Sanft spiegelte sich die Silhouette des Mondes vor mir auf dem Wasser. Nur ganz leicht bewegte sich das Meer. Ein kalter Wind trieb die Härchen auf meinen Armen in die Höhe. In meinem dünnen Sommerkleid musste ich einen ungewöhnlichen, wenn nicht sogar erbärmlichen Eindruck erwecken, doch das war mir egal. Ich hatte bereits mit anderen Temperaturen gekämpft. Langsam schlüpfte ich aus den braunen Riemchensandalen, die für den anstehenden Herbst schon lange nicht mehr geeignet waren. Meine Füße versanken im Sand. Drei Schritte etwa, dann hätte ich das kühle Nass erreicht. Und wenn ich das Meer erst um meine Knöchel spürte, war der Weg nicht mehr weit. Prüfend schaute ich gen Himmel, aber der volle Mond stand friedlich am Firmament. Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen, als ich mein braunes Haar im Nacken zu einem losen Zopf flocht. Heute war es wieder soweit. Wie viele Tage hatte ich auf diesen Moment warten müssen, wie viele Tränen waren geflossen, wie viele harte Worte gefallen? Ein Blick über meine Schulter ließ mich ruhiger werden. Um diese späte Uhrzeit befand sich keine Menschenseele mehr am Strand, ich war allein. Völlig allein. Und genauso musste es auch sein.
Langsam, beinahe wie in Trance, setzte ich mich in Bewegung. Schon bald stand ich knietief im Wasser, das mich erfrischte, ebenso wie es mich belebte. Ein angenehmes Kribbeln fuhr mir durch den Körper. Die Spiegelung des Mondes war bereits mit Händen greifbar. Ich hob mein Kleid ein Stück an und ging weiter.
Keine Worte dieser Welt konnten den Ort beschreiben, an dem der Mond das Meer küsste. Keine Worte dieser Welt konnten das Gefühl beschreiben, das ich empfand, so kurz bevor es geschah. Tief durchatmend nahm ich die letzte Distanz. Mein rechter Fuß hob sich an, stellte sich mitten in die Spiegelung des hellen Kreises und zog den linken nach. Tränen des Glücks flossen an meinen Wangen hinab, eine zentnerschwere Last fiel von meinem Herzen. Gleich würde er kommen, gleich war er da und alles hatte wieder einen Sinn. Yaiden, wo bleibst du? Voller Vorfreude blickte ich mich um. Mein Körper war zum Zerreißen gespannt. Nach endlos langen Tagen würde ich ihn heute wiedersehen.
Mir war, als fielen hunderttausende Sterne vom Himmel, als sich seine Gestalt im Glanz des Mondlichts langsam materialisierte. Lächelnd nahm ich zur Kenntnis, dass er mir heute noch besser gefiel als die vielen Male davor. Yaiden trug ein weißes Hemd mit schwarzer Hose und obgleich er sich aus den Fluten erhoben hatte, war er vollständig trocken.
Ich legte meine Hand in die seine und ließ mich langsam von ihm aufs Wasser hinausziehen. Je weiter wir zum Zentrum des Meeres gelangten, um so lauter wurde die Melodie. Sanfte Klänge umspielten uns und hielten uns gefangen. Immer stärker spürte ich die Macht, die davon ausging. Mein Haar tanzte im Wind und ich fühlte Yaidens Hand an meinem Rücken. Seine andere war immer noch mit meiner verschränkt. Vorsichtig bewegten wir uns im Rhythmus der Melodie. Immer mehr spürten wir die Magie ins uns aufsteigen, während wir im Mondlicht übers Meer tanzten. Der Moment war so vollkommen. Ich konnte mich in seinen glänzenden Augen verlieren und alles um mich herum vergessen. Der Augenblick konnte nicht schöner sein. Eine lange Zeit musste ich darauf warten und jetzt war es endlich wieder soweit. Ich reckte das Kinn und sah ihm tief in die Augen. Nur noch wenige Zentimeter trennten unsere Gesichter voneinander. Doch noch ehe sich unsere Lippen trafen, hörte ich jemanden meinen Namen rufen.
“Emma!”
Das kann doch nicht sein, dachte ich entsetzt, ehe ich mich im eiskalten Wasser wiederfand. Allein. Der Moment war zerstört, die Magie und Yaiden waren weg. Den Zauber den ich bis vor wenigen Augenblicken empfunden hatte, hatte sich in nichts aufgelöst. Dicke Tränen liefen über meine Wange und mich fror sehr entsetzlich. Mit aller Kraft schwamm ich wieder dem Ufer zu, mit den Gedanken bei Yaiden. Das Leben war nicht fair. Wieso konnte er nicht ein normaler Junge, wie alle anderen auch sein, warum war er anders. Ich spürte wie die Kräfte langsam aus meinen Gliedern schwanden. Unbändige Wut ließ mich aber bis zum Ufer durchhalten, wo ich dann schlussendlich zusammenbrach.
“Emma,.. Emma, was machst du hier draußen nur?”, nahm ich eine Stimme nur schemenhaft war. Vorsichtig richtete ich mich auf und sah ihn an. Ich musste ein paar Mal blinzeln bis ich die Gesichtszüge erkannte. Nein, es war nicht Yaiden, der mich da im Arm hielt, es war der Nachbarsjunge Ben.
“Geh,.. geh weg”, schluchzte ich. “Du,.. du hast alles kaputt gemacht,..”, fuhr ich fort und stieß mich von ihm weg. So gut es ging, rappelte ich mich hoch und lief auf wackeligen Beinen vor ihm weg. Doch schon kurze Zeit später hatte er mich wieder eingeholt und packte mich am Handgelenk.
“Wovon zum Teufel sprichst du, Emma?”, sprach er und Angst schwang in seiner Stimme mit. Sogern ich mich von ihm losreißen wollte, so wenig gelang es mir.
Sein Griff war fest, besitzergreifend und gab mir keine Chance, zu entkommen. Seufzend sah ich Ben in die Augen.
“Was willst du von mir?”, fragte ich verzweifelt. “Und was hast du hier überhaupt zu suchen?”
Ben hielt mich mit seinem Blick gefangen. Auf eine gewisse Art und Weise sah er traurig aus. Ich legte den Kopf schief.
“Das ist nicht das erste Mal das ich dich hier sehe”, stammelte er vor sich hin und ließ meine Hand los. Nun hätte ich reintheoretisch entkommen können, stattdessen sah ich Ben wütend an.
“Spionierst du mir etwa nach?”, blaffte ich ihn unfreundlich an, doch er hob entschuldigend die Hände.
“Beruhig dich, Emma”, faselte er, aber der Zorn hatte sich in meinen Augen festgesetzt.
“Hast du kein eigenes Leben oder was?” Wutschnaubend ging ich von dannen und dachte nicht daran, meine Schuhe mitzunehmen. Zorn loderte in mir, als ich den Sandstrand hinter mir ließ und den kleinen Weg hinunter zu unserem Haus antrat. Was fiel diesem Ben ein, mir hinterherzuspionieren? Wer hatte ihm das Recht gegeben? Tagelang hatte ich mich auf diesen Tag gefreut und nun war alles kaputt! Yaiden ging, sobald ein anderer Mensch in meinem Sichtfeld auftauchte. Deshalb war die Nacht so gut, um ihn zu sehen. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass Ben Willkins auftauchen würde und noch dazu zu dieser Zeit!
Ich drehte mich nicht um, wollte nicht wissen, ob er mir vielleicht noch immer folgte. Nichts würde seinen Fauxpas gutmachen können. Wut flammte in mir auf, als ich an sein kantiges Gesicht und den neugierigen Blick dachte. Schon in meiner Kindheit hatte ich ihn nicht ausstehen können.
Als ich zu Hause angekommen war, bückte ich mich und holte den Schlüssel unter der Fußmatte hervor. Leise entsperrte ich die Tür und schlüpfte wie ein Geist in die Wohnung. Ich durfte auf keinen Fall Gefahr laufen, jemanden zu wecken, wenn ich nicht Lust hätte, hunderte neugierige Fragen zu beantworten. Wie eine Einbrecherin stahl ich mich die Treppe hinauf und konnte erst richtig durchatmen, als ich die Tür zu meinem Schlafzimmer hinter mir zugezogen hatte. Auch im Dunkeln sah ich das aufgeschlagene Tagebuch auf meinem Schreibtisch. Nur zu deutlich erinnerte ich mich an jene Worte, die ich vor weniger als drei Stunden noch voller Hoffnung niedergeschrieben hatte:
Ich zähle die Minuten und mir fällt auf, dass die Zeit nicht vergeht. Ebenso wie in den letzten Wochen scheint sie einfach stehengeblieben zu sein. Die große Uhr an der Wand verrät mir zwar das Gegenteil, aber ich glaube, dass sie immer, wenn ich wegschaue, heimlich wieder eine halbe Stunde zurückspringt.
Weiter konnte ich nicht mehr lesen, ohne dass es mir schon wieder Tränen in die Augen jagte. Die Hoffnung der letzten Zeilen würde ein ein riesengroßes Loch in meinem Herzen hinterlassen. Ich klappte es zu und sah die silbernen ineinander geschlungenen Verzierungen auf dem azurblauen, schimmernden Hintergrund, im Mondlicht glänzen. Ich drückte das Buch gegen meine Brust und sah ein letztes Mal zum majestätischen Himmelsgestirn hinauf. Dann wandte ich mich vom offenen Fenster weg, welches das Rauschen des Meeres hereintrug und mich wieder an ihn denken ließ.
Yaiden, ich vermisse dich, flüsterte ich leise. Ich sank aufs Bett und versteckte mein Tagebuch unter dem Kissen. Mit zitternden Händen versuchte ich meine Haare aus dem Zopf zu lösen, was mir mir auch mehr oder weniger gelang. Erst als ich unter die Decke gekrochen war, fiel mir auf, dass ich noch immer das Kleid anhatte. Ich spielte mit dem Gedanken, noch einmal aufzustehen und mich umzuziehen, ließ es aber bleiben. So konnte ich diese Nacht noch ein wenig in Yaidens Nähe sein, auch wenn ich nur seinen Duft wahrnehmen konnte. Mit dem salzigen Geruch des Meeres, gemischt mit der Essenz der Wasserlilie, schlief ich nun endlich ein.
