. Und das Schicksal musste ihm wahrlich gewogen sein, denn schneller als gedacht, stieß er auf einen bewohnten Kaninchenbau. Die Dämmerung ließ sich bereits erahnen und so kam es, dass der Jäger, kaum dass die Sonne den Horizont berührte, mit zwei erlegten Tieren ins Lager zurückkehrte. Das Leuchten in Osanes Augen, als sie den Braten sah, gefiel ihm. Bald schon drehten sich beide Tiere über dem kleinen Feuer und der Duft, der von dem gerösteten Fleisch aufstieg, ließ ihnen das Wasser im Munde zusammenlaufen.

 

Auch wenn sie heute nicht gerade einen langen Weg zurückgelegt hatten, war es ein erfolgreicher Tag gewesen. Harl biss in einen knusprigen Hasenschenkel und lächelte. Mit ein wenig Fleisch im Bauch sah er schon viel zuversichtlicher in die Zukunft.

 

 

 

Harls Zuversicht schien sich zu bestätigen. Vier Tage waren sie jetzt schon allein unterwegs und es entwickelte sich so etwas wie eine Routine. Früh am Morgen begannen sie ihre Wanderung und wenn die Sonne  am Nachmittag zwei Handbreit über dem Horizont suchten sie sich einen Rastplatz- Während Osane das Lager herrichtete und auf ihre Art nach etwas Essbarem suchte, ging Harl mit dem neu hergerichteten Speer auf die Jagd. Nun kam ihnen die langjährige Erfahrung und das Geschick des Jägers zu Gute. Bisher hatte der Mann immer eine Beute mitgebracht, auch, wenn es gestern nur zwei Forellen gewesen waren, die er aufgespießt hatte. Harl mochte das zarte, helle Fischfleisch. Er erinnerte sich daran, wie er Fische gefangen hatte, als er über Schari während ihres Fiebers gewacht hatte. Ob ihr Lächeln für ihn wohl immer noch so strahlend wäre, wenn er ihr endlich gegenüberstehen würde?

 

In der Nacht träumte der Jäger von ihrem verlockenden Körper. Es waren sehr reale Bilder, die ihm sein Schlaf vorgaukelte, sodass er am Morgen ein wenig verwirrt war, als er auf dem kalten Boden erwachte und nicht in ihrer gemütlichen Winterhöhle. Seufzend rollte er sein Bündel zusammen. Osane reichte ihm ein paar Knollen, die sie beide im Stehen aßen. Dann zogen sie weiter.

 

Sie kamen gut voran und kurz bevor die Sonne im Zenit stand, verließen sie den sumpfigen Wald und gelangten in ein Gebiet, in dem sich niedere Büsche mit Grasflächen und Heidekraut ablösten. Beide waren froh, dem nassen Moorland entkommen zu sein. Osane hatte ihren Platz auf dem Pferd und Harl schritt schwungvoll aus. Tatze lief ihnen voran und erkundete den Weg. So, wie der Boden gerade beschaffen war, würden sie gut vorankommen.

Längst war der Schmerz in seinem Brustkorb weitgehend abgeklungen und auch sein Knie funktionierte problemlos. Hier und da schimmerten gelbe und lilane Frühlingsblumen auf den bräunlichen Grasflächen und erste hellgrüne Spitzen drangen durch manches Büschel vom Vorjahr. Der Tag war schön!

 

Das Land wurde nun weiter und überschaubarer und irgendwo ganz weit hinten am Horizont konnte man schon die ersten Hügel erahnen. Dort irgendwo würde auch der Kahle Berg zu finden sein. Harl stellte fest, dass sie sich inzwischen auf einer Art Weg befanden. Es war kein ausgetretener Pfad, wie er sie von den Siedlungen am Fuß des Gebirges kannte. Das Gras stand hoch und es war schon seit langer Zeit niemand hier durchgekommen. Dennoch, wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, wie sich der Weg ein wenig von seiner Umgebung abhob. Büsche verliefen an seinem Rand und dort, wo auf den unberührten Wiesen auch Beifuß, Wilde Karde und die abgestorbenen Blütenstände des Fackelkrautes[10] wuchsen, war der Boden des alten Weges nur mit kurzen Gräsern bedeckt, hier und da noch von Wegerich, der sich überall breit machte, durchzogen.

 

"Mir scheint, wir nähern uns bewohntem Gebiet", brummte Harl nach seinen Beobachtungen. Osane folgte seinem Blick und erkannte, was er meinte. "Da ist ein Weg", stimmte sie zu. "Das ist doch gut. Dann müssen wir uns nicht durch Gestrüpp und hohe Pflanzen schlagen."

Der Jäger blieb skeptisch. "Wir werden dem Pfad folgen, so lange die Richtung stimmt", legte er fest. "Doch von jetzt an müssen wir aufmerksam sein. Wir wissen nicht, ob man uns hier so wohlgesonnen sein wird, wie es sich Wigberg gewünscht hat."

 

Osane schwieg und beobachtete Harl dabei, wie er seine spärlichen Waffen kontrollierte. Der Mann war vorsichtig. Das gefiel ihr. Aufmerksam betrachtete sie nun auch die Gegend. Das flache, weit offen Land war ihr nicht ganz unbekannt. Vor vielen Jahren war sie auf ihren Wanderungen schon einmal irgendwo in dieser Ebene gewesen, mit einem Mann, der sein  Lager mit ihr geteilt und sie in die Geheimnisse der Heilkunst eingewiesen hatte. Doch die Götter der Gruppe, in der sie lebten, hatten mehr als nur Anbetung verlangt. Blut wurde ihnen gezollt, von Tieren und Menschen. Osane konnte diesen Kult nicht verstehen, da er sich zu sehr von allem unterschied, was man ihr als  Kind über die Götter gelehrt hatte. Irgendwann hatte sie die neu angelegte Siedlung dann verlassen und war mit einer anderen Gruppe weitergezogen, bis sie irgendwann in jenem Dorf sesshaft geworden war, das nun Ragin beherrschte. Doch die Menschen mit ihren blutdürstenden Göttern hatten schon damals unter der kargen  Bedingungen der Gegend gelitten und mochten den Ort schon lange verlassen haben, oder?

 

So zogen sie schweigsam weiter und am Nachmittag gelangten sie zu einem kleinen Wäldchen aus krummen Birken und Haselsträuchern und halbwüchsigen Buchen. Sie beschlossen, hier zu rasten. Auch wenn die Nüsse und Eckern vom Vorjahr für sie nicht mehr genießbar waren, mochte es sein, dass sie vielleicht eine Familie Eichhörnchen oder andere kleine Nager anlockten, die sich als leckerer Braten über dem Feuer gut ausnehmen würden.

Harl versorgte das Pferd, dann machte er sich für die Jagd bereit. Osane aber begann, Holz für ein Feuer zu sammeln und die Umgebung nach Essbarem abzusuchen. Vielleicht fand sie etwas Lauch, um eine Suppe zu kochen? Die Gegend war ziemlich trocken und sie war froh, dass sie vor Verlassen des Waldes noch ihre Schläuche gefüllt hatten. Hier eine Quelle zu finden, mochte schwierig werden.

 

Der Jäger verließ den Lagerplatz und drang leise tiefer in das Wäldchen ein. Ein Windhauch ließ die Blätter erzittern und das Laub zu seinen Füßen raschelte trocken. Das hier würde schwierig werden, vermutete er. Deshalb hatte er auch seinen Wolf bei Osane zurückgelassen. Bei diesem Boden kam er nicht geräuschlos vorwärts und die vier Pfoten des Welpen wären auch nicht leiser. Eine Krähe schrie warnend, ein Ast knackte und Harl schlich vorwärts, sehr im Zweifel, ob er heute Erfolg haben konnte.

 

Weiter vorn begann das Gelände steiniger zu werden und lose Felsbrocken unterbrachen den mickrigen Wald. Vielleicht hatte er dort mehr Glück? Es musste ja nicht unbedingt ein Pelztier sein. Auch eine Schlange, die sich in der verblassenden Sonne des späten Nachmittags wärmte, mochte ein gutes Mahl abgeben.

Vorsichtig pirschte der Jäger weiter, alle überflüssigen Geräusche vermeidend und bog schließlich zwischen den immer höher aufragenden Felsen um einen Vorsprung, der ins Innere der Steinablagerung zu führen schien. Der Wind blies ihm nun ins Gesicht und Harl war zufrieden. Damit verbarg dieser seine Ankunft im Jagdgebiet.

 

Er umrundete noch einen der lose herumliegenden Felsen und blieb dann wie vom Donner gerührt stehen. Vor ihm, keine fünf Schritte entfernt, ragte ein von Ranken umschlungenes Steintor auf. Der Wald hatte das Bauwerk zwar schon zum Teil für sich zurückerobert, dennoch war das, was Harl sofort zurückschrecken ließ, deutlich zu sehen. In kleine Nischen, die in die beiden, aus lose aufeinander gestellten, behauenen Steinen bestehenden Torsäulen hatte man zu beiden Seiten je drei menschliche Schädel gelegt, an denen zum Teil noch das Kopfhaar zu sehen war. Der Querbalken des Tores - und etwas anderes konnte dieser Bau wohl kaum sein - war mit vom Wetter strapazierten, abgebrochenen  Lanzen und einem Schild geschmückt. Von diesem Schmuck hingen Efeuranken  herab und ließen den Eingang zu einem dunklen, magischen Ort werden.

 

Harl hatte schon viel gesehen und erlebt, doch das hier überstieg seine Auffassungskraft. Ohne noch auf seine Lautlosigkeit zu achten, wich der Jäger von dem unwirklichen Ort zurück. Sich mühsam von dem Schrecken erholend, den er nun zumindest nicht mehr vor Augen hatte, atmete er tief durch und versuchte, sich zu sammeln. Was, beim Bart des Gottvaters war das denn gewesen?

 

Er versuchte sich auf die Tatsachen zu konzentrieren. Hier und heute hatten sie keinerlei frische Spuren von Menschen gesehen. Sollten sie zufällig auf eine geheime Kultstätte eines ihm unbekannten Bundes gestoßen sein, so war sie schon lange verlassen. Es gab also eigentlich keinen Grund, so schreckhaft zu sein. Eigentlich …

 

Harl dachte lange nach, bevor er sein Messer aus der Scheide zog und so, mit dem Speer in der Linken und dem Messer in seiner Wurfhand, erneut in das Felsengewirr hineinging. Nun, da er auf den Anblick gefasst war, kam ihm das Ganze nicht mehr so bedrohlich vor. Er sah die feinen Risse in den Hölzern des Querbalkens, die darauf hindeuteten, dass er schon mehrere Jahre dort oben aushielt. Er sah das Moos an den Steinen und den Efeu. Hier war lange Zeit kein Mensch mehr gewesen.

 

Vorsichtig schob er die Schlingpflanzen ein wenig beiseite und trat ein. Das Innere war, wie auch der Eingang, von der Natur bereits teilweise zurückerobert worden. Dennoch sah Harl bei näherer Betrachtung eine Erhebung direkt vor sich und dahinter die Reste einer Hütte oder einer Überdachung.  Auf alten Baumstümpfen beidseits des Eingangs waren wie schon vorn Bündel von Schilden und Lanzen befestigt.

Hier hatten ganz offensichtlich die Gewinner eines Kampfes ihrem Sieg gefrönt. Neugierig trat Harl ein wenig näher und wühlte mit der Fußspitze in dem weichen Material der Erhebung. Sie lag direkt in der Mitte einer nun gut sichtbaren Steineinfriedung, die den gesamten Platz umschloss. Feiner dunkler Staub wirbelte auf und Harl stellte fest, dass es Asche war, die seine Schuhe beschmutzte. Er stand auf einer riesigen Feuerstelle! Einzelne helle Gebilde hoben sich von dem dunklen Staub ab und als Harl begriff, dass dies Knochen waren, sprang er zurück.

Dies war ganz sicher auch ein Opferplatz!

 

Vorsichtig, um nicht erneut mit den Resten der Feuerstelle in Berührung zu kommen, umrundete Harl das Zentrum des Platzes und näherte sich dann  den Resten der Hütte. Neugierig spähte er ins Innere der Ruine. Das, was er nun zu sehen bekam, konnte er im ersten Moment gar nicht zuordnen. Säuberlich waren hier unzählige Gebeine aufgestapelt, hier lange Röhrenknochen, dort die Knochen der Rippen und die Wirbel.

Zuerst wollte es sein Verstand gar nicht aufnehmen, doch dann kam er nicht umhin festzustellen, dass das keine Tierknochen waren. Hier lagen die Überreste von Menschen.

 

Harl hatte genug gesehen. Hier würden sie heute keinesfalls noch länger bleiben. Abrupt wandte er sich um und lief mit langen, ausgreifenden Schritten zurück zu ihrem Lager. Nur weg von hier! An einem solchen Ort würde er niemals rasten und ausruhen können, an die Bedrohung durch die sicher ruhelosen Toten, die er gesehen hatte, ganz zu schweigen.

 

 

 

 

 

Mit weit ausgreifenden Schritten kehrte Harl zu ihrem provisorischen Lagerplatz zurück. Noch hatte die alte Heilerin nicht einmal ein Feuer entzündet, als er ihr schon erklärte, dass sie auf der Stelle weiterziehen würden. Doch so schwierig wie gedacht wurde es für den Jäger gar nicht, der Frau seine Pläne zu erklären. Schon die ersten Worte seiner Beschreibung ließen sie erahnen, was Harl hinter den schützenden Bäumen gefunden hatte. Nun hielt auch sie einen Moment lang erschrocken die Hand vor den Mund. Dann nickte sie zustimmend.

"Gehen wir! Dies ist tatsächlich kein Ort um zu verweilen."

