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Kastanien erinnern mich immer an ihn

Wieder einer dieser Sonntage, die einfach kein Ende nehmen wollen. Andere freuen sich aufs Wochenende, aber mir fällt zu Hause immer die Decke auf den Kopf. Die Einsamkeit bringt mich noch um. Meine letzte Beziehung ist jetzt schon zwei Monate her und eigentlich war ich froh darüber, dass Sven sich von mir getrennt hat. Irgendwie hat es nicht gepasst, hat es nie. Denn keiner war wie er.

 

Sven ist gegangen, weil er es nicht länger ertragen konnte, nur die zweite Wahl für mich zu sein. Er hat mich geliebt, wollte mehr. Viel mehr. Aber das konnte ich ihm nicht geben. Und auch nicht die drei Worte aussprechen, die er so gerne von mir hören wollte.

 

Bevor ich noch endgültig die Wände hochgehe und im Selbstmitleid versinke, schnappe ich mir meine Jacke vom Garderobenhaken und schlüpfe in bequeme Schuhe. Der nahe Park ist mein Ziel. Kaum trete ich vor die Haustür, pfeift mir ein böiger Wind um die Ohren. Es ist kühl geworden, der Sommer ist endgültig vorbei. Dabei war es noch vor ein paar Tagen angenehm warm. Aber wiederholte Gewitter und ein Tief nach dem anderen, haben die Temperatur um fast 20° fallen lassen. Es ist eindeutig Herbst geworden. Ich liebe diese Jahreszeit. Während sich andere zurück nach der Sommerhitze sehnen, genieße ich die Herbststürme. Dabei wünsche ich mir immer, ich müsste nur die Arme ausbreiten und könnte mit den Wolken mitfliegen. Weit fort von hier, von Deutschland bis nach Südafrika.

 

Zehn Minuten später bin ich am Ziel. Langsam schlendere ich über die Parkwege, genieße dabei die frische Luft. Die Blätter haben sich bunt verfärbt, beginnen schon zu fallen. Vor einer Stunde hat es noch geregnet und ich liebe den Duft von feuchtem Laub. Andere Menschen mögen Blumenduft, aber ich bevorzuge diesen leicht modrigen Geruch. Stellenweise mischt sich ein leichtes Pilzaroma darunter. Wenn man genau hinsieht, kann man die kleinen, braunen Knollen im Gras unter den Blättern entdecken. Ich gehe weiter bis zu meiner Lieblingsstelle am Ententeich, da, wo die großen Kastanienbäume stehen. Als ich näher komme, sehe ich auf dem Boden die dicken, aufgeplatzten Stachelkugeln liegen. Und daneben, oder auch noch darin, die rostbraunen Baumfrüchte. Ich bücke mich und hebe zwei der glatten, glänzenden Kastanien auf. Ich halte sie in der Hand und muss blinzeln, damit ich nicht anfange zu weinen. Zwecklos, mit den Tränen kommen die Erinnerungen.

 

Erinnerungen an zwei kleine Jungen, Nachbarskinder. Jungen, die gemeinsam krabbeln und laufen lernten, dann in den Kindergarten gingen. Dort erfuhren wir im ersten Herbst, wie toll es sein kann, mit Kastanien zu basteln. Wir haben wochenlang damit gespielt, nicht nur im Kindergarten, auch abwechselnd bei uns zu Hause. Bis die braunen Kugeln hart und schrumpelig wurden. Unsere Mütter waren befreundet und wechselten sich mit unserer Betreuung ab, oder aber sie tranken gemütlich Kaffee während wir spielten. Später wurden wir in die gleiche Klasse in der Grundschule eingeschult, besuchten vier Jahre später dasselbe Gymnasium. Wieder in einer Klasse. Beste Freunde, die miteinander durch dick und dünn gingen. Dann kamen wir in die Pubertät und merkten schnell, dass wir mit Mädchen nichts anfangen konnten.