Dieses Mal war es nicht Ben, sondern mein Wecker, der mich aus süßen Träumen riss. Gerade noch hatte mich Yaiden im Arm gehalten, als ich auch schon panisch die Augen aufriss, um erkennen zu müssen, dass es hellichter Tag war und ich wahrscheinlich zu spät zur Schule kommen würde, wenn ich mich nicht sputete. Ich gähnte einmal kollektiv, riss mich dann zusammen, schlug die Decke von mir und stand auf. Vorher schaltete ich noch den Wecker aus. Meine Schultasche stand bereits gepackt in der Ecke. Nach einer kurzen Dusche suchte ich mir blindlings mein heutiges Outfit zusammen. Über Mode machte ich mir im Allgemeinen wenig Gedanken, überhaupt besaß ich kein Händchen dafür, ob Dinge “in” oder “out” waren. Wenn mir etwas gefiel, kaufte ich es und kümmerte mich nicht darum, was meine Klassenkameraden dazu sagten. Schnell schlüpfte ich in die enge, dunkelblaue Hose und das graue Oberteil mit dem Zebramuster. Meine Haare, nass wie sie waren, würden auf dem Weg trocknen müssen. Nachdem ich Hals über Kopf nach unten gestolpert war, schmierte ich mir in der Küche ein Brot, bevor ich nach meiner Jacke griff, den Schlüssel packte und mein Fahrrad belud, das vor dem Haus stand. Da ich mich nur ein Schuljahr vor dem Abitur befand, wurde der örtliche Bus nicht mehr für mich bezahlt und es war nicht genügend Geld da, um mir eigens Tickets zu kaufen. Folglich hatte ich also die Wahl, früher aufzustehen und die vier Kilometer mit dem alten Fahrrad hinter mich zu bringen oder...nun gut, eigentlich hatte ich keine Wahl. Denn zu Fuß unterwegs zu sein war keine rechte Option. Seufzend löste ich den Ständer, befestige noch einmal die Tasche am Gepäckträger und setzte mich langsam in Bewegung. Für meine 1,72m war das Fahrrad schon viele Jahre lang viel zu klein, aber meine stundenweise Aushilfearbeit in einem Café hatte noch nicht gereicht, um mir ein neues kaufen zu können. Wenn ich daran dachte, dass andere Jugendliche in meinem Alter schon ein eigenes Auto besaßen, wurde mir schlecht. Schon der Gedanke an den Führerschein lag für mich in unerreichbarer Ferne. Mein Vater war vor fünf Jahren gestorben und hatte nicht viel mehr als einen Berg Schulden hinterlassen, den meine Mutter, meine Schwester Kimberley und ich nun gemeinsam abarbeiten mussten.
Seufzend blieb ich an der ersten roten Ampel stehen. Auf meinem Weg in die Schule begegneten mir exakt dreizehn Lichtsäulen und nur die wenigsten begrüßten mich mit einer grünen Welle. Der Sekundenzeiger auf meiner Uhr raste nach vorn, als mir sarkastischerweise bewusst wurde, dass die Zeit nun, wo ich in Eile war, wieder viel zu schnell verstrich. Es war zum Haareraufen!
Das Auto neben mir nahm mir die Vorfahrt und hupte wild, als es mich überholte. Als der Fahrer mich bitterböse ansah, konnte ich nur den Kopf schütteln. Mit einem Drahtesel war man nun mal nicht so schnell wie mit einem Audi. Nacheinander trat ich die Pedale durch und fuhr die gerade Straße entlang. Gewöhnlicherweise brauchte ich für meinen Schulweg eine halbe Stunde und war, wenn ich Glück hatte, pünktlich auf die Minute da. Heute aber wurde die Zeit zu meinem ärgsten Feind. So schnell ich auch in die Pedale trat, die Minuten verstrichen wie Sekunden. Völlig abgehetzt erreichte ich um zehn nach acht das graue Schulgebäude.
“Miss Garcia, schön Sie auch im Unterricht begrüßen zu dürfen!”, sprach Mr. Benett, unser Mathematiklehrer, als ich ins Klassenzimmer geplatzt war und bat mich zu setzen. Unter den belustigten Blicken der anderen, hastete ich zu meinem Platz in der dritten Reihe am Fenster und holte meine Bücher, mein Schreibzeug und meinen Taschenrechner hervor. Als Mr. Benett die ungeteilte Aufmerksamkeit der Schüler wieder bei sich hatte, driftete ich mit meinen Gedanken ab. Erst meine Sitznachbarin und beste Freundin Mara holte mich wieder in die grausame Realität, weit von Yaiden weg.
“Du bist wieder mit deinen Gedanken bei ihm, stimmts?”, sah sie mich mitfühlend an und legte mir sanft ihre Hand auf meinen Arm. Sie war die einzige, die von ihm wusste und auch dass ich mich ab und zu nächtens mit ihm traf. Doch, dass er kein normaler Junge war, wusste auch sie nicht. Ich nickte und wandte mich wieder meinem Arbeitsblatt zu, wo wir verschiedene Textaufgaben zu lösen hatten. Ich konnte von Glück reden, dass ich nie Schwierigkeiten in Mathematik hatte, im Gegenteil, es fiel mir sogar leicht, sodass ich oft Mara Nachhilfe gab. Im Gegenzug dazu, versuchte sie mir verschiedene Schmink- und Stylingtipps beizubringen, da sie immer meinte, ich könnte so viel mehr aus meinem Typ machen. Doch im mochte meine Natürlichkeit. Der Blick auf die Uhr verriet mir, dass es gleich Pause war. Der erlösende Gong ließ nicht lange auf sich warten. Mara und ich packten unsere Sachen zusammen und schlenderten gemeinsam nach draußen, wo es zwar kühl war, aber zumindest die Sonne schien.
“Und wie war dein Treffen mit Yaiden, habt ihr euch endlich geküsst?”, platzte sie auch sogleich heraus, als wir unseren Stammplatz unter der großen Eiche erreicht hatten.
Auch wenn sie ziemlich neugierig war, war ich froh mit jemanden darüber reden zu können. Ich musterte ihr Gesicht, welches von von schönen rostroten Wellen umrahmt wurde. Moosgrüne Augen starrten mich gespannt an und warteten auf Antwort.
“Nun gut”, seufzte ich. “Ich kann ja ohnehin nichts vor dir verbergen. Es war wirklich schön ihn endlich wieder zu sehen. Ich fühlte mich so glücklich, frei und geborgen und hätte uns dein Bruder der Idiot nicht gestört, hätten wir uns auch geküsst”, erzählte ich.
An ihrer Reaktion merkte man, dass es ihr ehrlich leid tat, obwohl sie gar nichts dafür konnte.
“Das tut mir so leid für dich, Emma. Ich werde mit ihm reden, wenn du das willst”, stammelte sie zerknirscht. Ich zog sie in meine Arme und flüsterte ein leises “lass gut sein.”
Seufzend wühlte ich in meiner Tasche herum und förderte einen nicht mehr ganz so frisch aussehenden Apfel zutage. Ich biss hinein, kaute auf der Frucht herum und dachte nach.
“Diese ganze Sache ist einfach…”, unterbrach mich Mara und schaute mich mitfühlend an, “sie ist so gigantisch und fantastisch, dass sie mir bei Weitem über den Kopf wachsen würde.”
Ich ließ den Apfel in meiner rechten Hand liegen, als ich ihr antwortete.
“Nicht nur dir würde sie über den Kopf wachsen. Ich weiß ja gar nicht mehr, woran ich eigentlich bin. Ich hatte so sehr gehofft, dass die gestrige Nacht Ordnung in mein geistiges Durcheinander bringen würde, aber alles ist genauso neblig wie vorher.” Traurig sah ich sie an. Mara fuhr sich durch die Haare und biss sich leicht auf die Unterlippe, was sie immer tat, wenn sie nachdachte.
“Du müsstest mal wirklich mit ihm sprechen können. Ihm Fragen stellen und Antworten bekommen. Ich meine, was weißt du mehr über ihn als seinen Namen? Und wer weiß, ob der nicht ausgedacht ist! Yaiden klingt für mich eher nach einem Wesen aus einer Fantasywelt. Bei uns in der Stadt heißen die Jungen jedenfalls nicht Yaiden.”
Mein Blick verfinsterte sich, als ich an Ben dachte. Er legte eine ordentliche Portion Tollpatschigkeit an den Tag und störte mich mehr als mein eigenes Spiegelbild nach einer durchzechten Nacht.
“Emma, was weißt du über ihn?”, holte Mara mich in die Wirklichkeit zurück und wiederholte die eine Frage, die ich nicht beantworten wollte. Verzagt sah ich sie an. Sie wusste genau, dass sie meinen wunden Punkt gefunden hatte, doch verzichtete darauf, das Thema totzuschweigen.
“Es ist nicht so, wie du denkst…”, murmelte ich und sah an ihr vorbei. Sehnsüchtig blickte ich auf die Uhr, doch die nächste Schulstunde würde erst in zehn Minuten beginnen.
“Wie ist es dann?”, hakte Mara nach. “Was weißt du über den geheimnisvollen Fremden, in den du dich verliebt hast?”
“Ich...es sind nicht die Details, die zählen, weißt du?”, zog ich mich aus der Affäre. “Eine gute Beziehung macht doch nicht aus, dass man alles über den anderen weiß. Dann...würde es ja langweilig werden und das will ich nicht.” Bevor Mara mich unterbrechen konnte, fuhr ich fort.
“Es ist das Gefühl, das ich verspüre, wenn ich bei ihm bin. Es sind die gestohlenen Minuten, die zu den wertvollsten meines Tages werden. Es ist die Art, wie er einfach für mich da ist, ohne neugierige Fragen zu stellen.” Sehnsüchtig wandte ich meinen Blick gen Himmel. Ich fürchtete mich schon vor den Tagen, an denen kein voller Mond am Firmament stehen würde.
“Was macht ihr eigentlich so, wenn ihr zusammen seid?”, fragte Mara schüchtern.
Ich zuckte mit den Achseln.
“Keine Ahnung. Wir reden. Gehen am Strand entlang. Halten uns an der Hand. Er fragt, wie mein Tag gewesen ist und ob ich ihn vermisst habe.”
“Und du erzählst ihm alles?” Auf eine seltsame Art und Weise klang Mara anprangernd.
“Was heißt schon ´alles´?”, hakte ich nach und sah auf meine Schuhe. “Mein Leben ist kein Geheimnis, er kann ruhig erfahren, mit welchen Aktivitäten ich meine Zeit nutze. Daran ist doch nichts Verwerfliches.”
“Natürlich nicht”, bekräftigte mich Mara. “Sogar ganz im Gegenteil. Es ist normal, sich erst einmal kennenzulernen. Du erfüllst somit den Part einer Beziehung. Aber er…” Sie legte den Kopf schief.
Wie immer, wenn sie Yaiden in Verruf zog, überkam mich das immense Bedürfnis, ihn zu verteidigen.
“Er ist verschlossen, das gebe ich zu. Vielleicht auch ein wenig schüchtern. Aber muss das denn gleich etwas Schlimmes sein? Du weißt, dass ich nicht auf die Machotypen stehe, die jede Nacht eine neue Braut ihr Eigen nennen.”
“Und du weißt, dass ich darauf gar nicht hinauswollte”, konterte Mara und brachte mich zum Seufzen.
“Was erhoffst du dir davon, Yaiden? Bin ich dir nicht gut genug, oder was?”, schnaubte Yena, während sie wütend im Raum auf und abschritt. Hätte sie nicht auf ihr mulmiges Bauchgefühl gehört und wäre sie Yaiden nicht in die Menschenwelt gefolgt, hätte sie es wahrscheinlich nie von ihm persönlich erfahren. Unsanft packte sie ihn an den Schultern.
