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Alamannen - Sturm auf Rom

 

 

 

 

Michael Haase

 

Alamannen – Sturm auf

Rom

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Das Ende des Königs

Ängstlich blickte er sich um. Tagelang nun schon auf der Flucht vor seinen Verfolgern und seine Glieder schmerzten fürchterlich. Ganz auf sich allein gestellt, fühlte er sich nicht mehr so mächtig wie in früheren Tagen, dazu kam, dass ihm die Fremde Unbehagen bereitete.

Warum? Warum das alles?

Immer wieder die quälenden Fragen. Wenn er sich bewegte, war er frei, kam er dagegen zur Ruhe, schossen die Zweifel aus den Untiefen seines Bewusstseins empor und erfüllten ihn mit großer Angst.

Meine Brüder, meine Familie. Nie wieder.

Hinter sich hörte er die Häscher und wusste, er war verloren. Vor sich die Schlucht und der rauschende Fluss – diesmal gab gab es kein Entkommen.

„Da ist er, wir haben ihn!“

Freudige Stimmen, Jubellaute und Hundegebell durchdrangen den Wald. Sie waren sich ihres Sieges sicher. Der Wolf bleckte die Zähne. Erneut ging er alle Möglichkeiten durch, doch die Strapazen der letzten Tage und das hohe Alter machten einen weiteren Kampf unmöglich. Starr blickte er seine Verfolger an und erwartete das Ende. Gedanken an frühere Tage kamen ihm in den Sinn. Sein langes, ereignisreiches Leben spulte sich mit nie geahnter Klarheit vor dem inneren Auge ab.

Kindheit, Raufereien, der Vater, die Mutter, seine erste Liebe, Freya! Sie war seine erste und letzte Liebe. Nichts hatte er so geliebt wie sie, nichts war ihm heiliger. Bewundernswert waren ihre Schönheit, ihr langes pechschwarzes Haar, ihre grünlich – schimmernden Augen und ihre vollen, wollüstigen Lippen. So jung sie gestorben war, hatte er sie in seiner Erinnerung behalten und niemals vergessen, niemals mehr eine andere geliebt.

Seine Söhne. So verschieden, wie zwei Menschen nur sein konnten. Er war stolz auf sie, wenn er sie auch nicht geliebt hatte. An die Jagd erinnerte er sich am liebsten. Die fliehende Beute, das Adrenalin in seinem Körper, der Zusammenhalt des Rudels, schließlich das Stellen, das Erlegen...

Das Rudel ist nicht mehr.

Sie hatten es abgeschlachtet, wie sie auch ihn abschlachten würden. Alles, was er aufgebaut hatte, hatten sie binnen weniger Tage zerstört. Nichts würde jemals mehr so sein, wie es einmal war. Ein Pfeil flog an ihm vorbei, hinab in die Schlucht. Er machte einen Satz zur Seite.

Getroffen.

Kraftlos sank er auf die Knie und hielt den Schaft des Pfeiles, der aus seinem Bauch ragte. Voller Schmerz spürte er weitere Treffer und krümmte sich vor Schmerz. Sein Blick wurde glasig, nur die Stimmen der Häscher konnte er noch hören, auch, wenn er sie nicht verstand.

Plötzlich diese Stimme hinter ihm.

„Komm!“, sagte ein Mann, dessen Stimme ebenso liebenswürdig, als auch gebieterisch klang. „Hier rüber, zur Schlucht. Lebend willst du ihnen doch nicht in die Hände fallen, oder?“, fragte er und winkte.

„Ein Satz, ein kleiner Schritt nur.“

Der Mann lachte.

Er erkannte ihn.

„Loki..“, flüsterte er aber der andere schüttelte den Kopf und bedeutete ihm, zu schweigen.

„Ich habe viele Gesichter, doch ich bin hier, um dir zu helfen. Ich zeige dir den Weg nach Walhall, zur großen Tafel.“

Ihm wurde warm ums Herz. Er lächelte.

Unter heftigen Schmerzen gelang es ihm aufzustehen und seinen Stand zu stabilisieren, dann setzte er zum Sprung an, seinem letzten. Der Mann breitete seine Arme aus und einen Moment lang schien es, als würde er ihn auffangen.

Dann löste er sich in Luft auf und der Wolf stürzte. Er warf einen letzten Blick auf die Verfolger, die ihm über den Rand der Schlucht nachblickten, dann genoss er das Gefühl des Fluges und lächelte.