 

Stattdessen wurde innerhalb eines Jahres aus unserer tiefen Freundschaft Liebe. Ich war damals der Erste, der den Mut aufbrachte und Jens meine Gefühle für ihn gestand. Zu meiner großen Erleichterung erwiderte er sie. An diesem Abend küssten wir uns. Lange und zärtlich, mit Zunge. Ich war im Paradies. Noch heute weiß ich ganz genau, wie sich seine weichen Lippen auf meinen angefühlt haben. Und ich erinnere mich auch noch ganz genau an unser erstes Mal. Wir hatten uns im Internet über Sex unter Männern informiert und an dem betreffenden Tag in meinem Zimmer gewartet, bis unsere Mütter zum Einkaufen fuhren. Kleidung, die hastig auf dem Boden landete, Hände, die über weiche, erhitzte Haut glitten, zaghafte und teils ängstliche erste Berührungen. Leidenschaftliche Küsse, Finger die den anderen sanft erkundeten. Verschmiertes Gleitgel auf ihnen und ein Kondom, das zu glitschig war, um es überzustreifen. Lachen und helfende Hände. Leichter Schmerz und pures Glück. Eingesaute Bettwäsche, die heimlich in die Waschmaschine gesteckt wurde. Der Himmel auf Erden.

 

Dieser Himmel dauerte für uns fast ein Jahr lang, dann landeten wir in der Hölle. Jens’ Vater erwischte uns zufällig im Bett und rastete völlig aus. Er verbot Jens jeglichen Kontakt zu mir. Schnell stellte sich heraus, was für ein homophobes Arschloch er war. Zum Glück waren meine Eltern ganz anders. Für sie zählte nur, dass ich glücklich war. Egal ob mit einer Frau oder einem Mann. Die Freundschaft unserer Mütter überlebte den darauf folgenden Streit nicht. Wir trafen uns trotzdem weiter, jedoch heimlich. Meine Mutter half uns dabei. Dann wurde Jens’ Vater, ein erfolgreicher Ingenieur, von seiner Firma für ein wichtiges Projekt nach Südafrika versetzt. Für ca. fünf Jahre. Für Jens’ Mutter stand fest, dass sie ihn begleiten wollte. Jens versuchte alles, um bei mir bleiben zu können, aber er hatte keine Chance. Da er noch minderjährig war bestimmten seine Eltern, dass er mitkommen musste. Auch das Argument mit dem Abitur zog nicht, er würde dort eine deutschsprachige Privatschule besuchen können.

 

Als Jens damals, nach unserer letzten, gemeinsamen Nacht, weinend ins Taxi stieg, nahm er etwas von mir mit: Mein Herz. Wir sahen uns nie wieder. Selbst der Kontakt übers Internet mit mir wurde ihm verboten. In mir zerbrach damals etwas. Meine Mutter nahm mich noch auf der Straße tröstend in ihre Arme.

 

„Du musst ihn gehen lassen, mein Kind. Wenn er zu dir gehört, dann kehrt er irgendwann zu dir zurück. Wenn nicht, dann hat er nie zu dir gehört.“

 

Ich wollte die Worte nicht hören, sie nicht verstehen, schluchzte nur hilflos in ihrer Umarmung.

 

Direkt nach dem Abitur zog ich mit meinen Eltern nach München. Dort habe ich dann Jura studiert und lebe noch heute hier, arbeite in einer großen Anwaltskanzlei. Meine Kollegen wussten von Anfang an, dass ich schwul bin, keiner von ihnen hat ein Problem damit. Ich mag die Stadt, auch die Schwulenszene ist nicht zu verachten. Aber sie interessiert mich nicht mehr. Ich hatte schon mehr One-Night-Stands, als ich zählen kann. Nichts, was nicht auch meine eigene Hand erledigen kann.

 

Seufzend stecke ich die Kastanien in meine Jackentasche, dann mache ich mich wieder auf den Weg. Die Bewegung tut mir gut, erst als ich zu frieren beginne, gehe ich langsam zurück. In meiner Wohnung angekommen, mache ich mir zuerst eine große Tasse Tee. Rote Grütze, lecker. Den habe ich mir neulich erst in dem kleinen Teeladen in der Innenstadt besorgt. Dort bin ich Stammkunde, ich liebe Tee und habe mich wahrscheinlich schon durch das gesamte Sortiment getrunken. Das süßliche, fruchtige Aroma des Tees zieht durch die Küche und ich schnuppere genüsslich. Ich entferne den Filter und gehe mit der Tasse ins Wohnzimmer. Vorsichtig stelle ich sie auf dem Couchtisch ab und greife zu meiner warmen Kuscheldecke. Gerade will ich den ersten Schluck trinken, da fällt mein Blick auf den blinkenden Anrufbeantworter. Nanu, wer hat mich denn vorhin versucht anzurufen?