 

Mühsam sammelte sie die wenigen Wurzeln und Nüsse ein, die sie hatte finden können. Harl half ihr, die wenigen Nahrungsmittel in ein Tuch einzuschlagen. Dann half er der Alten aufs Pferd und reichte ihr die anderen Habseligkeiten hinterher, die sie besaßen. Heute würden ihre Mägen leer bleiben. Doch es half alles nichts - in einem solchen Wald konnte er einfach nicht jagen oder gar schlafen. Entschlossen führte er das Pferd zurück auf den angedeuteten Weg und schritt mit Tatze neben sich zügig voran.

"Wir müssen uns mehr westlich halten", erklang plötzlich Osanes Stimme hinter ihm. "Wenn wir hier einen Opferplatz der grauen Krieger[11] gefunden haben, sind wir sehr weit nach Osten geraten."

 

Überrascht blieb Harl stehen, sich fragend zu der Alten umwendend. Diese nickte ihm lächelnd vom Pferderücken aus zu. "Ja, ja, mein lieber Harl! Auch ich war einmal jung, auch wenn man das heute kaum mehr glauben mag. Wigberg hatte schon recht, uns zum Kahlen Berg zu schicken. Er kennt sich aus. Doch ist auch mir die Gegend hier nicht so ganz unbekannt. Und der Tempel, den du gefunden hast, ist es auch nicht."

Osane gab ihrem Pferd einen leichten Tritt in die Seiten und das Tier schloss brav neben Harl auf, der sich dem langsamen Schritt anpasste.

 

"Wer genau die Angreifer waren, konnte ich schon damals nicht erfahren", begann die Alte dann für Harl zu berichten. "Wir, mein Gefährte und ich, waren vor einem schlimmen Fieber geflohen, das unser Dorf betroffen hatte. Zu viele waren schon gestorben, als dass wir noch Hoffnung hatten, die Siedlung erhalten zu können. Auf unseren Wanderungen waren wir auf eine kleine Gruppe junger Männer getroffen, die auf Abenteuer aus waren und zu den sogenannten grauen Kriegern wollten. Wir waren neugierig und schlossen uns ihnen an. Von den wilden Kämpfern, die sich die Gesichter schwarz färbten und sich ihre Haare mit Kalk aus dem Gesicht hielten, wenn sie gegen einen Feind zogen, hatten wir nur unglaubliche Geschichten und Überlieferungen gehört. So anders als wir konnten sie gar nicht sein, dachten mein Gefährte und ich damals."

 

Osane versank eine Weile in andächtiges Schweigen und Harl störte sie darin nicht.

"Wir hätten nicht dümmer und gutgläubiger sein können", brummte die Alte schließlich bitter. "Sie waren anders, völlig anders als jede Gruppe, die wir bis dahin kennengelernt hatten." Die Heilerin strich sich hilflos ein paar lose Haare aus dem Gesicht. so lang war das Ganze schon her und doch, wenn sie an damals zurückdachte, lief es ihr heiß und kalt den Rücken hinunter.

"Es musste eine Zeit gegeben haben, lange vor unserer Ankunft, in der dieses Volk wirklich stark und unschlagbar für seine Feinde gewesen war. So, wie sie es berichteten, waren es Krieger aus dem Osten gewesen, die immer wieder versucht hatten, das Land, auf dem wir jetzt stehen, zu erobern. Mehrfach konnten die grauen Krieger sie zurückschlagen. Doch der Frieden währte nie lange. Also beschloss ihr Schamane eines Tages, dass es Zeit wäre, ein Zeichen zu setzen. Er fastete und betete lange zu den Göttern, zu den Geistern und den Ahnen und beschloss dann, dass jeder Mann, der eine Waffe zu handhaben verstand, beim nächsten Angriff dabei zu sein habe."

 

Wieder dachte Osane nach und Harl sah die wilden Horden der bemalten, grauhaarigen Kämpfer beinahe vor sich. Er fror, ahnend, was nun käme. Gerüchte um jene gnadenlosen Opfer waren auch bis über das Gebirge hinweg weitergetragen worden. Was davon jedoch Wahrheit, was Erfindung war - er wusste es noch nicht.

"Sie zogen mit allem, was ihnen in die Hände kam, in den Kampf", fuhr Osane fort. "So zumindest wurde es uns von ihren Nachfahren erzählt. Sie besiegten die Krieger aus dem Osten und nicht einer von diesen kam mit dem Leben davon. Dann aber, als der letzte Feind gefallen war, ließ ihr Schamane einen Tempel errichten, erbaut aus Holz, Stein und den Gebeinen ihrer Feinde. Schädel schmückten das Eingangstor, Waffen den Innenraum und in den Hütten stapelten sie die Gebeine ihrer Opfer wie Holz in einem Schober."

 

Nachdenklich musterte Osane den stumm neben ihr herlaufenden Jäger. "Das, was du heute gesehen hast, ist nur einer von mehreren Kultplätzen, die alle ähnlich sind. Mit den Jahren kamen immer wieder einmal Feinde über die östliche Ebene, die nach mehr Land und Besitz strebten. Gerade in der Nähe der Flüsse ist der Boden hier äußerst fruchtbar, sodass er vor allem Bauern anlockt. Die grauen Krieger aber blieben unerbittlich. Nachdem sie erst einmal erkannt hatten, wie abschreckend ihre Schädelstätten wirkten, legten sie nach jedem Kampf einen solchen Platz an. Und es hielt die Feinde auch wirklich ab, sich diesem Land zu nähern."

Die Heilerin verstummte erneut und dachte darüber nach, wie sie berichten sollte, was sie selbst bei den Grauen gesehen hatte. Ob Harl verstand, warum sie damals nicht geblieben war?

Doch der Jäger hatte gut zugehört und sich seine eigenen Gedanken gemacht. "Das Land hier ist verlassen", stellte er leise fest. "Und ihr Tempel schon verfallen. Wo sind sie hingegangen? Sind sie das Volk vom Kahlen Berg?"

 

Osane lachte auf. Harl war nicht dumm. Doch ganz so, wie es sich der Mann vorstellte, war es nicht. "Nein, mein Lieber!", ließ sie ihn wissen. "Die Bewohner des Berges sind jene, die die Grauen besiegt haben. Sie haben dem Spuk schließlich ein Ende gemacht, als ich schon längst an einem anderen Ort lebte. Doch sie haben manches mit den grauen Kriegern gemein: sie benutzen das beste Eisen für ihre Waffen, sie können reiten, als seien sie auf einem Pferderücken geboren und kennen wenig Gnade, wenn sie angegriffen werden."

Schon runzelte Harl die Stirn und wollte zu einer Erwiderung ansetzen, als Osane fortfuhr: "Eines aber unterscheidet sie ganz gewaltig von den Kriegern hier in der Ebene - sie opfern keine Menschen."

Der Jäger atmete tief durch. "Und die grauen Krieger? Wie haben sie geopfert?" Harl wollte nun alles wissen, was Osane erzählen konnte. Wenn sie schon bereit war, ihn an ihren Erinnerungen teilhaben zu lassen …

 

"Das Volk der grauen Krieger kam hier in den Ebenen nicht so gut zurecht, wie es sich das erhofft hatte. Sie gruben den Boden um und pflanzten Getreide und Rüben und sie weideten ihre Kühe und Schafe auf den Wiesen. Doch indem sie auf die Jagd verzichteten, machten sie sich zu sehr von den Erträgen abhängig, die sie dem Land abtrotzen konnten." Osane seufzte. "Eigentlich wiederholt es sich immer wieder. Gestern traf es die Grauen, heute trifft es Ragins Dorf. Und sie tun es gewiss bald ebenso wie jenes Volk, dessen verlorenen Tempel du heute  wiedergefunden hast - sie werden Thor, Frigg und wer weiß wem Opfer bringen, Opfer, die erst aus Tieren bestehen und wenn sie dann nicht mehr weiterwissen, werden sie Menschen opfern. Es ist gut, dass deine Schari es nicht bis ins Dorf geschafft hat. Wer weiß, ob sie dann nicht hätte sterben müssen …"

 

Lange sinnierten die beiden Weggefährten noch, was ein Volk dazu brachte, sich plötzlich gegen seine alten Sitten und Werte zu wenden. Auch Harl glaubte nicht daran, dass die Götter so blutgierig waren, dass man ihnen Menschen vorwerfen musste, um sie gnädig zu stimmen. Doch selbst er hatte schon Opfer für Donar gesehen oder Thor, wie ihn Ragins Leute nannten. Damals, er war noch jung gewesen, hatte der Schamane eines Dorfes, das er besuchte, nach einem Brand den Donnerer gnädig stimmen wollen und das Opfer, einen gefangenen jungen Krieger, an einen großen, abgestorbenen Baum gebunden. Dann, als dank des abendlichen Sommergewitters ein Blitz in dessen Krone einschlug und das Holz samt dem Opfer lichterloh brannte, war der Lärm der Feiernden lauter gewesen als die Schreie des brennenden Jungen. Schon damals hatte Harl ernsthaft an der Rechtschaffenheit einer solchen Götterverehrung gezweifelt und er tat es heute nicht weniger.

 

 

 

 

Die langen Tage der Wanderschaft ließen Osane und Harl viel Zeit zum nachdenken. Mancherlei Erfahrungen wurden ausgetauscht, Hoffnungen und geheime Wünsche offenbart und irgendwann wurde dem Jäger klar, dass er es erneut angenehm empfand, mit einem anderen Menschen zusammen zu sein. War er vielleicht gar nicht der zufriedene "einsame Wolf", für den er sich immer gehalten hatte? Oder waren Schari und Osane besondere Personen, deren Nähe ihm deshalb mehr bedeutete? Harl dachte lange darüber nach. Obwohl er sich selbst auf diese Frage keine befriedigende Antwort geben konnte, fand er dennoch heraus, dass ihm der Gedanke, langfristig mit der Heilerin zu leben, gefallen würde. Vielleicht erinnerte sie ihn ein wenig an seine Mutter, vielleicht waren es ihre besonnene Art und ihre stille Weisheit des Alters, die ihm gefielen. Der Jäger gestattete sich, erneut ein wenig von der Zukunft zu träumen. Bald schon sah er in seinen Vorstellungen nicht nur eine einzelne Hütte im Wintertal entstehen. Die kleine Siedlung, die nun vor seinem inneren Auge erschien, hatte mehrere einfache Behausungen und zu ihren Bewohnern zählten auch Wigbert und Tilrun.

Harl musste sich oftmals selbst ermahnen, diesen Traum nicht zu weit zu spinnen. Noch war seine Zukunft völlig offen, wusste er nicht einmal, ob er seine Schari jemals wiedersehen würde. Dass er von einer Heimat gemeinsam mit ihr und seinen Freunden träumte, war deshalb so abwegig wie ein Schneesturm im Hochsommer. Und doch war die Idee da und ließ sich nicht aus seinem Kopf verdrängen.

"Was meinst du", forschte er bei der überraschten Osane nach, "ob sich Wigberg auch ein Heim im Gebirge vorstellen könnte, vielleicht dort, wo ich mit Schari gelebt habe?"

Die Heilerin sah ihren Begleiter erstaunt an. "Du willst dort oben eine Siedlung gründen?" Ihr Stirnrunzeln ließ Harl wissen, dass sie nachdachte. "Der Platz liegt recht nahe an Ragins Dorf, auch wenn ich glaube, dass die Jäger sich nicht so bald wieder dorthin trauen würden. Ob Wigberg dieses Risiko eingehen würde, kann ich dir wirklich nicht sagen." Sie lachte leise und lächelte dann. "Doch er hat sicher auch genug Neugier und Abenteuerlust in sich, um etwas Neues auszuprobieren. Wenn wir ihn nur wiedertreffen …" Sie seufzte.

Auch Harl wurde von ihrer melancholischen Stimmung erfasst und schwieg ebenfalls eine Weile. Seit sie den verlassenen Tempel der Grauen Krieger bei Vollmond entdeckt hatten, waren schon viele Tage vergangen. Das Nachtlicht hatte den Himmel verlassen und stand inzwischen als schmale neue Sichel zwischen den Sternen. Sie aber hatten keine einzige Spur ihrer Freunde entdeckt. Ob es daran lag, dass sie bei ihrer Wanderung zu weit in Richtung der untergehenden Sonne  geraten waren? Oder hatten es Tilrun und Wigberg wirklich nicht geschafft?

Harl schob die trüben Gedanken zur Seite. "Wigberg ist ein erfahrener Mann. Das hat er in unseren gemeinsam verbrachten Tagen deutlich bewiesen. Wenn es einer schafft, sicher zum kahlen Berg zu kommen, dann er." Aufmunternd nickte er Osane zu. "Und wir schaffen es auch. Du wirst sehen, wenn wir dort ankommen, laufen uns Schari und Tilrun entgegen."

Es war ein Wunsch, der aus seinem Herzen kam. Die Heilerin wusste das. Und obwohl sie oftmals daran zweifelte, dass Harl seine Gefährtin wohlbehalten wiederfinden würde, ließ sie seine Worte einfach in der Stille weiter klingen. Auch sie wollte daran glauben, dass alles gut werden würde und sie ihre Freunde und Schari bald wiedertreffen durften.

Schweigend hob sie ihre Hand vor den Mund und schickte ein wortloses Gebet an die Ewigen. Harl aber, der Mann, der so wenig an die Götter glaubte und sein Schicksal selbst in die Hand nahm, tat es ihr nach.

