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Kapitel 1 - Stille Nacht

Deutschland / Berlin, Steglitz

 

Alles war vorbereitet.

Eine Lichterkette aus Weihnachtsmännern und verschiedene Fackeln beleuchteten die großzügige, erhöhte Terrasse der alten Villa.

Obwohl die Sonne schon lange verschwunden war, lagen die Temperaturen immer noch bei 16 Grad. Henriette Hartkamp konnte sich an Weihnachtsfeste erinnern, als vor der Zahl noch ein Minus gestanden hatte. Doch die lagen weit zurück.

Wehmütig blickte die Bundeskanzlerin auf den gedeckten Gartentisch und den vorbereiteten Grill. So vieles, was gut war, lag bereits lange zurück. Auch ihre kinderlose Ehe. Sie hatte damals die Wahl zur Bundeskanzlerin nicht überstanden und Henriette hatte sich in der jüngsten Vergangenheit mehrmals gefragt, ob dieser Preis nicht zu hoch gewesen war. Sie wusste, dass ihre Karriere zu Ende ging und was danach bleiben würde, war nicht viel.

Ein Weihnachtsfest mit zwei engen Vertrauten – die nicht mal Freunde im eigentlichen Sinne waren, sondern „Kollegen“, die ihr nahestanden. Auch die alten Freunde hatten sich im Lauf der Zeit verabschiedet, ohne dass es Henriette zunächst bemerkte. Erst jetzt, wo der Abschied aus der Regierung nahe war, erkannte sie, was sie auf dem Weg hierher verloren hatte.

Alles war anders seit diesem Jahr. Seit die Fremden erschienen waren...

Fünf gigantisch große, unbekannte Objekte waren aus dem Nichts aufgetaucht – in Deutschland, in den USA, in China, Russland und Sambia. Fünf Menschen verschwanden und kehrten kurze Zeit später mit unglaublichen Botschaften zurück. Die Fremden waren gekommen, um die Menschen vor ihrem Untergang zu retten. Doch niemand wollte es glauben. Und wenn doch, dann verhinderten die Mächtigen, dass die Botschaft zu den Menschen kam. China hatte seine Rückkehrerin umgehend erschossen und das Objekt bombardiert. Und auch die anderen vier Personen waren seitdem durch eine Hölle von Verleumdungen und Verfolgung gegangen.

Selbst als die Besucher persönlich in Erscheinung traten und unter Beweis stellten, zu was sie fähig sind, wurden sie bekämpft – sogar mit noch härteren Bandagen als zuvor.

Henriette hatte versucht, ein Gegengewicht aufzubauen, wollte im Sinne der Fremden ihre Politik gestalten und war mehr als bereit, die Geschenke anzunehmen.

Politisch hatte ihr dieser Kurs das Genick gebrochen. Ihr eigener ehemaliger Innenminister Harald Blöhme hatte – gelenkt von einflussreichen Konzernen – eine neue Partei gegründet. Gestärkt von Spenden und den besten Lobbyisten des Landes hatte er breite Teile der Bevölkerung hinter sich vereint. In den diesjährigen Landtagswahlen waren die Freien Erdenbürger in mehrere Regierungen gewählt worden oder bildeten die stärkste Oppositionspartei. Als Krönung seines siegreichen Feldzugs gegen die etablierte Demokratie hatte Blöhme noch in der Adventszeit einen Misstrauensantrag gegen die Kanzlerin gestellt. Sie wusste, dass er keine Gelegenheit ausließ, um dafür zu sorgen, dass sein politischer Putsch vom Erfolg gekrönt sein würde.

Henriettes Empörung war nur von kurzer Dauer.

Danach fühlte sie sich unendlich ruhig. Aber auch traurig. Sie hatte keinen Kampfgeist mehr und war bereit, das Feld zu räumen. Etwas sagte ihr, dass in dieser neuen Welt kein Platz mehr für sie sein würde.

Ihr amerikanischer Kollege Edgar Braden war ebenfalls im Spätherbst zum Rücktritt gezwungen worden. Im Hintergrund zog Heimatschutzminister Fallon mit Unterstützung des Militärs die Fäden. Und auch Sambias Präsident Jonathan Keita, der ein landwirtschaftliches Pilot-Projekt mit den Fremden unterstützte, saß auf einem wackeligen Stuhl.

In Russland hingegen rieb sich Fjodor Kusmin im Kreml die Hände. Es war ihm gelungen, seinen Rückkehrer zu einem Sprachrohr gegen die Fremden umzudrehen. Er saß fest im Sattel und würde sich von niemandem die Macht nehmen lassen – nicht mal von einer außerirdischen Lebensform.

Wenn jemand Henriette Hartkamp an diesem Heiligabend gefragt hätte, wie die Welt im nächsten Jahr aussehen würde, hätte sie keine verlässliche Antwort gehabt. Aber ihre Prognosen hätten nicht gut ausgesehen.

Die Stimmung weltweit war angespannt.

Die Menschen steckten voller Angst und aufgestauter Aggression. Hervorgerufen – wie immer – durch Unsicherheit und Unwissenheit. Die Medien sorgten wie gewöhnlich für Simplifizierung und stachelten den Konflikt noch an. Es gab die Alien-Freunde und die Alien-Feinde. Und letztere waren in den meisten Publikationen die Guten, denn deren Unterstützer hatten einfach das meiste Geld für Werbung und Anzeigen. Sie waren die Beschützer der Welt und des Wohlstandes. Alle anderen galt es zu bekämpfen.

Immer wieder kam es zu gewalttätigen Demonstrationen und Ausschreitungen. Nicht nur in den USA und nicht nur in den Großstädten, sondern weltweit. Auf Dörfern, in kleinen Gemeinden und mittleren Städten. Niemand war davor sicher. Und da die Fremden das alles beherrschende Thema waren und es kaum noch andere Neuigkeiten gab, war es unmöglich sich dem zu entziehen und keine Position einzunehmen.

Darüberhinaus waren die Fremden auch eine Projektionsfläche für alles, was die Menschen fürchteten – aber auch wonach sie sich sehnten. Sie waren Himmel und Hölle zugleich und wagten allerhöchstens zaghaft, einen Einfluss auszuüben.

Mehr als einmal hatte Henriette an den Missions-Administrator und den Kontinentalbeauftragten appelliert, sie bei ihrem Kampf für die Akzeptanz der Fremden zu unterstützen.

„Die Menschen müssen von sich aus auf uns zukommen, sonst kann es keine Veränderung geben“, hatte sie als Antwort erhalten. Und wo die Menschen die Nähe suchten, unterstützten die Fremden auch. Doch das geschah nur im kleinen Rahmen und oft sogar im Geheimen, um Repressalien zu vermeiden. Sie stellten sich zwar vor Kameras, gaben Interviews und erläuterten öffentlich ihre Ziele – aber sie gingen nicht aktiv gegen ihre Gegner vor.

Ihre Versprechen von neuen Energiequellen, mehr Nahrungsmittel-Ressourcen und revolutionärer Medizin hatten sie bisher nicht im großen Stil einlösen können. Dazu waren die Widerstände zu groß und die Forderungen zu hoch. Sie erwarteten von den Menschen, sich selbst zu begrenzen. In ihrem Wachstum und in ihrem Konsum. Beides war jedoch nicht mehr möglich. Wie es weitergehen würde, wusste niemand.

Eine Eskalation schien unausweichlich. Und Henriette Hartkamp fühlte sich bei dem Gedanken, dann nicht mehr in der Regierungsverantwortung zu stehen, erleichtert. Auf der anderen Seite hatte sie aber auch das Gefühl sich feige wegzuducken, und die Demokratie einem Mann wie Blöhme und seinen Hintermännern in den Rachen zu werfen.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass ihre Gäste bald hier sein würden. Sie ging ins Wohnzimmer, das hinter der Terrasse lag, und von da aus in den Flur, um einen prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen. Sie trug ein dezentes, dunkelgrünes Kleid mit einer hellen Strickjacke darüber. Das dichte, dunkle Haar hatte sie hochgesteckt. Sie war eine attraktive Frau mit schmalen Lippen, ausdrucksstarken dunklen Augen und hohen Wangenknochen. Doch im Moment fühlte sie sich alt und müde. Dabei hatte sie sich so sehr auf den Abend freuen wollen.

Die Kanzlerin zuckte zusammen, als sie die Türklingel hörte. Mit ein paar schnellen Schritten war sie am Eingang.

Ihre Gäste waren zusammen gekommen.

Die Frau mit dem schmalen Gesicht, den dünnen Lippen und den blitzenden Augen hatte die nackenlangen Haare zusammengebunden. Sie trug einen Rock, was ungewöhnlich war. Henriette kannte sie nur in Anzügen und Hosen. Doch am Heiligabend war Saskia Gauers nicht im Dienst. Sie gehörte einer Spezialabteilung der Regierung an, die hauptsächlich für die Sicherheit der Fremden und der Rückkehrer verantwortlich war. Seit Monaten war der Haupteinsatzort von Saskia Gauers der Acker im Landkreis Harburg, auf dem das Objekt der Fremden aufgetaucht war. Und sie gab alles, um die Besucher zu schützen – und die Kanzlerin. Sie genoss Henriettes komplettes Vertrauen.

Genau wie der schlaksige, hochgewachsene Mann mit den tiefliegenden Augen und dem schüchternen Lächeln, der mit ihr gekommen war. Bis zum vergangenen März hatte Gideon Spengler einfach zum Pressekorps der Regierung gehört. Doch seitdem war er Stück für Stück zum engen Vertrauten der Kanzlerin geworden. Sie schätzte seinen Weitblick, seine besonnene Art und seine Empathie. Sie wusste, dass sie sich jederzeit auf ihn verlassen konnte.

Diese Frau und dieser Mann waren die einzigen, mit denen die Bundeskanzlerin Weihnachten feiern würde.

Beide hatten sich über die Einladung gewundert, sie jedoch dankend angenommen. Und da keiner von ihnen Familie hatte, schlossen sich die drei einsamen Seelen zusammen, um vielleicht zum letzten Mal ein friedliches Weihnachtsfest zu feiern.

Die Kanzlerin bedankte sich bei ihren Gästen für die mitgebrachten Geschenke und führte sie auf die Terrasse.

Saskia Gauers schüttelte seufzend den Kopf. „Es ist fast schon unanständig, diese Wärme...“

„Der Preis des Wachstums und der Globalisierung“, warf Gideon Spengler ein.

Henriette schaltete den Gasgrill ein fragte nach den Getränkewünschen. Gideon fühlte sich unwohl. Er wusste nicht, wie er der Regierungschefin gegenübertreten sollte. Auch Saskia Gauers war unsicher, konnte es aber besser verbergen.

Henriette entging die Anspannung nicht. Sie lächelte und hob ihr Glas.