 

Neugierig stehe ich wieder auf und gehe die drei Schritte bis zum Anrufbeantworter. Nachdem ich die Wiedergabetaste gedrückt habe, ertönt eine sympathische Frauenstimme.

 

„Hallo Carsten, ich hoffe ich habe die richtige Nummer gewählt. Ich bin Carina, keine Ahnung, ob du dich noch an mich erinnerst. Durch Zufall bin ich beim Shoppen in München deiner Mutter begegnet. Sie hat mir dann, auf meine Bitte hin, deine Telefonnummer verraten. Wie du vielleicht noch weißt, war ich am Gymnasium die Klassensprecherin, deshalb habe ich es übernommen, die ehemaligen Klassenkameraden zusammenzutrommeln. Wir möchten an Halloween ein Klassentreffen organisieren. Bitte melde dich bei mir und sag Bescheid, ob du kommen kannst. Ich freu mich schon darauf. Ach, und noch etwas. Falls ich jetzt einem Fremden aufs Band gequasselt habe, dann bitte ich um Entschuldigung.“

 

Es klickt und das Gespräch ist beendet. Carina. Und ob ich mich noch an sie erinnere. Sie war eigentlich ganz hübsch und nett. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen, die sich mit Schmuck nur so behängt haben, trug sie lediglich eine silberne Kette mit einem Pentagramm um den Hals. Im ersten Moment will ich schon die Nummer wählen, die sie am Ende noch genannt hat und sofort absagen, aber dann überlege ich es mir doch anders. Wäre vielleicht gar nicht so schlecht, die ehemaligen Mitschüler einmal wiederzusehen. Außerdem ist da ein winzigkleiner Hoffnungsfunken in mir, dass eventuell eine ganz bestimmte Person auch da sein wird.

 

So kommt es dann, dass ich mir einen Tag frei nehme und pünktlich am Freitagnachmittag in meiner Heimatstadt ankomme. Merkwürdiges Gefühl, nach so vielen Jahren wieder durch die Straßen zu fahren. Es hat sich viel verändert, aber dank meines Navi finde ich schnell das von mir gebuchte Hotel. Praktischerweise soll hier das Klassentreffen stattfinden. Noch habe ich genug Zeit und checke erst einmal ein. Im Zimmer angekommen, gönne ich mir eine ausgiebige Dusche und lege mich für ein Stündchen hin. Ich bin schon sehr früh in München losgefahren und die Autobahn war überfüllt. Eine anstrengende Fahrt.

 

Als ich wieder aufwache ist es schon beinahe 18.30 Uhr. Da das Treffen um 19 Uhr beginnen soll, bleibt mir also eine halbe Stunde, mich wieder anzuziehen und gesellschaftsfähig zu machen. Das ist der Vorteil dabei, dass ich im gleichen Hotel ein Zimmer habe, in dem das Klassentreffen stattfindet. Glücklicherweise ist es kein Kostümfest. Hätte mir echt noch gefehlt, als irgendeine Gruselgestalt rumzulaufen.

 

Als ich die Treppe runtergehe, um den Veranstaltungssaal zu suchen, kommt mir Carina schon lachend entgegen. Sie hat sich in den vergangenen Jahren kaum verändert und ich erkenne sie sofort wieder. Sie begrüßt mich freudig und nimmt mich anschließend gleich mit in den vorgesehenen Raum. Erstaunt blicke ich mich um. Da hat sich jemand wirklich Mühe gegeben mit der Halloween-Dekoration. An den Wänden hängen riesige Spinnennetze, mit den dazu gehörenden Bewohnern, dazu Lichterketten mit Fledermäusen und Gespenstern. Auf den Tischen liegen kleine Kürbislaternen mit brennenden Teelichtern, bunte Blätter, Eicheln und Kastanien. Der Anblick der braunen Kugeln versetzt mir einen kleinen Stich. Glücklicherweise werde ich aber von ehemaligen Klassenkameraden abgelenkt. Es herrscht überall Wiedersehensfreude, zu lange schon hat man sich nicht mehr gesehen. Interessant zu hören, was aus ihnen so geworden ist. Viele erzählen von ihrer Familie, Ehepartnern und Kindern, aber auch von Scheidungen. Ich bin einer der ganz wenigen, die solo sind. Beruflich gehöre ich wohl zum oberen Drittel, ein äußerst schwacher Trost.