“Rede endlich mit mir, verdammt noch Mal!”. Ihre Augen glitzerten verächtlich und Tränen sammelten sich in ihnen.
“Ich,.. ich weiß es doch auch nicht. Es ist so anders, wenn ich mit ihr zusammen bin, ich fühle mich so vollkommen. Verstehst du, Yena?”, versuchte er sie zu beruhigen. Ihm war die Sache furchtbar unangenehm, vor allem dass es Yena war, seine ihm Zugeteilte, die ihn erwischt hatte. Nervös fuhr er sich durch sein silbrig glänzendes Haar und wünschte sich, er könnte die Gefühle für Emma rückgängig machen und Yena so lieben, wie sie es verdient hatte. Aber das Leben war kein Wunschkonzert. Er hatte sich unwiderruflich in dieses Menschenwesen verliebt. Es war in einer lauen Sommernacht gewesen, wo er für einen Auftrag in der Menschenwelt unterwegs war. Der volle Mond prangte am Himmel und tauchte die Umgebung in silbriges Licht. Als er gerade wieder am Rückweg nach Ayovan war, sah er sie. Diese kleine Gestalt, die in der Dämmerung auf einem Felsen saß und in die Ferne schaute. Ihm gefielen ihre widerspenstigen zartbitterbraunen Haare, wie sie in der Brise tanzten. Lautlos näherte er sich ihr und prägte sich ihre sinnlichen Lippen ein, die er nur zu gern einmal berühren würde. Das Rauschen des Meeres gab ihm den letzten Kick und die nötige Energie sich erkenntlich zu machen.
“Hallo..”, flüsterte er in die Nacht und trat den letzten Schritt auf sie zu. Das Mädchen zuckte kurz ängstlich zusammen und wandte schließlich ihr Gesicht ihm zu. Als er in ihre meerblauen Augen sah, da hörte er es. Ganz leise ertönte eine Melodie, die zarter nicht hätte sein können. Sanft wurde er von den Klängen eingehüllt und er lernte etwas kennen, ein Gefühl, welches er nie zuvor verspürt hatte. Sehnsucht.
“Hallo..”, hauchte sie und starrte ihn nach wie vor an. Ihm war es nicht entgangen, dass auch er in ihr etwas entfacht hatte.
“Darf ich um einen Tanz bitten, liebe.. äh”, begann er.
“Emma. Ja gerne!”, vollendete sie seinen Satz und hielt ihm ihre Hand hin.
“Yaiden! Mein Name ist Yaiden”, sprach er und zog sie vom Felsen hoch.
“Ein ungewöhnlicher, wenngleich aber auch sehr schöner Name,” erklärte sie und ließ sich von ihm in Tanzposition bringen.
“Du hättest sie beinahe geküsst, verdammt. Und dann wäre es zu spät gewesen. Hörst du mir überhaupt zu?!”, riss Yena ihn aus seinen Gedanken.
“Ich weiß, ich weiß”, verteidigte er sich.
“Wir müssen etwas dagegen unternehmen. Du wirst dieses Mädchen nicht mehr sehen, du wirst sie vergessen, sonst...”, drohte sie ihm mit einem gefährlichen Unterton. Mit Yena war wirklich nicht zu spassen.
“Was sonst? Und wie bitte soll ich dieses Mädchen je vergessen können?”, blaffte er zurück.
“Das wirst du dann schon noch früh genug sehen!”, waren ihre letzten Worte die sie ihm an den Kopf knallte ehe sie aus der Tür rauschte.
Yena hatte Recht, es war ein gefährliches Spiel, das er spielte und er sollte damit aufhören bevor es endgültig zu spät war. Aber konnte und vor allem wollte er das auch? War ihm diese Liebe, dieses Risiko wert? Er wusste keine Antwort darauf. Er war im Zwiespalt gefangen. Auf der einen Seite war der Stolz und die Treue gegenüber seinem Volk und vor allem Yena, die die mit ihm den Rest seinen Lebens verbringen sollte und auf der anderen Seite war Emma und diese einzigartigen Gefühle die sie in ihm auslöste. Zum erstem Mal tat er etwas, was er noch nie zuvor in seinem Leben getan hatte. Er weinte.
* * *
Nach Schulschluss blieben mir exakt sechunddreißig Minuten, bis ich meine Schicht im Café antreten musste. Hierbei handelte es sich um einen kleinen Betrieb, der seit drei Generationen in Händen derselben Familie war. Durch meine Mutter, die mit dem früheren Besitzer befreundet war, hatte ich den Job bekommen. Oberflächlich gesehen hätte ich dankbar sein sollen und auf eine gewisse Weise war ich das natürlich auch. Ich brauchte das Geld, das ich dort verdiente, mehr als dringend und die Arbeit hätte bei Weitem auch härter sein können. Trotzdem erledigten sich Sechsstundenschichten, die ich nach der Schule schieben musste, nicht von allein. Für Hausaufgaben, Freunde oder gar Hobbys blieb da wenig Zeit. Nicht selten hing mir Mara in den Ohren und fragte, wenn ich endlich mal wieder mit ihr einen Stadtbummel unternehmen oder einen Filmabend veranstalten würde. Es tat mir weh, sie ewig auf später vetrösten zu müssen, aber momentan ging es nicht anders. Die Familie brauchte Geld und das stellte meine oberste Priorität dar.
Als ich völlig außer Atem das “Chicletta” erreichte, stellte ich im Handumdrehen mein Fahrrad in den dafür vorgesehenen Ständer und sperrte es ab. Noch im Hineingehen kramte ich in meiner Tasche nach der Kleidung, die ich im Cafe würde tragen sollen. Ich lächelte kurz, als ich den halblangen braunen Rock und die weiße Bluse betrachtete. Es hätte mich weitaus schlimmer treffen können. Meine Chefin Samira hatte die ganze Woche Urlaub, eine weitere Mitarbeiterin war ausgefallen. Man brauchte meine Arbeitskraft momentan mehr als dringend. Schon von Weitem sah ich eine Menschenschlange an der Bar stehen und seufzte leise. Dies versprach ein aufregender Tag zu werden.
“Na endlich, Emma!”, rief mir Claire von der Seite zu. Die hübsche Brünette arbeitete mit mir Hand in Hand im Chicletta. Heute stand ihr der Schweiß auf der Stirn, ohnehin sah sie sehr gestresst aus. Sie kam hinter der Bar hervor, warf mir eine frische Schürze zu, und meinte:
“Heute ist echt die Hölle los, Emma! Ohne dich hätte ich das hier keine weitere Stunde überlebt.”
“Ich bin ja da”, murmelte ich schnell und band mir die Schürze um. Die Schlange der Gäste schien gar kein Ende nehmen zu wollen, wurde länger und länger. Zwei Stunden lang arbeiteten Claire und ich ohne Unterlass. Trotz vereinter Kräfte wurde der Betrieb nicht weniger. Dies würde sich erst gegen 16 Uhr gelegt haben.
“Wie war die Schule?”, fragte Claire mich, als wir uns beide an der Kaffeemaschine trafen. Ich zuckte mit den Schultern.
“Wie immer. Ich bin zu spät gekommen, die Fächer sind an mir vorbeigeflogen…”
“Tstststs…”, neckte sie mich und hob mahnend den Finger. “Ich an deiner Stelle würde im Unterricht lieber aufpassen. Sieh, was aus mir geworden ist!”
Claire arbeitete ganztags in dem kleinen Café, da sie mit gerade einmal sechzehn Jahren die Schule abgebrochen hatte, um auf eigenen Beinen zu stehen.
Die letzten zwei Stunden zogen sich dahin. Draußen schien die Sonne und anstatt die Natur zu genießen, stand ich schwitzend hinter dem Tresen und bediente die Gäste.
“Emma, ich gehe ins Lager, Kaffee und Zuckertütchen holen. Kannst du mal eben übernehmen?”, fragte mich Claire, während ich gerade dabei war, das Geschirr in der Küche zu waschen. Da meine Hände mittlerweile runzelig waren, war dies ein willkommener Anlass dem schmutzigen Abwaschwasser den Rücken zu kehren. Der Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich ohnehin nicht mehr sehr lange durchhalten müsste. Ich drehte eine Runde durchs Chicletta und sammelte schmutziges Geschirr ein und nahm noch die eine oder andere Bestellung auf. Als ich am Weg zurück zum Tresen war, sah ich dort jemanden, mit dem Rücken zu mir, lehnen. Als ich das Tablett an der Bar abstellte,und die Bestellungen an die dafür vorgesehene Pinnwand hängte, drehte sich der junge Mann zu mir um.
“Hast du kurz Zeit, ich würde gern mit dir reden. Außerdem hab ich hier noch was für dich”, sprach er leise und hielt dabei ein Paar brauner Riemchensandalen in die Höhe.
“Was willst du Ben? Du siehst doch dass ich arbeiten muss und außerdem hättest du sie mir auch vor die Haustüre stellen können”, blaffte ich ihn unfreundlich an und war noch immer tierisch sauer auf ihn.
“Du hast doch bald Feierabend, lass uns gemeinsam nach Hause gehen und wir reden ein bisschen, bitte Emma”, überging er meinen Kommentar und sah ehrlich ein wenig zerknirscht aus. Ob es ihm leid tat?
“Emma, du kannst den Laden jetzt wieder mir überlassen. Ich schaff das jetzt alleine. Geh du nur und mach dir noch einen schönen Abend”, wandte sich meine Kollegin an mich, als sie vollbeladen mit Kaffeepackungen und Zuckertütchen an mir vorbeischritt.
“Danke Claire!”, bedankte ich mich und machte mich auf den Weg in die Garderobe. Dort schälte ich mich aus meinem Arbeitsgewand und schlüpfte in ein weißes Tank-Top und meine graue Jeans und zog dazu mein rot-blau kariertes Karohemd an. Beim Rausgehen schnappte ich mir noch meine Tasche und verabschiedete mich von Claire.
“Bis übermorgen.”
Ich schritt auf die Tür zu und Ben folgte mir wortlos.
Während ich versuchte, mein Fahrrad zu entsperren und meinen Nachbarn geflissentlich zu ignorieren, stellte er sich immer wieder in mein Sichtfeld, sodass mein Plan sofort in alle Einzelteile zerfiel. Wohin ich auch sah, überall hatte ich sein Gesicht vor meinen Augen. Irgendwann gab ich seufzend auf.
“Kannst du es bitte kurz machen?”, bat ich ihn und blickte bereits auf meine Armbanduhr. Normalerweise beeilte ich mich nach der Arbeit immer, nach Hause zu kommen. Und auch heute würde ich noch zahlreiche Schularbeiten zu erledigen haben.
Ben verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Unruhig drehte er mit den Fingern Däumchen und senkte seinen Blick.
“Mara hat eben mit mir gesprochen”, brachte er schließlich drucksend hervor.
Aha. Darum ging es also.
“Und?” Gedehnt sah ich ihn an. Kostbare Sekunden und Minuten rannen mir durch die Finger, die ich nie würde zurückbekommen.