„Ich danke euch, dass ihr heute Abend gekommen seid. Und bevor es peinlich oder verkrampft wird: Ich bin hier keine Kanzlerin. Ich bin heute einfach nur Henriette. Und mit großer Wahrscheinlichkeit werde ich schon sehr bald nichts anderes mehr sein.“

„So sollten sie nicht reden, Frau Kanz... Henriette...“, warf Saskia Gauers ein. „Nicht den Kopf hängenlassen, nur weil Blöhme gerade einen Höhenflug hat.“

Henriette Hartkamp hob die Schultern und senkte den Blick. „Es ist ja nicht nur Blöhme. Die komplette Stimmung im Land kippt. Er hat große Teile des Kabinetts hinter sich – Stolte ist sowieso auf seiner Seite, weil er sich mit Blöhme einen höheren Etat für sein Verteidigungs-Ministerium ausrechnet. Und die anderen Parteien liebäugeln mit Koalitionen.“

„Ein Grund mehr, nicht aufzugeben“, hielt Gideon Spengler dagegen. „Die Demokratie braucht jetzt ein Bollwerk.“

„Aber ich bin nicht sicher, ob ich das noch sein kann.“

Der Pressesprecher wollte etwas erwidern, aber sein Telefon riss ihn aus dem Gespräch. Er sah aufs Display und entschuldigte sich kurz, als er den Anruf entgegennahm. Die Frauen hörten, wie seine Stimme weicher wurde und er flüsterte.

„Eine Freundin?“, fragte Henriette vorsichtig.

Saskia Gauers zwinkerte. „Gut beobachtet.“

Als Gideon zurückkehrte waren seine Wangen gerötet. Saskia grinste. „Und? Alles in Ordnung im Landkreis Harburg?“

Das Rot auf seinen Wangen wurde noch ein bisschen dunkler.

„Was... äh... nein, na ja... Hannah, also Frau Fröhlich und ich stehen in Kontakt, aber...“

„Ist schon gut“, wehrte Saskia Gauers lachend ab. „Freut mich, dass sie der Familie so sehr beistehen.“

Henriette Hartkamp nickte, aber ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. „Die Familie hat eine Menge mitgemacht in diesem Jahr. Ich wünschte, ich hätte mehr für sie tun können.“

Saskia Gauers seufzte. „Es wird jeden Tag schwieriger für sie in diesem Dorf. Die Anfeindungen nehmen zu. Ich habe sie schon unter regelmäßige Beobachtung gestellt. Allerdings wird das auf lange Sicht auch nicht viel nützen.“ Sie wandte sich an Gideon. „Haben die Fröhlichs mal über einen Umzug nachgedacht?“

Er schüttelte den Kopf. „Das kommt für sie nicht in Frage. Der Hof ist schon so lange im Familienbesitz. Sie halten irgendwie durch und hoffen, dass sich die Lage wieder normalisiert.“

„Das tun wir alle“, erklärte Henriette. „Aber die Chancen dafür stehen nicht gut.“

Für einen Moment schwiegen die drei, bis die Gastgeberin ihr Glas abstellte, in die Hände klatschte und lächelte. „Genug Trübsal geblasen. Gideon, wie wäre es, wenn sie sich die Grillzange schnappen? Ich bekomme langsam Hunger. Und dann lasst uns Weihnachten feiern.“

Ihre Gäste nickten, bemüht, einen unbeschwerten Eindruck zu machen. Doch was um sie herum geschah, konnten sie nicht ignorieren oder vergessen. Die Welt, wie sie sie kannten, ging ihrem Ende entgegen. Und was danach kam, wusste niemand.

 

 

Afrika / Sambia, Solwezi

 

Die Nacht war sternenklar und über dem rund 200 Hektar großen Gelände lag eine tiefe Stille.

Eine ungewohnte Stille...

Die letzten Wochen und Monate waren unruhig und laut gewesen. Es hatte lange gedauert, das große Gelände mitten in der Steppe einzuzäunen und zu sichern. Dann kamen die Zelte, die Container, die technischen Geräte. Auf diesem Areal in der Nähe von Solwezi sollte der erste große Beweis für das Können und Wissen der Fremden entstehen. Aus dem Wüstenboden sollte fruchtbares Land werden, auf dem Getreide wuchs, das die Menschen ernährte.

Doch längst nicht jeder hatte ein Interesse daran, die afrikanische Bevölkerung aus der Abhängigkeit der Industrie-Nationen zu entlassen. Schon kurz nach den Aufbauarbeiten begannen die Sabotage-Anschläge: Lastwagen explodierten auf dem Weg ins Lager, Güter gingen verloren oder wurden beschädigt. Sogar Brandsätze flogen über die Zäune.

Idrissa Okoye, Botschafter der Außerirdischen und Leiter des Projekts, hatte einen bestimmten Mann als Verantwortlichen im Auge. Kurz nach dem ersten Anschlag war der zwielichtige Unternehmer Amaru Balewa aufgetaucht und hatte seinen Schutz im Austausch für eine Gewinnbeteiligung angeboten. Idrissa hatte ihm erklärt, dass es keine Gewinne geben würde, denn alles, was die Besucher auf die Erde brachten, gaben sie den Menschen ohne Gegenleistung. Und so etwas wie Finanzen spielte in ihrer Welt sowieso keine Rolle.

Balewa hatte sich zurückgezogen, aber die Anschläge hörten nicht auf und wurden sogar noch massiver. Doch dank der Fremden konnte das Projekt an den Start gehen. Gasira Nenge, Idrissas Kontakt zu den Außerirdischen, hatte jeden Verlust ausgeglichen. Jetzt war das Lager fertig aufgebaut und die Aussaat hatte begonnen.

Idrissa hatte ein gutes Gefühl, wenn er an das Ende dieses Jahres dachte. Sie hatten viel erreicht und die Grundlage für alles gelegt, was das kommende Jahr bringen sollte.

Der hochgewachsene Arzt stand in einem der großen, langgezogenen Zelte, in denen seine Mitarbeiter den Boden kultiviert und die Saat eingebracht hatten. Ein spezieller, fremder Nährstoff sollte sich im Wüstenboden verbreiten und dem modifizierten Saatgut helfen, in der kargen Gegend zu gedeihen. Idrissa verstand nicht viel von den biologischen Vorgängen, aber sie hatten Wissenschaftler an ihrer Seite, die mit den Außerirdischen zusammenarbeiteten, um das Verfahren zu studieren, und selber anwenden zu können. Darum ging es den Fremden: Die Menschen mit dem Wissen auszustatten, das es ihnen ermöglicht autark und im Einklang mit dem Planeten zu leben. Afrika war schon immer auf die Hilfe anderer angewiesen, dachte Idrissa verbittert. Doch die „menschlichen Helfer“ hatten auch immer allzu menschliche, eigene Interessen verfolgt. In diesem Projekt sah er für sein Land die Chance, endlich die gewachsene Abhängigkeit zu überwinden. Für dieses Ziel war er bereit, sich jedem Hindernis zu stellen.

Er zuckte zusammen, als er Schritte hörte. Im Eingang sah er Tahiya Madaki.

Sie lächelte ihn an und Idrissa streckte eine Hand nach ihr aus.

Als er noch Arzt im Krankenhaus von Solwezi gewesen war, hatte er oft mit der Krankenschwester zusammengearbeitet. Nach seiner Rückkehr von den Fremden war sie seine engste Vertraute geworden. Seitdem hatten sie viel erlebt, was sie zusammengeschweißt hatte.

Tahiya kam näher und nahm seine Hand. Ein wohliger Schauer durchzuckte sie bei der Berührung, doch Idrissa ahnte nichts von ihren Gefühlen für ihn. Zumindest glaubte sie das.

„Was tust du hier? Wir wollen mit der Weihnachtsfeier beginnen und du gießt Blumen?“

Idrissa Okoye lachte. „Ich gieße nicht einfach nur Blumen. Ich beobachte unsere Zukunft beim Wachsen. „Sieh nur“, sagte er und hockte sich auf den Boden. Er streckte die Finger in Richtung der Furchen. „Wenn du genau hinsiehst, erkennst du sie schon. Sie kommen langsam aus dem Boden. In ein paar Wochen wird hier alles grün sein.“

Tahiya nickte. „Fantastisch. Aber es wird auch wachsen, wenn wir nicht zusehen. Jetzt mach schon. Alle warten nur noch auf dich.“

„Ich komme gleich. Geh schon mal. In ein paar Minuten bin ich da.“

Tahiya verdrehte lächelnd die Augen und wandte sich ab. „Drei Minuten. Nicht mehr. Sonst schicke ich die Wachen.“

Idrissa sah der jungen Frau nach, wie sie mit wiegenden Hüften das Zelt verließ. Die Weihnachtsfeier für alle, die in diesem Lager arbeiteten und zum Teil auch lebten, war ihre Idee gewesen. Es sollte die Menschen für die Arbeit und die Mühen der letzten Monate entschädigen. Und für einen Abend von allem ablenken, was an Schwierigkeiten noch vor ihnen lag. Idrissa wollte ihr das nicht kaputtmachen. Und er freute sich auf die Feier. Auch er hatte sich in diesem Jahr eine Menge zugemutet. Sein ganzes Leben war über den Haufen geworfen worden. Anspannung, Angst und das Gefühl, immer auf der Hut sein zu müssen, waren seine ständigen Begleiter geworden. Diese Feier war eine gute Gelegenheit zu testen, ob er noch unbeschwert sein konnte.

Er verließ das Zelt, löschte das Licht und schlenderte durch die milde Nacht zu dem großen Container-Komplex, der der Belegschaft als Mensa und Versammlungsraum diente.

Auf seinen Lippen lag ein zufriedenes Lächeln, als er seinen Blick in den sternenübersäten Himmel richtete.

Doch das Lächeln gefror auf seinen Lippen, als er eine krächzende, flüsternde Stimme hörte.

Idrissa Okoye stoppte und drehte den Kopf nach links, dorthin wo der hohe Zaun in rund 30 Meter Entfernung das Gelände abgrenzte.

Im Licht der vereinzelten Scheinwerfer meinte Idrissa einen Schatten zu erkennen. Sofort spannte sich sein Körper an und mit vorsichtigen Schritten näherte er sich dem Zaun. Mit jedem Meter schälte sich eine schmale Silhouette weiter aus der Dunkelheit, bis Idrissa den sehnigen, fast abgemagerten Körper eines alten, weißhaarigen Mannes erkannte, der ihn aus funkelnden Augen anstarrte.

Die Gestalt war dem Arzt vertraut, denn er machte ihm seit seiner Rückkehr das Leben zur Hölle.