So zogen sie weiter und mit jedem Tag, der verging, änderte sich die Landschaft um sie herum. Die trockene Ebene wich einer sanften Hügellandschaft, deren niedrige Kuppen mit Sträuchern bestanden waren. Nach und nach ging dieses Strauchwerk in einen lockeren Baumbestand über und die Zahl der Bäche und kleinen Seen nahm deutlich zu. Wasser war nicht länger ein Problem, was ganz besonders ihrem durstigen Pferd gefiel. Schon am ersten kleinen Tümpel soff es ausgiebig, wälzte sich in dem trüben Nass und zeigte ihnen danach, dass diese Erfrischung auch seinen Kräften guttat. Tatze genoss die ersehnte Abkühlung ebenfalls in vollen Zügen und tobte durch jedes Rinnsal, das ihnen in den Weg kam.  

Die Zufriedenheit ihrer Tiere ging auf die Menschen über. Auch sie waren froh, dass das lästige trockene Brennen des Durstgefühls endlich ein Ende hatte. So oft es ihnen möglich war, schlugen sie ihren abendlichen Rastplatz an einem der kleinen Seen auf. Fische und Wasservögel boten eine gute Nahrungsquelle. Hier und da gelang es ihnen, die Nester der Enten aufzuspüren, um ihre Vorräte um ein paar Eier zu ergänzen, die sie dann am nächsten Tag im Gehen ausschlürften.

Eines Abends, als Harl wie üblich von der Jagd kam, überraschte er Osane dabei, wie sie konzentriert an einem langen Schilfrohr schnitzte. Sie schrak auf, als er dicht neben ihr seinen Fang, drei Rotflossige, ablegte.

"Bei Frigg, Harl! Wie kannst du mich so erschrecken?", warf ihm die Alte gespielt streng vor. Der Jäger lachte leise auf. "Du warst so unaufmerksam wie ein Bär im Winterschlaf, Osane. Selbst wenn ich wie ein Büffel angetrampelt gekommen wäre …" Harl wurde ernster. "Du solltest vorsichtiger sein! Auch wenn wir noch nicht auf Fremde gestoßen sind … Lange kann es nicht mehr dauern, bis wir auf Menschen treffen. Dafür ist das Land hier viel zu gut zum Leben."

Er hatte recht. Das wusste auch die Heilerin. Doch als sie heute beim Ausgraben von Schilfwurzeln die schwankenden, sich im Wind wiegenden Halme betrachtet hatte, war ihr eine Erinnerung aus der Jugend in den Sinn gekommen, die sich auch später beim Reinigen und Kochen der Wurzeln nicht hatte abschütteln lassen.

Schließlich hatte sie ihrem kleinen Wunsch nachgegeben und ein besonders langes Schilfrohr mit wenigen Knoten gesucht. Sorgfältig hatte sie hiervon ein gerades, kräftiges Stück ausgewählt und es dann nach und nach für ihre Zwecke zurechtgeschnitten. Als Harl vom Fischen zurückkam, war sie gerade dabei gewesen, vorsichtig das erste Griffloch für die Finger in das Rohr zu raspeln. Dabei erinnerte sie sich, wie ihr Vater diese kleinen "Zwitscherstäbe", wie man sie bei ihrer Gruppe nannte, für seine Kinder gebaut hatte.

Harl hatte sie aus diesen Betrachtungen zwar geweckt, dennoch blieb das Gefühl, etwas Wertvolles aus der Vergangenheit wiedergefunden zu haben, in Osanes Gedanken bestehen.

Während sie die Fische zubereiteten und später zusammen mit dem gegarten Schilfrohr aßen, blieb sie still. Dann aber, als sie gemütlich am Feuer saßen, vollendete sie unter den Augen des gespannt wartenden Harl ihre Schnitzerei.

Der erste Ton aus dem kleinen Rohr ging wie erwartet daneben. Der Jäger, der offenbar noch nie die Töne eines zwitschernden Stabes vernommen hatte, fuhr dennoch erschrocken auf.

"Keine Bange, Harl!", beruhigte ihn die Heilerin schnell. "Das ist es, was ich bauen wollte - ein singendes Rohr. Ich muss mich nur wieder daran gewöhnen. Als Kinder habe ich oft auf einem solchen zwitschernden Stab gespielt."

Misstrauisch ließ sich der Mann erneut neben ihr nieder, ihre Bemühungen, einen wohlklingenden Ton zu erzeugen, aufmerksam verfolgend. Bald schon gelang es Osane, eine kleine, einfache Melodie zu spielen. Nun fand auch Harl Gefallen an der Schilfflöte und bald schon mühte auch er sich ab, dem Rohr ein paar Klänge zu entlocken. Selbst Tatze verfolgte das Tun seines Herrn aufmerksam. Vielleicht klangen die Töne für ihn ein wenig wie das Fiepen eines Welpen?

Die kleine Gruppe war völlig vertieft darin, dem singenden Rohr immer neue Klänge und Melodien zu entlocken, sodass sie es nicht bemerkten, als hier ein Ästchen verräterisch knackte und dort ein Zweig raschelte. Und es entgingen ihnen auch die drei schimmernden Augenpaare, die hinter den Sträuchern im Flammenschein des Feuers verräterisch aufleuchteten und kurz darauf wieder verschwanden. Erst als sich die fremden Jäger, von denen sie entdeckt worden waren, offen ihrem Feuer näherten, fuhr Tatze warnend und knurrend auf. Doch da war es schon zu spät. Harls Speer steckte viel zu weit entfernt von ihm im Boden und auch Osane gelang es vor Schreck nicht mehr, zu einem Messer oder gar der Axt zu greifen. Drei Speere wiesen drohend auf die beiden sitzenden Wanderer. Es bleib ihnen nichts anderes zu tun, als mit erschrockenem Herzklopfen auf den Fortgang der Dinge zu harren.

 

 

Die kleine Flöte war achtlos zu Boden gefallen. Harl, der fieberhaft nach einem Ausweg suchte, beachtete das kleine Instrument nicht mehr. Mit einer Handbewegung befahl er Tatze, Ruhe zu geben. Der junge Wolf gehorchte mit eingezogener Rute. Auch er wusste, dass seine Unaufmerksamkeit Schuld daran war, nun einem Feind gegenüberzustehen. Denn dass die Männer Feinde sein mussten, daran ließ die Haltung seines Herrn ihn keinen Moment lang zweifeln.

Sich drei bedrohlichen Speeren gegenüber sehend, war auch für Harl guter Rat teuer. Wäre er allein gewesen, hätte er vielleicht die Konfrontation gesucht, um wenigstens vor seinen Gegnern auf die Beine zu kommen. Die sitzende, nachteilige Position störte ihn am meisten. Doch er konnte nicht riskieren, dass Osane etwas zustieß, nicht, wenn es sich noch irgendwie vermeiden ließ. Also musste er sich auf Verhandeln einlassen. Deshalb ließ er seine Hände in seinem Schoß ruhen, um zu signalisieren, dass von ihm keine Gefahr ausging.

Das schienen auch die drei Neuankömmlinge so zu sehen, denn einer von ihnen, offenbar der älteste, trat zwei Schritte näher und ließ dann seine Speerspitze ein wenig sinken. Spöttisch musterte er die verunsicherte kleine Gruppe vor sich.

"Was für ein seltsamer Fund!", witzelte er, an seine Begleiter gewandt. "Ein pfeifender Jäger, eine alte Frau und ein halber Wolf – die Gegend hier scheint zur Zeit voller ungewöhnlicher Wanderer zu sein."

Der Spruch des Anführers wurde von seinen Männern mit einem überlegenen Lachen beantwortet. Aus ihrer Sicht gaben die drei am Boden wohl auch ein seltsames Bild ab.

Harl, der überrascht war, sein Gegenüber trotz dessen etwas ungewöhnlicher Aussprache verstehen zu können, nahm die Gelegenheit zu einem Wortwechsel wahr. "Wir sind friedliche Wanderer ohne Schätze", ließ er den Mann vor sich wissen. "Meine Begleiterin heißt Osane. Ich bin Harl vom Bärenclan."

Hatte der Anführer der Fremden seinen ersten Worten nur aufmerksam gelauscht, so fiel Harl bei der Nennung ihrer Namen auf, wie der andere unwillkürlich eine Augenbraue leicht nach oben zog. Doch er hatte keine Zeit, über diese Beobachtung nachzudenken, denn nun stützte sich der Mann vor ihm gelassen auf den Schaft seines Speeres auf und forderte Auskunft. "Vom Bärenclan also - noch nie gehört! Ihr müsst weit von zu Hause fort sein, wenn wir euer Volk nicht kennen. Und keine Gruppe hier in der Gegend trägt einen solchen Namen." Er winkte seine beiden Begleiter ein wenig näher und hockte sich dann vor Harl und Osane hin. "Wo also kommt ihr her und vor allem: Wo wollt ihr hin?"

Harl überlegte, ob es von Nutzen sein könnte, den Fremden über ihre Wege im Ungewissen zu lassen. Wer wusste schon, in welchem Verhältnis die Gegner zu dem Volk vom Kahlen Berg standen? Eines aber konnte er auf jeden Fall preisgeben - sein Wissen über den Bärenclan. Sie waren längst alle in die Anderwelt gegangen oder mit den Räubern nach Norden entführt worden. Es gab keinen einzigen, dem er noch schaden würde, gab er die Lage des ehemaligen Lagers preis.

"Das Land des Bärenclans liegt auch weit von hier entfernt", gab er zu. "Viele Tagesreisen sind nötig, über das Gebirge und hinunter in die Täler auf der anderen Seite, um dorthin zu gelangen." Er schwieg nach diesen Angaben und wartete darauf, dass der andere das Wort ergriff.

"Wenn euer Land so weit weg ist, was macht ihr dann hier?"

"Wir sind friedliche Wanderer", versicherte Harl vage. "Doch nun wüsste ich auch gern, wer ihr seid. Zu welchem Volk gehört ihr? Woher kommt ihr?"

Der vor ihm Hockende lachte leise auf. "Du verstehst dich aufs Ausweichen", ließ er Harl wissen, dass er ihn durchschaut hatte. "Doch das gefällt mir. Und deine Frage beweist, dass ihr wirklich nicht von hier seid." Mit seiner Linken fuhr er betont langsam über eine kleine Tätowierung, die seine Schläfe zierte. "Jeder hier in der Gegend würde allein daran erkennen, dass wir zum Volk vom Berg gehören."

Osane nickte unauffällig. Sie gehörte zu jenen, die die Körperzeichnung des Mannes erkannt hatte. Zwar war auch sie noch nie dem Volk auf dem Kahlen Berg begegnet, doch gehört hatte sie von ihnen genug, um ihre Vorliebe für diese Art des Schmucks zu kennen.

Dem Anführer der Neuangekommenen entging ihre Bewegung jedoch nicht. "Du weißt es!", ließ er Osane wissen. "Wenn er, der aus dem Dorf hinter dem Gebirge kommt, uns aber nicht kennt …" Er ließ den Satz unbeendet und sah die alte Heilerin auffordernd an.

Osane beschloss, offener als Harl zu sein. Dass die Männer vom Kahlen Berg kamen, war zumindest sehr wahrscheinlich. Also brachte es auch keinen Vorteil, sie im Dunkeln tappen zu lassen.

"Ich habe Harl erst kennengelernt, als er schon auf dem Weg war", erklärte sie. "Anders als er komme ich aus dem Süden, vom Fuß des Gebirges auf dieser Seite. Seit mehr als einem Mondumlauf wandern wir zusammen und er ist ein ehrenwerter Mann."

Bei dieser unerwarteten Feststellung lachte ihr Gesprächspartner leise auf. "… was ihm wohl auch nicht sehr schwer gefallen sein wird", brummte er halblaut und das unterdrückte Lachen seiner Begleiter bestätigte ihn. Doch dann wurde der Mann vor Harl und Osane ernst. "Mit diesen ganzen Halbwahrheiten kommen wir nicht weiter. Ich bin bereit, euch zu glauben, dass ihr friedliche Wanderer seid und als solche habt ihr von uns nichts zu befürchten." Er erhob sich und stieß zum Zeichen, dass er es ernst meinte, seinen Speer in den Boden. Seine Begleiter taten es ihm gleich, blieben aber wachsam. Und obwohl nun das Ungleichgewicht zwischen den beiden Gruppen etwas verringert war, wusste Harl dennoch, dass sie im Vorteil waren, da sie ihre Waffen zur Hand hatten, wann immer sie sie brauchten. Trtzdem tat es gut, dass das kalte Eisen nicht mehr auf ihn gerichtet war. Ein wenig entspannte sich der Jäger.

Der Sprecher der Neuankömmlinge ließ sich geschmeidig nieder und schlug seine Beine übereinander. "Bevor ich euch vertrauen kann, will ich nun Genaueres über euch und die Ziele eurer Wanderschaft wissen. Ihr seid im Gebiet unseres Volkes. Was also wollt ihr hier?"

Harl seufzte. Er würde nicht umhinkommen, diesem Mann alles zu erzählen. Zu gefährlich war es, gleich drei bewaffnete Männer zu provozieren. Doch es widerstrebte ihm zutiefst, sich vor den dreien so zu entblößen. Mit einem kleinen Fingerschnipsen, rief er Tatze ein wenig näher zu sich. Es war tröstlich, als sich der junge Wolf an seinen Oberschenkel kuschelte und sich dabei einrollte. Die Ungläubigkeit in den Gesichtern der Neuankömmlinge bei dieser Bewegung entging ihm, da er sich auf das konzentrierte, was er nun erzählen musste. "Ich werde von vorn anfangen und meinen Weg für euch aufzeigen", ließ er die drei Männer ihm gegenüber wissen. "Dann mögt ihr entscheiden, ob wir Freunde oder Feinde sein sollen."

