Candis war mir immer die liebste Schwester. Ihr braunes Schokoladenhaar wehte am schönsten beim Schaukeln im Wind und wenn es nass war, schnalzte es ihr auf die Sommersprossenschultern. Ihr Lachen war sowieso das tollste Geräusch, wenn es durch den Garten zischte – mit den Motten um die Wette, die um sie herum flatterten und die sie nie wegjagte. Bis zu dem Tag der toten Maus.
Pine, Bubble und ich hatten aus Holz einen Verschlag gezimmert, für die bevorstehende Regenzeit.
Das haben wir gemacht, obwohl wir alle drei nur wenig handwerklich begabt waren und Pine schnitt sich zweimal die Haut am feuchten Holz auf. Aber als wir sahen, wie Candis ihre kleine Nase gen Himmel reckte, ganz kraus – und wie sie so ernst in die Wolken blinzelte, fiel uns ein, was Ma über den Flügelstaub der Motten gesagt hatte.
„Candis Freunde dürfen nicht nass werden, dann können sie nicht mehr fliegen!“
Bubbles Wangen leuchteten rot, als er über den Rasen sprintete und hastig anfing die Holzbretter aufzustapeln, die er aus der Garage herangeschafft hatte. Ich versuchte mir vorzustellen, was all die Motten anfangen sollten, wenn sie nicht mehr freudig um meine kleine Schwester herumflattern und ihr dieses wundervolle Lachen entlocken konnten - und ich nickte Bubble zu, lief zur Garage um weitere Bretter heranzutragen.
Unsere Mutter hatte uns nie mit in die Stadt genommen. Keiner von uns wusste wirklich, das es außerhalb unseres Familiengartens hinter der alten Villa noch eine Welt gab. Wir ahnten es, weil Ma oft herausging um Dinge zu besorgen. Doch keinem von uns – nicht einmal mir als dem Ältesten - war es erlaubt ihr nachzugehen. Und ich hatte auch keine Lust dazu. Wir liebten unser Zuhause. Das Universum unserer Kindheit, in dem Worte wie „Böse“ oder „Tod“ wirklich niemals gefallen waren. Manchmal frage ich mich, wie mein Leben aussähe, hätte es den Tag der toten Maus nie gegeben – doch dann werde ich so unendlich traurig das es mich jedes Mal aufs neue um den Verstand bringt, um den es eh nicht so gut bestellt ist.
Als der Verschlag fertig war, waren wir alle stolz. Weil Bubble ein paar Haken gefunden hatte, gab es sogar eine richtige kleine Tür und selbst wenn Wind aufkam, fiel er nicht um – auch wenn das Holz manchmal ächzte, vertrauten wir unserer Arbeit so sehr, dass wir ihr unser Heiligtum anvertrauten. „Sie muss es unbedingt warm und gemütlich haben.“ Pine legte die Hand unters Kinn, was sie immer tat, wenn sie nachdachte. Dann hellte sie auf, lief zum Haus und kam schon kurze Zeit später mit all den schönen Wolldecken zurück, die Ma für uns gemacht hatte. Eifrig richteten wir alles her, während Candis auf der Schaukel saß, mit ihren Motten sprach und von Stunde zu Stunde ein wenig ernster wirkte. Als der erste Regentropfen fiel erschrak ich so sehr, dass mein Herz für einen Moment auszusetzen schien. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf, stieß Bubble zur Seite und riss Candis von der Schaukel. „Hey, was soll das?“ Hörte ich meinen Bruder kreischen und dann „Aua!“ Ich hörte auch, wie Pine die Luft einsog und den Atem anhielt, während Tränen über Bubbles warmes, weiches Jungengesicht rollten. Doch das alles war mir egal. Ich trug Candis zum Verschlag und schob sie schnell – und was mich besonders mit Stolz erfüllte – noch bevor der Regen tatsächlich losbrach auf die ausgebreiteten Decken. Ein ganzer Schwarm Motten drängte sich an mir vorbei. Es kitzelte mich an den Armen und im Gesicht, als sie mit ihren staubigen Flügeln über mich glitten um sich um Candis zu sammeln und zufrieden mit den Flügeln wackelnd niederzulassen.