 

Immer wieder blicke ich mich suchend um, jedes Mal, wenn die Tür aufgeht und wieder ein Neuankömmling eintritt, schaue ich hoffnungsvoll zum Eingang, nur um gleich danach wieder enttäuscht zu werden. Jens ist nicht dabei.

 

Um 20 Uhr wird das Büffet eröffnet. Ich staune mal wieder die sprichwörtlichen Bauklötze. Ein riesiger, grinsender, hell erleuchteter Kürbis ist der absolute Blickfang. Zwischen den appetitlich angerichteten Speisen auf großen Platten liegt jede Menge an gruseligen Dekoartikeln. Manche der anwesenden Frauen quietscht erschrocken. Mir jedenfalls verderben die Spinnen, Ratten und Skelette in kleinen Särgen nicht den Appetit. Lachend fülle ich meinen Teller und lasse auch den Wackelpudding mit Glubschaugen und Geleewürmern nicht aus. Beim Essen merke ich erst, wie hungrig ich bin. Das kleine Frühstück, bestehend aus einer Tasse Kaffee und einer Scheibe Toastbrot, ist schon etliche Stunden her.

 

Mit Quatschen und Essen vergeht die Zeit wie im Fluge. Schon ist es kurz vor 22 Uhr und die ersten verabschieden sich, um heimzufahren. Als der Saal eine halbe Stunde später schon fast leer ist, setzt sich Carina auf den Stuhl neben mir.

 

„Du wirkst so traurig, Carsten. Ich glaube fast, ich habe dich zuletzt wirklich lachen sehen, als Jens noch bei dir war.“

 

Damit legt sie zielsicher einen Finger auf die noch immer blutende Wunde und ich zucke regelrecht zusammen. Verständnisvoll blickt sie mich an.

 

„Hast du mittlerweile mal etwas von ihm gehört?“

 

In meinem Hals sitzt ein dicker Kloß und ich kann nur stumm den Kopf schütteln.

 

„Wir wollten ihn einladen, aber niemand wusste wo er war oder kannte seine Adresse.“

 

Leise flüstere ich: „Ja, geht mir auch so.“

 

Sie sieht mich eindringlich an. Dann fragt sie plötzlich, ob ich heute Abend noch etwas vorhabe. Überrascht verneine ich.

 

„Dann schlage ich vor, du holst dir eine warme Jacke und einen Pullover aus deinem Zimmer und kommst mit mir mit. Trübsal blasen kannst du morgen wieder.“

 

Ich muss wohl ziemlich verdattert aussehen, denn sie beginnt zu lachen.

 

„Keine Sorge, dies ist keine Aufforderung die Nacht in meinem Bett zu verbringen. Ich weiß doch, dass du schwul bist. Außerdem hätte mein Mann wohl etwas dagegen einzuwenden.“

 

Sie zwinkert mir zu und ich muss unwillkürlich grinsen.

 

„Warum soll ich denn dann mitkommen?“

 

„Kannst du dich noch an meine Mutter erinnern? Wir feiern nachher bei ihr so eine Art Gartenparty.“

 

Ich bin ehrlich gesagt verblüfft.

 

„Sie feiert eine Halloweenparty?“

 

Carina kichert leise.

 

„Nein, also nicht direkt. Ich weiß nicht, ob dir bekannt ist, dass meine Mutter aus Irland stammt. Wir feiern einen alten, keltischen Brauch. Es ist eigentlich das keltische Silvester, man nennt es Samhain.“

 

Davon habe ich schön gehört und bin jetzt neugierig geworden. Deshalb nicke ich zustimmend.