“Ich wollte nur noch mal sagen, dass es mir leid tut”, begann Ben und sah mich wieder an. “Ich hatte nicht vor, dich zu beobachten, aber irgendwie … verzauberst du mich.”
Verdutzt hob ich den Kopf, sah ihn zweifelnd an.
“Ich verzaubere dich?”, wiederholte ich seine Worte mit Ungläubigkeit.
“Ja. Keine Ahnung. Es ist schon länger so.” Schüchtern vergrub er die Hände in den Taschen seiner Jeans und kickte mit dem rechten Fuß einen Stein vom Boden weg.
“Ben….ich…”, stammelte ich und hatte ehrlich keine Ahnung, wie ich auf seine Aussage eingehen sollte. Zeitschindend sah ich mich um, in der Hoffnung, jemanden zu sehen, der mich aus der brenzligen Situation befreien konnte. Doch die Straße blieb leer.
“Ist ja auch egal”, sagte Ben schließlich, noch bevor ich mir eine Antwort ausdenken konnte.
“Wie auch immer. Ich habe dir deine Schuhe gebracht. Und es tut mir leid.” Er zuckte mit den Achseln und wandte sich ab.
“Ben...warte!”, rief ich ihm hinterher, hob die Hand, um ihn aufzuhalten. Schon als er sich umdrehte, erkannte ich aber, dass ich gar nicht wusste, was ich ihm sagen sollte.
“Ja?” Abwartend sah er mich an. Seine Miene war irgendwo zwischen Peinlichkeit und Scham angesiedelt.
“Danke”, stotterte ich schnell und deutete auf die Schuhe, die auf dem Boden standen.
“Keine Ursache.” Mit diesen Worten drehte er sich endgültig um und lief die sonnenbeschienene Straße hinunter. Ich starrte ihm noch hinterher, als er nur noch ein kleiner Punkt am Horizont war.
Aber irgendwie….verzauberst du mich.
Obwohl ich mich mit aller Macht dagegen wehrte, verkrampfte sich mein Herz. Entschlossen biss ich die Zähne zusammen und fummelte weiter an dem versperrten Fahrradschloss herum. Endlich löste sich die Verriegelung. Bevor ich mich auf den Sattel setzte und in ansteigender Geschwindigkeit in die entgegengesetzte Richtung losfuhr, verstaute ich die Riemchensandalen in der Tasche. Ich würde einen Umweg fahren müssen, um Ben nicht zu begegnen, aber das war es mir wert.
Die kalte Luft blies mir angenehm ins Gesicht, während ich zügig den kleinen Berg hochfuhr, der zu unserem Haus führte. Noch vor zwei Jahren hatte ich mehrmals stehen bleiben müssen, um ihn ganz erklimmen zu können, aber heute überbrückte ich die Distanz mühelos.
* * *
Zittrig erhob er sich vom Bett und wischte sich die Tränen aus den Augen. Er hatte einen Entschluss gefasst. Es würde ihm zwar das Herz brechen, aber es wäre besser so. In der nächsten Vollmondnacht würde er sich ein letztes Mal mit Emma treffen und ihr schonend beibringen, dass es aus zwischen ihnen war. Er würde es für Emma und für Yena tun. Außerdem hatte er als Prinz von Ayovan Verantwortung zu tragen und durfte sein Volk nicht enttäuschen, in dem er sich auf ein unbedeutendes Menschenmädchen einließ. Er trat aus seinem Gemach und machte sich auf die Suche nach seiner Zukünftigen. Das Echo seiner Schritte hallte durch das Schloss und sein Schatten folgte ihm, im Schein der Fackeln, die neben den antiken Lustern den Gang erhellten. Als er vor Yenas Tür angekommen war, atmete er noch einmal tief durch und klopfte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Beim dritten Mal streckte Yune den Kopf aus dem Zimmer ihrer Schwester.
“Kann ich reinkommen?”, bat er freundlich.
“Ich weiß zwar nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, aber sie will dich im Moment nicht sehen”, betäuerte sie und blickte ihn fraglos an.
“Bitte Yune, lass mich rein, ich muss mit ihr reden, es dauert auch nicht lange”, versuchte er es erneut, aber diesmal mit Nachdruck.
“Ich habe NEIN gesagt. Aber ich werde ihr ausrichten, dass du da warst, Yaiden”, stellte sie ihn vor vollendete Tatsachen und schloss die Türe vor seiner Nase, ohne auch nur ein weiteres Wort zu sagen. Ohne weiter nachzudenken, begab er sich in den Schlossgarten, wo die Sterne am Himmel, den Teich zum funkeln brachten. Mit großen Schritten begab er sich darauf zu bis er bis zur Hüfte im Wasser stand. Der abnehmende Mond half ihm sich mit dem Wasser zu verschmelzen. Ohne Mühe ließ er sich treiben, bis er die unsichtbare Grenze, zwischen den Welten überschritten hatte und sich in der Menschenwelt wiederfand. Anmutig schritt er aus dem Wasser und materialisierte sich. Jedoch war er in Nächten ohne Vollmond unsichtbar, da nur die volle Kraft des Mondes ihm eine Gestalt in der Menschenwelt schenkte. Voller Tatendrang, gegen seinen Entschluss sich hinwegsetzend, machte er sich auf den Weg. Er folgte dem Pfad aus dem Wald, der das Meer umgab und ließ sich angetrieben von seinem Herzen und dem leisen Klang der Melodie, zu ihr führen. Vor einem heruntergekommenen Haus blieb er stehen, der Putz bröckelte an manchen Stellen und die wahrscheinlich einst kräftige Farbe, war ausgeblichen. Es war das komplette Gegenteil von seiner Wohnstätte. Hier hauste also Emma. Er blickte sich um und sah ein offenes Fenster im oberen Stockwerk. Ohne sich weitere Gedanken zu machen, schnappte er sich die Leiter vom Nachbarshaus und lehnte sie nun lautlos gegen das alte Gemäuer. Vorsichtig stieg er Sprosse für Sprosse nach oben und lugte, oben angekommen, ins Zimmer. Leise stieg er durchs Fenster und spürte die Macht der Melodie in sich aufsteigen. Mit einem Lächeln auf den Lippen setzte er sich ans Bett und betrachtete das schlafende Mädchen.
Sie ist so schön, dachte er bei sich und streckte seine Hand aus um ihr sanft durchs Haar zu fahren. Nur zu gern, würde er sich zu ihr hinabbeugen und ihr einen Kuss auf die Lippen hauchen. Doch damit würde er sie an sich binden und den Bund des Lebens besiegeln. Das würde ihrer beider Leben komplett auf den Kopf stellen. Plötzlich erinnerte er sich an etwas. Er fasste sich in die Innentasche seines Jacketts und zog eine silberfarbene Kette mit einem azurblauen tränenförmigen Anhänger heraus. Sachte drückte er diese an sein Herz und legte sie anschließend auf das Nachtkästchen. Noch einmal ließ er seinen Blick über Emma schweifen, auf deren Lippen sich ein glückliches Lächeln gebildet hatte, und küsste sie sanft auf die Stirn.
“Danke Emma, dafür dass du mir diese einzigartigen und wunderbaren Gefühle gezeigt hast”, flüsterte er ins Ohr. “Ich wünsch dir dass du glücklich wirst und mich vergessen mögest. Du wirst mir fehlen!” Mit diesen Worten erhob er sich und machte sich wieder auf den Weg zurück nach Ayovan.
* * *
Als ich aus einem wunderschönen Traum erwachte, glaubte ich einen zarten Duft von Wasserlilie zu bemerken. Aber wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein. Ich setze mich auf und ließ den Blick zum Wecker wandern, der selbst noch vor sich hinschlummerte. Normalerweise verschlief ich immer, wenn ich Tags zuvor, im Cafe arbeitete, aber heute könnte ich noch eine halbe Stunde schlafen, ehe ich aufstehen müsste. Doch ich fühlte mich keineswegs mehr müde. So kraftvoll hatte ich mich die letzten Tage oder beinahe schon Wochen nicht mehr gefühlt. Als ich die Lampe anknipste und nach meinem Buch schnappen wollte um die restliche Zeit zum Lesen zu nutzen, welche im Moment sehr rar war, blieb mein Blick an etwas auf meinem Nachttisch hängen. Ich ließ das Buch wieder sinken und griff nach dem funkelnden Gegenstand. Mit großen Augen strarrte ich die Träne an und hatte das Gefühl, ich würde dabei direkt in Yaidens azurblaue Augen blicken. Aber das war unmöglich. Yaiden konnte doch nur bei Vollmond hier sein. Wie kam diese wertvolle Kette hierher und vor allem, von wem war sie? Mit einer Leichtigkeit begab ich mich aus dem Bett und schlurfte zum Fenster. Am Horizont konnte ich bereits die ersten Sonnenstrahlen entdecken und hörte die Vögel ihr Morgenlied zwitschern. Erst da sah ich die Leiter, die unter meinem Fenster an unsere Hausmauer gelehnt war.
Aber irgendwie….verzauberst du mich.
Ich wusste nicht was ich davon halten sollte, denn wenn ich jetzt eins uns eins zusammenzählte, konnte sie nur von einer Person sein.
Ben.
Seufzend drehte und wendete ich die Kette in meinen Händen. Sie war wunderschön, filigran ausgearbeitet und mit sehr viel Liebe zum Detail angefertigt. Zudem wirkte sie nicht wie ein Schmuckstück, das man für Geld überall erwerben konnte. Dafür sah sie zu magisch aus. Beinahe so, als wäre sie nicht aus dieser Welt. Aber genau dies konnte nicht sein. Und aus diesem Grund gab es tatsächlich nur eine Möglichkeit, von wem die Kette stammte. Ich seufzte leise und erhob mich. Auf leisen Sohlen kämpfte ich mir meinen Weg zum Schreibtisch frei und durchwühlte meine Schubladen nach einem Umschlag. Nach längerer Suche fand ich ein an den Ecken etwas eingeknicktes Kuvert. Bevor ich die Kette sicher darin verstaute, griff ich nach einem weißen Blatt Papier und einem Kugelschreiber. Ich fühlte mich unwohl, als ich die Zeilen schrieb und doch war es wichtig, es nun zu tun. Manchmal konnten schlimme Dinge vermieden werden und genau das musste ich zumindest versuchen.
Lieber Ben,
ich danke dir für die Kette, die ich jedoch nicht annehmen kann. Falls du noch immer ein schlechtes Gewissen wegen der Nacht hast und dich daher auf diesem Wege bei mir entschuldigen wolltest, sei beruhigt und lasse dir sagen, dass ich nicht mehr böse bin. Falls die Kette allerdings mehr bedeutet als eine mögliche Entschuldigung (und ich hoffe, dass sie genau das nicht tut), muss ich dir das Schmuckstück nur noch dringender zurückgeben. Ich möchte nicht, dass du dir wegen etwas Hoffnungen machst, das sich nicht erfüllen wird. Ben, ich kenne dich den Großteil meines Lebens und wenn aus unserer früheren Freundschaft etwas gewachsen ist, das nüchterne Gefühle übersteigt, muss es aufhören. Ich danke dir für deine Geste, deine Entschuldigung. Wenn ich dir die Kette zusammen mit meinen Worten überbringe, ist alles gesagt.