Er räusperte sich und dann begann er: "Ein Überfall bootsfahrender Krieger zerstörte das Dorf des Bärenclans, als ich auf dem Weg zu meinen Freunden war …"

Das Feuer wäre heruntergebrannt, hätte nicht einer der Neuen hin und wieder ein paar Äste dazu gelegt, und der Nachmittag war der dunklen Nacht gewichen, als Harl endete. "… und nun hoffe ich, dass ich meine Gefährtin unversehrt auf dem Kahlen Berg wiederfinde."

Ein langes Schweigen folgte seiner Geschichte, bis sich der Anführer der Männer vom Kahlen Berg zu ihm beugte und ihm freundlich eine Hand aufs Knie legte. "Ich kann dir nicht sagen, ob sie dort ist", gestand er leise. "Auch wir waren lange Zeit unterwegs und wissen nicht, welche Reisenden in letzter Zeit unsere Siedlung erreicht haben. Doch wir sind nicht allein unterwegs, sondern nur die Nachhut der Männer, die wie wir Eisen in den Bergen gesucht haben. Vor vier Tagen haben wir sie verlassen, weil wir hier in der Nähe einen Ort kennen, an dem ein großartiger Ton zu finden ist.  Zu eurem Glück haben wir bis heute gebraucht, um unsere Vorräte aufzufüllen. Sonst wären wir früher weitergezogen und hätten wir euch nicht getroffen. So aber wissen wir etwas, was euch mit Sicherheit aufmuntern wird." Der Sprecher lächelte und auch die anderen Männer um Harl sahen mit einem Mal weniger bedrohlich uns sehr zufrieden aus.

"Auch wenn wir dir nichts zum Verbleib deiner Schari sagen können, wo Wigberg und Tilrun sind, wissen wir ziemlich genau." Er grinste wie ein Kind, dem man ein Naschwerk geschenkt hatte. "Sie reisen mit den anderen aus unserer Gruppe zum Berg. Wenn wir in einem halben Mond dort ankommen, werdet ihr sie wiedersehen. Sie waren es auch, die von euch beiden gesprochen haben. Ansonsten wären wir nicht so zutraulich hierher gekommen"

Hatte er auf eine freudige Erwiderung gehofft, so wurde der Mann zunächst enttäuscht. Diese unerwartete Wendung der Dinge verschlug Harl die Sprache. Wigberg war in Sicherheit! Dass er gerade heute diese Botschaft erhielt, ließ ihn vor Überraschung und Glück verstummen. Ebenso erging es Osane, der bei den Worten des Fremden die Tränen in den Augen standen.

Doch es dauerte nicht lange, bis Harl sich gesammelt hatte. "Das ist …" Erneut musste er schlucken. "Das ist die beste Botschaft seit sehr langer Zeit", gestand er dann. "Wir wussten, dass die beiden den Büffeln entkommen sind. Doch dann …"

Der fremde Anführer lächelte. "Sie sind in Sicherheit", bestätigte er ein weiteres Mal. "Und nun, da wir zweifellos gemeinsam weiterreisen werden, ist es an der Zeit, dass ihr auch unsere Namen erfahrt." Mit seiner Linken wies er auf den ersten seiner Begleiter, einen kahlgeschorenen Hünen mit krummer Nase und wachem Blick. "Das ist Sionn[12]. Er ist ein guter Kämpfer und auch ein großartiger Baumeister in Stein und Holz." Der so Vorgestellte nickte nur leicht mit dem Kopf und schwieg, was seinen Anführer zu einer weiteren Bemerkung veranlasste: "… kein Mann großer Worte, aber ein guter, zuverlässiger Freund."

Er wies auf seinen anderen Begleiter, der das Feuer unterhielt. "Dieser ist Odhran[13]. Er hat einen natürliche Beziehung zu Feuer – er ist unser Schmied."

Der Schmied knurrte und nickte dann Harl und Osane zu. "Und dieser Mann, der uns anführt, ist gleichzeitig auch unser Dorfoberster. Sein Name ist Garbhan[14], aber so raubeinig ist er dann auch wieder nicht."

Der Vorstellung folgten ein paar Bemerkungen über das Schmiedehandwerk und die Art und Weise, wie man ein gutes Feuer unterhielt. Dann erhob sich Osane, streckte ihre inzwischen schmerzenden Glieder und brachte die drei gebratenen Fische ans Feuer, die sie bei ihrem letzten Essen zurückgelegt hatte. Dazu gab es die verbliebenen Schilfwurzeln. Die Männer um Garbhan steuerten ein wenig Brot zu dem späten Mahl bei. So kriegerisch und furchtbar der Abend begonnen hatte, so einträchtig endete diese erste Begegnung mit den Bewohnern des Kahlen Berges.

Und während Garbhan und Odrhan mit Harl und Osane Bekanntschaft machten, schloss Tatze mit dem stillen Sionn Freundschaft. Der Duft des Mannes war aber auch zu verlockend. Der kleine Wolf konnte ja nicht ahnen, dass dieser erst am Vormittag ein Reh erlegt und ausgeweidet hatte. So rochen seine Hände noch immer nach Fell und Wild, was den jungen Wolf einfach nur  begeisterte. Nicht weniger begeistert war der stille Krieger. Einen Wolf zu zähmen, bedurfte großer Erfahrung im Umgang mit den Raubtieren. Bei Gelegenheit würde er Harl fragen, wie bei Odin er das bewerkstelligt hatte. Ein solcher Gefährte war Gold wert, nicht nur bei der Spurensuche, sondern auch im täglichen Leben.

 

 

 

 

 

Einen halben Mond später konnten Osane und Harl beobachten, wie der Kahle Berg vor ihnen immer deutlicher und größer am Horizont erschien. Waren zuerst nur Schemen der einzeln stehenden Erhebung zu sehen gewesen, konnten sie jetzt schon Befestigungen, Gebäude und Aufstiegswege erahnen. Noch waren sie einen guten halben Tag von der Siedlung entfernt, dennoch klopfte Harls Herz schon seit dem Morgen schneller und seine Hände zitterten, obwohl er ihnen mehrfach schon Ruhe aufzuzwingen versucht hatte.

Schari konnte dort oben sein! Bei allen freundlichen Göttern - eine Enttäuschung würde er heute nicht verkraften! So weit war er gegangen, um seine Gefährtin zurückzuholen! … um sein Kind zu schützen, um endlich wieder zu leben!

Die Unruhe des Mannes übertrug sich zuerst auf Tatze, der sich inzwischen vom Welpen zu einem nicht gerade kleinen Jungwolf entwickelt hatte. Der Zahnwechsel hatte sich vollzogen und wenn er die Lefzen anhob, erblickte man ein kräftiges Raubtiergebiss. Dennoch war das Tier anhänglich wie am ersten Tag. Ob er Schari wohl wiedererkannte, sollten sie sie wirklich auf dem Kahlen Berg finden?

Garbhan beobachtete den aufgeregten Begleiter seines neuen Mitreisenden immer noch mit Vorsicht. Auch nach der langen Zeit der gemeinsamen Reise vergaß er nicht, dass er mit Tatze einen Wolf vor sich hatte.

Sionn hingegen lachte über die Unruhe des Vierbeiners. "Schau dir deinen Tatze an", scherzte er lächelnd mit Harl. "Er weiß ganz genau, dass du am liebsten im Galopp losreiten würdest, um die letzte Strecke schnell hinter dich zu bringen." Der Schmied wurde ernster. "Ich hoffe für dich, dass du nicht enttäuscht wirst!"

Harl starrte bei dieser Rede angestrengt auf seine Hände, die die Zügel seines Pferdes führten. Ja, er würde diesem liebend gern die Fersen in die Seiten drücken und es antreiben, bis es im wilden Galopp über die Ebene flog. Doch er wusste natürlich, dass er sich an Garbhans Geschwindigkeit zu halten hatte. Auf dessen Vermittlung war er schließlich angewiesen, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten. Und die Packpferde, die den feuchten Ton trugen, hatten eine zu schwere Last zu schleppen, als dass sie lange galoppieren oder auch nur zügig traben konnten.

"Ja", murmelte Harl. "Das hoffe ich auch. Ich wüsste nicht, was ich machen soll, falls sie nicht dort ist." Er schwieg eine Weile und dachte nach. "Damals, als ich noch allein gewandert bin, hätte ich über jeden Mann gelacht, der sich derartig von einer Partnerin abhängig gemacht hat. Mehr als ein bisschen Spaß und Genuss habe ich nie bei Frauen gesucht. Doch mit Schari ist das alles anders." Er sah auf und Sionn erkannte die ganze Sehnsucht im Blick seines Gegenübers.

"Sie bedeutet mir einfach alles. Ohne sie fühlt sich jeder Tag leer und falsch an."

Sionn nickte. "Ich weiß schon, was du meinst", gab er zu. "Auch auf mich wartet eine schöne Frau zuhause und es drängt mich, sie in meine Arme zu schließen und das Lager mit ihr teilen. Wenn sie mir dann noch ins Ohr raunt, wie gut ihr mein Körper tut …" Der Schmied lachte. "Doch ich stelle es mir schwer vor, mit einer Frau zu leben, die stumm ist."

Es war ein Thema, das ihn schon lange interessierte. Doch um Harl nicht zu reizen, hatte er bisher dazu geschwiegen. Heute aber, da es für den Mann neben ihm gut war, abgelenkt zu sein, wagte Sionn, diese Zweifel anzubringen.

Fast schien es, als wolle der Ältere ihm eine ruppige Antwort geben. Im ersten Moment kam es Harl auch so vor, als würde der Schmied ihn verspotten. Doch dann besann er sich. Nein, Sionn war ein ernsthafter Kerl. Er würde keine Scherze über diesen kleinen Makel seiner Gefährtin machen. Sicher war es reine Neugier … Also warum sollte er diese nicht befriedigen?

"Sie kann nicht so sprechen wie unsereiner", gab Harl zu. "Doch Schari ist nicht richtig stumm." Sionn sah ihn an, als habe er erzählt, dass im Sommer Schnee fallen würde. Doch der Schmied schwieg.

"Es sind ihre Hände, ihre Gesten, mit denen sie sich verständigt", erklärter Harl ihn nun und ließ eine ganze Reihe seltsamer Bewegungen folgen. "So wie ich dir gerade gezeigt habe, dass wir noch einen halben Tag bis zu deinem Zuhause brauchen, rede ich auch mit Schari. Wir haben inzwischen für fast jedes Wort eine Bewegung oder ein besonders Zeichen." er lachte leise. "Manchmal, wenn sie sich sicher fühlt und mutig genug ist, kann sie auch einige hörbare Töne hervorbringen. Damit ruft sie zum Beispiel nach Tatze." Sehnsüchtig erinnerte sich Harl an andere leise Geräusche. An jene nämlich, die Schari unbewusst von sich gab, wenn er sie liebte und sie dabei in die Ekstase stieß. Dann waren es kleine Seufzer, ein raues Keuchen, schneller, gieriger Atem … Er genoss es, wenn sie sich ihm so vorbehaltlos hingab.

Sionn sah, dass sein Gesprächspartner in Gedanken weit weg war und ließ ihm Zeit. Dann, als Harl aus seinen Träumereien zurückkehrte, nahm er das Thema noch einmal auf.

"Trotzdem verstehe ich nicht so ganz, warum dieser Wigberg ihren Räuber und sie gerade zu uns geschickt hat. Wäre es nicht viel besser gewesen, er hätte ein näher gelegenes Dorf gewählt?"

Harl räusperte sich. Ja, aus der Sicht dieser Männer mochte Wigbergs Verhalten seltsam erscheinen. Doch dort, wo er herkam, dachte man eben ganz anders.
"Ich habe es ja schon erzählt", begann Harl. "Bei den Leuten im Gebirge herrschen ganz andere Vorstellungen, was die Götter und das Schicksal betrifft." Er rieb sich bedrückt die Stirn. "Für sie ist ein Mensch, der anders ist, eine Missgeburt, eine Strafe der Götter. Sie sehen darin auch eine Bedrohung für sich selbst, eine Gefahr für ihre Gruppen …"

Sionn nickte. "Soweit hast du es uns erzählt", stimmte er zu. "Dennoch! Wie kann man so denken? Ist Schari nicht schon genug damit gestraft, dass sie sich nicht mit dir unterhalten kann? Muss man sie auch noch als eine Missgeburt beschimpfen und sie bedrohen?"

Er richtete sich ein wenig auf seinem Pferd auf und schaute aufmerksam nach vorn. "Wir glauben nicht, dass sie den Göttern missfällt, so wie sie ist", ließ er Harl dann ein weiteres Mal wissen. "Da kannst du ganz ohne Sorge sein. Zwar wissen wir auch nicht, warum manche Kinder anders geboren werden als die meisten. Doch haben wir gerade unter diesen Anderen wertvolle Schätze gefunden - Seher und Schamanen, die unser Volk führen konnten und unsere Zukunft vorhersahen." Grüblerisch rieb er sich den Bart. "Natürlich sind nicht alle so …" Er lachte. "Doch wer weiß, wozu deine Schari imstande ist, wenn man sie nur lässt."

Harl lachte nun auch ein wenig befreiter. "Sie kennt viele Heilkräuter", verriet er. "Und sie weiß sie auch anzuwenden."

Sionn grinste. "Na, wenn das so ist, wirst du den Kahlen Berg nicht sehr schnell wieder verlassen können. Unser Heiler ist immer ganz versessen darauf, Neues zu entdecken und sein Wissen auszutauschen. Wenn er erst mal rausgefunden hat, wie es funktioniert, sich mit Schari zu verständigen, wird er ihr keine Ruhe lassen, bis er wirklich alles von ihrem Wissen in sich aufgesaugt hat."