Sein Name war Hekima und er war der Anführer einer Sekte, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Fremden zu bekämpfen und Idrissa zu verfolgen. Während seiner Zeit im Regierungspalast von Lusaka hatten Hekima und seine Anhänger regelmäßig das Gelände belagert und ihn bedroht. Solange bis Präsident Keita ihn verhaften ließ. Idrissa wusste, dass er auf Druck der USA wieder freigelassen worden war, doch er hätte nicht damit gerechnet, dass Hekima hier auftauchte.

Andererseits war es konsequent. Dieser Mann war besessen und würde nicht ruhen, bis er Idrissa besiegt hatte – wie auch immer das aussehen mochte.

Der Arzt drückte seinen Rücken durch und ging mit festen Schritten auf den Unheimlichen zu, der bewegungslos am Zaun stand und ihn anstarrte.

„Du solltest dankbar für deine Freiheit sein und sie weit weg von mir genießen“, riet Idrissa mit ruhiger Stimme.

Im Gesicht des Alten regte sich kein Muskel.

„Du bist der Feind Gottes“, sagte er heiser. „Du hast den Teufel auf die Erde gebracht.“

„Und was willst du jetzt tun, alter Mann? Es mit den Außerirdischen aufnehmen?“

„Ist der Verräter erst vernichtet, wird Satan weichen. Denn dann gibt es niemanden mehr, der ihm den Weg ebnet.“

Idrissa schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln. Doch er konnte das Unbehagen, das der Alte bei ihm auslöste, nicht verleugnen.

„Du bist ein Narr, alter Mann. Ich habe keine Angst vor dir.“

Hekimas Augen weiteten sich. „Das wirst du noch. Aber die Angst kann dich nicht retten. Du bist des Todes, Idrissa Okoye. Und du wirst durch meine Hand sterben. Das ist ein Versprechen.“

Idrissa starrte den Alten hasserfüllt an. Er hatte ihm nichts mehr zu sagen. Entschlossen wandte er sich ab und setzte seinen Weg zum Versammlungs-Gebäude fort. Als er den brennenden Blick immer noch in seinem Rücken spürte, drehte er sich noch einmal um.

Doch die unheimliche Gestalt des Alten war verschwunden.

Aufgelöst im Schutz der Nacht.

 

 

USA / Washington, DC

 

Unter dem tosenden und computerverstärkten Applaus des Studiopublikums breitete der Mann in dem leuchtend-blauen Anzug die Arme aus und drehte sich mit strahlendem Lachen im Kreis. Die Begeisterung des Massenpublikums war noch immer eine wirkungsvolle Droge.

Noch vor einem halben Jahr war Malcolm Donner ein Wanderprediger gewesen, der zwar sein Publikum schon immer mitreißen konnte, aber den die Welt nicht kannte.

Jetzt war alles anders.

Und das hatte er jenen zu verdanken, denen er den Krieg erklärt hatte: Den Außerirdischen!

Barry Denholm hatte den Prediger für das Weiße Haus entdeckt und nach Washington geholt. Er bekam eine eigene Fernsehsendung, eine Radio-Show, einen Podcast und natürlich Kanäle auf sämtlichen, relevanten Social-Media-Plattformen. Malcolm Donner war überall und die Menschen folgten dem charismatischen Redner mit dem schlohweißen Haar und feierten ihn wie den Erlöser, für den er sich selber hielt.

Mit knapp 40 Jahren stand Donner auf dem Gipfel seiner Karriere, war das flammende Schwert Gottes gegen die satanische Versuchung der außerirdischen Besucher. Eine Rolle, die er natürlich auch am Heiligen Abend ausfüllte.

Er streckte die Arme empor und beschwichtigte das Publikum der großen Live-Show im Fernseh-Studio.

„Freunde“, rief er in den Saal. „Dieses Weihnachtsfest ist wie kein anderes zuvor! Denn niemals in den vergangenen mehr als 2000 Jahren haben wir die Rückkehr unseres Heilands stärker herbeigesehnt als heute! Und ich sage euch: Jesus WIRD zurückkehren, um uns ein weiteres Mal zu erlösen!“

Wieder tosender Applaus – kalkuliert und sekundengenau eingetaktet ins Show-Konzept.

„In diesem Jahr, meine Freunde, hat der Herr uns vor die wohl größte aller Prüfungen gestellt! Selten war das Böse so nahe, so präsent und... so verführerisch! Mit segensbringenden Gaben wollen sie uns überhäufen und versprechen Erlösung! Doch ich sage euch, Freunde: Vertraut jenen Engeln nicht, die euch einreden wollen, das Himmelreich sei nahe! Was sie uns versprechen, sind neue Drogen! Dinge, die uns einlullen sollen! Dinge, die wir nicht kontrollieren können, weil wir sie nicht verstehen. Und die darum am Ende UNS kontrollieren werden!“

Donner riss eine kämpferische Faust in die Luft und das Publikum jubelte begeistert.

„Doch der Mensch“, fuhr Donner fort, „gestaltet nach Gottes Ebenbild, ist auf der Erde alleine dazu bestimmt zu erschaffen! Mag es mit Zeit und Mühsal verbunden sein und viele Opfer fordern – aber es bleibt des Menschen Werk! Gott hat UNS diesen Planeten gegeben, um ihn zu formen und zu besitzen. Und wir werden uns von niemandem verdrängen oder kaufen lassen! Schon gar nicht von Satan, dessen Gesicht wir längst erkannt haben!“

Jetzt sprangen die ersten von ihren Sitzen auf und brachen in Sprechchören aus. Malcolms Mundwinkel zuckten verzückt, als er seinen fiebernden Blick durch die Reihen gleiten ließ.

„Euer Mut und eure Begeisterung sind ansteckend, Freunde, aber lasst euch gesagt sein: Der Kampf gegen das Böse ist ein täglicher. Und er wird uns alles abverlangen. Was wir in diesem Jahr erlebt haben, war nur ein erstes Säbelrasseln. Die Mächte der Finsternis werden noch viele tückische Waffen ins Feld führen, um euren Glauben zu brechen. Ihr müsst stark sein, jeden Tag, jede Stunde! Und ich werde bei euch sein, um euch Kraft zu geben, wenn ihr schwach werdet und euch zu stützen, wenn ihr strauchelt. Und jetzt lasst uns gemeinsam beten und die Rückkehr des Herrn an diesem Heiligen Abend lobpreisen!“

Das kleine Studio-Orchester stimmte einen Gospel an und die Menge fiel in Malcolm Donners Gesang mit ein.

Im Aufnahmestudio verfolgte Barry Denholm mit zufriedenem Lächeln das Geschehen auf den Monitoren. Kurz nach der Rückkehr der „Botschafter“ hatte das Weiße Haus ihn nach Washington geholt, um die Medienarbeit zu steuern und ein eigenes Netzwerk aufzubauen. Der hochgewachsene Mann mit den grauen Locken und den breiten Zähnen hatte einen untrüglichen Instinkt für die Mechanismen der Massenmanipulation. Nach einem kleineren Fehlschlag hatte er Malcolm Donner erst vor knapp drei Monaten zur Galionsfigur im Kampf gegen die Besucher aufgebaut. Der Mann war eine Goldgrube. Er erfüllte nicht nur seine Aufgabe, er brachte sogar noch Geld! Und das innerhalb kürzester Zeit.

Am Anfang hatte Barry die Sendezeiten für ihn einkaufen müssen. Mittlerweile überboten sich die Sender bei den Ausstrahlungsrechten. Und die Werbung auf den Social-Media-Kanälen brachte ein kleines Vermögen. Malcolm Donner war eine der stärksten Marken in den USA und Barry träumte insgeheim schon von einer internationalen Vermarktung.

Doch eins nach dem anderen...

Er sah auf seine Uhr. Die Show würde noch fast eine Stunde dauern, doch er hatte keinen Grund weiter hierzubleiben. Er war auch nicht ins Studio gekommen, um Donner zu kontrollieren. Obwohl sich in den letzten Wochen Tendenzen abzeichneten, die darauf hindeuteten, dass es künftig schwieriger werden würde, den Mann zu steuern. Doch noch ließ Barry ihm die Lange Leine und sonnte sich in dem Erfolg. Er mochte es, seinen großen Triumph in Aktion zu sehen. Malcolm Donner war sein Produkt.

Barry wandte sich ab, klopfte dem Produktionsleiter auf die Schulter und verließ das kleine Sendegebäude am Rand der Hauptstadt.

Ein Ziel hatte er nicht.

Weihnachten war kein Fest für Männer wie Barry Denholm, doch das störte ihn nicht. Er würde schon einen Platz finden, wo er den Abend verbringen konnte. Denn im Grunde war es doch einer wie jeder andere auch...

Etwas weiter vom Studio enfernt, im Nobelviertel Colony Hill, saß Delia Kellen allein auf einer weißen Ledercouch im großen Wohnraum der Villa und verfolgte die Live-Show von Malcolm Donner vor dem großen Fernseher in der Gesellschaft einer Flasche Wein.

Zehn Jahre hatte die junge Frau mit der blassen Haut und den dichten, hellroten Locken den Prediger als Klavierspielerin und Partnerin begleitet. Schon damals war sie nur schmückendes Beiwerk gewesen, und in erster Linie dazu da, das Ego des großen Meisters zu streicheln – auch körperlich, wenn sich nach einer Show kein Groupie dafür fand. Seit dem Umzug nach Washington war Delia regelrecht unsichtbar geworden. Sie bedauerte es nicht, dem selbstherrlichen Prediger immer seltener körperlich zur Verfügung stehen zu müssen. Das durften gerne andere aushalten.

Aber Delia war einsam. Die meiste Zeit saß sie zu Hause, putzte, räumte auf, langweilte sich. Wenn sie ausging, fühlte sie sich unsicher und beobachtet. Sie war nie eine starke Persönlichkeit gewesen. Das war einer der Gründe, warum sie Malcolm damals gefolgt war. Doch jetzt war sie leer und konnte nicht mal mehr Schmerz oder Enttäuschung fühlen.

Ihr Blick glitt über das Klavier, das vor der breiten Fensterfront stand, die in den Garten hinausführte. Sie hatte nicht ein einziges Mal darauf gespielt, seit sie eingezogen waren. Es erinnerte sie an all das, was sie verloren hatte. Die Musik war kein Trost mehr.

Dafür die rote Flüssigkeit im Glas. Sie leerte es und prostete dem großen Impressario auf der Mattscheibe zu. Näher würde sie ihm an diesem Weihnachtsabend nicht mehr kommen...

Zu denen, die Malcolm Donners Show mit einigem Unbehagen verfolgten, gehörte auch der Journalist Preston Vale.

