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Prolog



Irgendetwas war anders an diesem Abend. Der Kater kam vom Feld zurück, wo er Mäuse gejagt hatte. Die Sonne war schon hinter dem Wald verschwunden, und er wollte sich für einen Moment ausruhen, bevor er zu seinem nächtlichen Streifzug aufbrach.
Auf dem Hof stimmte etwas nicht. Die Geräusche waren anders. Wenn er sonst kam, hörte er es immer irgendwo scheppern und rumpeln oder hämmern. Der alte Bauer arbeitete von morgens bis abends. Er versorgte die Schweine und fütterte die Hühner, er mähte das Feld und erntete Gemüse, er reparierte den Stall und schnitt die Obstbäume. Oft wurde es spät. Aber an diesem Abend war es still. Der Kater lief über den Hof, wo die Hühner unter einem Busch herumpickten. Der Hahn stolzierte um sie herum und schaute den Kater misstrauisch an. Der Kater machte eine schnelle Bewegung auf ihn zu, und erwartungsgemäß begann der Hahn hektisch um die Hühner herumzurennen. Der Kater wandte ihm den Rücken zu und lief weiter Richtung Haus. Die Tür zur Küche stand einen Spalt offen, und er drückte sich vorsichtig hinein. Auf dem Boden vor ihm lag der alte Bauer. Er hatte die Augen geschlossen und bewegte sich nicht.




1.




David stand am Zaun und schaute aufs Feld. Der Abend- wind bewegte das Gras wie Wellen im Meer. Blödes Feld. Blödes Gras. Natürlich war das hier nicht seine Idee gewesen. Welcher zehnjährige Junge würde sich wün- schen, Ferien auf einem Bauernhof zu machen? Vielleicht gab es solche Jungs, aber wenn, dann kannte er sie nicht. Seine Freunde waren auf Fußballcamps oder am Meer oder mit einer Pfadfindertruppe unterwegs. Bauernhof war für Babys. Solche, die noch in den Streichelzoo gingen. Die Idee, dass er in den Ferien auf den Bauernhof fuhr, stammte von Mama.
»Deine Tante freut sich sehr, wenn du kommst«, hatte sie gesagt. »Und Papa und ich müssen noch arbeiten. Aber wir kommen nach.«
Jetzt stand er hier, mitten im Nichts, er hatte seinen Nintendo nicht mitnehmen dürfen, die nächste Kleinstadt war selbst mit dem Fahrrad zu weit, und im Haus schrie sein kleiner Cousin.

Er hätte genauso gut mit Robert zu seinen Großeltern
fahren können, in ihr Haus am Meer. Am Meer konnte
man surfen oder so tun als ob. Man konnte sich gegen- seitig im warmen Sand eingraben, Eis essen und riesige Burgen bauen. Auf dem Bauernhof konnte man stinkende Schweine angucken. Oder dämlich gackernden Hühnern zuhören. Wenn man ganz viel Glück hatte, entdeckte man einen Fuchs. David kickte mit dem Fuß ein Stück Holz weg. Seine Turnschuhe sahen jetzt schon aus, als ob jemand sie durch den Schlamm gezogen hätte. Dabei war er erst seit einem Tag hier.


2.


Marie hielt ihre Füße in die Sonne und beobachtete
eine kleine Ameise, die ihren großen Zeh entlang- krabbelte.
Thorwalds haben Besuch, hatte Mama gesagt. Ein Junge aus der Stadt, so alt wie sie. Und sie solle doch mal rübergehen und Hallo sagen. Vielleicht sei er ja ganz nett. Nicht, dass Marie eingebildete Stadtkinder besonders toll fand. Manche von ihnen taten so, als seien Kühe oder Schweine eine Weltsensation.
Andere staksten zwischen den Ställen herum und gaben sich größte Mühe, nicht in den Dreck zu treten. Dabei gab es im Grunde nur eine Regel auf dem Bauernhof: Entweder man lief barfuß oder man trug Gummistiefel. Beides, Füße und Stiefel, konnte man bequem abbrausen. Mit Turn- schuhen ging das eher schlecht. Diese Sorte Kinder traute sich noch nicht mal, ein Schaf zu streicheln.
Marie schaute zu dem anderen Hof hinüber. Weinranken
verdeckten die alten Mauern. Thorwalds hatten den Hof vor einigen Jahren übernommen. Sie waren das, was man »Teilzeit-Bauern« nennt. Karla war eigentlich Lehrerin und ihr Mann Thomas war Schreiner und betrieb eine eigene Werkstatt. Sie hatten ein paar Tiere und bauten Biogemüse an. Sie waren nett.
Und vor einem guten Dreivierteljahr war Simon auf
die Welt gekommen. Marie war oft bei ihnen, und manch- mal durfte sie sogar allein auf Simon aufpassen. Jetzt waren Ferien. Sieben Wochen lang musste sie nicht mehr um Viertel nach sieben mit dem Fahrrad zur Schule fahren. Das hieß nicht, dass sie ausschlafen konnte. Sie half frühmorgens die Kühe zu melken, und oft gab Mama ihr kleinere Aufgaben – das Unkraut in den Gemüsebeeten zu jäten oder die Schweine zu füttern.
Marie blickte auf das Feld und sah ganz am Rand eine
Bewegung im hohen Korn. Ein massiger dunkler Rücken schob sich durch die Ähren und blieb dann wieder stehen. Carlo. Sie sah den Keiler stets, wenn er abends das Feld durchquerte, und hatte ihm den Namen gegeben. Es war nur ein kleines Stück, von einem Waldstück ins andere, und ihr Vater bekam regelmäßig Wutanfälle, weil die Ähren plattgetrampelt waren. Marie hingegen mochte Carlo. Manchmal nahm sie das Fernglas, um ihn zu beobachten. Sein breiter Rücken glänzte silbern, den Kopf hatte er gesenkt, als ob er einer Spur hinterherschnüffelte. Sie hätte ihn gerne gefüttert, aber das war natürlich verboten. Wildschweine waren keine Hausschweine, das hatte ihr Vater ihr oft genug gesagt. Doch Marie hatte sich fest vorgenommen, irgendwann in diesem Sommer in den Wald zu gehen und Carlo zu suchen.


