Gleich stellt sich heraus, ob es beste oder die schlechteste Idee meines Lebens ist.
Die Worte hallten in Alecs Kopf, brachten Zweifel mit, doch im nächsten Moment wehte der Fahrtwind seine Bedenken fort. Er seufzte unter seinem Helm und schmiegte den Oberkörper noch enger an das kühle Metall des Motorrads. Geschickt wedelte er an den Doppeldeckerbussen und Autos vorbei, immer weiter, über die geschäftige Bond Street. Aus den Augenwinkeln sah er die Menschenmassen, die sich an den unzähligen Modeläden vorbei und in sie hinein schlängelten. Touristen liefen orientierungslos umher, mischten sich unter die vorbei hastenden Londoner, starrten auf ihre Handys.
Heute muss einfach mein Tag werden! Ich brauche diesen Job! Seine Familie benötigte das Geld so dringend. Wahrscheinlich könnten sie sonst in wenigen Monaten nicht einmal mehr die Stromrechnung bezahlen und das, was er auf dem Bau verdiente, wurde schon von der Miete und den Schulden aufgefressen. Diese verrückte Idee musste einfach die Lösung sein! Aufregung und Vorfreude brodelten in seinem Magen.
Erleichtert lenkte er die Maschine zwischen zwei der riesigen Kaufhäuser hindurch in die dunkle Seitenstraße, die zum Manchester Square führte. Einen Augenblick später schreckte er zusammen und stoppte.
Seelenruhig überquerten zwei Rucksack-Touristinnen vor ihm die Straße, ohne aufzusehen. In ihre Handys vertieft, bemerkten sie ihn nicht einmal. Missbilligend schüttelte Alec den Kopf und hupte kurz. Beide Mädchen sahen verwundert auf, dann zückte die junge Frau mit den blonden Rastalocken ihr Telefon und schoss ein Foto von ihm. Verdutzt sah Alec den beiden nach, die schon wieder auf die kleinen Bildschirme starrten und kicherten.
Mit einem genervten Seufzen startete er die Maschine und fuhr weiter. Gerade wollte er sich über den Vorfall ärgern, da bemerkte er die Veränderung in der Umgebung. Als wäre ich durch ein Tor in eine andere Welt gefahren. Tatsächlich, hier direkt hinter der Bond Street, nur wenige Meter vom Treiben, von den ewiggleichen Modeketten und großen Kaufhäusern entfernt, befand sich ein anderes London.
Gelassene Ruhe lag über dem Manchester Square. Prächtige Stadthäuser aus Backstein mit großen Fenstern, eines herrschaftlicher als das andere, reihten sich wie auf einer Perlenkette auf. Mit verzierten Prunkeingängen, die von Säulen eingerahmt wurden, gepflegten Vorgärten und hübsch angelegten Beeten. Jetzt, im Juni, leuchteten die Rosenbüsche in allen Farben. Und das alles keine 20 Motorrad-Minuten von dem tristen Sozialbau entfernt, in dem er mit seiner Familie lebte. Dort blühten höchstens die Gänseblümchen zwischen Betonplatten.
Alec parkte am Ende der Straße vor dem größten Haus. Nun schwappte die Aufregung fast über in ihm. Fahrig nahm er seinen Helm ab und sah sich mit großen Augen um.
Die Straße teilte sich etwa in der Mitte und umschloss einen kleinen Park, den eine hohe Umzäunung einrahmte. Das schmiedeeiserne Tor war mit einem rostigen Schloss verriegelt. Dichtes Blattwerk versperrte den Blick hinein. Ein Privatpark, nur für Anwohner. Wahnsinn. Zweifel zuckten erneut durch seine Vorfreude. Angespannt presste er die Lippen zusammen. Das war doch sein Tag, oder? Und mit einem Mal kam Alec sich vor, wie ein Pinguin in der Wüste. Ein Pinguin aus der Unterschicht, der unbeholfen durch eine luxuriöse Wüste watschelte und hoffte, niemand würde erkennen, dass er kein herrschaftliches Kamel war.
Mit klammen Fingern strich er sich durchs Haar, schälte sich aus der Lederjacke, und verstaute sie im Gepäckbehälter. Schließlich nahm er die sorgfältig zusammengefaltete Anzugjacke heraus und zog sie an. Unsicher warf er einen Blick in einen der Außenspiegel der Maschine und schluckte trocken.
Hübsch genug war er, das war ihm bewusst. Noch einmal strich er sein dunkles Haar glatt und starrte sich aus grünen Augen an, skeptisch und extra für heute glattrasiert, im geliehenen Anzug. Aber würde das genug sein? Zusammen mit den unzähligen Videos, die er angesehen hatte, den gefühlten tausend Stunden, die er durch das Internet gelesen hatte, war das ausreichend, um diesen Job zu bekommen?
Na, die Lady hatte er doch schon überzeugt! Jetzt fehlte nur noch ihr Sohn. Aber der würde sein Arbeitgeber werden! Nun, zumindest auf dem Papier. Mein Sohn darf auf keinen Fall von unserem kleinen Abkommen erfahren! Er muss das Gefühl haben, er selbst stellt sie ein! Von meiner Übereinkunft mit der Agentur weiß er nichts. Das hatte ihm die Lady, bei ihrem Treffen in diesem noblen Café eingeschärft.
Was für ein eigenartiges Vorstellungsgespräch war das nur gewesen, wunderte sich Alec immer noch. Er hatte gedacht, er würde sich bei Lady Mathilda bewerben und am Ende sollte er ihrem erwachsenen Sohn als Hilfe untergeschoben werden. Einem jungen Autor, der seit Jahren völlig zurückgezogen in einer Stadtvilla lebte.