Wer hat gesagt, wir könnten nicht fliegen?

Der Wolf war glücklich und fühlte sich erhaben. Für eine kurze Zeit spürte er keine Zweifel, keine Schmerzen mehr, nur noch Glück und eine unendliche Freiheit.

Dann schlug er auf dem Grund auf und der harte Aufprall raubte ihm den Atem, presste die Luft aus seinen Lungen und verwandelte seinen geschundenen Körper in eine breiige Masse.

Im Reich der Wölfe

Es war ein regnerischer Wintermorgen. Die Sonne hatte man seit Tagen nicht mehr gesehen, wie eine riesige graue Decke lag der wolkenverhangene Himmel über den Hügeln des südlichen Germaniens. Zum dichten Nebel und der allgegenwärtigen Finsternis der dunklen Jahreszeit gesellte sich überdies ein eisiger Wind, der unaufhörlich blies und die Wachen am Haupttor der Donarsburg vor Kälte schlottern ließ.

Missmutig und gelangweilt stand ein alter Krieger mit Namen Wulff auf dem kleinen Wachturm, der sich direkt neben dem Tor befand. Stumm und gelangweilt blickte er auf das vor ihm liegende Tal. Nichts außer Nebel und ein paar Baumspitzen waren zu sehen und die bedrückende Stille wurde nur gelegentlich vom Krähen eines Raben oder dem Jaulen eines hungrigen Wolfes unterbrochen.

Von diesen gelegentlichen Zerstreuungen abgesehen, langweilte Wulff sich furchtbar. Seine Hauptbeschäftigung war es, sich den Hintern zu kratzen und seinen Körper von Läusen zu befreien. Seit vierzehn Tagen und Nächten war der Hauptsitz der Sueben nun schon in die graue Finsternis eingehüllt und - soviel wusste der Alte - es würde noch einige Zeit dauern, bis das Licht die Dunkelheit besiegen und den Menschen wieder Wärme, Kraft und Freude bringen würde.

Sonne, Wärme. Fast glaubte der Alte, sie zu spüren und ihm wurde warm ums Herz. In drei Nächten war das Fest der Wintersonnenwende, das alle Völker nördlich der großen Berge feierten. Wintersonnenwende war für sie die Geburt der Sonne und der Beginn des neuen Jahres. Auf die Wintersonnenwende folgten die zwölf Rauhnächte, in denen Donar mit den Geistern der Verstorbenen über das Land streifte.

Es war die Zeit, in der die Menschen abends Krüge mit Met und Töpfe mit Haferbrei oder Fleisch vor ihre Tür stellten um die launischen Götter und die Geister der Toten zu besänftigen. Niemand war so töricht, in dieser Zeit seinen Wohnsitz zu verlassen, denn selbst die tapfersten Krieger der Sueben fürchteten sich vor dem dichten Nebel, den Dämonen und den furchtbaren Geistern, welche die Dunkelheit beherbergte. Statt auf die Jagd zu gehen, saßen sie in ihren Hütten herum, tranken Met und schauten ihren Frauen bei der Hausarbeit zu.

Sie betrachteten anerkennend die gewebten Stoffe, tauschten die Schäfte ihrer Speere aus, bemalten die Schilde neu und trafen sich an manchen Abenden mit anderen Kriegern ihres Stammes um die Erinnerungen an vergangene Kämpfe und Heldentaten wach zu halten. Bei diesen Zusammenkünften lauschten sie den Gesängen der Barden und erzählten sich Geschichten von Königen und Helden vergangener Tage.

Dies waren die Abende, an denen der Met in Strömen floss und die Sorgen und Nöte aus den Herzen der Krieger vertrieb. Bei diesen Gelegenheiten wurde gescherzt, gespielt und selten endeten solche Zusammenkünfte ohne eine ausgewachsene Rauferei. Für eine kurze Zeit verdrängten die Männer den harten, entbehrungsreichen Winter und füllten ihre Herzen mit dem Glanz alter Erinnerungen und Heldentaten. Wulff lächelte.

Eines wusste Wullf, der mit fünfunddreißig Jahren dem Ende eines erfüllten Lebens entgegenging: Das Jahresrad dreht sich jedes Jahr aufs Neue und ein Jahr gleicht stets dem anderen. Obwohl sich die Menschen jedes Jahr neue Dinge vornehmen und nach neuen Herausforderungen suchen, bleiben der Kreislauf der Sonne und der Ablauf der Ereignisse immer gleich.

