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Das geheimnisvollste Buch der Welt


1

Jannuar A.D.1710

Unerbittliche Kälte liegt über dem Land nord-östlich der Karpaten.Tief in Gedanken versunken, nur hin und wieder durch das Schnalzen der Peitschenhiebe aufgeschreckt, wirft Graf Luidpold Sebastian von Burowkowsky einen Blick durch die vereisten Scheiben seines Reisegefährts.Einer Kutsche gleich, gleitet lautlos diese sonderbar anmutende Schlittenkonstruktion durch die einsame Winternacht in einer schier endlosen Landschaft. Nur der Kutscher, tief vermummt,scheint der Kälte noch zu trotzen, indem er immer wieder die Pferde zur Eile antreibt.Der Graf kann ein verstohlenes Gähnen nicht unterdrücken.Sitzt er doch geschützt, mit all den Umständen gezollten und somit für ihn erforderlichen Komfort ausgestattet, ungeduldig die Ankunft erwartend,im Halbdunkel
des schwarz ausgeschlagenen Compartments.Während das fahle Mondlicht vereinzelt über das feingezeichnete,bleiche Antlitz huscht, greift die leicht zitternde Hand hin und wieder in eine edelhölzige Miniaturschatulle.Ein weißes Spitzentüchlein,verziert mit dem Wappen der Burowkoskys,zupfend,mit fahriger,nerviger Geste
zur Stirn führend,tupft er die unmerklich-feucht-auftretenden Schweißtröpfchen von der Gelehrtenstirn.Aufkommende Ungeduld scheint sich mit Schwäche zu verbinden.Seit Tagen,ungezählt,befindet er sich nun auf der beschwerlichen Rückreise von Stockholm.Sein Ziel, die Feste Lichtenstein,liegt noch in weiter Ferne...

2

Burgfeste Luxlapidis

Acht Stunden sind seit der mitternächtlichen
Ankunft vergangen.Während eine der Turmglocken
dumpf den beginnenden Morgen einläutet, fällt ein erster Hauch gebündelter Lichtstrahlen in das Schlafgemach des Grafen.Selbst das überdimensionierte Himmelbett wirkt verloren unter dem steinernen Deckengewölbe der Halle.Obwohl zwei mannshohe Kamine den flackernden Feuerschein in die nicht weichen wollende Düsternis werfen, dabei seltsame Formen an den Wänden zeichnend,ist der Raum von beklemmender Kühle durchzogen.Im Zentrum hat die treue Dienerschaft ein Mahl gerichtet.Erstaunlich einfach:Eine Schüssel
erwärmter Hirsebrei,kräftig mit Zimt abgestimmt,Käse in Variation von Ziege und Schaf, gesäuertes Brot, eine Karaffe ländlicher Rotwein, rohe Zwiebeln und Paprikaschoten.Mit jedem bedächtigen Bissen hin und wieder einen Schluck Rotwein schlürfend,kehren die Lebensgeister zurück.Graf Luitpold genießt den Augenblick.Ein flüchtiger Anflug von Dankbarkeit, unbemerkt für seine Umgebung, ergreift sein inneres Gemüt,läßt wieder Raum für tieferes Bewußtsein und zeugt von langsam aufkeimenden neuen Tatendrang.
Nachdem er behutsam den imposanten Schalkragen seines tief- rot-satinierten Hausmantels aufgestellt hat, betrachtet er durch eine beeindruckende Leselupe die losen Manuskriptseiten. Handschriften, die er in der Kungliga Biblioteket in Stockholm angefertigt hatte.Der Codex gigas,liber per grandis,gigas librorum - oder wie der Volksglauben verkündet:
"Die Teufelsbibel".Im Jahr des Herren 1295,vermutlich,soll sie im Benediktiner Kloster in Podlazice beim ostböhmischen Chrudim
entstanden sein.Die Legende besagt, ein mit schwerer Sünde belasteter Mönch hätte die Bibel
mit Hilfe des Teufels in einer einzigen Nacht geschrieben.Schließlich war sie Bestandteil der umfassenden Kriegsbeute, die das schwedische Heer im Dreißigjährigen Krieg aus Böhmen mit nach Hause verschleppte.
Der Graf hatte sich schon immer über das eigenartige Werk Gedanken gemacht.Jetzt,wie es seiner Persönlichkeit entspricht, will er den Fall gründlich erforschen.Sein Interesse ist geweckt...und vielleicht erschließen sich in ferner Zukunft noch aufregendere Erkenntnisse.Für die Nachkommenschaft - sollen sie sich Gedanken machen...