Sie sprachen und schwiegen, wie es ihnen in den Sinn und kamen so Stück für Stück auf ihrem Weg zum Kahlen Berg voran. Dann, als sich die Sonne schon langsam dem Horizont annäherte, war es soweit. Mit lauten Freudenrufen wurden sie von zwei bärtigen Männern mit langen Speeren vor einer Art Eingang empfangen. Garbhan saß ab und sprach schnell und leise auf die beiden ein. Einer von ihnen nickte, während der andere nur lächelnd schwieg. Dann schwang sich Garbhan wieder auf sein Pferd und gemeinsam passierten sie den äußeren Schutzwall der Siedlung am Kahlen Berg. Geröll und befestigte Steine ließen die Hufe der Pferde munter klappern und so kamen sie bei ihrem Aufstieg auf das Plateau schnell voran. Noch ein weiteres Mal wurden sie von Wachen angerufen, die ebenso wie beim ersten Wall ihre Leute freudig begrüßten. Garbhan, Sionn und Ordhan waren offenbar angesehene Männer.

Dann überwandten sie ein letztes Steilstück, folgten dem Weg in eine Kurve und endlich lag sie vor ihnen - die Siedlung auf dem Kahlen Berg.

 

 

 

Liebe Leserinnen und Leser,

im heutigen Kapitel sind ein paar wichtige historische Dinge versteckt.

Falls ihr mögt, könnt ihr auf FB auf der Seite-zum-Buch nachlesen, was ich Interessantes zum Schmiedehandwerk der frühen Zeit gefunden habe - mit Video (Direkt aus dem Keltendorf - grins!)

Außerdem gibt es einen kleinen Ausflug in das Thema Getreide und Ackerbau und einige kurze medizinische Fakten zum Thema Mutterkorn und Ergotismus (in den Notizen!!).

Viel Spaß euch auch bei einem Besuch dort:

https://www.facebook.com/pages/Rabenvolk/489983544488958

 

Über Kommentare dort wie hier würde ich mich riesig freuen!!!!!!!!!

 

Eure Sophie

Auf dem Kahlen Berg

 

 

Darachs[15] Hütte duftete wieder einmal unnachahmlich nach getrockneten Kräutern. Die hochschwangere Frau am Feuer warf einen lächelnden Blick hinauf in die frei liegenden Dachsparren, an denen unzählige Bündel sorgfältig voneinander getrennter Heilkräuter hingen. Lavendel duftete mit Salbei, Schafgarbe und Fackelkraut um die Wette. Schari liebte den starken, kräftigen Geruch der Sammlung über dem Feuer des Heilers.

Schon als sie hier angekommen waren und ihr Bauch sie unglaublich geschmerzt hatte, war ihr das beruhigende Aroma in Darachs Heim aufgefallen. Der alte Mann hatte sie nur kurz gemustert und sie dann ohne viele Worte hierher mitgenommen. Der Protest Lindrads war im Keim erstickt worden und nach der unsicheren, schier endlosen Reise hatte sie nur noch Erleichterung verspürt, als sie sich auf ein weiches, warmes Lager betten durfte.

Vorsichtige Hände hatten ihren Bauch untersucht, nach ihrem Kind getastet, das – den Göttern sei Dank – kräftig nach den drückenden Fingern getreten hatte. Auf dem Gesicht des Heilers war daraufhin ein breites Lächeln erschienen.

„Ein kräftiges kleines Ding wächst da heran“, hatte er zu ihr gesagt und war zufrieden gewesen, als sie zurückgelächelt hatte. „Du verstehst mich ganz gut.“ Es war eine Feststellung gewesen, keine Frage. Dennoch hatte Schari genickt.

Nachdenklich war sie von Darach weiter untersucht worden. Dabei entgingen dem Alten weder ihr gebrochenes Bein noch die Narbe der Verbrennung an ihrem Bauch.

„Dein Bein ist wunderbar zusammengewachsen“, hatte er sie eine Weile später wissen lassen. „War es dieser Lindrad, der es gerichtet hat?“

Bei dieser Frage war Schari erstarrt. Noch heute, fast einen ganzen Mond später spürte sie Unglauben und Überraschung bei dem Gedanken daran, wie schnell Darach Lindrad auf die Schliche gekommen war.

Die Hände des Alten waren über den alten Bruch gefahren, als könnten sie aus den zusammengefügten Knochen die Vergangenheit lesen. „War er es, Mädchen?“ Das Stirnrunzeln des Alten war unübersehbar. Nachdenklich fuhr der Heiler fort, während er die geschwollenen Knöchel und die mit Druckblasen übersäten Fersen Scharis musterte. „Er sah nicht so aus, als sei er dir ein wichtiger Vertrauter. Seine Haltung … weißt du, war eher vorsichtig und zögerlich. Ist er dein Gefährte? Hat er nur so viel Angst um dich, weil du sein Kind trägst?“

Sein Kind? Lindrads Kind? Ohne zu überlegen hatte Schari entschlossen den Kopf geschüttelt, wieder und wieder, hin und her, bis die warme Hand Darachs sie unterbrach.

„Mädchen!“ Die mahnende Stimme hatte sie wieder in die Gegenwart gerufen. „Ich weiß, dass du nicht sprechen kannst. Ich aber kann noch ganz gut sehen. Ich weiß, was ein Kopfschütteln heißt. Du musst es nicht so oft tun!“ Er hatte leise gelacht, doch es war ein freundliches Lachen gewesen, ganz frei von Spott.

„Was also möchtest du mir mitteilen? Hat Lindrad dein Bein gerichtet?“

Schari schüttelte den Kopf.

„Aber er ist der Vater deines Kindes?“

Wieder ein Kopfschütteln.

Darach runzelte ernst die Stirn. „Aber dein Gefährte ist er schon, oder?“

Als Schari nun erneut ihren Kopf entschieden hin und her bewegte, fuhr sich der alte Mann nachdenklich über die Stirn.

„Das wird schwierig, Mädchen, weißt du das? Wie, bei allen guten Geistern, soll ich ein solches Rätsel lösen, wenn du es mir nicht erzählen kannst?“

Unwillkürlich hatte Schari ein paar Handzeichen gemacht, mit denen sie dem Alten sagen wollte, dass es einen Gefährten gab und der Heiler hatte überrascht die Luft angehalten.

„Du sprichst mit den Händen!“

Darach war sehr überrascht gewesen. Doch dann hatte er sich in den folgenden Tagen Zeit genommen und so waren sie ein paar erste Zeichen durchgegangen, mit denen sie sich zumindest über das Notwendigste verständigen konnten. „Essen“ war so eine Geste, „Schlafen“, aber auch „Schmerz“ hatte Darach sich von ihr zeigen lassen und manch anderes Wort, dass es ihr leichter machte, ihm zu antworten.

Über ein so schwieriges Thema wie ihre Entführung und die Bedeutung Lindrads in ihrer Geschichte konnten sie jedoch nicht miteinander sprechen. Dennoch half ihr der Heiler auf seine ganz eigene Weise, indem er den fremden Mann von Schari und der Hütte fernhielt.

Wenn Garbhan zurückgekehrt war, sollte dieser das Rätsel um die stumme Frau und deren Begleiter lösen. Dann mochte der Fremde die Frau zurückfordern und ihr Anführer würde eine weise Entscheidung treffen. Bis der Vorsteher der Siedlung jedoch wieder bei ihnen war, stand die junge Frau unter seinem Schutz. So beschloss es der Heiler und so überbrachte man die Regelung Lindrad, der sich der Übermacht der Siedlungsbewohner wohl oder übel beugen musste. Darch hatte versucht, von ihm mehr zu erfahren, doch der Mann war vorsichtig. Er nannte sich zwar nicht direkt den Gefährten der stummen Frau, doch leugnete er diese Zusammengehörigkeit auch nicht. Lindrad schwieg sich zurückhaltend aus und machte es Darach schwer, heauszufinden, wer er wirklich war.

Schari aber genoss die Ruhe und die Geborgenheit im Zuhause des Alten. Der Heiler war großzügig in seiner Gastfreundschaft und verwöhnte sie mit einem weichen Lager und reichlichen Mahlzeiten. Langsam wich die Auszehrung und Herbheit aus dem Gesicht der schwangeren Frau und Darach sah zufrieden dabei zu, wie sie sich jeden Tag ein wenig mehr erholte. Bald schon begann sie, ihren Beitrag bei den täglichen Arbeiten zu leisten und es dauerte nicht lange, bis er begriff, dass sie begierig seinen Tätigkeiten zusah, wenn er Heilkräuter mischte und Tränke herstellte.

Darach war nicht sehr zurückhaltend, wenn es darum ging, Wissen über Pflanzen und Kräuter weiterzugeben. Also erzählte er ungefragt bei jedem Handgriff, was er tat und welche Wirkung er sich von diesem oder jenem Kraut erhoffte.

Dass er gut daran tat, verstand er spätestens einen halben Mond nach Scharis Eintreffen. Der kleine Sohn der Töpferin hatte hohes Fieber und brauchte seine Hilfe. Schon beim Eintreten in die Hütte folgte er seiner neuen Gewohnheit und ließ Schari wissen, welche Aufgabe sich ihm stellte. Erstaunt sah er kurz darauf dabei zu, wie die junge Frau nicht nur Weidenrinde sondern auch Beifuß aus dem Trockengitter angelte und ihm beides reichte. Er war sich ganz sicher, dass er bisher noch nie erwähnt hatte, dass auch dieser gegen die Hitze im Körper Wirkung zeigte.

Nachdenklich betrachtete er das stark duftende Kraut.

„Du machst das nicht erst, seit du hier bist, oder?“ fragte er, das Kräuterbüschel nachdenklich in den Händen wiegend. „Du kennst dich mit Kräutern aus und lernst bei mir dazu. Ist es so?“

Als sie nickte, zog der Alte seine ganz eigenen Schlüsse. Dieses Mädchen war nicht irgendeine stumme Frau, die das Schicksal auf den Kahlen Berg gelockt hatte. Konnte es nicht sogar so sein, dass die Götter selbst ihr den Weg hierher gezeigt hatten? Doch welche Rolle spielte der seltsame Mann, in dessen Begleitung sie erschienen war und der so gar nicht zu der jungen Frau passte, weder in seinem Verhalten, noch in irgendeiner Form gegenseitiger Zuneigung?

Darach hätte auf diese Fragen nur zu gern eine Antwort gehabt. Und so wartete er sehnsüchtig auf Garbhans Rückkehr. Dessen Macht konnte den Fremden schnell zum Reden bringen. Doch er als Heiler war den friedlichen Dingen verpflichtet. Es stand ihm nicht zu, Drohungen auszusprechen oder den Neuankömmling auf seine Glaubwürdigkeit zu prüfen.

 

So lebten sie alle in gespannter Erwartung und das Eintreffen der ersten Vorhut der Gruppe um den Vorsteher ließ die Aufregung noch ein wenig kräftiger knistern. Neue Fremde waren mit den Männern mitgekommen – ein ruhiger Mann namens Wigberg und dessen Schwester Tilrun.

Hatte Darach zunächst nicht erwartet, dass zwischen diesen und Lindrad irgendein Zusammenhang bestehen könne, so hatte er sich getäuscht. Bald schon gab Scharis Begleiter seine Zurückhaltung auf und ließ die Gastgeber – wohl auf Drängen des älteren und erfahreneren Wigberg – wissen, wie er mit dem Mädchen zusammengekommen war.

Und auch wenn Darach bei manchen Schilderungen zornig mit den Zähnen knirschte, musste selbst er zugeben, dass der Mann alles gegeben hatte, um seinen Fehler, die Entführung, wieder gut zu machen. Ja es gab kaum einen anderen Ort an dem eine stumme Frau besser aufgehoben gewesen wäre als den Kahlen Berg. Hierin stimmte Darach Wigberg zu.

Was den Alten jedoch bitter aufstieß war die Ungewissheit über den Verbleib von Scharis kämpferischem Gefährten. Wenn der Mann so stark war, wie es dieser Wigberg schilderte, würde er früher oder später hier erscheinen. Doch vollkommen sicher konnte man dabei nicht sein. Sollte er also der jungen Frau Hoffnung machen, selbst wenn es möglich war, dass er sie damit schrecklich enttäuschte? Oder sollten sie alle schweigen, bis die Götter selbst über das Schicksal des stummen Mädchens entschieden?

Darach war sich unsicher. Wäre nicht die Schwangerschaft der jungen Frau, er hätte ihr alles gesagt. Doch so sorgte er sich nicht zu Unrecht, ob das ungewisse Warten und Ausharren nicht auch ihr Kind gefährdete. Also bat er die Männer um Stillschweigen und überließ eine weitere Entscheidung dem Zeitpunkt, an dem Garbhan eintreffen würde. Auf die Klugheit und Weitsicht des Mannes vertraute er vollkommen.

Selbst wenn er den Umweg über die Tongrube gemacht hatte, würde er bald auf dem Kahlen Berg eintreffen. Dann wollte Darach in Ruhe mit ihm über seinen Gast sprechen und eine Entscheidung herbeiführen. Also wartete er ungeduldig auf die Ankunft der letzten drei Reisenden.

 

 

Der erste Blick auf die Siedlung war für Harl überwältigend. Zwar hatte Osane ihm schon von dem berichtet, was sie über die Wohnstatt auf dem Kahlen Berg wusste, doch wurde das, was die alte Heilerin gehört und weitererzählt hatte, der Wirklichkeit nicht gerecht.

Zu beiden Seiten der ebenen Bergkuppe hatten deren Bewohner Häuser, Hütten und Werkstätten errichtet. Giebel waren in einer gleichmäßigen Reihe so ausgerichtet, dass die Fronten der schilfgedeckten Holzhäuser alle auf den weiten freien Platz in der Mitte zeigten.