„AAAAAAAAAAAH“ Ich fuhr zusammen. Pines schriller Schrei, so markerschütternd und.... ich wusste weder etwas von Entsetzen noch von Ekel oder Angst... doch dieses Geräusch war das Unnatürlichste, das ich je gehört hatte. Das Schlimmste, was bis dahin und seither über meine Knochen fuhr. Als ich mich umdrehte, sah ich Blut an Bubbles Hosenboden. Die beiden hatten mir den Rücken zugewandt und starrten auf einen Punkt am Boden. Also schob ich mich zwischen sie. Dort auf dem Rasen lag eine Maus. „Was ist denn?“ Fragte Candis und steckte den Kopf nach draußen. „Ich.... weiß nicht. Hier ist eine Maus.“ Antwortete ich und wusste, dass Candis mit sich zu hadern begann. Sie liebte Mäuse und vergnügte sich gern damit ihnen zu zu sehen, wenn sie durch den Garten flitzten – doch kroch sie aus dem Schutz heraus, würden die Motten ihr folgen und nass werden. „Bleib!“ Pine streckte die flache Hand abwährend nach hinten aus zu ihr. Ich hob die Schultern und beäugte weiterhin die bewegungslose, hellbraune Maus im Gras. Sie lag ganz einfach nur da, wirkte unnatürlich flach und Blut quoll aus der kleinen spitzen Nase. Die Härchen wackelten nicht. Das kam mir komisch vor. Also beugte ich mich herunter und stieß das Tier mit dem Finger in die Seite. Es regte sich nicht, sondern rutschte einfach ein wenig im Gras herum, weil ich es angeschoben hatte. Also richtete ich mich wieder auf und hob erneut die Schultern. „Was ist denn nun mit der Maus?“ Drängelte Candis und zupfte Pine am Rockzipfel, die einen Schritt vorwärts machte um auszuweichen. „Ich denk mir, sie ist müde weil Bubble sich auf sie draufgesetzt hat.“ Sagte ich und es schien mir die logischste Erklärung. „Du hast mich gestoßen!“ Stieß Bubble hervor und seine Anschuldigung stach mir ungewohnt schmerzhaft in der Bauchgegend. Ob man es glauben mag oder nicht, wir wussten nichts von Streit. „Ja.“ Antwortete ich also und versuchte zu verstehen. Zum Beispiel diesen vollkommen fremden Ausdruck in seinen Augen – der wie wild Blitze in meine Richtung zu schicken schien. Ein paar Minuten starrten wir weiter auf die Maus – warteten auf ihr Erwachen. Sie erwachte nicht. Der Regen schwoll an und irgendwo im Haus klapperte Ma mit Töpfen. Aber wir standen einfach nur da. „Vielleicht wacht sie nie wieder auf. Manchmal kommt das vor. Das weiß ich von den Motten.“ Candis Kopf lag im Gras. Sie linste angestrengt zwischen unseren Füßen hindurch. Kaum hatte sie diesen unwirklichen Gedanken ausgesprochen und der erste dumpfe Donnerhall war über den Himmel gerollt, fuhr Bubble herum, ballte die kleinen Fäuste so fest zusammen, dass die Knöchel weiß hervortraten, stieß ein Grollen aus und sprang mich einfach an. Wie wild prasselten Schläge auf mich ein und ich war so fassungslos, dass ich mich einfach nach hinten fallen ließ. Minutenlang starrte ich in die Gräue über mir, spürte den kalten Regen und die Schläge und weinte ohne den Gedanken an Gegenwehr auch nur zu kennen.
Ma verschwand mit Bubble sieben ganze Tage lang. Sieben Tage lang saß ich vor dem Verschlag und sah der Maus bei ihrem immer unangenehmer werdenden Schlaf zu. In der aufrichtigen Hoffnung, sie würde sich aufhieven und weglaufen. Doch als das meiste Fleisch bereits von den Knochen gefressen war – Insekten hatten sich eingenistet - gab ich die Hoffnung endgültig auf. In dieser Zeit fand ich immer wieder bewegungslose und vertrocknete Motten auf den Stufen zur Veranda. Ich verstand nicht, aber ich ahnte.
Am siebten Tag erwachte ich aus einem lethargischen Tagtraum als Pine sich neben mich sinken ließ. Die blauen Augen matt und rot gerändert und genauso unverstanden wie ich.
„Ma ist zurück. Bubble schläft.“ Sagte sie mit rau belegter Stimme. Dann stand sie auf, machte ein paar ungelenke Schritte über den aufgeweichten Rasen, hob den Fuß und ließ ihn auf die Maus herunterfahren. Ich schrak zusammen.
An den freigelegten Knochen schnitt sie sich in die Sohle und blutete in den Schlamm.
Fragend legte ich den Kopf schief. „Hm?“
„Bubble schläft jetzt auch. So wie die Maus.“
Also stand ich auf und ging nach drinnen. Candis saß auf der Treppe, legte immer wieder die Finger auf den Flügeln der Motten zusammen, die nur noch mühsam flatterten und deren Anzahl sich stark verringert hatte. „Das kommt vor.“ Sagte sie ohne mich anzusehen. Dann wischte sie sich den grauweißen Staub über die Lippen, legte sich ausgestreckt über die Stufe und starrte ausdruckslos an die Decke.
Candis starrt noch heute. In einem Schaukelstuhl auf Mamas Veranda wippt sie sich Tag für Tag, Nacht für Nacht in einen tiefen Schlaf und immer am Sonntag gehe ich zu ihr herüber um die erschlafften Nachtfalter aus ihrem Haar und von den Stufen weg zu schaffen. Es sind tausende in all den Jahren, vielleicht noch mehr und ich hasse es, den trockenen Staub an Händen und Kleidung zu haben, ihn nicht abgewaschen, nie abgerieben zu bekommen... Die tote maus haben wir nicht angerührt. Den Garten haben wir nicht mehr betreten. Vielleicht ist sie noch da. Das Skelett unserer Kindheit. Ich mache es jeden Sonntag wieder gut. Candis war mir immer die liebste Schwester.
Publication Date: 07-17-2011
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