3

Bibliotheca magna antiqua
Noch am selben Tag betritt - Graf Luitpold Sebastian Burowkowsky - seine Privatbibliothek
im äußersten Trakt der Burgfeste Lichtenstein.
Der gotische Saalbau gleicht einem überdimensionierten Klangkörper.Eine schwungvolle,äußerst kühn konzipierte Galerie,
die über zwei rundum verlaufenden Emporen,aufwärtsstrebend, den Blick auf zahlreiche Bücherregale freigibt.Foliante reiht sich an Foliante.In den mit Säulen und Rundbögen abgegrenzten Seitentrakten befinden sich die Wunderkammern.Vitrinen,Schaukästen gefüllt mit den sonderbarsten Exponaten:Präprationen von Tieren,Skelette,Mineraliensammlungen,antike Gerätschaften,alchimistische Laborutensilien und gesammelte Kuriositäten aus aller Welt.In einigen Nieschen, wo spärliches Tageslicht durch die bleiverglasten, gotischen Fenster fällt,stehen vereinzelt alte Lesepulte.Hier verweilt der Graf.Behutsam verschiebt er ein beachtliches, in Leder gebundenes Scriptum von
Platon, datiert 1478,in lateinischer Sprache;daneben eine originale Handschrift, ein sehr kleines aber kostbares Format,welches das Leben von Alexander Magnus beschreibt.In griechischer Sprache wurde es im Jahre A.D.850 wahrscheinlich von Mönchen in mühseliger Kleinarbeit kopiert.
So Platz schaffend, konzentriert sich der Graf wieder auf seine Notizen :

"Die Legende des besagten
Mönches, " hermanus inclusus",
bezeugt, er habe die Disziplinregeln
im Orden gebrochen.Sich schwer
versündigt, wobei keine Einzelheiten
bekanntgemacht worden sind.Draufhin soll
er verurteilt worden sein,lebendig einge-
mauert zu werden.Damit ihm diese harte
Strafe erlassen werde,versprach er, zur
Lobpreisung des Klosters in einer
einzigen Nacht ein Buch zu schreiben,
das das gesamte menschliche Wissen
enthalten sollte.Nahe Mitternacht
erkannte er, daß er diese Aufgabe nicht
allein erledigen konnte und verkaufte
darafhin dem Teufel seine Seele."

Eine typische Strafarbeit jener Zeit, bedenkt Graf Luitpold, die "poena", Folge des kirchlichten Rechts,"ius cannonicis", welches Vergehen oft geläutert sehen wollte.Erbarmen,nun ja.Der Straffällige bekam noch eine Chance.Aber sicher ist,dieses Werk war die Folge einer jahrzehntenlangen, unermüdlichen Arbeit eines kunstsinnigen Schreibers.Eine Art Wiedergutmachung?Das Kopieren von Schriften war für die Mönche darüberhinaus eine übliche Beschäftigung.In den scriptorien ging es, neben der teilweise unsystematischen Abschrift religiöser aber auch weltlicher Handschriften, vorallem um die kunstfertige Ausgestaltung.Daraus entwickelte sich mit der Zeit ein einträgliches Nebengeschäft, denn originale Handschriften hatten schon immer ihren Wert.Während der Graf so seinen Gedanken nachhängt, schlägt die Vesperglocke der Hauskapelle. Sorgfältig fügt er Seite um Seite seiner Aufzeichnungen zusammen.Eigentlich ist es nicht " Das geheimnisvollste Buch der Welt",denkt er, denn es liegt offen zur Begutachtung vor.Erst ein Buch, was noch geschrieben werden muß, könnte diesen Anspruch erfüllen.Sein Inhalt ist unbekannt und somit "geheimnisvoll".Diese Idee
könnte Frücht tragen - ein Gästebuch.So notiert er spontan die Anfangssätze:

Meinen geschätzten Besuchern zur eigenen Ehre
und als ein Versuch gedacht, finde das
Geheimnis
in Dir und und in Deinem Umfeld.Schreib es
nieder...