Nach der Schneeschmelze im Frühjahr, wenn die warmen Strahlen der Sonne in die mit Reet gedeckten Häuser scheinen, verwandeln sich die gutherzigen, oftmals faulen Männer in unruhige, launische Wesen. Wenn erst die Saat ausgebracht ist, kann nichts und niemand sie in ihren Häusern, bei ihren Frauen und Kindern festhalten.

Ähnlich wie die Tiere, werden sie jedes Jahr aufs Neue von den warmen Sonnenstrahlen geweckt und sehnen sich nach neuen Herausforderungen und Abenteuern. Das ist die schönste Zeit des Jahres, die Zeit, in der es in der Burg nicht mehr so ruhig und beschaulich war wie jetzt. Das Lachen der Kinder, das Hämmern der Schmiede, die lauten Rufe der Männer.

Es gab vieles, das Wulff vermisste. Sehnsüchtig schwelgte er in Erinnerungen an den vergangenen Sommer.

Plötzlich wurde er traurig. Wehmütig dachte er an jenen herrlichen Tag kurz vor Beltane, als König Chrocus und einige seiner Krieger die Burg verlassen hatten, um niemals wiederzukehren. Seitdem hatte niemand etwas von ihm gehört. Roderich, der Sohn des Königs, hatte die Königswürde an sich genommen und seither als starker Herrscher erwiesen.

Kurz vor Beltane musste es gewesen sein, überlegte Wulff und schob sich die Fellmütze etwas tiefer ins Gesicht, weil der Wind gerade heftig blies. Dann überlegte er, wann die Krieger dieses Jahr aufbrechen würden und wohin ihr Weg sie diesmal führen mochte. Die rätische Provinz war völlig ausgeblutet, lange schon gab es dort schon nichts mehr zu holen.

Gallien hatte sich als lohnendes Ziel für die Beutezüge der Sueben erwiesen, allerdings musste man zuerst den großen Strom überqueren und das war keine einfache Sache. Außerdem warteten in der Ferne stärkere Garnisonen auf die Eindringlinge, als in der rätischen Provinz.

Wulff seufzte.

Viele Winter waren vergangen seit seinem letzten Kampf. Voller Gram schweiften seine Gedanken zurück an den Tag, an dem ihm ein römischer Gladius das Kniegelenk verstümmelt hatte. Täglich betete er, Wotan möge ihn endlich zu sich nach Walhall holen, doch seine Gebete blieben vorerst ungehört und jüngere, bessere Männer zogen statt seiner ins Reich der Götter und Helden.

Mittlerweile schmerzten seine Glieder bei jeder Bewegung. Die ergrauten Haare fielen in großen Büscheln aus und der schreckliche Husten, der ihn Tag und Nacht quälte, brachte ihn schier um den Verstand.

Walhall.

Wulff wurde beim Gedanken an die große Festhalle warm ums Herz und er lächelte, als er auf die Umrisse des kleinen Weges blickte, der sich von der Burg hinunter ins Tal schlängelte. Es schien als sei die übrige Welt an diesem Tag überhaupt nicht vorhanden, als habe der listige Loki sie in einen weißen Mantel eingehüllt.

Wulff rieb sich die alten, faltigen Hände und seufzte. Sehnsüchtig wartete er auf die Ablösung und das wärmende Lagerfeuer in seinem kleinen Häuschen. Fröstelnd zog er den alten, abgetragenen Mantel aus zusammengenähten Schafpelzen enger an seinen Körper, der ansonsten nur von einem dünnen Leinenhemd bedeckt war. Plötzlich stutzte er.

Was war das?

Im Nebel glaubte er eine Gestalt zu erkennen, die sich langsam der Burg näherte.

Erst dachte er, es sei ein Baum oder ein Reh, dann aber erkannte er deutlich einen Menschen, der in einen Kapuzenmantel eingehüllt war und sich langsam und schwankend auf ihn zu bewegte.

„Halt!“, rief er, doch der andere reagierte nicht und schleppte sich weiter den Berg herauf. Wulff wiederholte seine Forderung und wurde nervös. Was hatte das zu bedeuten? Wer war bei solch einem Wetter unterwegs, wenn er nichts Böses im Sinn hatte? Nervös betrachtete er den Mann, der sich jetzt schon bis auf zwanzig Fuß angenähert hatte..