 

„Und deshalb hat sie Gäste eingeladen?“

 

„Ich würde es nicht unbedingt als Gäste bezeichnen, wir alle sind Mitglieder der gleichen, kleinen Glaubensgemeinschaft. Meine Mutter ist die Hohepriesterin.“

 

 

***

 

 

Zehn Minuten später sitze ich mit Carina in ihrem Auto und wir fahren durch die Nacht. Nur vereinzelt sind noch Menschen unterwegs, viele davon in typischen Halloweenkostümen. Ich kann Teufel, Engel, Zombies und Vampire erkennen. Wir kommen an hell erleuchteten Häusern vorbei. Bei einigen liegen nur Kürbisse mit brennenden Kerzen darin vor der Eingangstür, andere sind schon fast kunstvoll geschmückt. Eines ist komplett dekoriert und ich bitte Carina, kurz anzuhalten. Das ist wirklich sehenswert. Girlanden, Spinnweben, sogar offene Särge im Vorgarten. Sie erzählt mir, dass man auch das Innere des Hauses gegen ein geringes Entgelt besichtigen darf. Der Erlös davon wird für wohltätige Zwecke gespendet. In diesem Jahr gehen die Einnahmen an das städtische Tierheim. Der Gedanke gefällt mir. Leider ist es schon zu spät für eine Besichtigung. Ich nehme mir vor, das morgen nachzuholen. Es reicht, wenn ich am Sonntag zurück nach München fahre.

 

Im Gegensatz zu den anderen Häusern ist bei dem von Carinas Mutter bei unserer Ankunft keine Dekoration zu sehen. Auf unser Klingeln hin öffnet sie uns die Tür. Ich erkenne sie sofort wieder, auch wenn sie älter geworden ist. Sie trägt ihre langen, vermutlich mit Henna rot gefärbten Haare offen, ganz so wie früher. Ich werde herzlich von ihr begrüßt, Carina hat sie vorhin telefonisch über meinen Besuch informiert. Wer den Unterschied nicht kennt, würde meinen, sie trägt ein Halloweenkostüm, ein langes Cape. Aber soviel weiß ich dann doch. Nämlich, dass es ein Priestergewand ist, bodenlang und mit Kapuze, die sie aber nicht aufgesetzt hat. Dazu baumelt an ihrem Hals ein großes, keltisches Kreuz.

 

Carina nimmt sich zwei der Umhänge von der Garderobe und reicht einen davon an mich weiter. Überrascht schlüpfe ich hinein, dann folge ich meiner ehemaligen Klassenkameradin in den Garten. Hier sind bereits etliche Personen anwesend, die uns freundlich begrüßen. Doch der wirkliche Blickfang ist das große, hell lodernde Feuer in der Mitte des Gartens. Wir stellen uns im Kreis um die züngelnden Flammen und danach wird darum herum getanzt und gesungen. Dieser alte Brauch gefällt mir und ich mache begeistert mit, auch wenn ich den Sinn nicht wirklich verstehe. Aber egal, die Atmosphäre ist toll und es wird ein sehr schöner Abend für mich.

 

Da Carina versprochen hat, mich zurück zum Hotel zu fahren, warte ich später im Garten, als die anderen sich verabschieden und nach und nach aufbrechen. Zuerst muss sie ihre kleine Tochter noch ins Bett bringen. Die ist nämlich vorhin aufgewacht und hat sich geweigert, weiterzuschlafen. Ich sitze deshalb noch allein am wärmenden Feuer, das allmählich erlischt. Carinas Mutter gesellt sich zu mir und reicht mir eine Tasse mit dampfendem Tee. Ich bedanke mich und trinke vorsichtig einen Schluck von der wohlschmeckenden Flüssigkeit. Auf meine Frage, was das denn für einen Sorte sei, lächelt sie nur geheimnisvoll.

 

„Ein altes Familienrezept, das ich nicht verrate.“

 

Bedauernd nicke ich und wüsste wirklich zu gerne, was in der Teemischung ist. Sie ist köstlich. Ich glaube Minze, Johannisbeeren und Ingwer herauszuschmecken, bin mir aber nicht sicher. Na ja, wie schon erwähnt, ich bin ein echter Teefreak.

 

Carinas Mutter guckt mich an und ich habe plötzlich das Gefühl, als würde sie direkt in meine Seele sehen.