VISITARE
CONTEMPLARE
CREARE
My beloved visitors for Your own experience find out the secrets in Your mind, in Your surrounding homeland and write down what You think...

Schreib auf, was Du denkst und fühlst, um es festzuhalten für diejenigen, die nach uns kommen.Sollen sie rätseln,staunen und uns eingedenk sein.

Die
E I N S
ist die
PFLICHT ihr folgt
MÜHE und PLAGE.

Die
ZWEI
kreiert wechselnd der Geist
mit
DENKE und SAGE.

Die
DREI ist magisch,
was schließlich uns bliebe:
GLAUBE,HOFFNUNG und ewige LIEBE
Berndjobsteberhard

4

DER VERSCHOLLENE KOLLEGE

Buch der Weisheit:
" 2 Durch Zufall
sind wir geworden,
und danach werden
wir sein, als
wären wir nie
gewesen."


Als er mir das erstemal vorgestellt wurde, beeindruckte er durch eine tadellose,gepflegte
Kleidung.Großwüchsig, mit einem Ansatz von wohlbeleibter genußfreudiger Erscheinung,hatte er den Raum betreten.Eloquent und ohne Scheu stellte er sich vor, wobei eine leicht sächselnde Stimmlage auffiel und somit seine landsmannschaftliche Herkunft verriet.Ein in die Jahre gekommener Junggeselle, und wie sich später herausstellte ein Einzelgänger, der mit seiner betagten Mutter zusammenlebte, die ihm darüberhinaus auch den Haushalt führte.Auffällig waren seine stets dezent modischen gewählten Westen, die hin und wieder mit einer goldenen Uhrenkette geziert, ihm eine besondere konservative Würde verliehen.
So betrachtet hätte er durchaus Direktor eines Varietees, einer Schaubühne oder eines Spielcasinos sein können.Seine Augen wirkten flink und ließen auf auf einen lebhaften Geist
schließen.Auch hätte er gut in die Runde von Kartenspielern gepaßt,Poker zum Beispiel, denn er verfügte trotz seiner Korpulenz über eine sichtliche Wendigkeit.In der Art konziliant und von wacher Aufmerksamkeit geprägt, hatte er sich in kürzester Zeit in sein Aufgabenfeld eingearbeitet.Sein Geschäft verstand er sehr früh mit Hilfe der mündlichen Vermittlung, wenn er überhaupt schriftliche Notizen machte, so nur in Stichworten, um sich an diverse Absprachen zu erinnern.Seine Domäne war das Gespräch.Ob am Telefon,in diversen Konferenzen, oder im Austausch unter vier Augen, er konnte durch Wortgewalt,die sich bei Bedarf auch in einen wahren Wortschwall steigerte, jederzeit Argumente gut durchsetzen.
Ein besonderes Geschick besaß er in der Organisation von Reisen;unermüdlich, mit größter Intensität, vermittelte er Dienstreisen von Gruppen, die an weitgelegenen Orten in der Welt tätig werden sollten.
Nachdem er so unzählige Reiseunternehmen kontaktiert hatte, spezialisierte er sich immer weiter.Bald kannte er alle nur erdenklichen Konditionen des Reisegeschäfts.Preislisten von Fluggesellschaften und Hotelverzeichnisse behandelte er wie Börsenberichte.Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Kataloge und Prospekte.Sonderleistungen,Rabatte jonglierte er wie ein Artist.Er kannte alle nur erdenklichen Querverbindungen, verabredete sich mit Konsulaten, traf sich mit leitenden Angestellten von Paßverwaltungen, recherschierte rund um die Welt mit Agenturen und Niederlassungen und hatte sich so zum Superspezialisten in Sache Reise entwickelt.
Bald wurde mir klar, dass hier jemand seine Situation als Sprungbrett nutzen wollte.Er strebte in die Unabhängigkeit.Kurz:Er fühlte sich für Höheres berufen.
So kündigte er eines Tages ohne Aufhebens, mietete in einer Seitengasse einen Büroraum im Erdgeschoß,und firmierte jetzt als Reiseveranstalter. Oft bildeten sich Schlangen von Männern, die offensichtlich Fernreisen bei ihm buchten.Busse rollten diskret an Sammelstellen, von wo aus regelmäßig der Transfer zum Airport erfolgte.Dies lief über längere Zeit erfolgreich. Eines Tages beobachtete ich wieder wie mehrere Busse vorfuhren." Special tour", dacht ich so im vorübergehen.Aber diesmal war etwas Unerwartetes geschehen.Alle Reisewilligen waren diesmal nicht wie üblich am Abflugschalter eingecheckt worden.Wie sich bald herausstellte, war der "Herr" Reiseveranstalter mit der gefüllten Reisekasse vorausgeflogen und vor Ort unauffindbar.Als weiteres Übel hatte er darüberhinaus von den Privatkonten seiner Mutter alle Barschaften abgehoben. So war guter Rat teuer.Alle aufgeregten Rückfragen, die bis in mein Brüro drangen,halfen nichts.Unser " Ehemaliger "
war wie vom Erdboden verschluckt.Allen, die gebucht hatten, war klar,der ist mit der Kasse für immer durchgebrannt.Ermittlungen seitens des Staatsanwaltes,der Polizei,ergaben nichts.
Gerüchte zur Folge soll er in Thailand eine Bekanntschaft mit einer "geheimnisvollen Prinzessin" gemacht haben.Und, so denke ich, hat sie ihm wohl einen Vorgeschmack auf das Paradies versprochen;ob dieses Glück angehalten hat,ob es im Jenseits anhält,mag sein,aber es läßt auch berechtigten Zweifel aufkommen.