Der Mann sah schaurig aus, wie ein Bote aus Hel, der Unterwelt. Die Kapuze hüllte sein Gesicht fast vollständig ein. Wulff bemerkte das Gesicht des Mannes, welches völlig entstellt war. Dies, in Verbindung mit der Tatsache, dass dem Mann ein Arm fehlte führte dazu, dass sich Wulffs Nackenhaar vor Angst sträubten.Was, wenn der fremde Wanderer in Wahrheit ein Bote Lokis war, oder gar der Gott selbst?

Der alte Mann war sehr gläubig und fürchtete nichts so sehr wie den Zorn der Götter.

Was also war zu tun? Wulff trippelte unschlüssig hin und her und schaute von seinem Turm hinunter. Niemand niemand war zu sehen. Vermutlich bummeln die anderen wieder oder sie schlafen, dachte er verdrossen und holte seine Schleuder hervor.

Sorgfältig nahm er Maß und feuerte in Richtung des Mannes. Dann bemerkte er zufrieden wie der Stein kurz vor diesem auf dem Weg einschlug und seinen schwarzen Umhang mit Schnee bespritzte. Erschrocken blieb der Mann stehen und hob zitternd seinen Arm.

„Ortwin!“, hörte Wulff die krächzende, brüchige Stimme.

„Der Krieger Ortwin, ich komme aus Gallien!“ Wulff grübelte, doch er konnte sich an keinen Krieger mit einem solchen Namen erinnern. Langsam griff er nach seinem Glücksamulett, einem Hammer, der an einem dünnen Lederbändchen um seinen Hals hing. Er sendete ein Stoßgebet an Donar, den Gott der Krieger, nahm seinen Speer und quälte sich die morsche Leiter hinunter.

„Warum schicken sie einen alten Mann wie mich überhaupt noch auf den Turm? Meine Augen sind trübe und die Glieder schmerzen bei jeder Bewegung, vor allem jetzt – in der dunklen Jahreszeit!“, fluchte er und fiel fast herunter, weil er plötzlich heftig niesen musste.

Unten in einer kleinen Lehmhütte saßen zwei junge Männer und wärmten sich am Feuer. Sie warfen kleine Steine gegen die Wand, lachten und scherzten und bemerkten den eintretenden Wulff gar nicht.

Er machte sich bemerkbar, indem er einem von ihnen, mit dem Schaft seines Speeres auf den Kopf schlug. „Verfluchte Bastarde, ihr sollt die Burg bewachen und nicht bummeln!“, herrschte er sie zornig an, während er die verglimmende Glut bemerkte, die vor wenigen Stunden ein loderndes Feuer gewesen war.

Gerade wollte der andere etwas zu seiner Entschuldigung bemerken, als auch er einen mächtigen Faustschlag erhielt.

„Ihr habt das Feuer ausgehen lassen“, brummte der Alte und zeigte zur Tür.

„Vor dem Tor steht jemand und wartet auf Einlass. Raus mit euch, macht euch nützlich!“

Die jungen Männer, hasteten zur Tür und waren so perplex, dass sie sogar vergaßen, ihre Mäntel anzulegen. Wulff dagegen kniete sich ans Feuer und legte einige kleine Holzscheite auf, dann blies er bis es wieder brannte und erwärmte seine durchgefrorenen Glieder.

„Verfluchte Bengel, sollen sie sich doch um den Kerl kümmern“, murmelte er und rieb sich die kalten Hände. Derweil hatten die beiden Männer den großen Eichenbalken entfernt, mit dem das Eingangstor verriegelt war. Langsam öffneten sie das Tor und erschraken über das Aussehen des sonderbaren Gastes.

Am meisten beunruhigte die Männer der Teil seines Gesichts, der unter der Kapuze hervorschaute. Der Mann hatte nur ein Auge, seine Gesichtshaut war vernarbt und sah aus, wie nach einer Verbrennung. Dort, wo früher einmal das andere Auge gewesen war, sahen sie nur noch eine leere, blutverkrustete Höhle.

„Wer bist du, Fremder?“, fragte der mutigere der beiden Wächter, unfähig die Angst in seiner Stimme zu unterdrücken, während der andere zitternd den Speer auf ihn richtete.

„Keine Angst, ihr Burschen!“, krächzte der Mann und hob den Kopf um die beiden anzusehen.

„Ich bin der Krieger Ortwin, aus dem Gefolge von König Chrocus und begehre Einlass!“, fügte er nach einer kurzen Unterbrechung hinzu und ließ den Blick wieder zum Boden schweifen.