Wenn er diesen Job bekam, war seine Familie mit einem Schlag alle Sorgen los. Und wenn sie von etwas genug hatten, dann waren es Sorgen. Er musste das hier durchziehen, so viel war klar!
Alec räusperte sich, straffte seinen Oberkörper und schritt langsam die staubige Auffahrt nach oben, bis zu dem massigen Eingang, der an der Vorderseite des Anwesens thronte. Der überdachte Bereich gab dem Haus ein Aussehen, das entfernt an eine kleinere Version des Buckingham Palastes erinnerte. Mit jedem Schritt verstärkte sich das Kribbeln in seinem Magen. Als er endlich an der Eingangstür angekommen war, musste er eine Hand auf seinen Bauch legen, um die surrenden Käfer darin zu beruhigen.
Nicht zu lange nachdenken! Entschlossen drückte er den breiten Messingknopf. Im Haus war ein lautes Glockengeräusch zu hören. Alecs Atem beschleunigte sich, auch sein Herzschlag wurde schneller. Hastig zwang er sich zu einem Lächeln und ... wartete.
Zwei Minuten später wartete er immer noch. Nichts! Niemand öffnete. Unter einem langen Seufzen ließ er die Glocken im Haus erneut läuten. Unruhig trat er von einem Bein aufs andere. Dann sah er auf seine Uhr. Halb sechs am Abend. Müsste doch passen. Erscheinen sie auf keinen Fall vor fünf Uhr abends! Mein Sohn ist ein Künstler. Na, in jedem Fall ein Lebenskünstler. Mit einem ungeduldigen Schnaufen erinnerte sich Alec an die Worte von Lady Mathilda.
Noch einmal betätigte er den Klingelknopf und dieses Mal zog er die Augenbrauen zusammen, als der Ton erklang. Verdammt! Das schallt ja bis hier raus. Ich dachte, der Typ hat was mit dem Rückenmark, nicht mit den Ohren. Ob der ihn gar nicht sehen wollte? Mist. War die ganze Sache umsonst gewesen? Diese Schnösel aus der Oberschicht, die waren Alec einfach ein Rätsel. Hatten es wohl nicht nötig, Termine einzuhalten! Sicher war der junge Lord so ein Typ, der erst im Internat gewesen war und dann in Cambridge studiert hatte. Immer in der gebügelten Freizeithose, mit Segelschuhen und im teuren Hemd, so standen diese Leute wahrscheinlich schon auf. Ständig bereit zum nächsten Tennis- oder Golfspiel. Solche Typen wussten nichts von seinem Leben und den Sorgen seiner Familie!
Langsam öffnete sich die Eingangstür. Und hinein in Alecs Bedenken, und weiter bis in seine Seele blickten ein Paar große, braune Augen.
Alecs Mund stand für einen Moment offen. Hinter der Tür kam ein junger Mann zum Vorschein, vielleicht in seinem Alter, schätzte er. Mitte oder Ende zwanzig. Wunderschöne Mandelaugen mit langen, dichten Wimpern zierten ein Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem vollen Mund. Das hellbraune Haar reichte ihm fast bis zum Kinn, auf einer Seite hatte er es hinters Ohr gestrichen.
Alec wunderte sich. War der Kerl nicht krank? Na, blass sah er schon aus, aber mehr wie die bleichen jungen Männermodels, die man während der Fashion Week durch die Stadt laufen sah. Seine Kleidung war weniger beeindruckend als sein Gesicht und nichts davon rief: Snob. Er trug eine schwarze Jogginghose, dazu ein verwaschenes T-Shirt in einer nicht mehr erkennbaren Farbe, das weit an seinem schmalen Körper hing. Eine ebenso graue Strickjacke flatterte nachlässig um seine Schultern. Und er war barfuß!
Die Verwirrung vernebelte Alecs Gedanken. Für einen Augenblick konnte er nicht sprechen. Das war ein junger Lord? Dieser, zugegeben schöne, Penner? Oder war das vielleicht der Hausmeister? Ein Gast? Nee, laut der Mutter, lebte der Typ hier alleine. Denk an den Job! Alec zog die Luft tief ein und atmete lange aus. Schließlich zauberte er ein Lächeln auf seine Lippen und verbeugte sich leicht, so wie er es in den Videos gesehen hatte.
„Guten Abend. Mein Name ist Alec Prince. Ich bin wegen des Butlerjobs hier.“
Der junge Mann blinzelte, dann zeigte sich ein schmales Lächeln auf seinem Gesicht, das Alec nicht deuten konnte.
„Prince? Wegen des ... Butlerjobs? Aha“, sagte er im aufgesetzten Zungenschlag der Oberschicht.
Da war es wieder, das Gefühl, der Pinguin aus der Gosse in der Wüste der Lords zu sein. Alec schluckte schwer und versuchte, seine Aufregung hinter einem gelassenen Gesichtsausdruck zu verbergen. Verflucht. Ihm floss doch Unterschicht aus allen Poren, wie sollte er das nur verstecken.
„Nun, Mister Prince ... Alec, dann kommen Sie doch herein. Oh, mein Name ist Henry, aber das wissen Sie natürlich schon.“
Er drehte sich ab und schlurfte langsam in Richtung der Eingangshalle. Verwirrt starrte Alec ihm hinterher. Der junge Mann hielt sich gerade, aber er zog ein Bein nach und mit etwas Abstand, konnte Alec erkennen, dass die linke Hand zitterte.
„Nun?“ In der Mitte der Halle drehte sein Gastgeber sich mit fragendem Blick zu ihm um.
