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Treffpunkt Regenbogen

Doktor Bergenthal, kommen Sie bitte sofort in die Notaufnahme! Doktor Bergenthal dringend in die Notaufnahme!“

 

 

Die Stimme der Stationsschwester ertönt aus dem Lautsprecher in der Cafeteria und zeitgleich höre ich den schrillen Signalton meines Piepers. Als ich vom Stuhl aufspringe und hastig meine Tasse zurück auf den Tisch stelle, gieße ich mir beinahe den Rest vom Kaffee über den weißen Kittel. Mist, das hätte mir gerade noch gefehlt! Denn so wie Susannes Stimme klingt, habe ich keine Zeit mehr zum Umziehen.

 

Am Fahrstuhl angekommen sehe ich auf der Leuchttafel, dass er im Moment ganz oben im 9. Stockwerk ist. Das dauert mir zu lange, ich habe keine Zeit zum Warten. Also nehme ich die Treppe, sind glücklicherweise nur zwei Etagen, die ich im Laufschritt hinunter stürme.

 

 

Kaum reiße ich die Glastür zur Notaufnahme auf, da hält mir Susanne schon ein Klemmbrett mit den Patientendaten hin. Einweisung von Dr. Feldmann. Als ich den Namen des Patienten lese und die aktuelle Diagnose seines Hausarztes, ahne ich bereits, was mich gleich erwarten wird. Denn Wolfgang Vorndahl hat HIV im Endstadium. AIDS.

 

Er wurde in letzter Zeit wiederholt eingeliefert. Sein Immunsystem ist am Ende. Ausgeknockt von einem winzigen, unerbittlichen Feind, der keine Gnade kennt. Es ist gerade mal zwei Wochen her, dass er das letzte Mal hier war. Die Kollegen vom Spital haben alles versucht, um ihn zum Bleiben zu überreden. Aber er hat sich mit Händen und Füßen gewehrt. Hat immer wieder betont, dass er noch so lange wie möglich das Grab seines Mannes besuchen will. Zum Sterben bliebe ihm noch genug Zeit. Ich fürchte, diese Zeit ist jetzt um. Denn eigentlich habe ich ihn schon vorige Woche hier erwartet. Aber Wolfgang Vorndahl ist zäh, ein echter Kämpfer. Genau wie sein Mann es war.

 

 

Ich kann mich noch ziemlich genau an Christian Vorndahl erinnern. Er war einer der ersten AIDS-Patienten, die ich verloren hab. Als er starb, war Wolfgang bei ihm. Und nun ist er wohl der nächste, dem ich nicht mehr helfen kann. Etwas, woran ich mich wohl nie gewöhnen werde. Ich hasse dieses Gefühl der Ohnmacht, wenn der Tod bereits noch vor dem Kampf als Sieger feststeht. Und ich hasse diesen heimtückischen Virus, für den es immer noch kein Heilmittel gibt. Obwohl mittlerweile Medikamente entwickelt wurden, die die Infektion verlangsamen, aber nur bei sofortiger und lebenslanger Einnahme. Als Christian und Wolfgang infiziert wurden, gab es diese Helfer noch nicht, da HIV zu dem Zeitpunkt noch so gut wie unbekannt war.

 

 

Bevor ich das Notfallzimmer betrete, bitte ich Susanne noch, bei Ricky anzurufen, meinem Mann. Wird wahrscheinlich später werden, bis ich nach Hause komme. Ich will nicht, dass er sich Sorgen macht. Sie nickt nur, diese Telefonate ist sie schon gewöhnt.

 

Einen Moment lang bleibe ich noch vor der geschlossenen Tür stehen, um noch einmal tief durchzuatmen. Ich würde jetzt liebend gerne etwas zertrümmern, aber natürlich mache ich es nicht. Stattdessen öffne ich die Tür und betrete den Raum.

 

 

 

***

 

 

Schon beim Reinkommen höre ich das unregelmäßige Piepsen des EKGs. Herr Vorndahl liegt in dem Behandlungsbett, jemand hat bereits einen Zugang gelegt und eine Transfusion angehängt. Der Patient ist bleich, eine ungesunde, teigige Hautfarbe, die Lippen sind leicht bläulich. Auf den ersten Blick erkenne ich, dass er sich heute nicht mehr selbstständig entlassen wird. Wenn man wie ich, schon so viele Menschen hat sterben sehen, weiß man instinktiv, wenn es mal wieder soweit ist.

 

Ich trete an das Bett und begrüße ihn, noch ist er bei Bewusstsein. Seine Brust hebt und senkt sich in einem viel zu schnellen Rhythmus, er röchelt, bekommt kaum mehr Luft. Eine Lungenentzündung. Hatte er schon vor zwei Wochen, sie ist noch schlimmer geworden. Ich will ihn intubieren, aber er schüttelt mit dem Kopf. Also lege ich ihm nur eine Sauerstoffmaske an. Wolfgang Vorndahl hat eine Patientenverfügung hier im Krankenhaus hinterlegt, an die ich mich zu halten habe. Keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr. Ich kann ihn verstehen, denn eigentlich wäre es noch eine Verlängerung des Sterbens.

