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(Zu) stille Nacht

 

Der Tag neigte sich dem Ende zu. Draußen wurde es merklich kühler. Im Haus war es angenehm still, doch schon beim Eintreten hatte Kai dieses seltsame Gefühl gehabt. Er konnte es nicht genau beschreiben, wie es so oft bei diesen unheimlichen Ahnungen war. Sie kamen einfach und ließen sich erst im Nachhinein richtig einordnen. Kai hatte seinen Wagen vor dem Haus geparkt, war ausgestiegen und hineingegangen. Eigentlich also alles wie immer. Er hatte die Haustür aufgeschlossen und war eingetreten, doch nun stand er im Flur und merkte, wie er eine Gänsehaut bekam. Dabei war es doch gar nicht kalt-jedenfalls nicht hier drinnen.

 

Es war ruhig und zwar viel zu ruhig, das fiel ihm nun auch auf. Kein einziges Geräusch drang aus den Räumen des Hauses. Nur die Heizung summte ein wenig, das nervte ihn schon länger. Er hatte es noch nicht geschafft, sich darum zu kümmern. Kai schlüpfte aus den Schuhen und hing den Mantel auf, während er sich im Wandspiegel betrachtete. Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen und wandte sich ab. Er sah müde aus, aber so war das eben nach einem anstrengenden Arbeitstag.

 

Damit war es nun endlich vorbei. Es waren Weihnachtsferien. Der Begriff Ferien passte vielleicht nicht ganz, es war schließlich eher Weihnachtsurlaub. Und der dauerte nicht einmal besonders lange, sondern nur eine einzige Woche, mit der Kai sich über die Feiertage ins neue Jahr retten würde. Aber immerhin. Und ein wenig Erholung würde er bestimmt bekommen.

 

Sie hatten so schöne Pläne für die Weihnachtsfeiertage geschmiedet. Er und Kathi, seine Frau. Genau genommen waren die Pläne eher von ihm gekommen, denn Kathi war ein ausgesprochener Weihnachtsmuffel. Zumindest fand Kai, dass sie einer war. Sie selbst sagte immer, dass sie sich das Fest der Liebe bloß ganz anders vorstellte, als er. Für ihn zählte zu Weihnachten nichts mehr, als die Familie. Er fand es großartig, dass an diesen Tagen alle Streitigkeiten und Zankereien vergessen wurden, und alle zum Essen und Schenken zusammen kamen. Kathi hielt das für eine einzige Heuchelei. Sie meinte, dass man sich nicht das ganze Jahr auf den Geist gehen konnte, um dann zu Weihnachten die heile Familie zu spielen. Allerdings vermutete Kai, dass Kathi großen Teilen seiner Familie ohnehin nichts abgewinnen konnte. Und das nahm er ihr nicht einmal übel, denn er kam mit vielen davon selbst nicht besonders gut klar. Doch während Kathi gern proklamierte, dass sie ausgerechnet Weihnachten doch nicht mit den Menschen verbringen wollte, die sie explizit nicht ausstehen konnte-und das beruhte auf Gegenseitigkeit-, fand Kai, dass man ja wenigstens einmal im Jahr so tun könnte, als ob. Als ob man aneinander dachte, sich mochte, sich gern beschenkte, und gemeinsame Zeit verbrachte.

 

Kai schlurfte durch den Flur entlang und überlegte, ob er Kathis Wagen vor dem Haus hatte stehen sehen. Sie kam fast immer vor ihm nach Hause, selbst wenn sie dann noch einkaufen fuhr. Aber er war sich relativ sicher, dass es ihm aufgefallen wäre, wenn er ihr Auto nicht gesehen hätte. Kai blieb stehen, zögerte einen Moment und ging wieder zurück zur Haustür. Durch das kleine Fenster daneben schaute er in die Dunkelheit, die nur vom Schein der vereinzelten Straßenlaternen unterbrochen wurde. Doch, da stand der Wagen. Er hatte sich nicht geirrt. Erleichtert machte er sich wieder auf den Weg ins behagliche Wohnzimmer. Doch es war dunkel und leer. Dabei hatte er gehofft, dass Kathi schon einmal den Kamin anfeuern würde. Es war eine ganz andere Wärme, wenn man von seiner Liebsten und einem warmen Feuer begrüßt wurde.

 

Vielleicht war sie einfach noch nicht mit dem Kochen fertig. Er fand es toll, dass sie sich fast jeden Tag nach der Arbeit noch die Mühe machte, für sie Beide zu kochen. Manchmal war er es auch, der das übernahm, aber in letzter Zeit war es dafür eigentlich immer zu spät geworden. Kai durchquerte erneut den Flur und öffnete die Küchentür. Doch auch hier traf er Kathi nicht an. Langsam wunderte er sich und zog sein Handy aus der Hosentasche. Keine Nachricht von ihr. Das war ungewöhnlich, sehr ungewöhnlich. Normalerweise informierte sie ihn über so ziemlich alles, was sie tagsüber so machte. Vor allem, wenn es außer der Reihe war. Und das hier war genauso ein Fall.

 

Kai seufzte und machte sich auf die weitere Suche nach seiner Frau. Er klopfte an die Badezimmertür und stieg dann die Treppe hinauf. Vielleicht hatte sie sich nicht gut gefühlt und war schon ins Bett gegangen. Er rechnete fest damit, sie oben zu finden. Wenn nicht im Schlafzimmer, dann doch wenigstens im Büro. Das war beinahe ihr zweites Schlafzimmer. Oft genug hatte Kai sie hier schon mit dem Kopf auf dem Schreibtisch schlafend gefunden und ins Bett gebracht. Er musste bei dem Gedanken unwillkürlich lächeln. Doch als er Kathi weder im Büro, noch im Schlafzimmer, noch im zweiten Badezimmer fand, verschwand nicht nur das Lächeln. Langsam machte Kai sich wirklich Sorgen. Immer wieder schaute er auf sein Handy und hoffte, dass Kathi sich gemeldet hatte. Doch das tat sie nicht.