Alec nickte, schloss die Tür und folgte der Aufforderung. Der große Saal war prächtig, kein Zweifel. Auch hier - Säulen, manche bis zur Decke, andere kürzer, auf denen Büsten standen. Die Wände waren zur Hälfte mit einem roten Stoff ausgeschlagen, den das Wappen der Familie Quincy zierte. Eine Rose mit wehrhaften Dornen.
Doch kein Teppich lag hier, die Fenster waren fest verschlossen, nur das Schachbrettmuster des Bodens gab dem Raum einen Hauch von Moderne. Von den Wänden glotzten Menschen, die sicher längst zu Staub geworden waren, zu ihnen herunter. Mit Wehmut dachte Alec an ihre winzige Wohnung in Brixton, in die sich derzeit fünf Menschen drängen mussten. Zwei enge Schlafzimmer für sie alle. Die Zwillinge, Eddy, seine Mutter und ständig schrie, sang oder lachte jemand. Gerne redeten alle durcheinander. Aber dort war es allemal gemütlicher als in dieser Gruft.
„Hier entlang, bitte“, sagte sein Gastgeber mit sanfter Stimme und quälte sich die breite Treppe hinauf.
Jeder Schritt schien ihm schwerzufallen. Kopfschüttelnd sah Alec ihm nach und mit einem Mal wusste er, warum die Mutter ihren Sohn hinterging: damit der endlich Hilfe einstellte. Ziemlich hinterlistig hatte er die Aktion zuerst gefunden. Aber jetzt überkam ihn eine Welle von Mitleid. Der Kerl lebte hier schon sechs Jahre allein und lehnte jede Unterstützung ab. Alec hastete die Treppe hinauf und blieb dicht hinter Henry, um ihn im Notfall auffangen zu können. Mit ihm wanderten die Gedanken an diese Unternehmung nach oben.
Gleich hinter der Empore war links eine Art Haustür zu erkennen.
„Hier ist das Apartment“, erklärte Henry, öffnete und trat zur Seite. Er blinzelte.
Alec presste die Lippen kurz aufeinander, dann betrat er die düstere Wohnung. Licht fiel nur durch die Spalten in den geschlossenen Fensterläden. Ein seltsamer Geruch stieg in seine Nase. Eine Mischung aus Muff, Staub und etwas, das er nicht ausmachen konnte. Skeptisch sah er sich um. Von einem kurzen, spärlich beleuchteten Flur gingen mehrere Türen ab. Zeitungen und Zeitschriften stapelten sich in allen Ecken. Die Papiertürme reichten ihm teilweise bis zur Hüfte. Unsicher blieb er stehen. Henry schlurfte an ihm vorbei, hinein in den angrenzenden Wohnraum. Alec folgte ihm und zog die Luft scharf ein.
Chaos! Wohin er auch blickte, nichts als Chaos. Kein Möbelstück war frei von Papier oder Unrat, leere Pizzaboxen lagen auf dem Boden neben halb vollen Flaschen mit undefinierbarem Inhalt. Das war es, was hier so roch! Vorsichtig schnüffelte er in die Müllhalde. Zum Glück konnte er keinen Alkohol ausmachen, nicht mal Zigaretten. Dafür etwas anderes, durchaus Aromatisches. Zigarren! Sein Opa hatte ab und zu welche geraucht und die hatten so gerochen. Alec rümpfte die Nase.
Die aufkommende Enttäuschung spülte die letzte Vorfreude in ihm fort. Ernüchterung machte sich an ihrer Stelle breit. Verflucht! Als er sich für diesen Job vorbereitet hatte, sogar Zeugnisse dafür gefälscht hatte, da hatte er sich das ganz anders vorgestellt! Geld für seine Familie verdienen. Seine Mutter entlasten.
Die hatte sich doch ihr Leben lang bemüht, aber jetzt stand sie da: 45 Jahre alt, die dreijährigen Zwillinge noch lange nicht aus dem Gröbsten und dann hatte sie der Schlaganfall getroffen. Seine Schwester Eddy versorgte sie, so gut sie konnte, aber nie war Geld im Haus und für alles mussten sie auf dem Amt fragen. Von der Bank gab es schon lange nichts mehr. Viel zu viel mussten sie schon zurückzahlen. Alec wollte doch nur raus aus den ewigen Schulden, den kurzen Anstellungen auf dem Bau. Verflucht! Er konnte der Butler einer guten Familie sein und seine dabei unterstützen. So würde das Geld gerecht verteilt, da war er sich sicher.
Aber was er hier sah und roch war alles, nur nicht das, was er sich erhofft hatte. Butler - das hatte sich nach schönen Häusern und einem einfachen Job angehört. Ein bisschen höflich sein, seriös wirken und dann floss das Geld, viel einfacher als auf dem Bau. So hatte er sich das gedacht. Das dumpfe Gefühl in seinem Magen breitete sich aus. Entmutigt ließ Alec die Schultern hängen.
Sein Gastgeber war bei einem Tisch angekommen. Mit der Hand schob er einen Papierstapel von einem der Stühle und nahm die Getränkedose von einem anderen. Dann drückte er den Berg aus Zeitschriften, Büchern und einer leeren Fertiggericht-Verpackung zur Seite und nickte Alec auffordernd zu.
„Nehmen Sie Platz, bitte.“
Seine Stimme klang tief und ruhig. Sie passte zu seinem schönen Gesicht, fand Alec und etwas in ihm entspannte sich. Im Bruchteil einer Sekunde entschloss er sich, dieser Sache noch eine Viertelstunde zu geben. Er hatte doch nichts zu verlieren. Zumindest Erfahrung in Vorstellungsgesprächen für Butlerjobs würde er sammeln können.