Liebe Grüße,
Emma.
Mein Herz klopfte unregelmäßig, als ich den Brief mit einem Aufkleber verschloss und in schwungvollen Buchstaben Bens Namen auf die Vorderseite schrieb. Ich wollte ihn nicht verletzen, wollte seine Hoffnungen nicht schmälern, aber genau das wurde von mir verlangt. All meine Gefühle, meine Emotionen und vor allem mein Herz gehörten einem Mann, von dem ich nicht mehr kannte als seinen Namen. In Gedanken an Yaiden griff ich noch einmal zum Kugelschreiber und wandte mich dem Kalender zu, der über dem Schreibtisch an der Wand hing. Mit einer Mischung aus Erleichterung und Glückseligkeit strich ich eines der Kästchen mitten durch. Wieder hatte ich einen Tag ohne ihn überlebt und wieder waren vierundzwanzig Stunden vergangen, in denen ich ihn nicht gesehen hatte. Dies bedeutete, dass sein nächster Besuch immer näher rückte. Ich hatte den Brief an Ben schon beinahe vergessen, als sich ein Lächeln auf meine Lippen schlich. Irgendwie verging die Zeit ja doch. Man musste manchmal nur sehr viel Geduld haben.
“Emma, bist du noch da?”, schrie auf einmal meine Schwester Kimberley durch die verschlossene Tür. Ertappt fuhr ich zusammen, ließ den Brief in meine Hosentasche gleiten und hängte das Naturposter über den geheimen Kalender.
“Ich bin hier drin”, antwortete ich ihr. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. Im Gegensatz zu mir hatte sich meine Schwester bereits angezogen. Wie eine zweite Haut schmiegte sich das schwarze Kleid an ihren Körper. Ihre langen, hellblonden Haare bildeten einen krassen Kontrast zu der dunklen Garderobe, die sie trotz allem feminin und auch ein wenig zerbrechlich aussehen ließ. Kimberley besaß jenes elfenhafte Aussehen, das ich mir immer gewünscht hatte. Sie war ein Jahr jünger als ich, wirkte durch ihre Größe jedoch noch sehr mädchenhaft.
Kimberleys Blick wanderte über mich.
“Du bist ja noch gar nicht angezogen”, stellte sie fest und musterte den grauen Schlafanzug.
“Ich wollte mich gerade fertigmachen”, entgegnete ich. “Was willst du?”
Meine kleine Schwester ließ sich auf den Schreibtischstuhl sinken. Mein Herz klopfte, als ich erkannte, dass ich das Poster an der Wand nicht so gut befestigt hatte wie angenommen. In wenigen Minuten würde es hinabsegeln.
“Kannst du heute vielleicht einkaufen gehen?”, fragte sie mich.
“Ich dachte, du bist dran, Kimmy.”
“Ja.” Sie zog die Achseln hoch. “Aber Melanie würde gern kommen und…”
Ich seufzte. Diskussionen dieser Art gab es in letzter Zeit häufig und nur selten ging ich als Gewinnerin heraus.
“Du musst doch nicht arbeiten”, murmelte Kimberley. “Und Melanie und ich haben uns so lange nicht mehr gesehen.”
“Schon gut”, gab ich mich geschlagen. Vielleicht wäre es ohnehin nicht das Schlechteste, das Einkaufszentrum mal wieder von innen zu sehen. Gestern Abend hatten sich meine einzigen festen Schuhe in Wohlgefallen aufgelöst und von meinem Geld aus dem Café würde ich mit etwas Glück neue erstehen können.
“Dafür hab ich was gut bei dir”, rief ich Kimberley hinterher als sie wie ein kleiner Wirbelwind mein Zimmer verließ. Auch wenn sie manchmal sehr stur und aufbrausend sein konnte und, im Gegensatz zu mir, gerne im Mittelpunkt stand, liebte ich sie doch unaufhörlich. Rasch schlüpfte ich in wahllos zusammengewürfelte Klamotten und schob den Brief in den Ranzen. Eilig schritt ich die Treppe nach unten und schnappte mir in der Küche noch eine Banane und eine Flasche Wasser, welche ich ebenfalls in die Tasche packte.
Da meine Mutter nach ihrer regulären Arbeit, sie war für dreißig Stunden die Woche beim Bäcker Bippo angestellt, auch noch nächtens die Bürokomplexe eines örtlichen Unternehmen putzte und nie vor vier Uhr morgens nach Hause kam, sahen wir uns unter der Woche nur selten. Deshalb nahm ich mir ein wenig Geld aus der Haushaltskasse und hinterließ meiner Mutter eine kurze Nachricht.
Hi Mum, habe mir das restliche Geld aus der Haushaltskasse genommen und werde statt Kimberley den anstehenden Einkauf erledigen. Da ich auch noch gerne mit Mara ein paar Stunden im Einkaufscenter verbringen möchte, werde ich wahrscheinlich erst gegen Abend zuhause sein.
Hab dich lieb,
Emma
Ich platzierte den Zettel gut sichtbar auf dem Esstisch, ehe ich auch schon das Haus verließ. Heute würde ich mich nicht ganz so hetzen müssen, da ich für meine Verhältnisse noch reichlich Zeit hatte. Also schwang ich mich gemütlich auf meinen alten Drahtesel und fuhr los. Als ich an Ben und Maras Haus vorbeikam, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Der Brief in meiner Tasche fühlte sich bleischwer an. Ich wollte Ben nicht verletzen, aber genau das würde ich tun. Tief durchatmend bremste ich das Fahrrad ab und ließ es achtlos vor der Hausmauer liegen. Meine Mission würde kaum mehr als eine Minute einnehmen. Schon kramte ich nach dem Briefumschlag, bevor ich mich auf leisen Sohlen in Richtung Haustür machte. Obwohl ich ein gern gesehener Gast bei Mara war, fühlte ich mich in diesem Moment wie ein Einbrecher. Während sich meine beste Freundin wahrscheinlich schon in der Schule aufhielt, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, wo ihr Bruder war. Die Wahrscheinlichkeit, ihn anzutreffen, war genau so hoch wie die, dass er sich nicht zu Hause aufhielt. Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus, als ich den Deckel des Briefkastens hochklappte …. und dabei versehentlich auf die Klingel drückte. Schockstarre befiel meinen ganzen Körper. Ein schrilles Läuten drang an meine Ohren und löste jegliche Fluchtreflexe aus, die ich hatte. Blitzschnell ließ ich den Brief in den Kasten fallen und lief davon, als sei der Teufel hinter mir her. Außer Atem griff ich nach meinem Fahrrad, brachte es in eine aufrechte Postion und schwang mich wenig galant auf den Sattel. Eines meiner Augen war panisch auf die Haustür gerichtet, vor der ich eben noch gestanden hatte, mit dem andren blickte ich schon auf die Straße. Erst als ich die großen Pforten der städtischen Schule vor mir sah und damit den Großteil des Weges hinter mich gebracht hatte, konnte ich wirklich aufatmen. Wahrscheinlich war mir gerade eine äußerst unangenehme Situation erspart geblieben.
Im Klassenraum war es zu dieser Uhrzeit noch ungewöhnlich still. Schnell huschte ich auf den freien Platz neben Mara und begrüßte sie mit einer Umarmung.
“Was machst du denn so früh hier?”, fragte sie mich verwundert, aber eine wirkliche Antwort konnte ich ihr darauf auch nicht geben. Ich zuckte nur die Schultern und murmelte etwas davon, dass ich früh wach geworden war. Mara nickte. Noch vor wenigen Monaten hatte ich den Schulweg zusammen mit ihr angetreten. Nebeneinander waren wir auf unseren Fahrrädern die Straßen hinunter - und wieder hinaufgesaust. Doch seit es Chris gab, standen die Dinge etwas anders.
Das 19-jährige, blonde Muskelpaket lebte noch nicht lange in der Stadt, doch hatte von Anfang an ein Auge auf meine beste Freundin geworfen. Von Mara erfuhr ich, dass auch sie ihm nicht ganz abgeneigt war, doch noch wollte sie ihn zappeln lassen. Während Chris sich stetig um sie bemühte, zeigte Mara sich eher kühl, allerhöchstens auf einer freundschaftlichen Basis. Dennoch nahm sie seine Einladung, sie jeden Tag zur Schule mitzunehmen, bereitwillig an.
* * *
“Ich habe NEIN gesagt. Aber ich werde ihr ausrichten, dass du da warst, Yaiden”, sprach sie forsch und knallte die Türe zu, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, noch etwas zu sagen. Das Wohl ihrer Schwester stand für Yune an erster Stelle. Nachdenklich schritt sie auf Yena zu, welche am Bett saß und weinte.
“Was fällt dem eigentlich ein. Das kann er mir doch nicht antun...”, schluchzte sie und man sah ihr an, dass sie tief verletzt war.
Yune kniete sich vor ihre Schwester und strich ihr durch ihr feuerrotes Haar.
“Weißt du, dass ist sicher nur eine Phase, die geht bestimmt wieder vorüber”, versuchte sie, sie zu beruhigen, doch dass schien Yena nur mehr zu reizen.
“Das ist doch keine Phase....”, fauchte sie Yune an und schlug ihre Hand beiseite.
“Es ist so anders, wenn ich mit ihr zusammen bin, ich fühle mich so vollkommen. Verstehst du, Yena?”, äffte sie seine Stimme nach und stieß sich vom Bett ab. Traurigkeit wich nun einer unbändigen Wut. Ernergisch lief sie im Zimmer auf und ab und murmelte unverständliches Zeugs vor sich hin. Yune beäugte sie argwöhnisch und hielt sich fürs erste zurück. Wenn Yena in Rage war, sollte man ihr am besten nicht in die Quere kommen. Erst als sie sich vors wandhohe Fenster gestellt hatte und in die Nacht spähte, sie schien etwas im Visier zu haben, räusperte sich Yune.
“Was willst du jetzt tun?”, fragte diese zögerlich und stellte sich neben ihre Schwester und sah was ihre Aufmerksamkeit erregte. Es war Yaiden, der anmutig im Schlossteich versank.
“Wir werden sie aus dem Weg räumen müssen. Ich habe ihn gewarnt!” Die Bitterkeit in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Der Zorn hatte sich in ihr festgefressen und so leicht brachte sie niemand mehr von ihrem Vorhaben ab.
* * *
“Hast du Lust, heute Nachmittag mit mir Einkaufen zu gehen. Ich brauche ein neues Paar feste Schuhe und außerdem habe ich dich in letzter Zeit total vernachlässigt”, fragte ich Mara und hoffte, wir würden uns einen schönen Nachmittag gönnen. Nur wir zwei, wo wir uns ungestört über unser Jungsprobleme unterhalten konnten.