Die Erwähnung von König Chrocus machte auf die beiden Wachleute großen Eindruck. „Wenn du aus dem Gefolge des Königs kommst, dann sage uns doch, wo er ist!“ Wulff war im Tor erschienen und warf dem Fremden einen misstrauischen Blick zu.

„Bist du bewaffnet?“, herrschte er ihn an. Als Ortwin zur Antwort einen Dolch hervorholte winkte Wulff ihn heran. „Gib den Dolch ab und du kannst eintreten. Natürlich bleibst du erst unter Bewachung, bis König Roderich entschieden hat, was weiter mit dir geschehen soll!“

„Ihr solltet mich lieber sofort zu Roderich führen, denn was ich zu sagen habe duldet keinen Aufschub. Ich bin nicht den langen Weg von Gallien bis hierher gelaufen um von euch Tölpeln wie ein Verbrecher behandelt zu werden!“, fluchte Ortwin und warf den Dolch mit voller Wucht gegen das Tor, wo dieser schließlich dicht neben Wulffs Kopf stecken blieb.

Wulff erschrak und richtete den Speer auf Ortwin, aber dieser verzerrte seinen Mund zu einer grausigen Grimasse, die wohl ein Lächeln darstellen sollte. Besänftigend hab er den verbliebenen Arm. „Ich will euch nichts tun. Habt ihr etwa Angst von einem alten Krüppel?“, fragte er und humpelte an den Männern vorbei ins Innere der Burg. Wulff wollte ihn im Wachgebäude unterbringen, aber Ortwin hatte andere Pläne und quälte sich den Berg hinauf.

„Seht zu, dass das Feuer nicht wieder ausgeht!“, schärfte Wulff den jungen Männern ein und hatte danach einige Mühe, dem Fremden zu folgen.

Wolfsjunge

„Ein Krieger meines Vaters soll das sein? Ortwin. Der Name sagt mir nichts. Verstümmelt und zerlumpt soll er sein? Nun, bringt ihn her!“, befahl Roderich und konnte kaum die Neugierde in seine Stimme verbergen.

Kurz bevor der alte König die Burg verlassen und sich auf den Weg nach Gallien gemacht hatte, war Roderich zum neuen König der Sueben ernannt worden.Chrocus, schon lange seines Amtes überdrüssig, war froh, als er die lästige Bürde des Regierens endlich abgelegt hatte. Er war ein Greis und hatte beschlossen, seinen Lebensabend mit den angenehmen Dingen des Lebens zu verbringen.

Sein Sohn Roderich war groß gewachsen und überragte die meisten seiner Zeitgenossen um Haupteslänge. Sein Haar trug er, wie viele andere Krieger der Sueben auch, zur Seite zu einem Knoten geflochten und der lange, mächtige Bart gab ihm ein herrisches, Respekt einflößendes Aussehen. Roderich war nicht besonders intelligent, doch diesen Mangel machte er durch seinen großen Tatendrang und die ungeheure Energie wett, die ihn durchströmte. Er war ein guter König, ein ebenbürtiger Nachfolger seines Vaters, davon waren die Edelinge der Sueben überzeugt.

Es standen große Aufgaben vor dem Dreibund aus Sueben, Semnonen und Juthlungen, den die Römer etwas respektlos „Alamannen“ nannten, weil das Bündnis nahezu alle Stämme des südlichen Germaniens vereinte. Es war der Verdienst von König Chrocus, die großen Stämme im Süden Germaniens vereint zu haben und ihnen zu nie gekannter Stärke zu verhelfen.

„Zusammen sind wir stark!“, hatte Chrocus immer und immer wieder betont und der Erfolg gab ihm Recht.

Die Römer waren immer mehr in die Defensive gedrängt. Der Limes, ihr mächtiger Schutzwall gegen die Barbaren, war in den letzten Jahren mehrmals überrannt worden. Obwohl die Römer die Grenzgebiete stets wieder zurückerobert hatten, waren diese von den Plünderungen völlig ausgeblutet. Für die Germanen lohnte sich ein Angriff kaum, da es dort nichts mehr zu holen gab.

Die Vorbereitungen für einen großen Angriff auf das Imperium, weit über die Grenzen Rätiens hinaus waren vorangeschritten, aber es gab bei den Verbündeten immer noch letzte Vorbehalte und Zweifel, die es auszuräumen galt. Roderich stand in der Mitte des großen Wohnraumes innerhalb des Langhauses, als Wulff mit Ortwin im Gefolge eintrat.