 

„Dich scheint etwas zu bedrücken. Willst du mit mir darüber sprechen? Auch wenn es oft nicht einfach ist, reden kann sehr hilfreich sein. Jedenfalls besser als den Kummer in sich hineinzufressen.“

 

Ich verstehe selbst nicht wieso, aber in der nächsten halben Stunde erzähle ich ihr im Schnelldurchlauf alles über meine verlorene Liebe, bis in alle Einzelheiten. Ihre mitfühlende Art lässt alle Dämme brechen und ich sitze am Ende heulend neben ihr. Ihre Hand liegt auf meinem Arm.

 

„Weißt du, manchmal muss man jemanden einfach gehen lassen. Ihn loslassen, um weiterleben zu können. Wenn er zu dir gehört, dann kehrt er irgendwann zu dir zurück. Wenn nicht...“

 

Ich unterbreche sie: „... dann hat er nie zu mir gehört. Das hat meine Mutter auch mal zu mir gesagt.“

 

Sie lächelt. „Ich weiß, wie weh die erste Liebe tun kann. So wie wahrscheinlich sehr viele Menschen. Aber das Schlimmste daran ist wohl, dass die Erinnerung daran sie verklärt. Es tut nicht gut, andere Menschen an dieser ersten Liebe zu messen.“

 

Carinas Mutter seufzt leise: „Ist leichter gesagt als getan, oder?“

 

Ich nicke nur stumm. Mir laufen schon wieder die Tränen über das Gesicht.

 

„Du hast mir erzählt, dass dein Freund damals mit seinen Eltern fortgehen musste. Wie lange ist das jetzt her?“

 

„Zwölf Jahre.“

 

„Zwölf Jahre also. Und meinst du nicht, dass er in all der langen Zeit nicht mit dir Kontakt hätte aufnehmen können, wenn er das wirklich gewollt hätte? Sei bitte nicht sauer auf mich, dass ich es so direkt sage. Aber auch wenn er anfangs Kontaktverbot zu dir hatte, ist er doch schon lange ein erwachsener Mann und sein Vater kann ihm nichts mehr verbieten.“

 

Ich blicke sie erschrocken an. Diese Gedanken habe ich immer verdrängt. Carinas Mutter spricht leise weiter.

 

„Gegen Liebeskummer gibt es leider kein Allheilmittel. Aber ich erzähle dir mal etwas über Samhain. Es steht für das keltische Jahresende. Die Natur begibt sich zur Ruhe, um nach einer langen Winterpause wieder zu neuem Leben zu erwachen. Außerdem gedenken wir dabei der Toten. Alles muss irgendwann sterben, um neu geboren werden zu können. Ein ewiger Kreislauf.“

 

Sie steht auf und lässt mich einen Moment allein. Auch ich stelle mich hin und blicke gedankenverloren in die Glut des Feuers. Bin ich wirklich zu dumm, um das Offensichtliche zu sehen? Oder wollte ich nur die Tatsache nicht wahrhaben, dass Jens anscheinend kein Wiedersehen wünscht? Mir ist auf einmal eiskalt, sowohl innen als auch außen. Ich zittere und da auch meine Hände kalt sind, stecke ich sie in die Jackentaschen. Dabei fühle ich etwas Hartes darin. Als ich es herausnehme, merke ich, dass es die beiden Kastanien sind, die ich neulich aufgehoben habe. Ich halte sie in meiner Hand, wie immer kommen bei ihrem Anblick die Erinnerungen an Jens. Wieder blicke ich zum Feuer, dann werfe ich sie einfach hinein. Es zischt kurz, einige Funken sprühen und die Kastanien beginnen zu verkohlen.

 

 

***

 

 

Zurück in München holt der Alltag mich wieder ein. Am Wochenende nehme ich mir immer öfter Arbeit mit nach Hause. Inzwischen ist es Mitte November, die dunkle Jahreszeit hat begonnen. Draußen ist es neblig und nasskalt, sogar die Spaziergänge im nahen Park machen mir keinen Spaß mehr. Außerdem fühle ich mich unwohl. Ich bin unruhig und fühle eine Sehnsucht in mir, deren Ursache ich nicht benennen kann.

 

An einem Dienstagabend komme ich mal wieder verspätet aus der Kanzlei zurück. Wir haben ein paar schwierige Fälle und mussten ein paar Überstunden einlegen. Als ich, noch ganz in Gedanken bei meinem Mandanten, die Treppe hochgehe, stolpere ich vor meiner Wohnungstür über einen Mann, der davor im Sitzen schläft. Weil ich dabei auf ihn falle, wacht er auf. Es ist Sven.