“Würde ich zwar sehr gerne, aber Chris hat mich heute gefragt ob ich nicht mit ihm was trinken gehe nach der Schule und da ich dachte dass du arbeiten musst, habe ich zugesagt. Es tut mir wirklich leid, aber wenn du willst, schau ich am Abend nochmal kurz bei dir vorbei?”, sie sah ein wenig geknickt aus, da sie mir absagen musste, aber ich gönnte ihr den Tag.
“Ist ja nicht so schlimm. Würde mich freuen, wenn wir uns am Abend noch kurz zusammen setzen können. Ist das jetzt eigentlich etwas ernstes zwischen euch?” Ich konnte meine Neugierde kaum verbergen und grinste sie an.
“Ich weiß es nicht, er ist zwar mein Typ und scheint sich wirklich an mir zu interessieren, aber ich kenne ihn noch zu wenig um genaueres sagen zu können”, erläuterte sie. Das feine Lächeln, welches ihre Lippen umspielte, verriet allerdings was anderes. Mara war verknallt. Sie wollte es nur nicht vor mir zugeben. Aber ich ließ ihr die Zeit um sich selber klar darüber zu werden.
Nach und nach trudelten die restlichen Schüler ein und schon läutete der Gong zur ersten Stunde. Literatur mit Ms. Windsor stand an.
Während wir über die moderne Literatur im 21. Jahrhundert philosophierten verflogen die zwei Stunden im Nu.
“Bitte sucht euch ein aktuelles Buch aus, über welches viel diskutiert wurde und verfasst einen Artikel darüber, was der Autor damit vermitteln wollte. Bis nächste Woche habt ihr Zeit und ich will keinen Aufsatz sehen, der kürzer ist als drei Seiten. Setzt euch mit dem Buch und deren Protagonisten auseinander. Habe ich mich klar ausgedrückt?”, fragend blickte sie über ihren Brillenrand hinweg und als niemand ihr wiedersprach, setzte sie fort.
“Nun da jeder weiß was zu tun ist, könnt ihr für heute Schluss machen”, beendete Ms. Windsor ihre Ausführungen.
“Ach Emma, hast du das gehört? Wir müssen drei Seiten schreiben, drei Seiten”, stöhnte Mara neben mir. Ich musste zugeben, drei Seiten waren schon viel, aber da ich sehr viel las und mir im allgemeinen immer Gedanken über die gelesenen Werke machte, würde das für mich keine Herausforderung darstellen.
“Ich bin mir sicher, das bekommst du hin. Weißt du schon welches Buch du nimmst, Mara?”, versuchte ich sie ein wenig aufzubauen.
“Nein, aber lass mich raten. Du nimmst bestimmt ‘Ein ganzes halbes Jahr’. So oft wie du das gelesen hast, dürfte die Aufgabe für dich ein leichtes werden”, schmunzelte sie und schleifte mich aus dem Klassenzimmer.
“Du kennst mich einfach zu gut”, gab ich keck zurück und folgte ihr zu unserem Stammplatz unter der großen Eiche.
“Und freust du dich schon?”, fragte ich unverblümt und konnte wie immer meine Neugier nicht zurückhalten.
“Du hast Nerven. Da bin ich bestimmt das ganze Wochenende damit beschäftigt.”
Verwirrt musterte ich sie.
“Wie meinst du das?”
“Na, die drei Seiten schreiben sich ja wohl nicht von allein!”, sprach sie mürrisch und blickte mich finster an.
Ich konnte nicht anders und fing zu lachen an, dass mir der Bauch wehtat.
“Emma, was ist los mit dir? Findest du das etwas lustig?” Empört blieb ihr der Mund offen stehen und blickte mich mit großen Augen an. Als ich mich wieder einbekommen hatte, klärte ich das Missverständnis auf.
“Ich hatte eigentlich dein Date mit Chris gemeint, Süsse. Ich würde dich doch nicht auslachen, weil du das ganze Wochenende mit Hausaufgaben beschäftigt bist!” So schnell konnte ich gar nicht schauen, wie die Empörung verschwand und stattdessen Maras Fröhlichkeit zum Vorschein kam.
“Ohh,.. das meintest du. Naja,.. um ehrlich zu sein, bin ich schon ein wenig aufgeregt.”
Röte stieg ihr ins Gesicht, während sie verlegen mit einem Grashalm spielte.
“Gib ihm eine Chance. Er scheint mir ein anständiger Kerl zu sein”, riet ich ihr und zog sie in meine Arme. Umarmungen waren oft wirksamer als Worte es vermochten.
Nachdem ich am späten Nachmittag, vollbepackt mit Einkaufstüten, nach Hause kam, wurde ich bereits von Ben erwartet. Erst jetzt kam mir der Brief wieder in den Sinn. Ich hatte keine Lust mit ihm zu reden, überhaupt hatte ich doch alles in dem Brief gesagt.
“Hey, was willst du hier?”, versuchte ich ihn lässiger als ich war zu fragen und dabei meine Nervosität zu verbergen.
“Kann ich mit dir reden, bitte?” Sein zimtfarbenes Haar bewegte sich im Takt des des immer stärker werdenden Windes und seine Augen sahen mit ausdrucksstark an.
“Ich,.. ich hab eigentlich gar keine Zeit. Mara kommt dann auch gleich vorbei.”, versuchte ich ihm klarzumachen, dass er unerwünscht war. Nebenbei brauchte ich drei Anläufe den Schlüssel ins Schloss zu bekommen, da meine Hände zu zittern begannen.
“Mara wird heute nicht mehr kommen. Sie hat mich gebeten dir auszurichten, dass sie den Abend bei Chris verbringt. Aber deswegen bin ich nicht hier. Bitte lass mich reinkommen”, bat er und legte mir von hinten die Hand auf meine Schulter.
Ich wusste nicht wie mir geschah und so hielt ich ihm die Tür auf, sodass er eintreten konnte und mir in den Wohnraum folgen konnte, wo ich die Einkäufe in die Küche brachte. Zum Glück war Mum arbeiten und Kimmy bei Melanie. So konnten wir in ruhe reden, ohne dass jemand was mitbekommen würde. Obwohl ich mich eigentlich in seiner Nähe unbehaglich fühlen sollte, tat ich das nicht, hatte stattdessen ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch. Doch es waren keine Schmetterlinge, das konnte ich spüren, dennoch war das was ganz eigenes zwischen uns.
Ich bot Ben einen Platz auf dem Sofa an und setzte mich neben ihn. Unruhig verschränkte ich die Arme ineinander und wartete darauf, dass er mit dem Sprechen anfing. Doch erstaunlicherweise blieb er ruhig - eine Tatsache, die mich umso nervöser machte.
“Möchest du was trinken?”, bot ich ihm an und war schon im Begriff, aufzustehen, als Ben den Kopf schüttelte.
“Nein, danke”, meinte er. Unverrichteter Dinge blieb ich neben ihm sitzen. Die Stille zwischen uns vergrößerte sich und wurde immer bedrohlicher. Ich seufzte, weil ich irgendein Geräusch machen wollte. Aus den Augenwinkeln erkannte ich, wie Ben seine Sitzposition änderte und sich schließlich zu mir hindrehte.
“Emma, ich habe deinen Brief bekommen”, sagte er mit fester Stimme. Er schaffte es nicht, mir in die Augen zu sehen. Ich schluckte schwer.
“Gut”, meinte ich leise.
“Erst einmal: Ich habe mit der Kette nichts zu tun, aber das, was du geschrieben hast…”
“Moment mal”, unterbrach ich ihn und wurde hellhörig. “Die Kette ist nicht von dir?”
Langsam schüttelte Ben den Kopf. Als er meinen irritierten Blick sah, hob er noch abwehrend die Hände.
“Ich habe damit nichts zu tun, Em.”
Es lag viel Aufrichtigkeit in seinen Worten, sodass ich sie nicht anzweifelte. Nachdenklich kaute ich auf meiner Lippe herum. Wenn Ben wirklich nicht der Eigentümer der Kette war, von wem hatte ich das Schmuckstück dann erhalten? Meine Gedanken fuhren Achterbahn und ich vergaß beinahe, dass ich nicht allein war.
“Jedenfalls wollte ich nicht mit dir über die Kette reden”, knüpfte Ben an. Unruhig spielte er mit seinen Fingern und zog sie nacheinander in die Länge.
“Deine Worte … Emma, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll…”
Oh, Mist. Wo war Mara, wenn man sie brauchte?
“Ben, ich”, stammelte ich, aber er ging nicht auf mich ein.
“Du … ich weiß nicht, wann ich dir Andeutungen gemacht habe oder weswegen du glaubst…”
“Ben, ich glaube, es ist besser, wenn du gehst”, sagte ich schnell und stand bereits auf. Kälte hatte von mir Besitz ergriffen, aber sie war nicht die einzige Emotion, die mir zu schaffen machte: Tief in meinem Herzen saß Angst. Angst vor dem, was er sagen würde. Aber noch größere Angst vor dem, wie ich auf seine Worte reagierte.
Ben sah mich von unten an und wartete einen Moment ab.
“Vielleicht reden wir ein anderes Mal?”, kam ich ihm entgegen und fühlte mich schrecklich schäbig.
“Emma, können wir das nicht klären?” Das mulmige Gefühl in meinem Herzen verstärkte sich, kroch in all meine Glieder und legte sie nacheinander lahm.
“Weißt du, es gibt da was, das ich dir sagen muss”, sprach Ben unbeirrt weiter. Wie konnte ich ihn stoppen? War es mir vergönnt, das Gespräch aufzuhalten, sodass es zu einem späteren Zeitpunkt - oder besser nie - stattfinden würde?
In diesem Moment durchbrach ein surrendes Geräusch die Stille. Ben und ich zuckten in gegenseitigem Einvernehmen zusammen, bis ich realisierte, dass es sich um die Klingel handelte. Sobald ich zu dieser Erkenntnis gekommen war, machte sich eine große Woge Erleichterung in mir breit. Die Ablenkung, nach der ich verzweifelt gesucht hatte, stand draußen. Ich musste nur die kleine Distanz bis zur Haustür überbrücken und würde dem peinlichen Gespräch entgehen können.
“Tja, das war’s dann wohl”, murmelte Ben entmutigt vor sich hin. Ich quittierte ihn mit dem aufmunternsten Lächeln, das ich zustande brachte, machte ihm aber gleichzeitig deutlich, dass ich an die Tür gehen müsste. Er blieb, wo er war - aber das störte mich nicht. Ich würde schon eine Ausrede finden, ihn loszuwerden.
Vor der Haustür blieb ich auf einmal stehen. Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus und ich begann schrecklich zu frieren. Wie war das möglich? Vorsichtig lugte ich durch das Fenster, das neben der Tür angebracht war, als mit das Blut in den Adern gefror.
Ich konnte niemanden vor der Türe sehen und auch sonst war weit und breit keiner zu entdecken. Mein Herz begann zu rasen. Das Klingeln hatte ich mir doch nicht eingebildet. Mit zitternder Hand öffnete ich die Tür um sicher zu gehen, dass wirklich niemand dort war?