„Du kannst gehen, mit dem werde ich schon alleine fertig, wenn er Faxen macht!“, sagte er zu Wulff, der ihn fragend anblickte. Als er gegangen war sank Ortwin auf die Knie und brabbelte einige unverständliche Wörter, aber Roderich riss ihn ungeduldig wieder hoch.

„Raus mit der Sprache, wo ist mein Vater!“, herrschte er ihn an, aber der alte Krieger ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Der König liegt irgendwo in Gallien in einem Straßengraben, dahingemordet von den Milizen!“, fluchte Ortwin.

Roderich wurde kreidebleich und setzte sich auf einen der kunstvoll gedrechselten Stühle.

„Das kann nicht sein“, murmelte er, aber Ortwin hörte ihm gar nicht zu sondern begann mit seiner Geschichte, die zu jener Zeit begann, als Chrocus im Frühjahr des Jahres mit zweihundert Kriegern nach Gallien marschiert war.

„Das weiß ich, erzähl mir was Neues!“, brummte Roderich und brachte Ortwin etwas aus dem Konzept.

Nachdenklich betrachtete dieser die Rauchschwaden, die sich an der Decke des Hauses sammelten. Wie Geister tänzelten sie auf und ab, bevor sie sich schließlich durch ein Loch im Bereich des Giebels den Weg nach draußen bahnten und seinen Blicken entschwanden.

„Den großen Strom hatten wir schnell überquert und Gegenwehr bekamen wir kaum. Einmal stellte sich uns eine Hundertschaft in den Weg, doch wir schlugen sie schnell in die Flucht und stießen weiter vor“, fuhr er dann mit seiner Erzählung fort, ohne den Blick von der Decke abzuwenden.

„Einige Städte und Dörfer machten wir nieder, doch am liebsten plünderten wir die Villae Rusticae, die reichen Gutshöfe, aus. Zwei Monate später hatten wir genug Sklaven und Beute gemacht und beschlossen uns auf den Heimweg zu machen. Alle hatten das Gefühl, alles sei etwas zu glatt gelaufen, doch wir waren viel zu beschäftigt mit unserem neuen Reichtum und den erbeuteten Frauen, dass wir es schnell wieder verdrängten.

Wir kamen recht langsam voran und das war unsere eigene Schuld, weil wir vom vielen Zechen müde waren und die Achsen unserer Wagen unter der Last der schweren Beute ächzten. Kurz vor der Grenze, als wir uns schon überlegten, wie wir die ganze Beute über den Fluss bringen sollten, griffen sie eines Morgens an. Es waren römische Legionäre, gemischt mit Milizen. Sie nutzten unsere morgendliche Schwäche und die Trunkenheit vieler Männer aus..“, an dieser Stelle blickte er etwas beschämt zu Boden, „und hatten nicht viel Mühe uns niederzumachen.

Die meisten unserer Männer wurden auf der Stelle getötet, König Chrocus und einige Überlebende wie ich konnten fliehen, doch wir wurden von leichter Kavallerie aufgemischt und hatten keine Chance. Den König floh, wurde aber wenig später gestellt. Einige Edelinge und auch mich nahmen sie gefangen und brachten uns in eine nahe gelegene Stadt.“

An dieser Stelle machte er eine Pause und zog die Kapuze zurück, um dem Grafen sein entstelltes Gesicht zu präsentieren.

„Als sie nichts herausbekamen, beschlossen sie, uns hinzurichten. Mir wurde die Aufgabe zuteil, als Überlebender meinem Stamm vom Schicksal des Königs zu berichten und die Germanen vor erneuten Überfällen auf römisches Gebiet zu warnen. Bevor sie mich gehen ließen, hackten sie mir den Schwertarm ab und blendeten mich. Allerdings war der Schmerz über die Niederlage und den Verlust des Königs weitaus größer als die Schmerzen seines bescheidenen Dieners“, schloss er seine Erzählung und blickte Roderich unterwürfig an.

Der Graf rief Quirin, seinen Schalk, und wies ihn an, Ortwin ein Quartier zu besorgen. Quirin war ein kleiner, quirliger Mensch mit feuerroten Haaren und Sommersprossen im Gesicht. Er war siebzehn Jahre alt und der Sohn eines Unfreien, der schon dem Vater von König Chrocus gedient hatte.