Mit einer Mischung aus Faszination und Schaudern verfolgte er die demagogischen Reden des Predigers. Vales Leben war selbst vom Auftauchen der Fremden beeinflusst worden. Als aggressiver Schreiber der Tageszeitung DC News hatte er sich vom Weißen Haus instrumentalisieren lassen, um die Rückkehrerin Ruby Daniels zu diskreditieren. Erst danach erfuhr er von einer Verschwörung gegen den Präsidenten, zu deren Teil er unfreiwillig geworden war. Die Wahrheit kam nicht ans Licht, denn es war der Regierung geschickt gelungen, ihn mundtot zu machen.

Vale war beruflich zwar nicht erledigt, aber in der Branche gebrandmarkt, und flog – wenn möglich – unter dem Radar. Erst der virtuelle Besuch in der Station der Besucher und seine Berichte darüber, gaben ihm wieder Auftrieb. Er war nicht der Einzige, der sich gegen die Regierungslinie stellte, aber er musste vorsichtiger sein, als die anderen. Denn er war immer noch eine Gefahr mit seinem Wissen und den Beweisen gegen Heimatschutzminister Dwight Fallon.

„Du solltest dir das nicht ansehen.“

Rebecca Mars legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Preston seufzte. Seine grauen Augen waren fest auf den Bildschirm gerichtet und der kleine Mund zusammengekniffen.

„Dieser Mann ist gefährlich, Beck“, flüsterte er.

Die zierliche Fernsehjournalistin mit den rotbraunen Haaren seufzte. Sie wünschte, ihr gemeinsames Leben wäre wieder so wie vor einem Jahr. Als sie beide vom Erfolg verwöhnt waren und das Leben genossen. Doch Prestons Entscheidungen hatten sich auch auf sie ausgewirkt. Durch ihre gemeinsame Beziehung wäre ihre Karriere ebenfalls fast beendet gewesen. Es war zu einem Bruch gekommen, nachdem sie Preston hatte fallen lassen.

Nur langsam hatten sie sich wieder angenähert. Und auch nur weil Rebecca begonnen hatte, ihn zu verstehen und ihn davon überzeugen konnte, dass sie auf seiner Seite stand.

Doch wenigstens am Weihnachtsabend wollte Rebecca nichts von Politik und Außerirdischen hören. Seit März beherrschten die Fremden ihr Leben – beruflich und privat. Sie brauchte eine Pause.

„Lass uns essen, sonst wird es kalt.“

Preston streckte einen Arm Richtung Fernseher aus.

„Siehst du nicht, was dieser Mann dort tut? Er hetzt ein ganzes Volk auf! Im Auftrag der Regierung! Und er ist so verflucht gut, dass es beängstigend ist. Dieser Kerl muss gestoppt werden, sonst führt er das Land im Alleingang in die Katastrophe.“

„Und was willst du dagegen tun? Zum Attentäter werden?“

Preston schüttelte hilflos den Kopf. „Ich weiß es nicht...“

„Dann komm solange essen, bis dir was einfällt.“

Er riss sich mit einem Kopfschütteln vom Fernseher los, um im Bad seine Hände zu waschen. Rebecca nutzte die Gelegenheit und wechselte den Kanal. Doch was sie dort zu sehen bekam, war in seiner Schockwirkung fast genauso groß.

„Preston“, rief sie mit brüchiger Stimme.

Er kehrte mit dem Handtuch zwischen den Fingern ins Wohnzimmer zurück. Noch bevor er fragen konnte, weswegen sie ihn gerufen hatte, klappte sein Unterkiefer herunter.

Neben dem Nachrichtensprecher auf dem Fernsehschirm war ein Foto von Keith Embry, dem Stabschef des ehemaligen Präsidenten – der Mann, dem Preston das Beinahe-Ende seine Karriere verdankte, und der ihn Ende November angerufen hatte, um ihm nahezulegen, die Verschwörung im Weißen Haus nun doch aufzudecken.

Fassungslos hörte Preston den Worten seines Kollegen zu.

Wie wir heute erfahren haben, hat sich Keith Embry in der Sicherheitsverwahrung das Leben genommen. Embry war verhaftet worden, nachdem sich Beweise gefunden hatten, die belegten, dass er Kenntnis über die Aufenthaltsorte zweier gesuchter Männer hatte. Ein ehemaliger Pressesprecher des Weißen Hauses und ein suspendierter FBI-Agent werden seit mehreren Monaten wegen Hochverrats gesucht. Embry soll nachweislich gewusst haben, wo sich die Männer versteckt halten. Die Affäre hatte zum Rücktritt von Präsident Edgar Braden geführt, der immer wieder beteuert hatte, nichts von den Machenschaften seines Stabschefs gewusst zu haben. Unter strenger Bewachung hatte Keith Embry auf seinen Prozess gewartet. Das Wachpersonal fand ihn erhängt in seiner bewachten Wohnung.“

Preston griff nach der Fernbedienung und schaltete den Ton aus.

Für einige Augenblicke lastete eine tonnenschwere Stille über dem Zimmer.

„Ihr habt telefoniert?“, fragte Rebecca schließlich zaghaft.

Preston nickte. „Er hat gesagt, ich solle die Aufnahmen von Carlyle einsetzen...“

„Das wirst du doch wohl nicht tun, oder? Ich meine doch nicht... nachdem...“

Preston schwieg. Er dachte an dieses letzte Gespräch mit Keith Embry. Er hatte ihn gefragt, was mit ihm geschehen würde. Und er konnte Embrys Stimme noch immer hören: Ich werde vermutlich demnächst irgendeinen bedauerlichen Unfall haben, oder mir aus lauter Verzweiflung das Leben nehmen. Sie wissen, wie das läuft.“

„Preston?“

Die Stimme von Rebecca riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Er bemühte sich um ein Lächeln. „Keine Sorge. Ich hänge am Leben.“

Sie schien erleichtert und verschwand in der Küche, um das Essen zu holen.

Preston schaltete den Fernseher ganz aus. Sein Bedarf an Nachrichten war für diesen Tag gedeckt.

Einen Moment starrte er noch auf die bedrohlich-schwarze Mattscheibe, bevor er sich endgültig von ihr abwandte.

 

 

Deutschland / Bayern, Tutzing

 

Dem kleinen, untersetzten Mann, der am ovalen Esstisch seiner Villa am Starnberger See saß und angespannt die Tastatur seines Laptops bearbeitete, stand nicht der Sinn nach Weihnachten. Für ihn war dieser Tag einer wie jeder andere auch. Ein Tag, an dem er arbeiten musste. Denn die Welt von Josef Braunbichler drehte sich schneller als die der meisten anderen Menschen.

Mehrere Großkonzerne hatten sich zusammengetan und Braunbichler mit der Wahrnehmung ihrer Interessen beauftragt. Das gehörte für den Lobbyisten zwar zum Tagesgeschäft, doch dieser Auftrag war anders als alles, woran er in seinem bisherigen Leben gearbeitet hatte. Das Konglomerat seiner Auftraggeber repräsentierte die komplette Wirtschaftsleistung des Landes – und sogar noch mehr... Was sie alle einte, war das Bestreben, die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten. Und damit die garantierten Unternehmensgewinne.

Dafür musste Braunbichler Gesetze verhindern oder forcieren, und vor allem die Fremden diskreditieren. Mit der Gründung der neuen Partei Freie Erdenbürger unter dem Vorsitz des ehemaligen Innenministers Harald Blöhme war es Braunbichler und seinen Hintermännern gelungen, eine neue politische Macht zu etablieren, die ihre Interessen vertrat. Außerdem gab es seit einiger Zeit ein Abkommen mit einem Bevollmächtigten der wichtigsten Social-Media-Plattformen zur Verbreitung „relevanter Inhalte“. Die Arbeit zeigte bereits eine Menge Früchte, doch der Widerstand gegen die ideologische Indoktrinierung wuchs – und damit die Sympathien für die Fremden.

Braunbichler kannte natürlich das Spiel und wusste, dass zu einer erfolgreichen Kampagne die Kontrolle beider Seiten gehörte.

Deshalb forcierte er nicht nur den Widerstand gegen die Außerirdischen, sondern hatte auch Befürworter-Gruppen und Sympathisanten organisiert, die sich im Gewand von brüllenden Verschwörungstheoretikern und gewaltbereiten Nerds zeigten. Damit die echten Kritiker von Braunbichlers Kurs keine Chance mehr auf Glaubwürdigkeit hatten. Die Menschen brauchten eben eindeutige Bilder von beiden Seiten – und dafür war Josef Braunbichler rund um die Uhr verantwortlich.

„Vater?“

Er zuckte verärgert aus seinen Gedanken hoch, als er die Stimme seines Sohnes hörte. Braunbichler drehte den Kopf und sah Ferdinand in der Bogenöffnung zum Esszimmer. Der Junge sah blass aus, war unrasiert und die welligen Haare waren fettig. Der Blick war unstet und es gab Gründe, weshalb er seinem Vater nicht in die Augen sehen konnte.

Josef Braunbichler seufzte, nahm die viereckige, goldeingefasste Brille von der Nase und mahlte nervös mit seinen breiten, schiefen Kiefern. Am liebsten war es ihm, von seinem Sohn nichts zu sehen. Das ließ er sich auch etwas kosten. Doch in letzter Zeit wurde Ferdinand immer teurer. Vor allem seine Eskapaden. Ein Vergewaltigungsvorwurf hatte den Jungen Anfang November für ein paar Tage hinter Gitter gebracht. Braunbichler hielt es für eine erzieherische Maßnahme, ihn dort eine Weile schmoren zu lassen, bevor sein Anwalt ihn rausholte. Das Opfer wurde diskreditiert, weil es möglich war, der jungen Frau Drogenkonsum nachzuweisen. Somit verlor auch das Handy-Video, auf dem sich Ferdinand und seine Freunde an der Bewusstlosen vergingen, seine Beweiskraft. Das Mädchen war schlicht und ergreifend stoned und hatte der Gruppe Sex gegen Drogen angeboten. Der Geschlechtsverkehr war also einvernehmlich verlaufen, auch wenn sich das Opfer während des Aktes bereits in einer selbst zugefügten, drogeninduzierten Bewusstlosigkeit befunden hatte. Etwas anderes konnte nicht bewiesen werden...

Dennoch hoffte Josef Braunbichler, dass diese Erfahrung seinem Spross eine Lehre sein würde.

„Was willst du denn?“, fragte der 63-Jährige müde.

Ferdinand hob die Schultern. „Nichts. Bin noch mit ein paar Jungs verabredet.“

„Ja, gut, gut“, winkte Braunbichler ab und wollte sich wieder der Arbeit zuwenden.

„Also nur, wenn nichts weiter anliegt“, schob sein Sohn hinterher.

Braunbichler drehte sich noch einmal ärgerlich um. „Was sollte denn... anliegen?“

Der junge Mann sah zu Boden. „Keine Ahnung. Dachte ja nur, weil Weihnachten ist und so...“

Braunbichlers Miene hellte sich auf. Jetzt wusste er, was der Junge von ihm wollte.