Hier gab es eine große Feuerstelle, einen mächtigen einzelnen Eichbaum, um den sich ein paar grob behauene Bänke gruppierten und eine offene Schmiedewerkstatt.

Dass die Schmiede von den schnell brennbaren Gebäuden ein wenig entfernt stand, verstand Harl sofort und es gefiel ihm.

Ja, die gesamte Anlage deutet darauf hin, dass sie mit Bedacht und Verstand erbaut worden war.

Langsam hielten sie Einzug, indem sie ihre Pferde auf jenen freien Platz führten, der die Feuerstelle umgab. Ein paar neugierige Kinder lugten hinter einer Hütte hervor, ein Hund bellte und drei aufgeregte Hühner flatterten vor den bedrohlichen Pferdehufen davon.

Der Lärm der Tiere und das Jubeln der Kinder, die Garbhan erkannt hatten, lockte auch die Erwachsenen herbei und bald waren sie von einer ansehnlichen Gruppe Menschen umgeben. Harl musterte die Leute um ihn herum und schnell machte sich Enttäuschung in ihm breit - Schari war nicht unter ihnen, ebenso wenig Wigberg oder Tilrun. Hatte er den weiten Weg umsonst gemacht, all die Entbehrungen und Risiken umsonst auf sich genommen?

Der Jäger zügelte sein Pferd und stieg in Gedanken versunken ab. So entging es dem sonst so aufmerksamen Mann, dass sein Wolf einen ganz anderen ersten Eindruck von den Menschen um sie herum gewonnen hatte als er.

Tatze streckte die Nase forschend in den hauchfeinen Wind, der über die Bergkuppe strich. Hier roch es lecker nach Nahrung, nach Vögeln, nach Schafen, nach Braten! Was für eine Verlockung, wie viel Beute! Und dann war da noch … Ja, da war ein Duft, an den er sich dunkel erinnerte. Ein Duft nach Zuhause, nach Rudel, nach … Schari! Doch der Geruch ging nicht von ihr aus. Ein Mann stand nahe der Gruppe, der ebenso duftete, wie seine verloren gegangene Herrin. Der feinen Nase des Wolfs entgingen nicht all die Nebengerüche nach Kräutern, nach stinkenden, intensiven Aromen, die Scharis großartigen Duft verfälschten. Doch ihr Geruch war da. Und wo ihr Geruch war …

Fragend sah Tatze zu Harl auf. Nahm sein Herr dieses verführerische Aroma etwa nicht wahr? Er jaulte leise. Doch Harl war zu sehr mit seiner Enttäuschung beschäftigt, als dass er das fragende leise Jammern seines Wolfs berücksichtigt hätte. Ein "Still, Tatze!" war alles, was er für seinen Begleiter übrig hatte. Der war ein wenig beleidigt, als man ihn so knapp abspeiste. Doch letztlich war es dem Wolf egal. Er roch Schari. Und er wollte zu ihr. Daran ging kein Weg vorbei. Schließlich hatte er ihre weichen Hände schon viel zu lange nicht mehr streichelnd hinter seinen Ohren gespürt!

Halb geduckt schlich der Wolf sich zur Seite aus der Gruppe heraus und nahm dann die Fährte auf. Es war ganz und gar nicht einfach in dem Sammelsurium fremder Gerüche Scharis Duft zu folgen. Doch der Wind kam ihm an diesem Tag helfend entgegen. Er trieb den feinen Hauch genau in seine Nase und Tatze folgte der Einladung. Er schnupperte und flehmte und folgte den Wahrnehmungen seiner Sinnesorgane, bis er vor einer offenen Hütte ankam, die am hinteren Ende der Siedlung stand.

Hier nahm der Duft intensiv zu und als der junge Wolf die Behausung neugierig umrundete, brauchte er nicht lange zu suchen. Hier stand sie, hinter der Hütte, mitten in einem stinkenden Kräuterbeet, dass ihren wunderbaren Duft unverschämt verfälschte. Doch sie war es ganz sicher, seine Schari!

Tatze jaulte auf und stürzte vorwärts. Schari! Sie war wieder da! Jaulend und knurrend sprang der die überraschte Frau an und hätte sie beinahe umgeworfen, so stürmisch war seine Freude über das Wiedersehen.

Bei dem lauten Heulen hinter ihr fuhr Schari erschrocken herum. Ein halbwüchsiger Wolf stürzte sich auf sie und sie erhob bereits die Hand mit dem Grabbeil, um sich zu verteidigen, als sie das Verhalten des Tieres doch noch richtig deutete. Dieser Wolf griff sie nicht an - er begrüßte sie! Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen den Tierkörper, der an ihr hochsprang. Und dann sah sie diese Augen, die Zeichnung des Gesichts und erkannte ihn - Tatze!

Ihr Wolf!

Die Kraft verließ Schari in dem Moment, da ihr klar wurde, was das bedeutete. Überwältigt ließ sie sich zu Boden sinken, fuhr dem Tier zitternd über das weiche Fell und duldete es vor lauter Überraschung sogar, dass er ihr Gesicht abschleckte. Tatze war da und wo Tatze war, musste unweigerlich auch Harl sein. Harl!

Der Gedanke an ihren Jäger ließ Scharis Herz rasen. Sollte er ihr wirklich nachgekommen sein? Wie war das möglich?

Ja, sie hatte in den letzten Tagen immer wieder das Gefühl gehabt, dass Darach etwas vor ihr verheimlichte. Er hatte viel gefragt und wenig preisgegeben von dem, was er dachte und vielleicht wusste. Doch dass Harl auf dem Weg zu ihr sein könnte, hatte sie nicht zu denken gewagt. Viel mehr hatte sie überlegt, wie sie sich Lindrad weiterhin vom Hals halten konnte. Sie wusste, dass dieser Mann sie zur Gefährtin wollte. Doch sie konnte  nicht …

Und nun hockte Tatze vor ihr!

Schari sammelte ihre Kräfte und erhob sich. Obwohl ihr der dicke schwangere Bauch im Wege war, eilte sie dennoch so schnell sie konnte in Richtung Versammlungsplatz. Wenn Harl angekommen war, fand sie ihn am ehesten dort. Tatze sprang fröhlich vor ihr her und sah sich dabei immer wieder um, ob sie ihm denn auch folgte.

Der aufgedrehte Wolf schaffte es schnell, dass sich die Gruppe vor ihm öffnete. Die angekommenen Reisenden wurden nun auch für Schari sichtbar, vier Männer und eine alte Frau … und dann hob einer der Ankömmlinge den Kopf und starrte sie ungläubig an.

Harl!

Ja, es war ohne Zweifel Harl, der zu ihr herüber schaute - wilder anzuschauen mit dem dichten Bart und dem langen Haar, mit der abgerissenen Kleidung und der sonnverbrannten Haut - doch es war Harl!

Schon wollte Schari glücklich zu ihrem Gefährten laufen, als ihr mit einem Schlag die Bilder ihrer Entführung wieder in den Sinn kamen - die Männer, die über sie hergefallen waren, die Schmach, die sie ihr angetan hatten, all der Schmutz … Nach all dem konnte sie nicht zu Harl laufen, als sei dies nicht passiert.

Erstarrt blieb sie stehen und sah zu Boden. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Harl war hier. Aber plötzlich wusste sie nicht mehr, was das für sie bedeutete.

Auch Tatze war verunsichert. So hatte er sich die Begrüßung seiner beiden Rudelführer, seiner Lieblingsmenschen nicht vorgestellt! Anders als Schari, von der kein Laut zu vernehmen war, heulte der junge Wolf laut auf.

Harl aber, der beim unverhofften Anblick von Schari ebenfalls wie erstarrt gewesen war, sah die Unsicherheit im Blick seiner Gefährtin. Er wusste von Wigberg, wie es ihr ergangen war und ahnte, weshalb sie zögerte, ihm entgegenzukommen. So war sie nun einmal. Doch es war seine Schari, die da stand und er wollte jetzt nur noch eins - sie fest in seine Arme schließen und spüren, dass er sie zurückbekommen hatte.

Also drückte er Garbhan die Zügel seines Pferdes in die Hand und eilte dann zu seiner schönen Gefährtin, um das zu tun, wovon er jede Nacht, die er unterwegs gewesen war, geträumt hatte: Er trat dicht zu ihr und hob ihr schönes Gesicht an, bis sie ihn anschauen musste. Ihre großen blauen Augen waren mit Tränen gefüllt und sie schluckte schwer, als sie so vor ihm stand. Auch Harl musste schlucken. Endlich! Endlich hatte er sie zurück, seine Schari!

Worte fand Harl zunächst keine. Doch es gab etwas, was viel besser war: Er zog Schari an sich und schlang schützend seine Arme um sie.

An den Körper ihres Jägers gedrückt, ohne dass sie sich dagegen hätte wehren können oder wollen, spürte Schari jene Geborgenheit, die ihr nach dem Raub so sehr gefehlt hatte. Da tat es keinen Abbruch, dass ihr Harls Kraft und das ungeborene Kind zwischen ihnen unsanft den Atem nahmen. Sie war wieder bei ihm - nur das zählte. Der Duft des Mannes stieg ihr in die Nase, sein Haar kitzelte sie und die Vertrautheit dieser Empfindungen ließen sie endgültig die Fassung verlieren. Schluchzend presste sie sich an den großen warmen Körper ihres Gefährten und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Dabei war es egal, ob die Fremden vom Kahlen Berg die seltsamen klanglosen Töne aus ihrem Mund hörten, ob sie ihr zusahen, wie sie Harl immer wieder über die Wangen streichelte und mit den Lippen seinen Namen formte.

Doch es waren keine abfälligen Blicke, die das Paar trafen.

Garbhan und Darach standen mit zufriedenen Blicken daneben und all jene, die nichts über das Schicksal der beiden wussten, sahen diese Liebe mit Wohlwollen und Respekt. Jedem, der Harl anschaute, musste schnell klar sein, dass dieser Mann von weit her gekommen war, um seine Gefährtin zu suchen. Und alle, die Scharis hilflose Zuneigung beobachteten, sahen ebenso schnell, dass sie es wert war, Harls ganze Aufmerksamkeit zu bekommen.

Ein Mann war erst nach Schari zu der Gruppe getreten - Lindrad, den der Aufruhr aus seiner Gästehütte gelockt hatte. Auch er musterte das Paar genau. Schließlich, als Harl seine Lippen auf Scharis drückte, senkte er den Kopf und ging schnell davon.

 

 

 

Als es Abend wurde, machte sich Garbhan auf dem Weg zur Hütte des Heilers. Eigentlich hatte er Harl in sein eigenes Haus einladen wollen.  Doch Darach hatte ihm glaubhaft versichert, dass Schari und somit auch ihr Gefährte bei ihm besser aufgehoben waren. Die Ruhe von dessen Heim konnte Garbhan der Schwangeren nicht bieten und den Heiler gleich im Haus zu haben, sollte die Geburt unverhofft beginnen, war ein weiterer wichtiger Grund, Darach dessen Gastfreundschaft nicht streitig zu machen.

Der Dorfvorsteher lächelte in sich hinein. Es war schon ein merkwürdiges Schicksal, welches dazu geführt hatte, dass Harls Gefährtin sogar auf einen fremden Namen hören musste.

Ihr Begleiter Lindrad hatte sie Ostara genannt. Seltsam, wenn man wusste, dass die stumme Schönheit eigentlich Schari hieß. Als Harl sie heute beim richtigen Namen genannt hatte, war sie in Tränen ausgebrochen.

Nun aber, als er in Darachs Hütte eintrat, saß sie mit einem strahlenden Lächeln dicht neben ihrem Gefährten auf einem Lager. Und auch wenn die beiden schwiegen, so war ihnen doch anzusehen, wie glücklich sie waren, einander wiedergefunden zu haben. Die alte Osane saß dabei und schien sich von der anstrengenden Reise bereits gut erholt zu haben.

Garbhan aber, der sich schon Harls Geschichte angehört hatte, wollte nun auch die andere Seite dessen hören, was Schari zugestoßen war. Dazu würden Lindrad und Wigberg später ebenfalls im Haus des Heilers erscheinen. Vorher würde er mit dem fremden Jäger und dessen Gefährtin das Kommende ein wenig vorausplanen. Es würde ihnen leichter fallen über das Geschehene zu sprechen, wenn sie den Ablauf bereits kannten.

Doch zunächst einmal tischte Darach ihnen mit Scharis Hilfe auf. Großzügig wurde der Tisch mit Rübenbrei, Braten und allerlei frischem Gemüse beladen. Alle in der Runde griffen hungrig zu.

»Ich bin mir nicht sicher, ob wir Lindrad weiter auf dem Kahlen Berg dulden sollen«, eröffnete Garbhan schon nach den ersten Bissen das Gespräch. » Seine Rücksichtslosigkeit und seine Habgier geben mir sehr zu denken. Andererseits hat er Schari hierher in Sicherheit gebracht. Diese Tat kommt ihm zu Gute. Dennoch stellt er aus meiner Sicht ein Risiko für uns dar. «

Harl nickte nachdenklich. »Auch ich traue Lindrad nicht über den Weg. Was er meiner Gefährtin angetan hat, finde ich unverzeihlich. Allerdings unterscheidet sich das Leben in seinem Dorf grundlegend von allem, was ich bisher gesehen habe. Und ich habe viel gesehen, doch die Gewalt und die Verschlagenheit, mit der dieser Ragin seine Leute im Zaum hält, ist unbeschreiblich.« Er dachte an die beiden Schmiedebrüder zurück und schüttelte sich verächtlich bei dieser ungebetenen Erinnerung. Wie gut, dass Osane ihm damals so selbstlos beigestanden hatte. Wer weiß, ob sie sonst alle so gesund um diesen gut gedeckten Tisch sitzen würden? Offen lächelte er der alten Heilerin zu, die diesen Freundschaftsbeweis sofort erwiderte.