5

Die Hand<font;
" Den Mann darfst du ganz
leis und heimlich bloß
belehren,und unbekannte
Dinge - in nur vergessene
kehren."

Die folgende Geschichte sollte sich nur an diejenigen Mitmenschen richten, die sich unvoreingenommen,möglichst diskret und einfühlsam, den ungewöhnlichen Geschichten öffnen.Legenden und Sagen aus dem Volk wurden oft ungläubig, bisweilen mit Spott,begegnet,so dass die Chronik eines seltsamen Ereignisses oft berechtigt in einem Archiv verborgen werden mußte.Verborgen vor der Öffentlichkeit -
vergessen von Generationen.
Wenn ich den Bericht aus der Erinnerung erzähle,so unter Weglassung von Namen, genauen Ortsangaben und Beschreibung chronologischer Ereignisse.Auch liegt es nicht in meinem Bestreben, über den Wahrheitsgehalt der Vorgänge zu berichten,sie zu beurteilen und sie somit schlüssig in unser gegenwärtiges Weltbild einzuordnen.
Vor Jahren hielt ich mich regelmäßig in den Sommermonaten in Niederösterreich auf. Speziell
in einem kleinen Ort im sogenannten Waldviertel
nahe der tschechischen Grenze.Eine Region,die zeitlebens von wundersamen Geschichten berichtete, ja sie waren und sind Bestandteil der Kultur.Schlösser,Burgen und Stiftsanlagen
zeugen von einer wechselvollen Historie.Überall begegnen sie einem in einer ursprünglichen Landschaft von dichten Wäldern,urigen bisweilen felsigen Kraftorten.
Riesige,bemooste Findlinge aus frühster Zeit
und Täler, die einst von Meerwasser überspült waren.Versteinerte Meerestiere wie Krebse,Schnecken und Muscheln wurden in Sedimenten entdeckt.Als Grenzland war diese Gegend wohl immer schon Durchgangsland für Menschen aus fernen Regionen.Die Besiedelung
begann also früh und veränderte sich laufend in den wechselhaften Zeitläufen.Menschen kamen aus dem Süden,Osten und Westen und sicher auch aus nördlichen Regionen.Sie prägten die Besiedelung und hinterließen typische Spuren.So wurde auch die Mentalität ausgebildet.Herzlich bisweilen rauh wirkend,hat sich bis heute eine von der Landschaft geformte und religiös bestimmte Gemeinschaft erhalten.
Eines Tages erfuhr ich,bei einem meiner privaten Aufenthalte, etwas über einen ehemaligen Seelsorger aus einem nahegelegenen
Prämonstratenser Orden.Dieser hatte einst im k.u.k.Heer der österreichischen Nation gedient,war schließlich im Gefecht durch einen Lungen-und Leberschuß schwer verletzt worden.
Am Pasubio Thor fertigte er seinen letzten Eintrag ins Feldtagebuch.Schwer verletzt,wurde er mit dem Titel eines "Leutnants", aus dem Heeresdienst entlassen.Halb genesen tritt er ins Priesterseminar in Wien ein, um ein intensives Studium der Theologie zu absolvieren.1918 mußte er aber wieder unterbrechen und wurde zurückkommandiert zu seiner Einheit.Dort hält er, trotz seiner Lungenbeschwerden, bis zum bitteren Ende durch.
Die österreichische - ungarische Monarchie war