Er setzte sich so vornehm wie möglich und versuchte, den Blick auf dem Mann zu lassen, der ihm gegenübersaß. Der war allemal netter anzusehen als seine verdreckte Bude.
„Ihre Unterlagen haben Sie ja gemailt. Erzählen Sie doch etwas über Ihre Erfahrungen“, sagte Henry und es klang so gelangweilt, als hätte er diese Frage schon vielen Kandidaten vor ihm gestellt.
Lady Mathilda hatte dafür gesorgt, dass keiner ihrem Sohn zusagte, wie auch immer sie das angestellt hatte. Sie wollte bestimmen, wer für Henry arbeitete, und ihre Wahl war auf ihn gefallen.
„Es wird eine einfache Aufgabe. Wenn es nicht um seine Mutter geht, ist mein Sohn recht ... umgänglich. Übrigens ist er homosexuell. Ist das ein Problem für sie?“ Das hatte die Lady gesagt.
Alec grinste. Ja, wer im Londoner East-End zwischen Hooligans und anderen Schlägern aufwuchs, der lernte früh, dass es besser war, niemand wusste, wen er lieber küsste. Außer seiner Mutter und seiner Schwester Eddy, ahnte niemand, dass er Männer bevorzugte. Na, der Lady würde er es auf keinen Fall sagen!
„Das ist kein Problem, Mylady“, hatte er in der geschraubten Sprache geantwortet, die er geübt hatte.
„Sehr gut. Aber ... nun, ich werde ab und zu einige Informationen von ihnen benötigen, dafür bezahle ich gut. Zum Wohle meines Sohnes, natürlich!“
„Natürlich“, hatte Alec sofort geantwortet. Was auch immer diese Leute mit zu viel Zeit und viel zu viel Geld spielten, ihm war es egal. Alec atmete durch, schüttelte die Gedanken an das Gespräch ab.
„Ich habe gerade meine Ausbildung an der Royal Butler School in Antwerpen beendet. Bisher konnte ich noch keine Erfahrungen sammeln, doch ich hoffe, dass sich dies bald ändert. Ich bin bereit, mein Bestes zu geben“, leierte Alec den Satz herunter, den er so oft vor dem Spiegel geübt hatte.
Henry verengte die Augen. „Ihre Zertifikate sind wirklich beeindruckend. Und die Schule hat einen besonders guten Ruf.“
Klangen da etwa Zweifel in seinen Worten durch? Alec war sich nicht sicher. Hoffentlich hatte Henry die Fälschung nicht erkannt! Unruhe flammte in seinem Magen auf. Aber verflucht! Er wollte diese Stelle doch gar nicht mehr! Wer wollte schon hier beim König des Chaos arbeiten? Nur auffliegen - das durfte er auf keinen Fall. Sein ganzer Plan wäre dahin, das Geld ... seine Mutter!
„Vielen Dank. Ich bin stolz auf diesen Abschluss“, antwortete er schnell.
„Tatsächlich“, sagte Henry plötzlich und klang gar nicht mehr so abgehoben.
Unter einem Schnaufen verschränkte er die Arme vor der Brust und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Dann zog er ein Bein schwerfällig über das andere, sein nackter Fuß ragte über die Tischkante. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, entspannte sich leicht. Ein schiefes Grinsen breitete sich auf seinem Mund aus.
„Alec, du bist echt ein cooler Typ, traust dich was! Kommst hierher mit gefälschten Zertifikaten und willst einen Job. Respekt.“ Er grinste breiter.
Alec war, als würde erst sein Mageninhalt und dann er selbst durch die Decke hinunterstürzen und auf den harten Boden der Eingangshalle knallen. Entdeckt! Mit zitternden Fingern krallte er sich an den schweren Holztisch, wollte sich nach oben ziehen, fliehen! Durch den Nebel seiner Panik drangen weitere Worte zu ihm.
„Es tut mir so leid. Meine Familie … meiner Mutter geht es sehr schlecht, sie hatte einen Schlaganfall und … ich wollte nur einen Job, in dem ich genug Geld verdienen kann.“
„Okay.“ Eine Weile betrachtete ihn Henry nachdenklich. „Etwas in der Art dachte ich mir. Ich habe dich im Internet gesucht und … ein paar Informationen über dich eingeholte. Ein Massenmörder scheinst du nicht zu sein. Schau, es ist so: Diese ganze Sache ist eine verdammte Erpressung. Meine Mutter ist der Meinung, ich armer kranker Mann, brauche dringend Hilfe.“ Er lachte bitter und schenkte Alec einen langen Augenaufschlag. So hinreißend der war - er konnte ihn nicht beruhigen. Aufgewühlt spähte er zur Tür, plante seine Flucht. „Sie droht mir, wenn ich nicht endlich jemanden einstelle, wird sie ihren Wohnsitz auf Mallorca verlassen und hier einziehen. Aber weißt du, hier wohnen doch schon meine Freunde Multiple und Sklerose und selbst die halten meine Mutter für eine der Plagen der Hölle.“
Unwillkürlich schüttelte Alec den Kopf. Die Lady war wirklich freundlich zu ihm gewesen. Für eine arrogante Oberschicht-Tussi sogar liebenswert. Aber natürlich durfte ihr Sohn nicht erfahren, dass er sie getroffen hatte! Fuck! Der würde seiner Mutter sicher von dem Betrüger erzählen, der mit falschen Papieren bei ihm vorgesprochen hatte. Das war das Ende seiner Butlerkarriere, noch bevor sie begonnen hatte. Alec seufzte leise. Woher sollten sie nur genug Geld bekommen?