 

Kai trat ins Fenster und sah in die Nacht hinaus, während er überlegte, wo Kathi sein konnte. die Fenster der anderen Häuser waren vor lauter Weihnachtsdekoration hell erleuchtet. Überall erstrahlten Sterne, Rentiere und Schneemänner. Auch an den Fenstern ihres Hauses hatten Kai und Kathi ein paar Lichterketten angebracht. Doch noch lieber saßen sie im Kerzenschein zusammen auf dem Sofa und genossen die Zweisamkeit.

 

So wünschte Kathi sich das Weihnachtsfest, das wusste Kai. Sie hatte es oft genug gesagt. Sie stand nicht auf den Wahnsinn, jeden Tag von Familie zu Familie zu hetzen. Am liebsten wäre sie sogar aus dem Land geflohen. Kai wusste, dass Kathi Weihnachten als Kind immer im Ausland mit ihren Eltern verbracht hatte. So war sie dem ganzen Stress entgangen. Doch seit sie mit Kai zusammen war, hatte er sie jedes Jahr über die Feiertage mit zu seiner Familie geschleppt. Und jedes Jahr hatte sie ihn angebettelt, es nicht zu tun. Allerdings hatte er diesen Wunsch immer recht rigoros abgetan. Ihm bedeutete seine Familie eben alles und natürlich gehörte auch sie dazu, also gab es in seinen Augen keine Alternative. In letzter Zeit waren Kathis Forderungen jedoch mit mehr Nachdruck gekommen. Ein paar Mal hatten sie sich sogar richtig heftig gestritten.

 

Kai schlurfte unruhig durch das Haus, während ihm ihre letzten Uneinigkeiten wieder ins Gedächtnis traten. Kathi hatte sich wirklich aufgeregt, was sonst gar nicht ihre Art war. Normalerweise war sie die Vernünftigere von ihnen. Und sie gab ziemlich schnell nach, weil sie keine Lust auf Streit hatte. Aber wenn ihr etwas wirklich wichtig war, dann konnte auch sie sehr dickköpfig sein. Kai stand ihr in diesem Punkt in nichts nach. Am Ende hatte er seinen Willen bekommen. Wie so oft, wenn er ehrlich war. Er wusste, dass Kathi Streit und Stress so sehr hasste, dass sie entweder ihm zustimmte, oder eine noch bessere Lösung fand. Daher musste Kai auf ihren Weihnachtswiderstand nur energisch genug reagieren, um sie zum Einlenken zu bewegen. In diesem Jahr hatte das ziemlich lange gedauert, das stimmte. Sie hatte nicht einfach nachgegeben.

 

Kathi hatte vielmehr deutlicher als je zuvor kundgetan, was sie alles an dem Familien-Weihnachts-Wahn hasste. Menschen, die sie zum Teil einfach nicht mochte, die sich nicht für sie interessierten-so wie sie sich auch nicht für diese Leute interessierten. Die sie höchstens ansprachen, um sie zu provozieren. Und deren geistiger Horizont ihrem so unterlegen war, dass sie sich permanent langweilte. Leider versuchten ausgerechnet diese Leute ständig, ihr die Welt zu erklären. Und sie durfte nichts Falsches sagen. Das meiste, was sie sagte, verstand ohnehin fast niemand. Das Essen, das zeitlich immer so früh angesetzt war, dass Kathi jedes Mal scherzte, sie ginge zum Frühstück Gänsebraten essen. Für Kathi fühlte es sich einfach falsch an. Sie war bisher jedoch immer mitgekommen.

 

Allerdings hatte sie vor einiger Zeit etwas Seltsames gesagt. Es fiel Kai nur langsam wieder ein. Zuerst hatte sie vorgeschlagen, dass sie Weihnachten getrennt verbringen würden. Kai hatte empört entgegnet, dass sie zu seiner Familie gehörte, und mitkommen musste. Und dann hatte sie noch etwas gesagt. Er grübelte, wie es genau gewesen war. Fast schon hatte er es ganz aus dem Gedächtnis verbannt. Es war einfach zu absurd gewesen. Vor allem für eine Frau wie Kathi.

 

Kai eilte die Treppe hinunter und lief in die Küche. Am Kühlschrank hingen manchmal Nachrichten von Kathi. Das kam selten vor, weil sie Beide immer erst so spät nach Hause kamen. Aber manchmal pinnte sie hier einen kleinen, farbigen Zettel hin. Es war seine letzte Hoffnung und andererseits seine größte Angst, eine dieser Notizen zu finden. Das konnte sie doch nicht wirklich durchgezogen haben? Sie konnte doch nicht einfach ihren irrwitzigen Plan in die Tat umgesetzt haben? Nicht Kathi, seine Kathi.

 

Kai riss die Küchentür auf, schaltete mit dem Ellenbogen das Licht ein und entdeckte den auffälligen Zettel sofort. Er riss ihn vom Kühlschrank und las:

 

„Ich habe den Bus nach Paris genommen.“

Imprint

Publication Date: 12-17-2016

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Dedication:
Für alle, die vom Familien-Weihnachts-Wahn geplagt sind ;)

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