„Richtig, hatte ich fast vergessen.“

Er stand auf und kramte in der Tasche seiner Hausjacke. Er fischte einen Schlüsselbund heraus und warf ihm seinen Sohn zu.

„Dein Geschenk. Steht in der Garage. Frohe Weihnachten. Und fahr vorsichtig.“

Dann setzte er sich wieder und wandte sich seinem Monitor zu.

Ferdinand Braunbichler drehte den Schlüssel mit dem Jaguar-Symbol in den Händen. Freude konnte er nicht empfinden.

„Danke, Vater“, sagte er tonlos und verließ dann ohne ein weiteres Wort das Haus.

Josef Braunbichler wandte sich wieder der Auswertung der Medienanalyse zu, als sein Handy ihn erneut aus den Gedanken riss. Mit einem leisen Fluch meldete er sich, ohne die Nummer auf dem Display zu registrieren.

Erst als er die Stimme von Stefan Langner hörte, tat ihm sein scharfer Tonfall leid. Langner war Vorstand eines Automobilkonzerns und als Sprecher der Interessengruppe gewählt, die Braunbichler vertrat. Er war also sein direkter und einziger Ansprechpartner.

Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte leise.

„Nanu, Josef, so angespannt? Es ist doch Weihnachten.“

„Ja, ja, sicher. Aber es gibt immer irgendeine Störung. Feiern sie denn gar nicht? Sie haben doch immerhin Familie.“

„Doch schon“, antwortete Langner. „Wir haben gerade gegessen und die Kinder sind mit ihren Geschenken beschäftigt. Darum nutze ich die Gelegenheit für etwas Sinnvolles. Wir hatten am Morgen noch eine Konferenz mit den Kollegen aus Übersee. Unser kleines... Laborexperiment ist soweit, um an den Start zu gehen.“

Braunbichler rieb sich die müden Augen. Er erinnerte sich an Andeutungen, die Langner gemacht hatte. Ein wichtiger Baustein in der Kampagne gegen die Aliens, war die Warnung vor möglichen gesundheitlichen Schäden bei einer Begegnung mit ihnen. Langner und seine Gruppe waren der Ansicht, es sei an der Zeit, diese Bedrohung konkret werden zu lassen.

„Sie haben also ein Virus, das sie auf die Menschen loslassen wollen?“

Der Andere seufzte. „So wie sie das sagen, klingt es nach einer Verschwörungsgeschichte, mein lieber Josef. Es gehört zum wissenschaftlichen Alltag, neue Erkrankungen auf einer möglichst großen Basis zu testen, um in einem Ernstfall optimal reagieren zu können und das richtige Hilfsmittel zur Hand zu haben. Es ist also eine Art... Feldstudie. Außerdem handelt es sich nur um einen harmlosen, kleiner Infekt.“

„Und was haben sie sich ausgedacht? Eine neue Grippeform?“

„Nein, darauf reagieren die Menschen nicht mehr. Es handelt sich um ein Magen-Darm-Virus. Ein paar Tage Dünnschiss, Fieber und Schüttelfrost, dann ist die Geschichte in den meisten Fällen auch schon wieder vorbei.“

„In den meisten?“

„Na ja, wenn es nicht ein paar drastische Ausreißer gäbe, würde wohl kein Hahn danach krähen. In seltenen Fällen werden die Darmschleimhäute angegriffen und geschädigt. Je nach allgemeinem Gesundheitszustand. Es kann auch zu Todesfällen kommen, aber die sind sehr selten. Außerdem ist das Mittel dagegen bereits fertiggestellt und muss nur noch im Schnellverfahren zugelassen werden, wenn es akut wird. Ein leiser Warnschuss, nichts weiter.“

Braunbichler schwieg und die Stimme von Langner wurde lauernd.

„Ich weiß, dass sie so etwas wie... Bedenken haben, alter Freund. Aber die sind völlig unbegründet.“

„Solche Dinge lassen sich nur schwer kontrollieren...“

„Nur wenn man schlecht vorbereitet ist, und das sind wir nicht. Wir wollen lediglich zeigen, wie gefährlich es sein kann, den Außerirdischen zu nahe zu kommen. Und niemand kann sagen, ob das nicht tatsächlich stimmt. Wer weiß, was diese Wesen alles übertragen können. Da tun wir den Menschen mit unserer kleinen Warn-Kampagne einen enormen Gefallen.“

„Wenn sie meinen...“

Langner holte tief Luft.

„Ich möchte, dass sie darauf vorbereitet sind, Josef. Nach den Feiertagen werden sich einige Pharmakologen und Virologen mit ihnen in Verbindung setzen und ihnen alles sagen, was sie wissen müssen. Sobald die Aktion Anfang des Jahres startet, müssen wir dabei sein. Haben sie mich verstanden?“

„Natürlich, Stefan.“

„Und das wird nichts Halbherziges, ist das klar?“

Braunbichler presste die Kiefer zusammen. Niemand durfte so mit ihm reden. Er war sich seiner Verantwortung zu jedem Zeitpunkt bewusst. Das in Frage zu stellen, war eine Beleidigung.

„Unnötig mich zu belehren, Stefan.“

Langner lachte leise. „Sehr gut. Übrigens, ihr... Internet-Typ, dieser Schlenzer, macht gute Arbeit. Richten sie ihm das bitte von mir aus. Vielleicht sollten wir seinen Aufgabenradius erweitern.“

Braunbichler zitterte. Noch ein Affront. Er war die einzige Autorität für Langner. Alle Fäden liefen bei ihm zusammen. Es gab keinen Grund, den kleinen Hipster zu protegieren und ihn womöglich noch gleichberechtigt an seine Seite zu stellen.

„Ich werde sehen, ob ich was finde“, gab Braunbichler kühl zurück.

„Sehr schön. Ich freue mich auf das kommende Jahr. Und darauf, diesen Aliens endgültig in den Arsch zu treten. Wahrscheinlich gehen wir sogar noch mit einem guten, finanziellen Schnitt aus der Sache raus. Was wünschenswert wäre, bei dem Vermögen, das uns das jetzt schon gekostet hat.“

Braunbichler schluckte. Wollte dieser impertinente Kerl ihm jetzt auch noch Ineffizienz unterstellen? Er sollte sich wirklich überlegen, ob er sich das weiterhin antun wollte. Er hatte seine Arbeit bisher nie in Frage gestellt. Andererseits war er jetzt 63 und hatte mehr Geld als er in seinem Leben noch ausgeben konnte. Seine Unterlagen und Aufnahmen waren sogar noch mehr wert...

„Gibt es noch etwas zu besprechen?“, gab Braunbichler kühl zurück.

„Nein, das wäre für's Erste alles. Schöne Feiertage noch.“

Braunbichler gab den Wunsch zurück und schaltete das Telefon aus, in der Hoffnung, jetzt endlich in Ruhe seiner Arbeit nachgehen zu können. Und die Wut über diesen Anruf möglichst bald wieder zu vergessen.

 

 

USA / Michigan, Ontonagon

 

„Und grüßen sie ihre zauberhafte Frau von mir, Henson.“

„Das mache ich sehr gerne, Mr. Ratchett. Frohe Weihnachten!“

Jackson Carlyle winkte dem Chefredakteur noch einmal zu, bevor er das schmale Haus in der Hauptstraße verließ, in dem der komplette Zeitungsverlag untergebracht war.

Er hatte sich an seinen neuen Namen Adrian Henson gewöhnt, vor allem aber an das Leben, das er jetzt seit einigen Wochen mit Cara führte. Sein altes Leben als Pressesprecher des Weißen Hauses und als vermeintlicher Verräter an seinem Land lag weit hinter ihm und wirkte wie ein bizarrer, böser Traum. Nach mehreren Monaten des ziellosen Umherwanderns mit seinem außerirdischen, weiblichen „Protector“ waren sie so etwas wie sesshaft geworden. Mit neuen Ausweisen, neuen Geschichten, neuen Jobs. Sie schienen ein Paar wie jedes andere zu sein – und sehr verliebt. Wäre es nach Jackson gegangen, wäre der Rest der Welt einfach verschwunden und hätte nur sie beide zurückgelassen. Und ein paar gemeinsame Kinder vielleicht. Aber diese Wünsche würden sich nicht erfüllen. Also machte Jackson das Beste daraus, was schließlich eine ganze Menge war. Er genoss das einfache und sorgenfreie Leben in dem kleinen Ort direkt am Lake Superior und hoffte, dass es so lange wie möglich andauern würde.

Nur manchmal legte sich ein Schatten auf sein Gesicht. So wie heute, als er von Keith Embrys Tod erfuhr. Dann wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass die Jagd auf ihn noch nicht vorbei war. Sie hatten den Stabschef des ehemaligen Präsidenten aus dem Weg geräumt. Weil Embry eine Spur von ihm und dem FBI-Agenten gehabt hatte, der damals mit in Jacksons Wohnung gewesen war. Das bedeutete, dass er immer noch ein gesuchter Mann war.

Aber die Fahndung schien unterhalb des öffentlichen Radars zu laufen, und lediglich polizeiintern zu sein. Bisher hatte das Weiße Haus es vermieden, sie breiter zu streuen. Denn dann liefen sie Gefahr, dass Jackson redete und sie nicht mehr kontrollieren konnten, was an die Öffentlichkeit gelangte und was nicht.

Doch das machte die Lage für ihn nicht weniger gefährlich.

Er schüttelte den Gedanken ab und wollte sich nur noch auf Weihnachten konzentrieren. Er kaufte noch ein paar Kleinigkeiten ein und lenkte dann seinen Kleinwagen zu dem Haus am Stadtrand. Es war eine Soap-Opera-Idylle, in der sie lebten. Und Jackson hätte sie für nichts in der Welt eingetauscht.

Allerdings stand Cara Morland nicht am Herd, als er die Haustür öffnete. Sie saß vor dem niedrigen Couchtisch, auf dem ein Geschirrtuch ausgebreitet war, und reinigte ihre Waffen. Im Hintergrund lief ihr Lieblingsalbum von Dion and the Belmonts.

Sie sah Jackson aus ihren großen, dunklen Augen an und lächelte. Cara war eine zierliche Frau mit einem schmalen sommersprossigem Gesicht und nackenlangen, rundgeschnittenen Haaren. Eine Frau, die ihre Fähigkeiten gut verbergen konnte.

„Willst du damit den Weihnachtsbraten erlegen?“, lachte Jackson und deutete auf die Feuerwaffen, während er die Einkäufe ausräumte.

„Wieso sollte ich? Für die Jagd bist du doch zuständig.“

„Oh! Sollte ich mich mit meinem weiblichen Bodyguard jetzt über Geschlechterrollen unterhalten?“

„Es wäre besser, deinen weiblichen Bodyguard endlich zu küssen.“

Er hockte sich neben sie auf den Boden und kam der Aufforderung nach.