Roderich hatte Gefallen an dem jungen Mann mit dem eigentümlichen Aussehen gefunden und sah daher über manche seiner kleinen Schwächen großmütig hinweg. Seinen Dienst erfüllte der junge Mann stets tadellos, dazu war er in vielerlei Hinsicht sehr schlau und gewitzt.

Das einzige, das an ihm negativ auffiel, war sein vorlautes und zuweilen freches Mundwerk, welches ihm schon einigen Ärger und so manche Backpfeife eingebracht hatte. An diesem Tage aber begnügte sich Quirin damit, die Anweisungen seines Herrn mit einem stummen Kopfnicken zu quittieren und führte Ortwin in sein Quartier. Roderich dagegen blieb zurück und dachte nach.

Er hatte seinen Vater sehr verehrt und über alle Maßen geliebt und war schockiert über den Ortwins Bericht. Auch konnte er sich nicht erklären, wie seine kampferprobten Landsmänner auf diese Weise überrumpelt werden konnten.

Die Römer hatte er schon immer gehasst. Jetzt zitterten seine Hände vor Erregung und er schwor bittere Rache. Nachdem er ein Horn Met getrunken hatte, beruhigte er sich etwas und rief nach Magulfus, dem Druiden, dem er mehr vertraute, als allen anderen.

Magulfus war ein altes, kleines Männlein. Keiner wusste so genau wie alt er war, doch viele behaupteten, er habe schon über hundert Sommer erlebt. Er hielt sich gerade, hatte ein sonnengebräuntes, faltiges Gesicht, lange weiße Haare und einen Bart, der ihm bis zum Schritt reichte. Magulfus hatte das Wissen von Generationen und verfügte über mehr Einfluss und Macht als jeder andere Suebe, dennoch drängte er sich niemals in den Vordergrund und blieb meistens ruhig und bescheiden.

„Du wünschst mich zu sprechen, König Roderich“, flüsterte er und seine buschigen Augenbrauen senkten sich, um Roderich mit einem durchdringenden Blick anzusehen. Roderich gab dem Druiden in kurzen Sätzen Ortwins Bericht wider, worauf dieser leise seufzte und nach langer Überlegung krächzte: “Traurige Sache, das mit dem König. Aber was nun?“

„Das frage ich dich, Magulfus. Ich mag als Krieger recht brauchbar sein, doch habe ich wenig Übung darin, zu herrschen oder gar einen Krieg zu führen. Der Tod meines Vaters wird das Bündnis zwischen uns, den Juthlungen und Semnonen sehr belasten. Ihn achteten sie hoch, ihm vertrauten sie“, fluchte Roderich.

Magulfus schwieg einige Augenblicke.

„Die Zeiten sind unruhig, Roderich. Von Norden und Osten drängen fremde Völker in Richtung Süden und durchstreifen unsere Gebiete. Rom ist schwach, die Grenze so schlecht bewacht wie lange nicht mehr. Wir haben schon oft darüber gesprochen, dass wir Rätien angreifen müssen. Im Süden erwarten und Wohlstand und Reichtum und das wissen die anderen Stämme auch. Wenn es Aussicht auf reiche Beute gibt, werden sie mit dir ziehen, das weiß ich!“, beschwor er Roderich und packte ihn so fest am Arm, dass dieser vor Schmerzen keuchte.

„Du bist der König, du musst jetzt stark sein!“, bedrängte er ihn so laut, dass Svea, Roderichs Frau, in den Raum trat um nach ihrem Mann zu sehen. Vorwurfsvoll blickte sie den Druiden an, der aber nichts als einen wütenden Blick für sie übrig hatte.

„Alles in Ordnung, Svea. Lass uns bitte allein, wir haben zu reden“, murmelte er, worauf diese zähneknirschend den Raum verließ. Der Druide warf die Holzstäbe auf den Boden und versank daraufhin in eine tiefe Trance. Er murmelte einige unverständliche Worte vor sich hin und studierte sorgfältig das vor ihm liegende Gewirr.

„Die Götter sind dir gewogen, mache dir keine Sorgen“, begann er, allerdings bemerkte Roderich, dass der alte Druide ihm etwas verschwieg. „Ist das alles, was du mir sagen kannst, Magulfus?“, drängte er den alten Mann, aber der ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Da ist noch etwas, eine komplizierte Konstruktion...“, Magulfus fuhr sich durchs Haar und schien angestrengt nachzudenken, während Roderich bemerkte, dass seine Stirn von Schweiß bedeckt war.