3.


Als David am nächsten Morgen aufwachte, wusste er
für einen Moment nicht, wo er war. Das legte sich, als er kurz darauf den Hahn grell krähen hörte und durchs Fenster ein Geruch wehte, der sich aus Kuhmist, nassem Gras und blühenden Linden zusammensetzte.
Er verzog das Gesicht und schloss die Augen, als könne er das Bild aussperren, das er sah: weiße, gekalkte Wände. Blau-weiß karierte Vorhänge. Ein alter Nachttisch aus Holz und ein großer Kleiderschrank.
Keine Fußballposter, keine Spielsachen. Seine Bücher hatte er auf einem Stuhl gleich neben der Tür gestapelt. Er stand auf und zog die Shorts von gestern an. Seine Turnschuhe waren noch nass, weil er abends versucht hatte, sie sauber zu kriegen. Thomas hatte angefangen zu lachen, als er mit den schlammbespritzten Schuhen in die Küche gekommen war, und hatte ihm angeboten, gleich heute Gummistiefel zu besorgen.
Er machte die Tür auf. Von unten hörte er Simon schreien und dazu Karlas beruhigende Stimme: »Ist ja gut, mein Schatz, psch, mein Baby …«
Wie konnte man nur so ein Affentheater um ein Baby machen, das doch nur schrie, stank und schlief?
David lief die Treppe hinunter in die Küche. Simon
bekam sein Fläschchen und beruhigte sich gerade. Vor
dem alten Küchentisch lag ein schwarz-weiß gefleckter Kater und schaute ihn träge an. David nahm sich ein Glas Milch.
»Morgen«, sagte er missmutig.
»Hallo, mein Lieber«, antwortete Karla. »Gut geschlafen?«
»Geht so.«
In Wirklichkeit hatte er ziemlich gut geschlafen, aber er dachte gar nicht daran, zu schnell gute Laune zu ver- breiten. Er hatte sich das hier nicht ausgesucht.
»Hör mal«, sagte Karla vorsichtig, »ich habe mir überlegt, dass du Marie kennenlernen könntest. Sie ist so alt wie du, und sie kann dir bestimmt einiges zeigen.«
»Marie? Aber das ist ja ein Mädchen.«
Karla lachte.
»Ja klar ist sie ein Mädchen. Hast du was gegen Mädchen?«
Ob er was gegen Mädchen hatte? Was für eine blöde
Frage. Mädchen konnten nicht Fußball spielen, dafür
wollten sie auf Schulfesten tanzen. Sie tuschelten an- dauernd und ihre Hefte waren mit Blümchen verziert. Außerdem wurden sie von den Lehrern bevorzugt.
Ob er was gegen Mädchen hatte? Aber hallo!
»Na ja«, sagte er. »Kann sie schwimmen?«
»Ich nehme an, sie kann sehr gut schwimmen«, sagte Karla. »Zumindest sehe ich sie im Sommer immer zum See hinunterradeln. Willst du dir vielleicht ein Brot machen? Butter steht drüben, Käse ist im Kühlschrank.«
Nach dem Frühstück rief Karla bei Maries Mutter an.
»Wann kann sie rüberkommen?«, hörte er Karla fragen.
»Ja, ist gut. Ich nehme an, er freut sich … Na ja …«
Dann hörte er Karla lachen. »Gut, grüß sie, bis später.«
Zu sagen, dass David sich auf Marie freute, war nun
wirklich übertrieben. Aber wahrscheinlich war ihr
Besuch immer noch besser, als mit Thomas in den stinken- den Stall zu gehen und die Schweine zu füttern.
David setzte sich auf die Eingangstreppe und betrachtete den Hof, der in der Morgensonne lag. Das Gebäude, in dem Thomas und Karla wohnten, war alt, und die beiden bastelten noch immer daran herum.
Schräg gegenüber lag ein neu gebauter Schweinestall
aus hellem Holz, und in der Mitte des Hofs stand eine große Linde. Unter der Linde pickte eine Gruppe von schwarzen Hühnern mit weißen Punkten auf dem Boden herum. Jetzt hörten sie mit dem Picken auf, setzten sich in Bewegung und begannen schrill zu gackern.
David grinste. Das waren bestimmt Mädchen!
In diesem Moment kam ein Junge den Weg zum Hof
entlanggerannt. Er hatte dunkle, strubbelige Haare,
war braun gebrannt, trug ein rot-weißes Ringelshirt
und kurze Hosen. Die dünnen Beine steckten in Gummi- stiefeln. Der Junge kam quer über den Hof und blieb dann direkt vor ihm stehen. Er streckte ihm die Hand entgegen und sagte: »Hey, ich bin Marie.«


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Imprint

Text: Berlin Verlag ISBN: 978-3827053848
Publication Date: 06-28-2010

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