„Hast du von Embrys Tod gehört?“, fragte er schließlich zaghaft.

Cara, die jetzt Larissa Henson hieß und in der hiesigen Schule arbeitete, nickte. „Natürlich. Meine Leute haben mich informiert. Es war abzusehen, dass er liquidiert wird.“

„Und was ist mit uns? Müssen wir jetzt weg von hier?“

Für Jacksons Geschmack zögerte Cara einen Augenblick zu lange, ehe sie den Kopf schüttelte. „Nein. Wir sind hier so sicher wie an jedem anderen Ort. Wir bleiben.“

„Wissen deine Leute, ob das Weiße Haus jetzt intensiver nach mir sucht?“

Cara seufzte und streichelte lächelnd seine Wange. „Ich weiß, du hörst das nicht gern, Schatz, aber ich fürchte, du bist für die Spionage-Abwehr eher zur Routine geworden.“

Jackson verzog die Lippen. „Mir ist nicht nach Scherzen zumute.“

„Es ist wahr. Du stehst sicher nicht sehr weit oben auf der Prioritätenliste. Das Weiße Haus hat ganz andere Probleme. Schon jetzt regt sich Widerstand gegen die offiziellen Regierungskurse in der Welt. Und dieser Widerstand wird sich über Kurz oder Lang auch organisieren.“

„Ein Grund mehr, sämtliche Gefahrenquellen auszuschalten. Und ich bin eine davon.“

„Du hast dich bis jetzt ruhig verhalten und wirst es auch weiterhin tun. Es gibt keinen Grund, die Suche nach dir oder diesem FBI-Agenten zu intensivieren. Versuch, dich zu entspannen.“

Sie drückte einen Knopf auf der Fernbedienung des CD-Spielers, bis der Song „Fly Me to the Moon“ erklang. Sie sang die ersten Zeilen mit und lächelte Jackson dabei an.

Dann legte sie ihre Lippen vorsichtig auf seine, um die Sorgen zu zerstreuen. Und für den Moment gelang es ihr auch. Er konnte ihrer Nähe einfach nicht widerstehen und fragte sich manchmal, ob es etwas mit ihrer außerirdischen Herkunft zu tun hatte. Vielleicht übte sie ja mit ihren Berührungen eine Art Hypnose auf ihn aus, der er sich nicht entziehen konnte.

Aber letztlich spielte es keine Rolle.

Die Wirkung zählte.

Jackson lächelte über sein volles, rundes Gesicht, als sie sich voneinander lösten.

„Und? In Weihnachtsstimmung?“, fragte Cara zärtlich.

„Mit jedem Moment ein bisschen mehr.“

Er küsste sie erneut und vergaß Keith Embry darüber. Wieso sollte er sich die wunderschöne Gegenwart mit Gedanken an eine mögliche, düstere Zukunft verderben?

 

 

Deutschland / Hamburg, Eppendorf

 

Es herrschte tiefe Ruhe auf der Kinderkrebsstation des Universitätsklinikums. An den Feiertagen war nur eine Notbesetzung zur Stelle. Und die bestand aus denen, die keine eigenen Familien hatten und denen es nichts ausmachte, an den Feiertagen zu arbeiten – so wie Dr. Ebru Turan. Sie genoss die friedliche Stille in dieser Zeit. Und jemand musste schließlich für die Kinder da sein, wenn die Eltern fort waren oder nicht kommen konnten. Als Muslima hatte sie selbst nichts mit Weihnachten am Hut. Aber sie las den Kindern vor, wenn sie Zeit hatte und tröstete sie.

Im Moment saß sie jedoch im großen, leeren Aufenthaltsraum für das Personal und war mit ihren Gedanken ganz woanders. Das kleine Fläschchen, das sie schon seit Wochen mit sich herumtrug, wog schwer in der Kitteltasche. Aber sie brachte es auch nicht fertig, sich davon zu trennen.

Ein Fremder hatte es ihr gegeben, ein Mann namens Rainer Martens. Nein, kein Mann im eigentlichen Sinn, sondern einer... von IHNEN.

Er hatte Ebru Turan vor der Klinik angesprochen, da er wusste, dass sie vor einigen Monaten Arne Fröhlich behandelt hatte. Er konnte also davon ausgehen, dass sie den Fremden unvoreingenommen gegenüberstand.

In dem Fläschchen sollte sich das befinden, wonach die Menschheit seit Jahrzehnten suchte: Ein Mittel gegen Krebs. Zumindest gegen Blutkrebs bei Kindern. Dass die Fremden heilen konnten, hatten sie bei Arne Fröhlich und den anderen Zurückgekehrten bereits bewiesen. Ebru hatte also keinen Grund, den Worten von Rainer Martens nicht zu glauben.

Und dennoch traute sie sich nicht, das Mittel einzusetzen. Natürlich hatte sie versucht, es zu analysieren, aber sie war keine Biologin und es war ihr nicht gelungen, sämtliche Inhaltsstoffe zu bestimmen. Aber das, was sie erkannt hatte, hatte sie beeindruckt.

Dennoch – es war ein nicht zugelassenes Medikament. Der Einsatz konnte sie auf jeden Fall die Approbation kosten, wenn er sie nicht sogar ins Gefängnis brachte.

Insgeheim fürchtete Ebru aber, dass sie schon längst eine Entscheidung getroffen hatte. Warum sonst sollte sie die Flasche immer noch bei sich haben? Und welche andere Erklärung hätte es dafür gegeben, dass sie auch mit niemandem darüber gesprochen hatte?

So oft, wie sie in den letzten Wochen diese Gedanken gewälzt hatte, waren sie ihr schon lästig. Also seufzte sie laut, schüttelte sie ab und zog sich noch einen lauwarmen Tee aus dem Automaten. Dann verließ sie mit dem kleinen Becher in der Hand den Raum und schlenderte ziellos über die leeren Flure der Abteilung. Draußen war es schon lange dunkel, die Bescherung für die kleinen Patienten war vorbei und die meisten schliefen sicher schon.

Die junge Ärztin ging über die Flure und hörte nur ihre eigenen Schritte auf dem quietschenden Linoleum. Die schmalen Augen in dem zarten Gesicht mit der spitzen Nase wirkten müde. Ebru hatte die lockigen, dichten, schwarzen Haare zusammengebunden. Die weite Krankenhauskleidung wirkte viel zu groß für die kleine Frau.

Hinter einer der Türen hörte sie die leise Stimme einer Schwester.

Ebru blieb stehen und lächelte.

Alena Döring hatte ein Einzelzimmer. Die Elfjährige war in keinem guten Zustand und besonders geschwächt und anfällig. Erst letzte Woche hatte sie einen neuen Schub bekommen, der sie kraftlos zurückgelassen hatte. Die Ärzte wussten, dass ihre Zeit abgelaufen war. Vielmehr konnte der Körper nicht verkraften. Seit zwei Jahren kämpfte er tapfer gegen die heimtückische Blutkrankheit und jeder Sieg wurde mit einem hohen Preis bezahlt. Jetzt waren die Reserven aufgebraucht. Den Jahreswechsel würde sie noch erleben, aber viel mehr Zeit blieb ihr danach nicht.

Ebrus Lippen zitterten, als sie an das Mädchen dachte, das sie schon so lange kannte. Ein schlankes Kind, das stolz auf seine langen Haare gewesen war. Das gerne las und träumte und mit einer unbändigen Fantasie gesegnet war. Und das sich niemals aufgegeben hatte. Bis jetzt...

Ebru hatte gesehen, dass das Feuer in ihren Augen während der letzten Tage schwächer geworden war. Das Lächeln auf den Lippen war müde und sollte nur noch den anderen Mut machen. Sie sah, wie das Mädchen von Tag zu Tag an Kraft verlor, als würde sich ihre Seele auflösen und Stück für Stück den verbrauchten, jungen Körper verlassen. Dabei hatte sie noch so viel vorgehabt. Doch jetzt würde sie sogar gehen müssen, ohne jemals geküsst zu haben. Davon hatte sie oft gesprochen. Etwas, das sie unbedingt noch erleben wollte.

Ebru nahm einen tiefen Atemzug, dann drückte sie die Klinke herunter und betrat das Krankenzimmer.

Schwester Cordula schreckte auf. Sie saß auf einem Stuhl neben dem Bett, auf ihren Knien eine deutsche Ausgabe von Charles Dickens' „Weihnachtsgeschichte“. Cordula war Mitte Fünfzig, eine Seele von Mensch und selber kinderlos.

Ebru mochte die hochgewachsene, schlanke Frau mit den kurzen Haaren und den gutmütigen Augen. Sie lächelte, nachdem sie ihren Schrecken überwunden hatte.

Auch Alena lächelte – so gut sie konnte.

Ihr Gesicht war fahl und eingefallen, die Lippen rissig und unter den Augen lagen dunkle Ränder. Das Kopftuch hatte sie abgenommen.

„Frohe Weihnachten, Dr. Turan. Oder darf ich das nicht sagen? Wegen ihrem Glauben?“

Ebru lächelte und nahm die kalte Hand des Mädchens. „Ist schon in Ordnung, Alena. Ich bin sogar ein bisschen neidisch. Mir bringt euer Weihnachtsmann ja nie etwas.“

Mühsam rollte sich Alena auf die Seite und zog die Schublade des kleinen Rollschranks neben sich auf. Daraus zog sie einen Schokoladen-Weihnachtsmann, den sie Ebru entgegenstreckte.

„Nehmen sie. Niemand sollte Weihnachten ohne ein Geschenk sein.“

Ebru nahm den Weihnachtsmann an sich und konnte nur schwer ihre Tränen unterdrücken.

Hastig wischte sie sich über die Augen und steckte beide Hände in die Kitteltaschen. Die eine, um das Geschenk zu verstauen, die andere, um die Flasche herauszuziehen.

Hätte sie jemand gefragt, sie hätte mit voller Überzeugung geantwortet, dass es keine bewusste Entscheidung war. Dass sie einem plötzlichen Impuls folgte und es vermied, darüber nachzudenken.

Das hatte sie schließlich lange genug getan und es hatte nirgendwohin geführt.

Sie umrundete das Bett, öffnete die Flasche und zog eine Spritze auf. Mit ihr näherte sie sich dem Tropf.

Die Krankenschwester sah sie nervös an. „Darf ich fragen, was in der Spritze ist?“, erkundigte sie sich vorsichtig. Sie kam gut mit Ebru Turan aus und es lag nicht in ihrer Natur, Kompetenzen zu überschreiten.

Ebru stockte einen Moment und suchte nach Worten, was der Schwester nicht entging.