»Meint ihr nicht auch, dass wir erst einmal Lindrad zu Wort kommen lassen sollten?« forschte Darach in diesem Moment nach. »Möglicherweise kann auch Wigberg Genaueres zu dem Vorgefallenen sagen. Wir sollten nichts überstürzen.«

Osane nickte zustimmend und auch Harl war mit diesem Vorschlag einverstanden. Er mochte es nicht, über andere zu sprechen, wenn sich diese nicht selber verteidigen konnten. Andererseits … Hatte dieser Lindrad überhaupt so viel Gerechtigkeit verdient? Schari jedenfalls hatte er auch nicht geschont.

Mit einer schüchternen Geste machte diese auf sich aufmerksam. Sofort wandte sich der Jäger ihr zu. Eine Reihe sprechender Handbewegungen zwischen den beiden folgte. Darach, der Scharis Sprache bereits kennengelernt hatte, nickte lächelnd.

»Nun, wir sind, glaube ich, alle einer Meinung. Lasst uns auf Wigberg, Tilrun und Lindrad warten.«

Harl nickte. »Genau das wollte Schari uns sagen. Obwohl ich mir nicht sicher bin, dass dieser Lindrad so viel Respekt von uns verdient hat.« Er schwieg einen Moment lang und runzelte danach überrascht die Stirn. »Hast du wirklich in der kurzen Zeit schon unsere Zeichensprache gelernt?«

Darach sah zufrieden aus, als er antwortete. »Nur sehr wenig leider. Es ist schwerer, als es aussieht. Und wir hatten kaum Zeit, uns ausgiebiger damit zu befassen. Es gab in den letzten Tagen sehr viel im Dorf zu tun.«

Harl antwortete anerkennend: »Trotzdem ist es beachtlich, dass du uns schon verstanden hast. Ich habe sehr lange gebraucht um zu lernen, mich mit Schari zu verständigen.«

Darach grinste. »Sicherlich gab es manches, was euch vom Sprechen abgelenkt hat. Man kann es dir auch kaum verübeln – eine hübsche junge Gefährtin hast du dir da ausgewählt …«

Schari wurde schlagartig rot und senkte schamvoll den Kopf, als sie verstand, was der Heiler mit seinen Worten hatte andeuten wollen. Die Männer aber lachten gutmütig. Und als Harl seiner Schari beruhigend über den Rücken fuhr und ihr eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht strich, blickte sie ihn bereits wieder mit einem kleinen zuversichtlichen Lächeln an. Man musste eben nicht immer alles aussprechen. Manche Gefühle verstand Schari ebenso gut, wenn Harl sie ihr zeigte. 

Ein Klopfen an der Tür unterbrach die Überlegungen der Beisammensitzenden.

Auf Darachs »Herein!« traten die drei erwarteten Neuankömmlinge ein. Tilrun machte den Anfang und begrüßte die Anwesenden höflich. Wigberg schloss sich ihr an.  Lindrad trat als letzter ein und nickte allen am Tisch Sitzenden zu. Sie nahmen ebenfalls Platz und das eigentliche Treffen konnte beginnen.

Es war Garbhan, der als Erster das Wort ergriff.

»Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Ihr seid auf den Kahlen Berg gekommen und ich möchte wissen warum. Dass und wie ihr Harls Gefährtin geraubt habt, hörte ich bereits. Doch mir sind eure Gründe noch unverständlich. Was bei der guten Göttin habt ihr euch dabei gedacht, eine schwangere Frau zusammenzuschlagen und zu verschleppen?«

Die Rede des Dorfvorstehers hätte nicht direkter sein können und es blieb Lindrad hierauf nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu berichten. Dennoch war dem Mann gar nicht wohl zumute, saß er doch Schari direkt gegenüber. Vor ihr nun offen zu schildern, welche Beweggründe er gehabt hatte, als er sie mit sich nahm, fühlte sich für ihn, der wenig redegewohnt war, wie eine unverhoffte Folter an.

Hier und da wurde er von Wigberg unterstützt, doch auch dieser unternahm nichts, seinen Freund dem Verhör Garbhans zu entziehen. Im Stillen fand er es mehr als gerecht, dass Lindrad sich hier für seine unsinnige Tat rechtfertigen musste.

»Ich habe im ersten Moment nur eine frische, junge Frau ohne Gefährten gesehen, als ich Schari im Wald antraf«, gab er zu. »Dass sie zu einem starken Jäger oder Reisenden gehören könne, wurde mir erst später klar.«

»Und dass du sie einfach mal ansprichst und dich ihr auf einem normalen Weg näherst, kam dir dabei nicht in den Sinn?«, brummte Harl ungnädig. »Ich habe die Spuren gesehen! Du hast sie einfach in den Schlamm geworfen. So wie es aussah, hatte sie keinerlei Gelegenheit, sich auf irgendeine Weise gegen dich zu stellen oder sich gar zur Wehr zu setzen. Geht ihr so mit euren Frauen um?«

Harl wusste, dass es in den Dörfern nicht unüblich war, geraubte Frauen und Kinder für niedere Arbeiten zu benutzen. Einen Status in der Gemeinschaft konnten sich Fremde oft nur schwer erarbeiten. Für seine Schari wäre es, stumm wie sie war, sicher unmöglich gewesen, einen guten Platz in der Gemeinschaft um Ragin zu finden. Bis vor kurzem hatte er die Art und Weise des Zusammenlebens in den Dorfgemeinschaften auch nicht infrage gestellt. Für ihn nicht erstrebenswert aber letztlich üblich und notwendig, hatte er gedacht. Inzwischen war er sich nicht mehr so sicher, ob es wirklich unumgänglich war, dass eine Gemeinschaft aus niedrigen und hochstehenden Leuten bestehen müsse. Hier auf dem Kahlen Berg würde er sehen, ob es wirklich auch anders ging, ob man Schari und ihn anerkannte, obwohl sie Fremde waren, ob Darbhans Recht sich von dem Ragins unterschied.

Lindrad aber war von der Gegenrede Harls ehrlich beschämt. »Wir hatten so viele Verluste im letzten Jahr«, versuchte er sich zu rechtfertigen. »Was blieb uns denn anderes übrig, als ein paar neue Frauen zu rauben? Kein Dorf kann ohne sie auskommen, kein Haushalt und auch keine Familie kann leben ohne eine Frau, die für sie arbeitet.«

Darach nickte bei dieser Rede. Verstand er doch zumindest die Gründe, die zu der unüberlegten Handlung des Fremden geführt hatten. Harl aber knurrte unzufrieden und auch Garbhan klopfte ungeduldig mit den Fingerknöcheln auf den Tisch.

»Eure Not erklärt vielleicht ein wenig dein Handeln, aber sie rechtfertigt dich nicht!«, stellte er kühl fest. »Wer sich bei uns am Eigentum anderer vergreift oder gar versucht, unsere Frauen und Kinder zu rauben, wird hart bestraft. Hätte einer meiner Männer so gehandelt wie du, er müsste die Gemeinschaft noch heute verlassen und sein Besitz würde unter den Bewohnern des Berges verteilt.“

Lindrad schwieg und sah betreten auf die schwere Tischplatte vor ihm. Dass hier ganz andere Gesetze galten als in seinem eigenen Dorf, hatte er schon vor Tagen bemerkt. Man feilschte hier kaum, der Tausch Ware gegen Ware verlief nach offensichtlichen festen Regeln, der Umgang der Menschen untereinander war freier und freundlicher, als er es von seinem Heimatdorf gewohnt war. Dass dahinter ebenso strenge Gesetze wie die von Ragin stehen mussten, hatte er sich schon gedacht. Dennoch!

»Als ich Schari raubte, galten eure Regeln nicht für mich!«, begehrte er auf. »Weder kannte ich den Kahlen Berg, noch ahnte ich, dass es mich jemals hierher verschlagen würde. Ihr könnt mich nicht mit jenen vergleichen, die hier seit Jahren nach euren Gesetzen leben.«

Unter dem strengen Blick des Dorfvorstehers brach er ab. Darbhan aber nickte verdrießlich. »Das weiß ich, Mann! Und es gefällt mir gar nicht, dass du die rauen Sitten deines Dorfes hierhergetragen hast. Du bist keiner von uns. Dennoch wirst du nicht ungestraft hier von dannen ziehen.« Er räusperte sich. »Doch zunächst einmal wirst du erzählen, was ihr erlebt habt, nachdem Wigberg dich aus der Gruppe verbannt hat. Und sei dir gewiss: Mit Schari habe ich eine kluge Frau am Tisch, die mir zeigen wird, wenn du mich betrügst!“
Lindrads Bericht zog sich in die Länge. Immer wieder fragten Darbhan und Darach nach, versuchten sich über den Charakter und die Beweggründe des Mannes an ihrem Tisch klarzuwerden.
Schari folgte dem Gespräch nachdenklich. Nun, da sie mehr über Lindrad und jene anderen Männer erfuhr, die sie so brutal zugerichtet hatten, verstand sie, dass sie dennoch irgendwie Glück gehabt hatte. Wäre Wigberg nicht so umsichtig gewesen, den Räuber mit ihr ins Gebirge zurückzuschicken, hätte die Ankunft im Dorf gewiss ihren Tod bedeutet. Dieser Ragin schien nicht zimperlich im Umgang mit den Leben anderer zu sein. Von den beiden Männern, die sie mit Gewalt genommen hatten, ganz zu schweigen. Noch immer fröstelte sie entsetzt, wenn sie an jenen Abend zurückdachte. Als Lindrad davon berichtet hatte, wäre sie vor Scham am liebsten aufgestanden und gegangen. Harl, der ihr Leid natürlich bemerkte, war dichter zu ihr gerückt und hatte sie tröstend in den Arm genommen. Auch Tilrun war eine aufmerksame Beobachterin.
»Nicht du musst dich schamvoll abwenden«, stellte sie nachdrücklich fest. »Nur Gerwald und Arbogast trifft die Schuld an dem, was dir widerfahren ist.« Die Schwester Wigbergs wurde etwas lauter. »Wenn ich es könnte, würde ich sie an diesen Tisch zerren und Gerechtigkeit für dich verlangen!«
Harl nickte grimmig zu diesen Worten.
»Es ist wirklich eine Schande, dass man die beiden nicht zur Rechenschaft ziehen kann«, brummte er unzufrieden.
Auch Osane stimmte in die Rede ein: »Sie waren schon immer so, auch vor dem großen Sterben unserer Leute.« Nachdenklich  betrachtete sie Harl, der Schari noch immer schützend im Arm hielt. »Eine Zeitlang glaubte ich, dass ihre Überheblichkeit gegenüber anderen an ihrer überragenden Körperkraft und ihrem unersetzlichen Können als Handwerker lag. Macht, dachte ich, lässt Männer zwangsläufig so werden.« Sie blickte von dem Jäger zu Darbhan. »Noch nun, da ich euch kennengelernt habe, sehe ich, dass es auch anders geht.« Sie lächelte in sich hinein. »Lange habe ich gebraucht, um zu erkennen, dass man auch mit Macht etwas Gutes erreichen kann. Doch der Charakter dieser beiden Männer ist einfach zu verdorben, als dass man sie ändern könnte.«
Darach grübelte eine Weile stumm. Dann sah er Lindrad offen an. »Du aber könntest sicher auch nach den Gesetzen dieses Ortes ein angesehener Mann werden … wenn du dich nur bemühst und deine Fehler einsiehst. Mit Zorn allein wird dir das jedoch nicht gelingen. Du solltest Schari zeigen, dass dir dein Handeln leid tut.« Er richtete sich noch ein wenig auf seinem Hocker auf, um seiner Rede mehr Gewicht zu geben. »Und du solltest vor Darbhan und Harl beweisen, dass es dir ernst damit ist, deine Tat wiedergutzumachen.«
Der Dorfvorsteher beobachtete den so Angesprochenen genau. Nach wie vor wusste er nicht so recht, was er mit Lindrad anfangen sollte. Dass dieser bereute, was er angerichtet hatte, ließ sich nicht leugnen. Dennoch! Es erschien Darbhan Schari gegenüber nicht gerecht, den Mann straffrei davonkommen zu lassen. Immerhin hatte er der werdenden Mutter ihr Zuhause genommen, sie seinen Freunden überlassen - wenn auch nur durch Unbedacht - und sie dann den langen Weg bis hierher geführt, mit dem wachsenden Kind im Bauch.
Das Volk auf dem Kahlen Berg verehrte die Muttergöttin. Und Schari würde auch bald eine Mutter sein. Hinzu kam, dass sie sich der ihr gestellten Herausforderung der Stummheit, die ihr die Götter zugewiesen hatten, aus seiner Sicht kraftvoll stellte. Sie war eine starke Frau, die Respekt verdiente!
»Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich Lindrad einen Platz in unserer Siedlung gewähre«, gab er schließlich zu. »Bei allem Respekt für die Mühen, die du auf dich genommen hast, um Schari hierher in Sicherheit zu bringen …« Er sah den Angesprochenen ernst an. »Sie würde noch immer in Frieden mit Harl in den Bergen leben, wenn du ein wenig mehr Verstand und Zurückhaltung hättest walten lassen! Einen Mann aber, der erst handelt und dann denkt, können wir auf dem Kahlen Berg nicht gebrauchen!«
Er erhob sich und stemmte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab. »Falls du bleiben willst, werde ich mir ein paar Tage Zeit nehmen, um zu bedenken, ob ich dir das Recht dazu gebe. Möchtest du sowieso weiterziehen, steht es dir frei, so viele Vorräte mitzunehmen, dass du einen halben Mond ohne Jagd gut leben kannst. Dein Pferd kannst du ebenfalls behalten.« Er runzelte die Stirn. »Wir werden dir keine Steine in den Weg legen und dich nicht aufhalten. Willst du aber bleiben und ich entscheide mich ebenfalls dafür, wirst du von mir genau beobachtet werden. Sehe ich auch nur  einen begehrlichen Blick oder höre ein unzüchtiges Wort gegenüber Schari oder unseren anderen Frauen, werde ich dich verbannen.« Darbhan blieb eiskalt, während er weitersprach. »Und du wirst auf irgendeine Art und Weise deine Verfehlungen bei Harl und Schari wiedergutmachen. Es würde also keine einfache Zeit für dich. Nun wähle!"