Henry hatte den Kopf zur Seite geneigt und sah ihn eindringlich an.
„Bisher haben nur Deppen vorgesprochen. Mein Familienname zieht solche Typen an, wie das Licht die Motten. Feine Herren, die sicher nichts Besseres zu tun hätten, als meiner Mutter von meiner bedauerlichen Existenz zu berichten. Da kann sie ja gleich hier einziehen.“ Er schnaufte verächtlich und schüttelte den Kopf. „Aber du bist anders, würdest dich sicher nie mit einer Schnepfe wie meiner Frau Mutter einlassen. Daher schlag ich dir ein Geschäft vor. Ich stelle dich für sechs Wochen ein. Dann entlasse ich dich, in der Hoffnung, dass dieser Versuch meine Mutter für ein paar Jahre ruhig stellt. Im Gegenzug schreibe ich dir eine Empfehlung und vermittele dir ein neues Haus. Dann bist du ein richtiger Butler und mit etwas Glück fragt dich niemand mehr nach den Zertifikaten.“
Alec versuchte, das Angebot zu verarbeiten. Henry, der gar nicht so feine Herr, bot ihm den Job doch an? Weil er dachte, Alec würde keinen Kontakt zu seiner Mutter herstellen. Peinlich pochten die Schuldgefühle in seinen Schläfen. Doch, genau das würde er tun! Denn dafür bezahlte ihn die Lady fürstlich.
Und dann war sie plötzlich da - die Lösung. Wie ein blinkendes Werbeschild erschien sie in seinem Kopf: Er würde sie einfach beide anlügen! Mutter und Sohn. Henry müsste nie erfahren, dass er sich mit Lady Mathilda traf. Und der Lady würde er irgendeine Story auftischen, die mit Henrys Leben nichts zu tun hatte.
Nur sechs Wochen? In der Zeit würde er eine Menge Geld verdienen und vielleicht konnte er mit Henrys Hilfe wirklich in einem anderen Haus unterkommen. Möglicherweise in einem, das nicht so seltsam roch. In diesem Augenblick fiel eine tonnenschwere Last von Alecs Brust. Fast konnte er hören, wie sie auf den Boden krachte. Endlich atmete er freier.
„Ich bin dabei!“ Entschlossen streckte er Henry die Hand hin.
„Wunderbar.“ Henry grinste und schlug ein. Ohne loszulassen, sagte er über den Tisch hinweg: „Ich fürchte, du wirst hier einziehen müssen. Meine Mutter lebt zwar in Spanien, aber sie hat überall in der Londoner Gesellschaft Spione. Lauter Adels-Deppen, wie sie selbst. Die brennen nur darauf, mich ans Messer zu liefern.“
Nun sah Alec sich doch im Raum um und schluckte. Worauf hatte er sich nur eingelassen?
„Okay“, sagte er leise.
„Geschafft“, murmelte Henry.
Für einen Augenblick sah er zu der schweren Holztür, die gerade ins Schloss gefallen war. Dann wandte er sich ab und trottete in die Küche. Achtlos ging er an dem Geschirrberg vorbei, der schon lange darauf wartete, in die Spülmaschine eingeräumt zu werden. Schließlich hatte er das Fenster erreicht und schnaufte. Die Enge in seiner Brust wollte einfach nicht verschwinden, ließ ihn nicht frei atmen. Seufzend öffnete er das Fenster und die Vorrichtung für den schweren Holzladen, das es verdunkelte. Dann schob er die beiden Teile einen Spalt breit auseinander und zog die kühle Luft des Sommerabends tief in seine Lunge. Aber immer noch war es ihm, als hätte sich eine Hand um seine Brust gelegt und würde fest zudrücken. Was war nur los mit ihm?
Henry blinzelte in die untergehende Sonne und lenkte seinen Blick weg vom Meer aus Dächern, hinunter zur Einfahrt von Haus Quincy. Ein letzter Sonnenstrahl streifte das dunkle Haar von Alec, der sich mit einer lässigen Bewegung auf seine Maschine schwang. Sogar aus dieser Entfernung waren seine Muskeln unter der Lederjacke zu erahnen. Schon heulte der Motor auf und dann verschwand er im Dunkel der hereinbrechenden Nacht und zwischen den mächtigen Kaufhäusern, deren Rückseite das Tor zum Manchester Square bildeten.
Ohne dass er sich dagegen wehren konnte, drängten Bilder in Henrys Kopf. Er sah sich selbst, auf einer ähnlichen Maschine, wie er über die sanften Hügel des Garden Distrikts fuhr, spürte den Wind, der seinen Körper umschmeichelte. Brauste in Gedanken über die kurvenreichen Küstenstraßen von Cornwall, schmeckte die salzige Luft auf seiner Zunge.
Meist war er mit einem Begleiter unterwegs gewesen, vielleicht sogar einer Gruppe von Freunden. Wie wilde Horden waren sie in die Hotels am Weg eingefallen, hatten gefeiert, gelacht und Wein getrunken. Ab und zu hatten diese Ausfahrten in einem der Cottages auf dem Anwesen seiner Familie geendet. Aber es war die verfluchte MS, die das inzwischen unmöglich machte. Stand sein Motorrad nicht sogar noch in der Garage auf Rosewater? Er hatte es jedenfalls nie verkauft.
Henry schnaufte und setzte sich auf die breite Fensterbank. Dann zog er sein gesundes Bein nach oben und winkelte es an. Sein Fuß berührte den kühlen Marmor, eine leichte Brise wehte zu ihm herein, umschmeichelte seine Zehen. Nur ganz entfernt hörte er den Lärm, der von der Bond Street herüberschwappte, doch die Geräusche drangen nur wie durch Watte zu ihm.