“Hallo? Hallo, ist das jemand?”, rief ich in die Abenddämmerung, doch außer dem Krächzen eines Käuzchen und einem abnehmenden Motorengeräusch, war nichts zu hören. Wurde ich wirklich schön langsam verrückt? Zuerst das mit der Kette und jetzt das? Irgendetwas lief hier gehörig aus dem Ruder. Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass dort draußen niemand war, schloß ich die Türe und spürte dabei einen starken Luftzug ins Innere des Hauses dringen. Mit einem komischen Gefühl, ging ich wieder zurück ins Wohnzimmer, wo Ben immer noch, mit seinen Händen in den Hosentaschen, stand. Seine Miene wurde besorgt als er mich sah.
“Ist alles in Ordnung mit dir?, fragte er mich und machte einen Schritt auf mich zu.
“Danke, mir gehts gut”, beteuerte ich und schlurfte zurück zum Sofa und schenkte ihm keine Beachtung.
<Du hast ihn nicht verdient!>
“Hast du das eben auch gehört?” Entsetzen machte sich breit und ich blickte mich hektisch um. Aber da war niemand. Niemand außer Ben.
“Was habe ich gehört?”, alarmiert wand auch Ben seinen Kopf und kam auf mich zu.
“Da,.. da.. war eine Stimme, sie hat etwas geflüstert!”, stotterte ich und zitterte am ganzen Körper.
<Er will dich nicht.>
“Da war es schon wieder!” Nun schlug ich die Hände ans Gesicht und begann zu weinen, da mir die Angst in den Knochen steckte. Ben war im Moment das kleinere Übel, im Gegenteil war ich froh, dass ich jetzt nicht allein war. Schützend legte er mir einen Arm um die Schultern und versuchte mich beruhigen. Ich ließ es zu, da ich sowieso im Moment nicht klar denken konnte.
<Für ihn bist du nur ein unbedeutendes Mädchen!>
“Hör auf, hör endlich damit auf damit!”, schluchzte ich, riss mich von ihm los und kauerte mich in einer Ecke zusammen. Was war nur los mit mir? Warum konnte Ben das nicht hören?
“Emma, was ist los mit dir?”, wurde Ben jetzt eindringlicher und kam wieder auf mich zu.
“Wage... es bloß nicht... näher zu kommen!”, von Schluchzern geschüttelt hielt ich meine Hand in die Höhe um ihm klarzumachen, dass ich es ernst meinte!
“Aber Emma,..”
“Geh Ben, geh einfach! Ich will alleine sein!”, fuhr ich ihn an und zeigte zur Tür.
Erstens wollte ich nicht, dass er mich so sah und zweitens konnte ich auch nicht erklären, was hier gerade vorsichging.
Bens verstörtes Gesicht bohrte sich in die Tiefen meines Herzens. Er hatte es nicht verdient, dass ich so mit ihm umging, aber ich spürte, wie ich mehr und mehr die Kontrolle über meinen Körper verlor.
<Lass ihn gehen, bevor es zu spät ist.> , schrie die gruselige Stimme in meinen Gedanken. Ich wand mich hin und her, getrieben von etwas, das ich mir nicht erklären konnte. Meine Augen waren schockgeweitet. Was geschah mit mir?
“Emma, was ist denn los? Sag mir doch, was mit dir passiert!” Bens Stimme klang schrill, wie ein schüchterner Junge trat er auf mich zu, aber ich schüttelte den Kopf.
“Geh!”, schrie ich und spürte, wie zwei eiskalte Hände sich um meine Kehle legten und immer weiter zudrückten. Ich begann zu husten, drohte zu ersticken… Verzweifelt versuchte ich, durch die Nase Luft zu holen, aber meine Versuche misslangen kläglich.
<Versprich mir, dass du dich von ihm fernhältst!”>, schrie die Stimme und drückte noch fester zu. Mir wurde schwarz vor Augen, ich drohte in eine Ohmacht zu sinken. Bens hilflose Statur verschwamm vor meinem Blickfeld. Mein Mund war zu einem Entsetzensschrei geöffnet, den ich nicht ausführen konnte, weil mein Körper langsam zu sterben begann.
Und dann, irgendwann, als ich alle Hoffnung verloren hatte, lockerte sich der Griff um meinen Hals. Instinktiv schnappte ich nach Luft, sog den Atem mit aller Kraft auf, fächelte mir mit der Hand zusätzlich Luft zu. Krächzende Laute drangen aus meiner Kehle. Ich fühlte mich miserabel, aber wenigstens sah ich wieder. Noch immer stand Ben vor mir, mittlerweile mit hochrotem Kopf. Eine dicke Schweißspur stand ihm auf der Stirn, verzweifelt fuchtelte er mit den Händen in der Luft herum.
“Emma, verdammt, sag mir endlich, was los ist!”, bat er und flehte inständig.
Ich holte tief Luft - erneut und als ich mein kurioses Verhalten erklären wollte, wurde mein Kopf von hinten unsanft gegen die Wand geschlagen. Ich schrie, der Schmerz zuckte durch meinen gesamten Körper. Tränen traten mir in die Augen. Wieder knallte ich gegen den harten Untergrund. Ben kam auf mich zugelaufen, umfasste mich, versuchte, mich wegzuziehen, aber auch er wurde auf unnatürliche Weise nach hinten geschleudert. Die Wucht, mit der er auf dem Boden aufschlug, ließ mich Sehen und Hören vergehen.
<DAS IST NUR EIN VORGESCHMACK, HURE! WENN DU IHN NOCH EINMAL ANFASST, ZEIGE ICH DIR, ZU WAS ICH WIRKLICH FÄHIG BIN! YAIDEN IST MEIN! VERSTEHST DU? ER GEHÖRT MIR UND DARAN WIRST DU NICHTS ÄNDERN!”>
Das hatte gesessen. Im ersten Moment konnte ich die Worte nicht wirklich realisieren, zu geschockt war ich von dem ganzen, dass geschehen war.
“Aber..”, setzte ich an und dann drangen die Worte bis in meinen Kopf vor. Es begann sich alles zu drehen, plötzlich wurde mir schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir kam, wurde ich gerade von zwei starken Händen hochgezogen und zurück aufs Sofa beordert.
“Yaiden..”, flüsterte ich und lächelte. Als sich meine Sicht klärte, blickte ich in Bens haselnussbraune Augen. Er schien besorgt. Was war geschehen? Während ich mich aufsetzen wollte, durchzuckten mich tierische Kopfschmerzen.
“Emma, Emma du bist gottseidank wieder bei Bewusstsein!” Ihm schien ein Stein vom Herzen zu fallen.
“Was machst du hier und warum lag ich hier bewusstlos auf der Couch?”, fragte ich ihn und sah dass er an der Hand verletzt war und ihm Blut aus der Wunde tropfte.
“Du hast irgendwelche Stimmen gehört und plötzlich wurden wir aus dem Nichts von irgendetwas Unsichtbarem angegriffen. Wie gehts dir?” Prüfend kniete er sich vor mich und begutachtete meinen Hals an dem sich Striemen gebildet hatten.
“Ich weiß nicht. Mein Kopf pocht sehr stark und mein Hals schmerzt, als ob mich jemand gewürgt hätte”, gab ich zu und versuchte mich an das Szenario zu erinnern. Vergebens, wie ich kurz darauf feststellte. Meine Erinnerungen setzten aus oder verschwammen, sodass ich keine klaren Bilder im Kopf hatte. Als ich Ben näher betrachtete, fielen mir seine klaren haselnussbraunen Augen, sein markant männliches Gesicht, mit dem leichten Ansatz eines Bartes auf und mir wurde bewusst, dass er sich in den letzten Jahren äußerlich sehr gewandelt hatte. Er war nicht mehr der pummelige Junge mit dem Pickelgesicht und der Zahnspange. Vor mir kniete ein junger Erwachsener mit einem adäquaten Erscheinungsbild.
“Wer ist Yaiden?”, fragte er mich und holte mich aus meinen Gedanken.
“Yaiden?” Verwirrt sah ich an. Wer war Yaiden? Ich hatte den Namen schon mal gehört und ihm wohnte eine große Bedeutung inne. Jedoch konnte ich mich an keinen Yaiden erinnern.
“Den Namen hast du gesagt, als du wieder zu dir kamst und er scheint dich kurzzeitig glücklich gemacht zu haben, denn du hast dabei gelächelt.” Sein Blick war traurig und meiner nun neugierig. Ich musste wissen wer dieser Yaiden war. Bei seinem Namen durchfuhr mich so ein wohliges Gefühl. Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus und irgendetwas in meinem Hinterkopf begann zu rebellieren. Irritiert schaute ich Ben an.
“Weißt du, wer Yaiden ist?”, wiederholte ich, kannte aber seine Antwort noch bevor er sie ausgesprochen hatte. Er schüttelte den Kopf. Ich seufzte, legte dann eine Hand an meinen schmerzenden Hals.
“An was kannst du dich erinnern, Ben? Was ist hier vorgefallen?” Prüfend ließ ich meine Augen durch das Zimmer wandern, aber bis auf eine Fernsehzeitung, die offensichtlich vom Tisch gefallen war, wirkte nichts anders als noch heute Morgen. Ben zuckte mit den Schultern und machte eine abfällige Handbewegung.
“War wahrscheinlich gar nichts”, murmelte er, aber anhand seiner Körperhaltung sah ich, dass ihn die Sache beschäftigt. Vorsichtig klopfte ich auf den freien Platz neben mir. Nur zaghaft setzte er sich und wagte es nicht recht, mich anzusehen.
“Du hast eben von einer Macht gesprochen”, wiederholte ich seine Worte und wollte ihn so zum Sprechen bringen. “Was für eine Macht meintest du? Etwas Übernatürliches?” Das letzte Wort ließ meine Stimme brechen. Während ein Schwindelgefühl in mir aufstieg, begann ich zu frieren. Suchend sah ich mich nach einem offenen Fenster um, konnte aber nichts erkennen.
“Blödsinn”, brach es aus Ben heraus, vermutlich heftiger und forscher als er es beabsichtigt hatte. “Ich glaube nicht an Übernatürliches!” Entschlossen verschränkte er die Arme ineinander, sodass er den Anschein erweckte, dass es nichts mehr zu diskutieren gab. Doch das gab es.
“Bitte Ben, lass mich verstehen, was gerade passiert ist. Mein Hals tut schrecklich weh und du bist so merkwürdig auf einmal. War jemand hier? Hat er sich an mir vergriffen? Du hast mich verteidigt?” Dunkle Vorstellungen nisteten sich in meine Gedanken ein, verpesteten sie mit Schwärze und ließen mich das Licht nicht mehr sehen.