 

 

Lindrad schwieg lange und starrte dabei auf die Tischplatte. Man sah, wie er die Stirn runzelte und sich unentschlossen über den Bart strich. Dann trommelte er noch einmal unzufrieden mit zwei Fingern auf die Eichenbohlen.

„Keiner hier will wirklich, dass ich bleibe“, brummte er unzufrieden. „Keiner von euch will anerkennen, dass diese Frau längst tot wäre ohne mich …“ Mit verschlossener Miene sah er Garbhan an. „Und du würdest am liebsten dafür sorgen, dass ich schnellstens hier verschwinde. Also! Wieso schickt ihr mich nicht gleich weg?“

Wieder herrschte Schweigen in Darachs Hütte und Harl bemerkte mit zunehmendem Unbehagen, dass ihnen allen etwas Wichtiges entgangen war: Ging Lindrad zurück in sein Dorf, würde er alles Wissen mit sich nehmen, welches er über das Volk auf dem Kahlen Berg zusammengetragen hatte. Harl war sich sicher, dass seine Berichte  Ragins Gier schüren und ihn womöglich in den Norden treiben würden. Sie mussten vorsichtiger sein.

Beschwichtigend schob er eine Hand auf Scharis Oberschenkel und drückte sie sanft, bevor er in das Gespräch eingriff. „Wenn wir nicht einverstanden wären, dass du bleibst, hätten wir dir diese Möglichkeit nicht angeboten“, versuchte er, Lindrad ruhiger zu stimmen. „Natürlich hast du recht, dass wir alle auf die eine oder andere Art dir gegenüber befangen sind. Doch ich erkenne durchaus an, dass du Schari gerettet hast, auch wenn sie erst durch dich in diese Situation kam. Nun aber sind wir alle hier und am Ende sollte daraus etwas Neues und Gutes werden. Niemandem hilft es, nur der Vergangenheit nachzutrauern. Schari ist hier freundlich aufgenommen worden und wunderbar untergekommen.“ Er lächelte Darach dankbar an. „Und auch du, Lindrad, solltest schauen, ob du hier nicht heimisch werden kannst. Der Weg zurück in dein Dorf ist weit und alles andere als ungefährlich.“

Wigbert nickte nachdenklich. Vielleicht war auch ihm klargeworden, wie riskant Lindrads Weggang sein könnte. „Du solltest es zumindest versuchen“, stimmte er Harl zu. „Wer weiß, ob du den Rückweg schaffst? Und wer weiß, ob Ragin überhaupt froh wäre, dich zu sehen? Gerwald und Arbogast können inzwischen alles Mögliche zu unserer Geschichte dazuerfunden haben.“

Lindrad seufzte. „Daran habe ich auch schon gedacht. Doch ich will auch niemandem im Wege stehen. Und Ostara – ich meine: Schari – wäre sicher froh, wenn sie mich nicht mehr sehen müsste …“

Wieder senkte Lindrad den Blick und inzwischen wurde den Menschen um ihn herum klar, dass er vor allem aus Unsicherheit so rau reagiert hatte.

Schari nahm ihre Gestensprache wieder auf und ließ Harl wissen, dass sie nicht dagegensprechen würde, wenn sich Lindrad entschied zu bleiben.

„Sie sagt, dass er ja nicht mit ihr im selben Raum leben müsse“, gab Harl den Inhalt von Scharis Gesten für alle wieder. Man lachte leise.

Schließlich meldete sich Garbhan noch einmal zu Wort. „Ich bleibe dabei, dass ich dich genau beobachten werde, wenn du bleibst“, stellte er noch einmal fest, blieb dabei aber freundlich. „Und ich verlange auch, dass du Harl und Schari bei ihrem Neuanfang unterstützt. Das Mädchen trägt ein Kind und die Geburt steht kurz bevor. Daher sollte sie jegliche Aufregung vermeiden. Dennoch brauchen die beiden, nun, da sie bald eine Familie sein werden, eine eigene Hütte. Du solltest bei diesem Bau mithelfen. Und du kannst Harl unterstützen, für seine Frau und sein Kind zu sorgen. Ein Vater bleibt bei uns im ersten Mond bei seinem Kind und seiner Frau. Die Männer der Familie, Brüder, Freunde, übernehmen für ihn die Jagd und die Feldarbeit. Unser Harl hier aber hat niemanden, den er bitten kann. Wir alle werden ihm daher beistehen. Du aber solltest sein Jäger sein für den ersten Mond. In dieser Zeit werden Darach und ich euch alle hier gründlich in die Sitten und Regeln unserer Gemeinschaft einführen. Nur wer unseren Gesetzen Folge leisten will, kann auf dem Kahlen Berg leben. Jeder von euch wird diese Entscheidung treffen müssen. Doch ich bin einverstanden, wenn ihr das nicht heute tun wollt. Bedenkt euch genau und trefft eine kluge Entscheidung!“

Garbhan löste damit das Treffen auf und Lindrad verließ nach ein paar belanglosen Worten den Raum, ohne eine Entscheidung getroffen zu haben.

„Du wolltest ihn nicht ziehen lassen, obwohl er sehr entschlossen schien“, stellte der Dorfvorsteher leise gegenüber Harl fest. „Warum?“

Harl verzog das Gesicht. „Er weiß viel über eure Siedlung und euren Wohlstand“, brummte er unzufrieden. „Zu viel, wenn du mich fragst. Wenn er Ragin diesen fetten Braten hier richtig schmackhaft macht …“

Garbhan fuhr sich über den Bart. „Er glaubt vielleicht, viel zu wissen“, gab er zu. „Doch auch du siehst nicht alles, was den Berg ausmacht“.

Fragend starrte er Darach an, der ihm knapp zunickte.

„Was du auf den ersten Blick siehst, ist ein wohlhabendes Volk, das Vieh hält und Felder bestellt. Doch durch unser Land sind schon einige Stämme und Horden gezogen, die es auf diesen Wohlstand ebenso abgesehen hatten, wir es vielleicht irgendwann ein Ragin tun wird. Niemand von uns glaubt, dass sie uns verschonen würden, wenn wir uns unvorsichtig preisgäben.“

Schari senkte bei diesen Worten traurig den Kopf und auch Harl waren die Bilder des Bärenclans noch gut in Erinnerung. War er hier auf ein Volk gestoßen, das wusste, wie es kämpfen musste?

„Wir haben Wächter auf allen umliegenden Hügeln“, schien Darach seine Gedanken gelesen zu haben. „Und jeder unserer Männer versteht es, die Axt und den Bogen zu führen. So wie wir jagen, kämpfen wir auch – zu Fuß und zu Pferde.“ Er lachte leise. „Soll dieser Ragin nur kommen! Wir würden ihm schnell zeigen, wer hier das Sagen hat.“

Darach füllte die Becher seiner Gäste mit frischem Wasser auf. „Osane hat mir von dem Opferplatz erzählt, den ihr gefunden habt, Harl“, nahm er dann das Gespräch wieder auf. „Es ist viele Jahre her, dass dieses Volk im Osten lebte. Sie waren anders als wir und wir vertrauten uns nie. Doch waren unsere Männer alle gute Krieger, gute Jäger, und so forderten wir uns nicht gegenseitig heraus. Zu ungewiss schien der Ausgang eines solchen Kampfes zu sein.

Garbhan lachte. „Es ist wirklich eine alte Geschichte! Zu jener Zeit waren Darach und ich noch junge Männer!“

„Und ich eine junge Frau“, sinnierte Osane. Als man sie aufgrund dieser Äußerung neugierig anstarrte, lächelte sie nachdenklich. „Auch ich kenne das Volk, das diese Opferstätten angelegt hat. Ihre Riten waren blutig und ihre Götter unersättlich nach Blut. Ich verstand sie nicht. Also verließ ich sie, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergab. Doch ihre Krieger sind mir in guter Erinnerung. Sie hielten sich für stark, unbesiegbar. Und wenn ich ehrlich bin, so tat ich es ihnen nach.“

Gespannt musterte die alte Heilerin Garbhan. „Ich habe immer geglaubt, dass sie irgendwann weitergezogen sein müssen. Das Land war so karg …“

Darach lachte auf. „So kann man es auch nennen“, meinte er grimmig. „Weitergezogen sind sie tatsächlich – bis vor die Tore des Kahlen Berges.“

„Und sie erhoben Anspruch …“ Garbhan kniff die Augen halb zu. „Meinten ein Recht auf unsere Vorräte und unsere Siedlung zu haben.“

Darach nickte. „Sie waren kämpferisch, das stimmt. Aber sie hatten einen großen Nachteil: Sie rechneten nicht mit der Wut von Männern, die ihr Zuhause verteidigen, ihre Frauen und Kinder, ihr Land und ihren Besitz.“

„Sie wurden geschlagen und die wenigen, die überlebten, zogen überhastet fort und ließen sogar ihre Götter zurück. Wir haben nie wieder von ihnen gehört.“

Darach seufzte. „Eine schlimme Geschichte! Doch sie soll euch sagen, dass ihr hier sicher seid. Kein Ragin oder Lindrad wird euch hier etwas antun. Auch wir sind Kämpfer.“

Sie saßen noch lange beieinander und die später erzählten Geschichten von Osanes Reisen oder Wigberts Jagden waren weniger wild und kriegerisch. Harl aber hatte der Bericht der Männer angesprochen. Hier auf dem Kahlen Berg herrschte Sicherheit. Etwas, das er Schari nicht hatte bieten können. Bedachte man diesen Vorteil, war ein Leben in der Siedlung verlockend. Dennoch! Die Zahl der Menschen auf der Bergkuppe war unüberschaubar und der Jäger fühlte sich inmitten der Vielzahl von Gerüchen und Geräuschen nach wie vor unwohl.

Es war wohl nicht zu ändern. Egal, was sie später tun würden, erst einmal sollte ihr Kind sicher und gesund zur Welt kommen. Liebevoll strich Harl seiner Gefährtin über den gewölbten Bauch. Wie es wohl sein würde, den kleinen Schreihals erst einmal im Arm zu halten?

 

 

 

 

Anhang:

 

Die Seite - zum - Buch:

 

https://www.facebook.com/pages/Rabenvolk/489983544488958?ref=hl

 

Hier findet ihr historische Fakten, interessante und kuriose Rechercheergebnisse und ein paar Fotos von archäologisch wichtigen Orten, die ich schon besucht habe.

 

 

Worterklärungen:

 

[1] Schneeschuhe - man irre sich nicht - hier geht es NICHT um Ski! Das, was Harl Schari schenkt, sind typische Weidengeflechte der Frühzeit, die, unter den Schuh gebunden, die Trittfläche enorm verbreiterten und somit das Einsinken im tiefen Schnee verhinderten. Bei den Indianern sah das z.B. so aus:

http://de.wikipedia.org/wiki/Schneeschuh#/media/File:Schneeschuhe.jpg

 

[2] Birkenporling: (Piptoporus betulinus) ist ein Pilz aus der Familie der Stielporlingsverwandten. Er befällt Birken und lebt auf ihnen parasitär. Bedeutung hatte der Pilz in früherer Zeit vor allem als Arzneimittel. Der in dünne Streifen geschnittene Fruchtkörper wurde als Bandage zur Wundheilung verwendet, unter anderem wegen seiner entzündungshemmenden Inhaltsstoffe. Der „Mann im Eis“, allgemein bekannt als Ötzi, eine etwa 5300 Jahre alte Gletschermumie, führte zwei Birkenporlinge mit sich, wahrscheinlich, um ihre antibiotische Wirkung zu nutzen. (Quelle: wikipedia)

 

[5] Wigberg, germanisch - der prächtige Kämpfer

 

[4] Eila, germanisch - die Leuchtende

 

[3] Ragin - germanisch: Der hervorragende Ratgeber

 

[6] Sarolf - germanisch: Der gerüstete Wolf

 

[7] Teiwaz oder auch Tyr ist der frühe germanische Gottvater. In späterer Zeit verschob sich seine Stellung und er wurde zum Sohn Odins erklärt. Er steht für Recht und Kriegsglück.

 

[8] Gelsa - germanisch, die Frohmutige

 

[9] Tilrun - germanisch: die Geheimnisse Wissende

 

[10] Fackelkraut: alte Bezeichnung für die Königskerze

 

[11] Ob man die Kelten tatsächlich  "Die grauen Krieger" nannte, ist reine Fiktion. Ebenso ist es nur eine Vermutung, dass sie vor einem Kampf ihr langes Haar mit Kalk aus dem Gesicht "gegelt" haben, um noch bedrohlicher und fremdartiger zu wirken. Doch mir gefiel diese mögliche Eigenart so gut, dass ich sie hier mit verwenden wollte.

 

[12] Sionn: gälisch: Fuchs

 

[13] Odhran: gälisch: dunkelhaarig

 

[14] Garbhan: gälisch: rau

 

[15] Darach: vom gälischen Wort für „Eiche“.

 

Imprint

Text: Urheberrecht des Textes liegt bei der Autorin.
Images: Cover: Sophie André unter Verwendung von:
Publication Date: 10-08-2011

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