Alec. Was für ein irrer Hund. Henry musste lächeln und fühlte eine Welle aus Neugier und Respekt für den Kerl durch seine Gedanken fließen. Mut hatte er ja, das musste man ihm lassen. Tauchte einfach so auf und schickte ein gefälschtes Zertifikat vorab. Wie hatte er das nur der Agentur unterschieben können?
Na, fast hätte es funktioniert. Henry dachte an den schnöseligen Typen, der gestern bei ihm vorgesprochen hatte. Was war eigentlich mit dieser Agentur los? Er hatte doch ausdrücklich darum gebeten, keine Leute, die Adels- oder Häuser der Oberschicht gewohnt waren, zu schicken. Aber nein - wie die Zinnsoldaten hätte er sie aufreihen können, einer arroganter als der andere. Und erst die Erfahrungen, die sie alle gesammelt hatten. Aber genau das wollte er ja nicht. Wenn er sich schon auf diesen Deal einließ, dann sicher nicht mit jemandem, den auch nur der Hauch von Emporkömmling umwehte. Seine Mutter wartete doch nur darauf, so einen Kerl in die Finger zu bekommen. Wie eine Zitrone würde sie ihn nach verwertbaren Informationen auspressen und am Ende hatte er sie auf dem Hals. Außerdem brauchte er sicher keinen Standesdünkel in seinem Umfeld! Genau davor war er doch geflohen!
Henry schluckte den Gedanken, der nicht einmal die halbe Wahrheit war, herunter. Mit den Fingern strich er fest über das Bein, mit dem er hinkte, und lachte bitter auf. Wie immer war es, als würde er die Berührung erst Sekunden, nachdem sie vergangen war, spüren. Und er fühlte sie so, als würde er über ein eingeschlafenes Bein streichen. Wie ein unangenehmes Kribbeln, das nie ganz durch die Haut zu den Nerven drang. Schließlich umfasste er sein anderes Handgelenk und studierte das leichte Zittern der Finger eine Weile. Aus den Augenwinkeln betrachtete er die verdorrten Rosensträucher in der Auffahrt unter ihm. Ihre trockenen Äste vibrierten im Wind des Abends. Ich bin einer von euch. Ein verdorrter Strauch und wie ihr kann ich nicht verhindern, dass ich zittere.
Plötzlich war sie wieder da - die alte Traurigkeit, vielleicht war sie es, die ihn vor Jahren in diese Trutzburg getrieben hatte? Henry zog sein gesundes Bein noch dichter an den Körper, dann hievte er auch das Andere schwerfällig nach oben und half mit den Händen nach. Schließlich kauerte er sich gegen die Mauer und blickte in die Ferne.
Weit über die bunten Dächer, die Mauern und das Treiben darunter starrte er, hinein in seine Vergangenheit. Fast konnte er die gesunden Rosensträucher riechen, die vor den anderen Herrenhäusern im Manchester Square standen und jetzt im Frühsommer in allen Farben blühten. Wie lange war er schon nicht mehr in der Nacht spazieren gegangen? Jahre war das her. Irgendwann hatte ihn selbst das daran erinnert, dass er nicht mehr blühte und sich im Fahrtwind wiegte, sondern nur noch im trocknen Boden zitterte.
Eine Erkenntnis schob sich unaufhaltsam in seine Gedanken. Was habe ich nur angestellt? Gerade hatte er sich darauf eingelassen, sechs Wochen mit diesem fremden Kerl, diesem gesunden, kräftigen Mann aus Brixton, in seiner Höhle zu leben! In seiner Schutzburg! Konnte er Alec überhaupt trauen? Na, zumindest mehr, als den schnöseligen Kerlen, die von der Agentur geschickt worden waren, etwas in ihm war sich sicher. Und wie es hier aussah.
Mit einem Mal schämte sich Henry für sein Zuhause. Obwohl er hier oben nur von ein paar gurrenden Tauben auf der Regenrinne umgeben war, fühlte er die Wärme, die in seinem Gesicht aufstieg. Na, zum Glück zahlte er Alec 1000 Pfund für die Scharade, die sie für seine Mutter spielen würden. Hoffentlich sah der ein, dass er hier nichts zu tun hatte. Ein Mann, der ihm hinterherlief, ihn womöglich bedienen wollte? Nein, Henry brauchte nichts weniger als eine ständige Erinnerung daran, dass er wie diese Rosensträucher da unten war. Alles in seinem Körper fühlte sich plötzlich schlecht an, unangenehm, als könnte er Alecs Mitleid mit dem hinkenden jungen Lord jetzt schon fühlen.
Lord? Bloß nicht! Er musste Alec unbedingt sagen, dass der ihn so niemals nennen dürfte und ... Henry atmete tief ein und aus. Warum pochten die Adern in seinen Schläfen so heftig? Dieser Alec war doch nur ein Fremder, ein Typ, der dringend Geld brauchte und nur deshalb bei ihm angeheuert hatte. Der Anwalt seiner Familie hatte es bestätigt. Warum also die Aufregung?
Henry blickte in die dunkle Wohnung. Der modrige Geruch stieg in seine Nase. Schnell drehte er den Kopf wieder zum Fenster und wunderte sich, über das starke Gefühl von ... Vertrautheit, das Alec in ihm auslöste. Wie konnte das überhaupt sein? Nach all den Jahren konnte er es noch erkennen? Doch, er war sich ziemlich sicher, dass Alec schwul war. Etwas war da gewesen, als sich ihre Blicke gekreuzt hatten. Etwas Bekanntes. Vielleicht hatte Alec den letzten Rest Lebendigkeit in ihm sehen können, der noch durch die vertrockneten Äste wanderte? Was auch immer er entdeckt hatte, es war sicher schwul gewesen.