 

„Jetzt bin ich wohl bald bei Christian?“

 

Er flüstert, beinahe hätte ich ihn nicht verstanden. Seine Stimme ist leise und heiser. Er hat fast keine Kraft mehr zum Sprechen.

 

Ich nicke stumm. Alles andere wäre unehrlich.

 

„Wissen Sie Doktor, er wartet schon so lange auf mich. Da muss ich mich wohl beeilen...“

 

Er kann nicht weitersprechen, wird von krampfhaftem Husten geschüttelt. Ich will ein Medikament injizieren, dass seine Atemmuskulatur entspannt, aber wieder lehnt er ab. Dabei will ich ihm doch nur das Sterben erleichtern.

 

Er hustet immer noch, das Atmen fällt ihm immer schwerer. Dazwischen redet er über seinen verstorbenen Mann.

 

„Christian wartet auf mich am Ende des Regenbogens.“

 

„Am Ende des Regenbogens?“, frage ich verblüfft.

 

„Ja, das ist unser verabredeter Treffpunkt. Er hat mir zuletzt versprochen, da auf mich zu warten.“

 

Wolfgang Vorndahl verliert in der nächsten Stunde zeitweilig das Bewusstsein. Seine Lippen sind ganz blau. Sauerstoffmangel. Aber als ich schon für ihn hoffe, er würde einfach einschlafen, wie damals sein Partner, erwacht er doch noch einmal. Ich streiche beruhigend über seine Hand, ich kann ohnehin nichts mehr für ihn tun.

 

Das EKG schlägt Alarm, deshalb schalte ich es auf lautlos. Plötzlich lächelt mein Patient und flüstert noch einmal den Vornamen seines Mannes.

 

„Christian!“

 

Seine Augen blicken an mir vorbei, so als würde wirklich jemand hinter mir stehen. Ich bekomme eine Gänsehaut, als ich ihn ansehe. Da ist keine Todesangst zu erkennen, ganz im Gegenteil, er scheint sich über etwas zu freuen.

 

Das Signal des EKGs wird immer langsamer, bis es ganz aussetzt.. Auf dem Monitor ist nur noch eine durchgezogene Linie zu sehen. Ich überprüfe noch einmal die Reflexe und das Fehlen eines Herzschlags. Dann schließe ich seine Augen.

 

„Zeitpunkt des Todes – 20.45Uhr.“ Mischa, der anwesende Krankenpfleger, notiert die Zahlen.

 

Die medizinischen Geräte werden nicht mehr benötigt, ich schalte sie aus. Dabei sehe ich zufällig auf das halbvolle Wasserglas auf dem Nachttisch. Gerade fallen die letzten Strahlen der untergehenden Sommersonne darauf und lassen die geschliffenen Kristallprismen aufleuchten. Die Lichtreflexe tanzen genau auf Wolfgang Vorndahls friedlich lächelndem Gesicht. Es sieht aus, wie unzählige kleine Regenbögen.

 

 

Mir ist schrecklich kalt und doch ist da auch Hoffnung. Ich wünsche für ihn, dass er nun wieder mit seinem Mann zusammen ist. Jenseits von Zeit und Raum.

 

Zum Schluss fülle ich noch einige Formulare aus, darunter auch den Todesschein. Dann verlasse ich den Behandlungsraum.

 

 

Draußen im Flur steht überraschend Ricky vor mir und sieht mich besorgt an. Ich schätze mal, Susanne hat ihm Bescheid gegeben. Sie kennt mich nach all den Jahren, in denen wir zusammen arbeiten, nur zu gut. Und sie weiß, wie sehr es mich noch immer umhaut, dem Sensenmann das Feld überlassen zu müssen. Etwas, woran ich mich nie gewöhnen werde und auch nicht will.

 

Ricky nimmt mich wortlos in die Arme und ich lasse meinen Kopf auf seine Schulter sinken. Er streicht mir beruhigend über den Rücken.

 

„Alles in Ordnung, Sascha?“

 

Ich nicke nur wortlos und genieße die Umarmung. Rickys Wärme hat etwas ungemein Tröstliches und das Zittern hört allmählich auf.

 

 

 

***

 

 

Wenig später sitzen wir im Auto, ich auf dem Beifahrersitz. Ricky hat heftig protestiert, als ich fahren wollte. Ist bestimmt auch besser so, denn immer noch muss ich an die letzten Worte meines Patienten denken.

 

Als mein Ehemann und ich dann eine halbe Stunde später zuhause auf der Couch sitzen, erzähle ich ihm vom Treffpunkt Regenbogen. Ricky sieht mich zärtlich an.

 

„Würdest du da auch auf mich warten?“

 

Ich küsse ihn sanft auf den Mund.

 

„Ich würde überall auf dich warten, mein Schatz. Aber am Fuße des Regenbogens klingt irgendwie romantisch.“

 

Als Ricky nickt, dann den Kuss vertieft und seine Hände zielsicher über meinen Körper gleiten, habe ich nur noch einen Wunsch, nämlich dass ich es bin, der irgendwann und irgendwo auf ihn warten wird. Denn ein Leben ohne meinen geliebten Mann kann und will ich mir nicht mehr vorstellen.

 

 

 

 

 

Ende

 

 

 

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Publication Date: 07-23-2014

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