“Emma, ich muss los”, sagte Ben, anstatt mir eine Anwort zu geben. Bevor ich auch nur versuchen konnte, ihn aufzuhalten, war er bereits aufgesprungen. Das Letzte, was ich von ihm hörte, war die schwere Haustür, die krachend ins Schloss fiel. Damit ließ er mich allein. Ich versuchte zu begreifen, was gerade geschehen war. Mein Blick blieb an einem zerknitterten Kuvert hängen. Obwohl das Pochen in meinem Kopf unaufhörlich weiterschlug, ignorierte ich die Schmerzen und tastete nach dem Umschlag. Er war relativ schwer. Ich wendete ihn und konnte Bens Namen in meiner Handschrift darauf indentifizieren. Teile von meinem Gedächtnis waren wie ausgelöscht. Ich hatte Ben einen Brief geschrieben? Nervös nestelte ich daran herum und zog einen zusammengefalteten Brief heraus. Mit ihm einen glänzenden Gegenstand. Prüfend nahm ich ihn in die Hand und begutachtete die silberne Kette näher.
Bruchstückhaft sah ich Bilder vor meinem inneren Auge aufblitzen. Das Meer. Den Wald. Den Vollmond. Was hatte das zu bedeuten. Vielleicht barg der Brief ja die gesuchten Informationen. Ich faltete ihn auseinander und begann zu lesen.
Lieber Ben,
ich danke dir für die Kette, die ich jedoch nicht annehmen kann. Falls du noch immer ein schlechtes Gewissen wegen der Nacht hast und dich daher auf diesem Wege bei mir entschuldigen wolltest, sei beruhigt und lasse dir sagen, dass ich nicht mehr böse bin. Falls die Kette allerdings mehr bedeutet als eine mögliche Entschuldigung (und ich hoffe, dass sie genau das nicht tut), muss ich dir das Schmuckstück nur noch dringender zurückgeben. Ich möchte nicht, dass du dir wegen etwas Hoffnungen machst, das sich nicht erfüllen wird. Ben, ich kenne dich den Großteil meines Lebens und wenn aus unserer früheren Freundschaft etwas gewachsen ist, das nüchterne Gefühle übersteigt, muss es aufhören. Ich danke dir für deine Geste, deine Entschuldigung. Wenn ich dir die Kette zusammen mit meinen Worten überbringe, ist alles gesagt.
Liebe Grüße,
Emma.
Geschockt starrte ich auf das Stück Papier in meinen Händen. Was hatte ich damit sagen wollen? Wir hatten doch nicht...? Der Gedanke war total absurd. Ich schüttelte den Kopf und bereute es auch gleich wieder. Stechende Schmerzen schossen unbarmherzig durch meinen Kopf. Ich ließ ihn in meine Hände sinken in denen ich noch immer den Brief und die Kette mit dem Tränenanhänger hielt. Je länger ich so verharrte umso weniger brummte mein Schädel, bis das Pochen endgültig verschwand. Dass einzige was ich spürte, war eine eigenartige Wärme die von diesem Schmuckstück ausging. Die ganze Sache fing an bizarr zu werden. Jetzt war ich umso entschlossener hinter dieses Geheimnis zu kommen.
* * *
Das war ja einfacher als gedacht. Mit einem verzerrten Grinsen, strich sie sich ihre feuerroten Haare aus dem Gesicht und beobachtete den Jungen, der aus dem Haus gelaufen kam und im nächsten Block schon wieder verschwand. Sie rief sich das Bild wieder in Erinnerung, wo das Mädchen hilflos auf dem Boden gekauert hatte. Hätte Yena nur ein wenig fester zugedrückt, wäre sie jetzt tot. Sie fragte sich, was Yaiden nur an ihr fand. Sie war nicht sonderlich hübsch und klein war sie noch dazu. In Ayovan wurde jemand als aussätzig angesehen, wenn er als ausgewachsenes Wesen nicht das Mindestmaß erreicht hatte. Das zeugte von Schwäche und meist wurden diese, wenn sie nicht hingerichtet wurden, in die Menschenwelt verbannt, wo sie schließlich nach einigen Tagen auch grausam zugrunde gegangen wären. Denn sie brauchten die Energien von Ayovan, um zu überleben. Dies war ihr Nährboden und verlieh ihnen ihre Macht.
Noch ein letztes Mal, ließ sie ihren Blick über das heruntergekommene Haus schweifen, ehe sie auf der Stelle kehrt machte und zurück zum See sprintete. Dort wartete wie vereinbart Yune auf sie, die sie mit neugierigem Blick musterte.
“Und?”, fragte diese und zog sich mit einer Leichtigkeit aus dem Wasser. “Hast du sie kaltgemacht?” In ihrer Stimme schwang ein ängstlicher Unterton mit.
“Nein, aber ich habe ihr gezeigt, wozu ich imstande bin, wenn sie sich nochmal an MEINEN YAIDEN ranmacht!” Die letzten Worte spukte sie nur so aus, als wären diese eine ansteckende Krankheit. Geschmeidig und beinahe lautlos sprang sie ins Meer. Yune folgte ihr.
Nervös tigerte er auf und ab. Er hatte Yena nicht finden können, genauso wenig wie ihre Schwester. Große Sorgen stiegen in ihm auf und er machte sich Vorwürfe, dass er nun Schuld dran sei, dass sie verschwunden war. Wieder trat er in die kühle Nachtluft hinaus, wo die Wolken den Großteil des Mondes verdeckten.
“Verdammt!”, schrie er in die Nacht hinaus. “Ich bin so ein Idiot. Meine Aufgabe ist es sie zu beschützen, nicht sie zu betrügen.” Er konnte nicht umhin, dass sich Emmas zärliches Lächeln in seine Gehirnwindungen brannte. Ihre zarte Statur, sowie ihre zartbitterbraunen Augen, wie sie ihn sehnsüchtig anstarrten, füllten sein Gedanken aus und ließen ihn daran erinnern warum er sich in Emma verliebt hatte. Sie war das komplette Gegenteil zu Yena. Sie nahm IHN wahr, nicht seinen Reichtum und seine Macht. Und obwohl sie relativ unscheinbar war, war sie in seinen Augen schöner als es Yena je für ihn sein konnte. Er respektierte und akzeptierte Yena und auch die Tatsache, dass er sein restliches Leben mit ihr verbringen würde. Aber lieben? Lieben tat er sie nicht. Genauergenommen hatte Emma ihm die Augen geöffnet, was echte, tiefe Gefühle waren.
Yaiden war in einem regelrechten Zwiespalt gefangen und er lief Gefahr, die Übersicht zu verlieren. Wie weit würde Yena noch gehen, um Emma aus dem Weg zu räumen? Er wr sich sicher, dass es so nicht weitergehen konnte, aber was sollte er tun? Ihm waren die Hände gebunden. Getrieben zwischen Pflicht und wahrer Liebe wusste er nicht, für was er sicht entscheiden musste. Er kannte den richtigen Weg nicht. Aber gab es in dieser misslichen Lage überhaupt noch Wahr und Falsch? Brachten nicht alle Entscheidungen letztlich Unheil für mindestens einen Beteiligten? Verzweifelt fuhr sich Yaiden durch die Haare und drehte seine Runden im Palasthof. In wenigen Tagen würde der Mond wieder günstig stehen und vielleicht war dies die letzte Chance, die ihm blieb. Er musste sich ein für alle mal entschieden - aber wie?
Als er die unschuldigen Schritte auf dem Kieselweg vernahm, war es zu spät, um noch davonzulaufen. Yena hatte sich bereits zu ihm gesellt und ein seltsames Lächeln aufgelegt. Ihre Haare waren zu einer Hochsteckfrisur gelegt und sie trug das Kleid, das sie sonst nur zu besonderen Anlässen wählte.
“Was machst du noch so spät hier draußen?”, säuselte sie und legte ihren schlanken Arm um Yaidens Hals. Diesem wurde warm und kalt. Er versuchte, den Blick in ihr Gesicht zu vermeiden. Auch wenn Yena ihn momentan nur zornig machte, hieß das noch lange nicht, dass ihr Körper keine Anziehung auf ihn auswirkte. Sie gehörte zu der Art von Frauen, die genau wussten, wie sie mit ihren Reizen spielten mussten, um zu bekommen, was sie wollte.
“Komm doch mit rein, es ist ja schon dunkel…” Ihre Stimme war melodisch, dunkel und bittersüß. Sie trieb ihn um den Verstand. Entschlossen presste Yaiden die Lippen aufeinander, um nicht schwach zu werden.
“Verzieh dich”, zischte er in Yenas Richtung, aber die Gestalt rührte sich nicht. Nach einer Weile schlang sie auch den zweiten Arm um seinen Hals. Sie war Yaiden so nahe, dass er ihren warmen Atem regelrecht spüren konnte.
“Bitte, Yena, ich kann das jetzt nicht”, flehte er und beging den Fehler, sie anzusehen. Ihr Blick war offen, verträumt und unschuldig. Betont klimperte sie mit den Augen und fixierte ihn. Röte stieg in Yaidens Gesicht und manifestierte sich dort.
“Ich…”, stammelte er, doch Yena schüttelte den Kopf und legte sich einen Finger vor die Lippen.
“Du musst nicht reden”, sang sie leise. “Worte sind wertlos gegen die Welt, die ich dir nun zeigen werde.”
Sanft ließ sie ihre hungrigen Lippen seinen Hals entlangwandern während sie ihn ins Innere des Schlosses navigierte. In einem weniger beleuchteten Winkel blieben sie stehen und sie setzte ihre Verführungskünste fort. Ein leises Stöhnen entwich Yaiden. Obwohl sein Herz nicht an ihr interessiert war, sein Körper fühlte sich, in diesem Zustand, mehr als angezogen von ihr. Jetzt war er es, der sie gegen die nackte Schlossmauer drückte, und seine Hände unter ihre Bluse wandern ließ, bis er die wohlgeformte Wölbung unter seinen Händen spürte. Zärtlich liebkosten seine schlanken Finger ihre Brust und ließ dort wo er sie berührte, eine Gänsehaut zurück. Obwohl er sich dafür verabscheute, konnte er nicht anders. Jedoch vermied er es tunlichst sie zu küssen. Dafür war er noch nicht bereit und er fragte sich ob er jemals sein würde. Jetzt war es an Yena, lustvolle Geräusche von sich zu geben. Die Hände in seinem Haar vergraben, ließ sie sich gehen und genoss die innigen Berührungen.
“Yaiden, Yay da bist du ja!”, die kindliche Stimme ließ ihn zusammenzucken und ehe das Mädchen etwas von den Intimitäten mitbekommen konnte, hatte er sich schon von Yena abgewandt. Diese funkelte böse die Kleine an, die davon jedoch nichts bemerkte. Ylvie, strahlte ihren großen Bruder an und nahm ihn an der Hand.
“Du hast versprochen mir was vorzulesen, Yay! Und du weißt: Verwehre niemals einem kleinen Mädchen einen Wunsch”, erinnerte sie ihn keck lächelnd und führte ihn von dannen.
Text: Regina Meißner und Rica Aitzetmüller
Images: Cover von Cover&Books - COBU Graphics - Rica Aitzetmüller
Publication Date: 10-01-2014
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