Henry lächelte schmal, nur um im nächsten Augenblick seine gesunde Hand zur Faust zu ballen. Nein! In seiner Arbeit durfte er träumen, in seine Romane sollten seine Sehnsüchte fließen, nicht zu diesem Mann, den er bald für seinen Gefallen bezahlen würde! Immerhin ging es nur darum, seine Mutter auszutricksen. Bevor die mit ihrem überwältigenden Charme, ganz London überredete, ihn auszuspionieren. Ja, sie wusste, dass er schwul war, aber Henry traute ihr zu, dass sie ihn in eine Schienehe drängen wollte, nur damit er Nachwuchs zeugte. Warum wollte sie nur ständig ihre Nase in seine Angelegenheiten stecken? Bevor es soweit kam, würde er lieber Alec sechs Wochen in seiner Nähe ertragen.
Eine Weile starrte er aus dem Fenster in die Ferne. Schließlich wurde der Wind kühler, kroch unter sein T-Shirt und in seine Jogginghose, ließ ihn frösteln. Ich sollte ohnehin arbeiten. In fünf Tagen ist die Deadline und Betty nervt jetzt schon!
Umständlich stieg er von dem steinernen Plateau und wollte die Nachtkühle ausschließen, da wehte ein einzelnes Rosenblatt herein, blieb auf der Fensterbank liegen. Ein kleiner Marienkäfer saß darauf, als hätte er ein Blatttaxi genutzt, um zu ihm zu gelangen.
Henry beugte sich über Taxi und Passagier und hob sie auf. Dann setzte er beide behutsam vors Fenster und ließ die Läden offen, um sie nicht zu zerquetschen. Er atmete tief durch und ging in Richtung Arbeitszimmer. Den Blick ins Wohnzimmer vermied er und bevor er sich an den Schreibtisch setzte, dachte er daran, wie es wohl sein würde, mit einem anderen Menschen, hier, in seiner Wohnung. Für einen Augenblick schien es ein schöner Gedanke zu sein. Wie war das nur möglich, wo er doch seit Jahren kaum Kontakt mit der Welt hatte? Dann schüttelte er den Kopf über sich selbst, versuchte sich abzulenken.
Wieso hatte er die Rosenbüsche in der Auffahrt eigentlich verdorren lassen? Es wollte ihm nicht einfallen. Vielleicht sollte er Alec bitten, sie auszutauschen? Nein! Er durfte nicht einmal anfangen, von diesem Mann wie von einem echten Butler zu denken. Alec war in sechs Wochen Geschichte!
Lust auf einen entspannten Abend in meinem Hot Tub?
Alec las die Nachricht, schüttelte unwillkürlich den Kopf und steckte das Handy in die Brusttasche seiner Lederjacke. Für einen Moment überlegte er, zog das Telefon wieder hervor und tippte:
Sorry, bin diese Woche busy. Was ist mit dem Wochenende? Samstag bei Joe?
Dann nahm er ein weiteres T-Shirt aus dem Schrank, packte es sorgfältig in seine Tasche und sah sich um. Hatte er etwas vergessen? Suchend streifte sein Blick durch das winzige Zimmer. Gerade mal ein Bett, ein Regal und ein schmaler Kleiderschrank passten hinein. Verflucht - mit 25 sollte man längst eine eigene Wohnung haben! Nachdenklich neigte er den Kopf zur Seite.
Einmal war er kurz vorm Ausziehen gewesen. Aber dann war seine Mutter überraschend wieder schwanger geworden und vom Vater der Zwillinge hatten sie schnell nichts mehr gehört. Seit ihrem Schlaganfall brauchte seine Familie das Geld, das er verdiente. Da blieb nichts mehr übrig für eine eigene Wohnung im teuren London.
Er seufzte und studierte den Riss in der Wand, der von abblätternder Farbe eingerahmt wurde, als wäre er ein modernes Kunstwerk. Irgendetwas in diesen Sozialwohnungen war doch immer feucht. Sein Handy vibrierte.
Okay, Hübscher. Dann sehen wir uns Samstag um 8 bei Joe.
Alec grinste schief. George war schon ein cooler Typ und hatte dieses unglaubliche Penthouse mit Dachterrasse und Hot Tub. Unter seine Freude auf den Samstagabend mischte sich eine leichte Erregung, die von seiner Körpermitte durch seinen Magen kribbelte. Gutaussehend war George auch und er hatte diese großen Hände, mit denen er wahre Magie wirken konnte. Der Gedanke ließ ihn erschaudern und war heiß genug, um ihn über die erste Woche in der adligen Müllhalde zu bringen, da war er sicher.
Leise und heimtückisch schlich sich ein Schuldgefühl an ihn heran, packte ihn und ließ seine Glieder anspannen. Alec schnaufte. Was sollte das jetzt? Er würde Henry nicht ans Messer liefern, das hatte er doch schon geklärt! So lange er der Mutter Unsinn erzählte, war es kein Betrug! Und überhaupt - wer war er denn für diesen noblen Kerl? Ein Niemand! Einer aus der Gosse, wo der niemals vorbeikam. Sicher machte der sich keine Gedanken über ihn. Da! Das Gefühl nagte schon wieder an ihm. Henrys schönes Gesicht wanderte durch seinen Kopf, drehte sich, dieser Augenaufschlag ...
„Wo ist mein Löööffeeel?“, brüllte Neil aus dem Wohnzimmer.
„Schhhh, leiser“, hörte Alec seine Mutter sagen.