„Nur eine Lösung, um wieder ein bisschen zu Kräften zu kommen und durchzuschlafen. War schließlich ein aufregender Tag.“

Sie wich dem misstrauischen Blick der Krankenschwester aus und drückte den Inhalt der Spritze durch die Öffnung am Schlauch. Ihre Lippen zitterten, als sie sah, wie sich die klare Flüssigkeit mit der anderen vermischte und ihren Weg in das Blut des Mädchens antrat. Für einen Moment glaubte Ebru, nur zu träumen und noch immer vor der Zimmertür zu stehen. Dass sie sich dieses Szenario lediglich ausmalte.

Doch als sie sich räusperte, wurde ihr klar, dass sie es wirklich getan hatte. Sie hatte dem Mädchen das Medikament von Rainer Martens verabreicht. Es war nicht mehr rückgängig zu machen.

„Alles in Ordnung, Dr. Turan?“, fragte Schwester Cordula vorsichtig.

Ebru lächelte und nickte. „Ja, sicher. Das war's auch schon. Ich lasse euch jetzt wieder allein. Aber macht nicht mehr so lange. Und vielen Dank für den Weihnachtsmann. Ich werde ihn genießen und an dich denken.“

Alena streckte ihre Hand nach der Schwester aus. Sie hatte den besorgten Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen.

„Keine Angst, Cordula. Dr. Turan weiß schon, was sie tut.“

Ebru schluckte. Hoffentlich hast du recht, Kleine, dachte sie und schloss leise die Zimmertür hinter sich.

 

 

USA / Pennsylvania, Nähe Harborcreek

 

Die rund 400 Meilen von der Hauptstadt ins County Erie hatte General Alistair Renton mit dem Hubschrauber zurückgelegt.

Natürlich hätte er mit dem Besuch auch bis nach Weihnachten warten können, doch er wollte die Früchte seiner monatelangen, streng geheimgehaltenen Arbeit endlich in Augenschein nehmen. Und an den Feiertagen kümmerte sich sowieso niemand um Politik.

Der Helikopter landete auf der großen Weide des ehemaligen Farmgeländes, das der General über eine Scheinfirma gekauft hatte. Neben dem großen, zweistöckigen Haupthaus verfügte das Gelände vor allem über zahlreiche Nebengebäude, wie Scheunen und Wellblechhallen, die als Trainingsorte und Materiallager zur Verfügung standen. Kleinere Schuppen waren zu Personalunterkünften ausgebaut worden und auf einem Teil der Weideflächen waren Sportplätze entstanden. Das alles weit genug entfernt von den nächsten Ortschaften, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Und wenn doch jemand fragte, oder neugierig wurde, dann wiesen entsprechende Schilder auf eine militärische Schulungseinrichtung hin.

Und im Grunde war es auch genau das – nur eben nicht offiziell.

Renton verließ den Helikopter, nachdem die Rotoren stillstanden und stellte den Kragen seines Mantels aufrecht.

Über das Feld kam ihm ein Mann im Laufschritt entgegen. Er trug dunkle Hosen und einen blauen Rollkragenpulli. Er war ein ganzes Stück kleiner als Renton, sein Schädel war kahl und die Augen blitzten listig.

Roy Shaffer war 43, Ex-Marine und hochdekorierter Afghanistan-Veteran. Seit seinem Ausscheiden aus der Army war er als Ausbilder und Berater tätig. Er war für schnelle Entscheidungen und effiziente Einsätze bekannt. Ein klar und kühl kalkulierender Stratege, dem das Erreichen von Zielen wichtiger war, als die Opfer auf dem Weg dorthin.

Er blieb vor Alistair Renton stehen und grüßte militärisch.

Renton reckte das breite Kinn seines quadratischen Schädels vor und erwiderte den Gruß mit zusammengekniffenen Lippen, bevor sich die Männer noch die Hand reichten und sich vom Hubschrauber wegbewegten.

„Schön, dass sie den Weg zu uns gefunden haben, Sir“, begrüßte Shaffer seinen Gast.

„Ich muss doch mal nachsehen, ob mein Geld hier gut angelegt ist.“

„Auf die bestmögliche Art, Sir. Allein auf diesem Stützpunkt sind derzeit 150 Mann stationiert. Sie sind voll ausgebildet, im Training, und jederzeit einsatzbereit.“

Renton nickte zufrieden. „Was gibt es Neues von den übrigen Lagern?“

„Zwei weitere werden Anfang des Jahres die Arbeit aufnehmen. Die Rekrutierung ist abgeschlossen und das Material gesichert. Nebraska und Arkansas werden unmittelbar nach dem Jahreswechsel an den Start gehen. Fünf weitere sind in der Planung und ebenfalls in der ersten Jahreshälfte einsatzbereit.“

Renton nickte zufrieden. „Das klingt sehr gut. Vor allem der Stützpunkt in Nebraska ist strategisch äußerst wichtig.“

„Ich weiß, Sir“, nickte Shaffer. „Darum habe ich mich um ihn vorrangig gekümmert.“

Roy Shaffer führte den General über das Gelände. Er zeigte die Materiallager und die Unterkünfte, erklärte das Trainingsprogramm der stationierten Soldaten und die Kriterien für die Rekrutierung. Fast zwei Stunden besichtigten die Männer das ehemalige Farmgelände, bevor Shaffer seinen Gast in ein gemütliches Büro im Obergeschoss des Farmhauses führte und zwei Gläser Bourbon einschenkte.

Renton stand an dem großen Fenster unter der Dachschräge und sah in die Dunkelheit der Farm hinaus. Er war zufrieden, die Investition hatte sich gelohnt.

Als die Idee zu einer Spezialeinheit konkretere Formen angenommen hatte, war Renton auf den Ex-Marine zugegangen. Er kannte die Karriere und die Akte von Shaffer. Niemand sonst wäre für diese Aufgabe in Frage gekommen. Sie hatten sich noch vor Bradens Rücktritt in Washington zu einem informellen Gespräch getroffen und Renton hatte seine Pläne erläutert: Eine schlagkräftige, landesweit vernetzte Spezial-Einheit für den direkten Kampf gegen die Aliens.

Shaffer war durch und durch Amerikaner und darum von der Idee hellauf begeistert. Er kam sofort mit eigenen Vorschlägen, sowohl was die Spezialisierung der Soldaten, als auch die taktische Ausrichtung und die Rekrutierung anging. Renton war überzeugt, den richtigen Mann gefunden zu haben.

Er wusste, dass Shaffer nicht leicht zu lenken war und nur starke Anführer akzeptierte. Doch in Renton sah er das ultimative Alpha-Tier. Der Mann war schließlich eine Legende und für jemanden wie Roy Shaffer war es eine Ehre, ihm bedingungslos zu dienen.

Dazu gehörte es auch, keine Fragen zu stellen...

Es interessierte ihn nicht, woher das Geld kam, mit dem die neue Einheit finanziert wurde und es interessierte ihn auch nicht, wer davon wusste und wer nicht. Wenn Renton dieses Thema an Senat und Repräsentantenhaus vorbeischleusen wollte, dann war das seine Sache. Er führte Befehle aus. Einer davon war, weitere Standorte und Stützpunkte zu finden und diese aufzubauen. Genau das tat er. Er schulte seine Leute und brachte alle Informationen über die Fremden zusammen, die er kriegen konnte. Dennoch blieb der Feind unbekannt und theoretisch. Daher brannte Shaffer auf seinen ersten, regulären Einsatz.

Er reichte Renton das Glas und sie stießen an.

„Sie haben viel erreicht“, erklärte Renton anerkennend und leistete sich sogar den Anflug eines Lächelns.

Shaffer versuchte, den Stolz, den er empfand, zu verbergen.

„Vielen Dank, Sir. Es ist mir eine Ehre.“

Renton musterte sein Gegenüber. „Sicher wollen sie bald loslegen, wie?“

„Nun ja, wir sind bereit...“

Renton nahm noch einen Schluck von seinem Drink, dann ging er zum Schreibtisch und öffnete die Aktentasche, die er mitgebracht hatte. Er holte zwei schmale Ordner hervor, die er Roy Shaffer überreichte.

Der andere warf einen Blick hinein und runzelte die Stirn. „Das sind keine Außerirdischen.“

„Das ist richtig. Aber es sind zwei Männer, die den Aliens nahestehen – Hochverräter. Wir suchen schon seit Monaten nach Carlyle und Wells. Sicher haben sie davon gehört. Embry wusste, wo sie stecken. Und wenn er es herausgefunden hat, dann werden SIE das auch schaffen.“

„Ist das nicht ein Fall für die Bundesbehörden?“

Renton sog scharf Luft ein. Er mochte es nicht, wenn seine Entscheidungen hinterfragt wurden. Andererseits sah er aber auch ein, dass er Shaffer ein paar Antworten geben musste.

„Die haben sich bisher nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Außerdem erfordert diese Angelegenheit eine eher... unbürokratische Vorgehensweise. Es muss schnell und sauber erledigt werden. Es steht übrigens zu befürchten, dass beide Männer unter dem Schutz der Aliens stehen. Also eine gute Übung zum Einstand.“

„Gibt es Anweisungen bezüglich des... Zustands, in dem die Männer übergeben werden sollen?“

„Wells kann sterben. Carlyle will ich lebend, wenn möglich. Er wird noch gebraucht. Außerdem hat er vermutlich etwas bei sich, das wichtig für mich ist. Ein Aufnahmegerät aus dem Weißen Haus. Vielleicht auch eine Festplatte oder ein USB-Gerät. Irgendein Speichermedium. Stellen sie es sicher. Und sie werden nur MIR berichten.“

„Das versteht sich von selbst“, versicherte Shaffer, während er den Rücken durchdrückte. „Dann gehe ich davon aus, dass der Vizepräsident ebenfalls nicht in unser Vorhaben involviert ist?“

Shaffer sparte Präsident Kent wissentlich aus. Er wusste, dass der ehemalige Vize nur ein Strohmann war, Renton aber eng mit Dwight Fallon zusammenarbeitete. Zumindest hatte er das bisher angenommen.

Als Rentons Mundwinkel aber zuckten und er den Blick senkte, um die Flüssigkeit in seinem Glas zu betrachten, kamen ihm Zweifel...

„Ich möchte es so ausdrücken“, begann der General langsam. „Um die jetzige Administration müssen sie sich keine Gedanken machen – in jeder Hinsicht.“

„Verstanden, Sir.“

Renton nickte zufrieden und stieß noch einmal mit Roy Shaffer an.

„Dann – auf die neue Counter Alien Force.“

Shaffer schlug die Hacken zusammen. „Auf die CAF – und ihren Erfolg im Kampf für eine freie Welt.“

 

 

Deutschland / Hamburg, Fuhlsbüttel

 

Es war nicht viel Betrieb in dem großen Flughafen-Komplex. Ein paar hektische Reisende zogen ihre Koffer durch die Haupthalle auf der Suche nach dem richtigen Gate.