 

Erschrocken blicke ich ihn an und plötzlich wird mir bewusst, wie sehr ich ihn in den letzten zwei Monaten vermisst habe. Mir wird erst jetzt klar, nach wem ich mich gesehnt habe. Nicht nach Jens, sondern nach Sven. Ich stehe auf, dann reiche ihm stumm die Hand, um ihm aufzuhelfen und gemeinsam betreten wir meine Wohnung.

 

„Carsten ich...“

 

Weiter kommt er nicht, denn meine Lippen auf seinen bringen ihn ganz schnell zum Schweigen. Er stöhnt in den Kuss und ich ziehe uns beide aus. Dann schubse ich ihn ins Schlafzimmer. Sven versucht wieder mit mir zu reden, aber ich halte ihm den Mund zu.

 

„Nicht jetzt! Bitte!“

 

Er nickt und dann gibt es zum ersten Mal nur zwei Menschen in meinem Bett. Sven und mich. Ohne den Schatten von Jens.

 

Hände auf meiner Haut, das so lange vermisste, vertraute Gefühl seiner Zärtlichkeit. Ein Geschenk, das ich nie richtig zu schätzen wusste. Als ich kurze Zeit später in ihn eindringe, schäme ich mich dafür, ihn immer mit meinem Exfreund verglichen zu haben. Denn natürlich ist Sven nicht wie Jens. Das da unter mir ist der wunderbare Mann, der mich liebt und den ich fast verloren habe, weil ich den anderen nicht vergessen konnte.

 

Als ich nach dem Sex glücklich in seinen Armen liege, fallen mir die Worte von zwei klugen Frauen ein.

 

„Wenn du jemanden liebst, dann musst du ihn gehen lassen. Gehört er zu dir, dann kommt er irgendwann zu dir zurück. Wenn nicht, dann hat er nie zu dir gehört.“

 

Sven ist zu mir zurückgekehrt, aber noch einmal lasse ich ihn ganz bestimmt nicht gehen. Denn auch wenn es mir lange Zeit nicht klar war: Ich liebe ihn. Und was mein Herz betrifft, das ist nicht mehr bei Jens, Sven ist der neue Besitzer und ich glaube fest daran, dass er sehr gut darauf aufpassen wird.

 

 

***

 

 

Epilog

 

 

Diese Novembernacht, die alles zwischen uns veränderte, liegt nun schon zehn Jahre zurück. Acht davon sind wir mittlerweile miteinander verheiratet. Der Himmel hat mich wieder. Und manchmal bin ich davon überzeugt, dass im Feuer von Samhain auch meine Liebe neu geboren wurde.

 

 

Lachend sehe ich gerade meinem Mann zu, der mit unserer kleinen Adoptivtochter spielt. Sie hat in diesem Herbst eine neue Leidenschaft entdeckt – Basteln mit Kastanien. Auf dem Tisch stehen schon etliche Kreationen, Pferde, Hasen, Menschen. Das Kind ist äußerst kreativ.

 

Und ich, ich muss nicht mehr weinen bei dem Anblick der braunen Baumfrüchte. Zu den alten, sind viele neue Erinnerungen gekommen. Schöne Erinnerungen. Svens Liebe hat mein zerbrochenes Herz geheilt und ich liebe ihn genauso sehr, wie er mich. Es fällt mir auch nicht mehr schwer, ihm das immer wieder zu sagen.

 

Vor drei Tagen hat mich Carina, unsere Trauzeugin, angerufen. Sie hat erfahren, dass Jens schon jahrelang in Hamburg lebt. Zusammen mit seiner Frau. An dieser Stelle habe ich sie unterbrochen. Es ist mir ehrlich gesagt inzwischen völlig egal, was mit ihm ist. Ich will nicht wissen, wieso ein homosexueller Mann eine Frau heiratet. Arschlochvater hin oder her. Carinas und meine Mutter hatten beide recht: Wenn ich ihm soviel bedeutet hätte wie er mir, dann wäre er zu mir zurückgekehrt.

 

 

 

 

Ende

Imprint

Publication Date: 09-23-2014

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