Im nächsten Augenblick stand Eddy in der Tür und hielt triumphierend einen gelben Plastiklöffel in die Höhe. Dann trabte sie zum Bett und ließ sich geräuschvoll neben die Tasche fallen.
„An manchen Tagen ... ich schwör’s dir ... da will ich einfach nur abhauen. Nach Lissabon oder so.“
„Nach Lissabon?“
Alec betrachtete seine kleine Schwester besorgt. Ihre Haare waren zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden, über der verwaschenen Jeans trug sie ein viel zu enges Glitzershirt. Sie wirkte nicht wie eine 17-Jährige, die gerne Tiermedizin studieren wollte, sondern wie eine Teenager-Mum, und irgendwie war sie es ja auch.
„Jep. Muss toll sein. Da will ich unbedingt mal hin - ohne die Jungs!“ Und mit einem Mal wirkte sie sehr jung. Ihre Wangen nahmen eine dunkelrote Farbe an, sie sprach leise: „Der Liebesroman, den ich lese, spielt in Lissabon und sie kriegen sich gerade.“
Alec blinzelte und seufzte mitfühlend. Du solltest überall ohne die Jungs hinreisen, Darling. Du bist nicht die Mutter und musst frei sein! Alec setzte sich zu ihr und legte einen Arm um ihre Schultern. Ganz knochig fühlte sie sich an, kein Wunder bei all dem Stress und der Verantwortung, die darauf lastete.
„Liebes, wenn das mit dem Job klappt, und vielleicht andere folgen, dann kannst du nach Lissabon fahren oder wohin du willst, das verspreche ich dir. Ich setze dich selbst in den Zug aufs Festland.“
„Der hält in Paris“, murmelte sie verträumt und lehnte ihren Kopf gegen seine Brust. „Alec?“
„Was?“
„Ist das auch wirklich ein ... normaler Job? Als Hausmeister?“
Alec zog die Luft ein und schluckte hart. „Klar! Was denn sonst?“ Er bemühte sich um eine feste Stimme.
„Find’s halt komisch. Seit wann suchen die Snobs denn ihr Personal in Brixton?“
„War Zufall, hab ich dir doch erklärt. Ich kenne da jemanden ...“
„Der jemanden kennt ... hab ich ja verstanden. Hauptsache, du machst nichts Illegales.“
Erleichterung ließ seine Glieder entspannen. So lange sie nur dachte, dass er etwas Illegales tat, konnte er bei der Wahrheit bleiben, oder?
„Nee! Das ist ein echter Job, keine Angst. Zahlen halt gut, diese Leute.“
„Okay.“ Sie seufzte leise gegen sein T-Shirt. Alec strich ihr durchs wirre Haar und zog sie noch näher. „Wir brauchen das Geld wirklich. Die Jungs wachsen schneller aus ihren Schuhen, als ich schauen kann, und Mama bräuchte dringend diese besondere Physiotherapie, für die man zahlen muss“, murmelte sie geschlagen.
Alec nickte. „Alles wird gut! Spätestens am Ende des Monats habe ich Geld für euch und so lange ich da wohnen kann, fällt ein Esser aus.“
„Von mir aus. Aber wir lassen dich nie hungern!“
Sie wirkte nicht überzeugt. Jedes Mal, wenn er die neue Anstellung erwähnte, war es, als würden kleine Spinnen über seine Haut kriechen. Alles schien so falsch. Und schon wieder drehte sich Henry in seinen Gedanken. Dieses Mal konnte er ihn komplett sehen, nicht nur das Gesicht. Die elegante, schlanke Figur und wie er versuchte, sich würdevoll aufrecht zu halten, trotz des Hinkens. Alec sah ihn die Treppe hinaufsteigen, mühsam, leise schnaufend, aber mit geradem Rücken. Fuck! Er wollte diesen Kerl wirklich nicht betrügen!
„Ah, Edwina, nicht traurig sein. Alec kommt uns bald besuchen“, rief seine Mutter von der Tür und unterbrach seine quälenden Gedanken.
Langsam schob sie den Rollator näher, hob mühevoll einen Fuß an, dann den anderen. Eddy hatte ihr ein hübsches Sommerkleid angezogen. Hellblau mit weißen Punkten. Das dunkle Haar war zu einem Knoten gebunden, in dem eine Plastikblume steckte. Aber ihr Mund hing immer noch ein Stück nach unten und sie sprach leicht verwaschen.
Entschlossen sprang Alec auf, nahm seine Tasche. Dann beugte er sich zu seiner Mutter und küsste sie auf die Wange.
„Genau! Und außerdem könnt ihr mich immer auf dem Handy erreichen“, sagte er so beschwingt wie möglich.
Sie lächelte schief. „Liebes, es wird doch auch Zeit, dass du ein eigenes Leben führst. Du hockst schon viel zu lange in dieser engen Wohnung.“
Alec blinzelte und nickte zustimmend. „Alles wird gut, Mum“, sagte er mit fester Stimme und in diesem Augenblick wollte er genau das glauben.
Wie im Nebel verging die Fahrt zum Manchester Square heute, zwischen Alecs Zweifeln und den Gedanken an seine Familie. Ab und zu mischte sich das Gefühl von warmem Wasser, das seinen Körper umspülte und die Erinnerung an Georges Hände, darunter. Doch nur Momente später folgte ein fader Beigeschmack, den Alec nicht einordnen konnte. Henry braucht meine Unterstützung und ich kann auf diese Weise meiner Familie helfen. Es ist ein perfekter Deal! Jetzt musste er es nur noch selbst glauben.
Text: Alice Camden
Images: Alice Camden /Shutterstock
Publication Date: 03-26-2017
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