„Dieses Jahr dürfen wir nicht warten, bis der Frost vorüber ist. Die Gelegenheit ist günstig wie nie, wir sollten sie beim Schopfe packen.“

„Es wird schwer sein, die Männer vor Frühlingsanbruch nach Süden zu führen“, entfuhr es Roderich.

„Schwer wird es werden, Roderich. Dennoch müssen wir es wagen, wir müssen angreifen!“, rief Magulfus. „Warum die Eile, warum nicht warten, bis die Sonne den Frost bezwungen hat?“, fragte Roderich.

„Je eher, desto besser“, antwortete Magulfus störrisch und nahm einen großen Schluck Met. „Oft habe ich die Götter befragt, unzählige Male die Buchenstäbe geworfen“, raunte er.

„Und? Was haben sie dir mitgeteilt?“, Roderich konnte seine Ungeduld kaum verbergen. „Die Götter sind auf unserer Seite, sie unterstützen uns, wenn wir an uns glauben.“

„Entschuldige, aber das sind doch alles nur Redensarten, leere Worthüllen“, unterbrach ihn Roderich. „Als König habe ich die Verantwortung über eine Vielzahl an Menschen, Magulfus. Ich muss tun, was für unseren Stamm das Beste ist! Vielleicht wäre es besser, den Angriff zu verschieben oder ihn auszusetzen. In Rätien gibt es ohnehin nichts mehr zu holen.“

Zitternd stand er an der Türe und starrte hinaus in den dichten Nebel. Magulfus antwortete ihm nicht und nahm einen großen Schluck aus seinem Krug. Wütend starrte er vor sich hin. Sein Gesicht war weiß und die schmalen Lippen zuckten.

„Es liegt eine Menge Arbeit vor mir. Viele Dinge sind nun zu erledigen, jetzt, nach seinem Tod!“

Damit verließ er Roderich und stapfte davon. Roderich konnte lange keinen Schlaf finden in dieser Nacht. Er verließ das Nachtlager, wollte alleine sein, um sich im Vorraum auf einigen Fellen niederzulegen. Stundenlang wälzte er sich herum und versuchte zu schlafen, wurde aber immer wieder gestört. Einmal stach ihn ein Strohhalm, dann wieder kitzelten ihn die feinen Härchen seines Fells. Schließlich gab er es auf und lag, den Blick zur Zimmerdecke gerichtet, auf dem Rücken. Schon komisch, dachte er grimmig. Ich bin hundemüde und völlig erschöpft, aber mein Kopf scheint hellwach zu sein.

Er machte sich über viele Dinge Gedanken in jener Nacht, vor allem über den bevorstehenden Angriff auf den Limes, den sein Vater und auch Magulfus unbedingt wollten. Er dachte an die Reichtümer und den Ruhm, der ihn im Süden erwartete, dann wurden seine Gedanken finster.

Was, wenn wir verlieren?

Auf römisches Gebiet konnte man leicht eindringen, vielleicht auch einige Städte und Gutshöfe plündern, wahrscheinlich auch einige Schlachten gewinnen, aber was würde dann kommen? Rom würde sich nicht kampflos ergeben. Sie würden es nicht hinnehmen, würden zurückschlagen. Roderich wollte keinen großen Krieg, er hatte ein ungutes Gefühl.

Er hatte Angst. Er dachte darüber nach, was sein Bruder Veit dazu sagen würde und lächelte, als er an den wirren Sonderling dachte, der vielleicht auch einmal König werden würde.

Ja, wenn ich tot bin.

„Wo ist er denn eigentlich, ich habe ihn schon seit Tagen nicht mehr gesehen“, fragte er sich leise und erinnerte sich

Imprint

Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Publication Date: 03-08-2015
ISBN: 978-3-7368-8243-0

All Rights Reserved

Dedication:
Die "Alamannen" sind ein teils fiktives Werk, welches auf histoischen Fakten, wie die Regierungszeit von Kaiser Gallienus und dem in diese Epoche stattfindenden Alamanneneinfall im Jahre 259 nach Christus beruht. Hierbei geben die Geschichtsbücher wenig Auskünfte über das Ausmaß des Angriffes, noch weniger ist über die Anführer der Germanen bekannt. Das Buch soll aber nicht als Geschichtsbuch gesehen werden, vielmehr möchte der Autor Geschichte lebendig werden lassen und seine Leser in die Welt der Römer und Germanen einführen, ihnen die verschiedenen Charaktere und seltsamen Mythen dieser vergessenen Welt näherbringen.

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