Lee Galveston saß in einem der Cafés mit einer offenen, einladenden Vorderfront und wartete geduldig. Der schlanke Mann mit den hellblonden Haaren hatte weiche Gesichtszüge, helle Augen und ein Lächeln auf den Lippen. Sein Alter war schwer zu schätzen, er hatte etwas Jugendliches und Unschuldiges an sich, das jedoch täuschte. Als Kontinentalbeauftragter der Außerirdischen für Westeuropa musste er schnelle und unbequeme Entscheidungen treffen. Und viel Verantwortung tragen.

Die momentane Entwicklung auf diesem Planeten bereitete ihm große Sorgen. Er teilte nicht den Optimismus seines Missions-Administrators Cato, dass die Menschen erkennen würden, wie groß die Hilfe durch die Besucher war, und dass sie es sich unmöglich leisten konnten, sie auszuschlagen, wenn ihre Heimat auch in Zukunft überleben sollte.

Der Planet befand sich an einem gefährlichen Abgrund, und die Zeit, ihn zu retten, wurde knapp. Doch statt das zu erkennen und die Ankunft der Fremden als Zeichen der Dringlichkeit und einen ausgeworfenen Rettungsring zu begreifen, bekämpften sie die Besucher, um das zu schützen, was sie erst an den Rand des Ruins gebracht hatte. Es war die Unfähigkeit des Menschen, künftige Gefahren zu erkennen und als bedrohlich einzustufen. Alles, was nicht unmittelbar geschah, war es nicht wert, beachtet zu werden. Schon gar nicht, wenn es eine Einschränkung der gewohnten Lebensumstände bedeutete.

Darüber hinaus hatten die Menschen zu lange die Entscheidungsgewalt über sich in die falschen Hände gelegt. Denen ging es um Wachstum und Gewinnmaximierung und das auch nur innerhalb der eigenen Lebensspanne. Doch das war nicht die Art und Weise, wie ein Planet bewirtschaftet werden sollte.

Aber vielleicht wären alle menschlichen Hände die falschen gewesen. Denn die Geschichte der Menschen hatte gezeigt, dass es im Wesen dieser Spezies lag, sich von Macht korrumpieren zu lassen. Und jeder, der sie hatte, erlag schließlich der Versuchung, sie für sich allein und seinen persönlichen Vorteil zu nutzen. Egal wie ehrenhaft seine ursprünglichen Anliegen auch gewesen sein mochten: Wer herrschte, tat das immer auf Kosten anderer. Auch das hatte die Geschichte gezeigt und damit belegt, dass die Entwicklung des Menschen noch nicht fortgeschritten genug war, um tatsächlich einen Platz an der Spitze einer Nahrungskette einzunehmen.

Darum glaubte Lee Galveston auch nicht, dass es damit getan war, einige „Problem-Exemplare“ der Menschen aus der Gesamtheit zu entnehmen, damit der Rest die Notwendigkeit von Veränderungen erkannte. Menschen brauchten immer einen Anführer. Und egal mit wem sie die eliminierten Alpha-Exemplare auch ersetzten – sie würden doch wieder in deren Fußstapfen treten.

Dennoch leistete Lee den Anordnungen des Administrators Folge und wartete jetzt in diesem Café am Hamburger Flughafen auf das Eintreffen eines Mannes, der genau diese Aufgabe hatte.

Lee ließ seinen Blick immer wieder zu den Eingängen der Gates wandern. Die Linienmaschine aus London war vor einer Viertelstunde gelandet und die ersten Reisenden kamen durch die Absperrung. Lee erkannte einen schlanken, dunkelhaarigen Mann in einem blauen Anzug mit einem dunklen Mantel darüber.

Er lächelte, nickte knapp und setzte sich wieder, als der Ankommende das Nicken erwidert hatte. Sie schüttelten einander die Hände und der Mann setzte sich.

Er hatte krauses Haar, ein schmales Gesicht mit tiefen Linien und große, tiefliegende Augen, die immer etwas traurig blickten. Die Ohren standen leicht ab und auf seinen geschwungenen Lippen lag ein spöttisches Lächeln.

Gordon Black war das, was die Fremden einen „Executor“ nannten. Eine Person, die speziell dafür ausgebildet war, einzelne Exemplare einer Rasse zu entnehmen. Und das möglichst unauffällig. Unter den Menschen hätte er die Bezeichnung „Berufskiller“ gehabt. Voraussetzung für einen Executor war – genau wie für einen Protector – dass die Person schon mehrere Lebenszyklen auf dem jeweiligen Planeten in der entsprechenden Daseinsform hinter sich gebracht hatte, um ein möglichst umfangreiches Wissen über die Natur der Spezies gespeichert zu haben. Gordon Black wusste, wie die Menschen funktionierten und kannte ihre Stärken und Schwächen. Dennoch hatte er genügend Distanz zu ihrer Art, um sich bei seiner Arbeit nicht von Emotionen leiten zu lassen.

Als Lee noch Landesbeauftragter für England war, hatte er öfter mit Gordon zu tun gehabt. Executoren waren in den letzten Jahren kaum noch im Einsatz gewesen, nachdem sich die Besucher dazu entschieden hatten, die komplette Menschheit zu exterminieren. Der neue Plan, den Planeten gemeinsam zu retten, war buchstäblich erst im letzten Moment entstanden.

Also hatte Gordon Black zwar weiterhin seine Fähigkeiten als Executor trainiert, aber vordergründig in einem Job gearbeitet, der seiner eigentlichen Aufgabe noch am nächsten kam: Als Investment-Banker.

„Wie geht es meinem guten, alten England?“, fragte Lee, nachdem Black einen Tee bestellt hatte.

Er zuckte die Schultern. „Immer noch wunderschön, nebelig und selbstverliebt.“

Lee nickte versonnen. „Ich habe immer eine Schwäche für dieses Land und seine Kultur gehabt.“

„Eine Kultur, die fast in Vergessenheit geraten ist. Es liegt eben nicht in der Natur des Menschen, Schönes und Richtiges zu bewahren.“

„Hattest du einen guten Flug?“

„Wie Flüge halt so sind. Sei mir nicht böse, Lee, aber ich würde gerne auf Geplänkel verzichten, wenn es dir nichts ausmacht. Es ist das erste Mal seit zwei Zyklen, dass ich als Executor arbeiten darf. Ich bin ein bisschen... aufgeregt.“

Lee nickte und zog einen Umschlag aus der Aktentasche, die er bei sich trug.

„Da findest du alles, was du im Moment brauchst – einschließlich der Adresse deiner Unterkunft.“

Gordon sah die Unterlagen durch und warf Lee einen fragenden Blick zu.

„Nur eine Zielperson?“

„Im Moment schon. Aber es wird nicht die einzige bleiben. Diese Person ist allerdings ein enormer Störfaktor und wir rechnen mit einem massiven Einbruch des Widerstands, wenn sie aus dem Verkehr gezogen ist. Wenigstens vorübergehend.“

Gordon seufzte. „Cato ist sehr menschenfreundlich geworden“, gab er zu bedenken.

„Seine aktuelle Strategie hat einiges für sich. Auch ich habe während dieses Zyklus Einzelexemplare kennengelernt, die durchaus in der Lage wären den nötigen Entwicklungsschub im Bewusstsein zu vollziehen.“

„Aber reichen die aus, um mit ihnen den Planeten neu zu strukturieren?“

„Genau diesen Punkt sehe ich auch kritisch. Es ist eine mühsame und sehr kleinteilige Arbeit. Aber wir erledigen sie.“

Gordon Black nippte an seinem Tee. „Gibt es irgendwelche Vorgaben für die Exterminierung?“

„Sie sollte deutlich und abschreckend sein, aber ohne das ästhetische Empfinden der Menschen zu verletzen.“

Gordon lächelte. „Ich verstehe. Habt ihr eigentlich noch mehr Executoren aktiviert?“

„Momentan nur noch einen weiteren für Amerika. Der Widerstand ist hier, in den USA und in Russland am größten. Hängt wohl mit den Standorten der Stationen zusammen. Jedenfalls strahlt er von dort aus in die restliche Welt. China hat sich abgeschottet und Afrika hat ein derzeit noch überschaubares Problem.“

„Und was ist mit Russland?“

Lee hob die Schultern. „Merima hat gesagt, sie würde sich darum kümmern.“

Gordons Lächeln wurde breiter, als er an die resolute Frau mit der blonden Lockenmähne dachte.

„Ah, Merima... ja, sie ist gut darin, sich... zu kümmern.“

Gordon Black leerte seinen Tee und stand auf. „Ich will nicht unhöflich sein, aber ich würde jetzt gerne in mein Hotel und mich auf meinen Auftrag vorbereiten.“

Lee Galveston folgte der Bewegung und streckte dem Executor die Hand entgegen. „Natürlich. Du hast meine Nummer. Ich würde mich freuen, wenn wir mehr Zeit hätten, sobald dein Auftrag erledigt ist.“

„Versprochen. Ich möchte unbedingt mal wieder in ein Kino. Man kommt viel zu wenig dazu, die angenehmen Seiten der menschlichen Zivilisation zu nutzen.“

„Wem sagst du das? Ich wünsche dir viel Erfolg.“

Gordon zwinkerte ihm zu. „Keine Sorge – den werde ich haben.“

 

 

Russland / Moskau

 

Der Schnee unter den Stiefeln knirschte und schluckte die Geräusche von der Straße. Immer wieder wich die Frau entgegenkommenden Passanten aus, die mit gesenkten Köpfen durch die Straßen eilten, auf dem Weg in die warme Wohnung. Es waren nicht viele unterwegs an diesem Heiligabend. Und das war der Frau nur recht.

Sie wollte nicht gesehen werden.

Sie trug einen großen Rucksack auf dem Rücken und hatte die Kapuze der dicken, mit Fell gefütterten Jacke weit über den Kopf gezogen. Seit anderthalb Stunden war sie schon in der Hauptstadt unterwegs, vom Flughafen zum Bahnhof, von dort in die Stadt und dann zu Fuß weiter. Jetzt war es nicht mehr weit.

Sie ließ die Hauptstraßen hinter sich und wurde ruhiger. Moskau hatte sie schon immer nervös gemacht. Und jetzt noch mehr. Sie hasste es hier. Im Zentrum der Macht, dem Moloch der Korruption. Hier fühlte sie sich verfolgt und beobachtet.

Am liebsten hätte sie diese verfluchte Stadt und das ganze verdammte Land weit hinter sich gelassen, doch davon konnte keine Rede sein – nicht im Moment. Sie hatte eine Aufgabe und die musste sie erfüllen.

Die Straßen wurden schmaler und dunkler, die Häuser kleiner

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Publication Date: 10-07-2023
ISBN: 978-3-7554-5534-9

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