zerfallen.So tritt er 1920 als Novize in das Prämonstratenser - Chorherren - Stift ein,erhält eine Klosternamen,legt ein Jahr später die einfache Ordensprofeß ab: Armut,Ehelosigkeit und Gehorsam sind die Folge.
Nach Fortsetzung des Studiums wird er am 23.Juli 1922 in St.Stephan in Wien zum Priester
geweiht.Danach waren ihm nur noch zwei Lebensjahre gegönnt.Diese Zeitspanne steht aber ganz im Zeichen intensiver Seelsorgearbeiten.Alle älteren Zeitzeugen berichten über seinen unermüdlichen Einsatz,seinem Eifer,seiner Hingabe ans Amt.Sie selbst waren noch Augenzeugen seiner mildtätigen Arbeit.Am 20.Oktober 1924 stirbt er im Wiener Spital.Eine letzte Operation seiner Kriegsverletzungen konnte ihn nicht mehr retten.Er war erlöst von allen erlittenen
Leiden.Die Überführung des Leichnams erfolgt
mit anschließender Beisetzung auf dem Ortsfriedhof seiner Gemeinde.
Am 26.September 1956, beschreibt die Chronik,findet eine kirchlich vorschriftsmäßige Exhumierung auf dem Ortsfriedhof statt.Der damalige Abt läßt alles überprüfen.Der Sarg wird versiegelt und anschließend erfolgt die Beisetzung in der Stiftskirche.
1958 wird der Seligsprechungsprozeß eröffnet.
Übergabe der Akten durch einen "notarius actuarius" und einem "notarius actuarius adiunctus ".
Was die Chronik nicht weiter dokumentiert, wird unter den Zeitzeugen mit heiliger Ehrfurcht und tiefer Erschütterung erzält:
Bei der Öffnung des Sarges soll die rechte Hand des Priesters völlig unversehrt gewesen sein.So ist verständlich, daß bald Heilsuchende
zum Grab strömten.Konnte er über den Tod hinaus helfen?Berichte über seine wundersamen Krankenheilungen sind verbürgt.
In einer gegenwärtigen " Causa" läuft deshalb ein kirchlicher Wunderprozeß. Im Rahmen eines
Beweiserhebungsverfahrens müssen Zeugen eidlich
vernommen werden.Ärztliche Atteste,Befundberichte, Sachverständigen-
gutachten müssen zusätzlich für eine internationale Ärztekommission zur Begutachtung vorgelegt werden. In einem jahrelang dauernden Prozeß beurteilen Theologiekommissionen schließlich über die Anerkennung des Wunderbegriffs." Ein durch
außergewöhnliche Umstände Geheilter",reicht aus,um die Durchführung - nach Prüfung des Vorerhebungsmaterials durch die römische Postulation - einen Wunderprozeß als berechtigt erscheinen zu lassen.Dies kann Jahrzehnte dauern...
" Non ignoramus - ignorabimus"
(Wir wissen,daß wir nicht wissen(werden))
Sokrates

6.
Der doppelte Gasthof

A me ipso:

Der Böse muß leiden
in Freiheit wie der
Gute in Ketten -
so vertraut auf den
Herrn -nur er kann
durch Gnade beide noch
retten.
...an einer Wegbiegung,gesäumt von felsigen,bewaldeten Abhängen,liegt der vom nächsten Ort etwas versteckte Gasthof zum "Bäreneck".Hier ist die Basisstation der
Schloßburg Lichtenstein,von wo aus Besucher in einem etwa halbstündigen Aufstieg die Feste erreichen können.Malinco, der Sohn des ansässigen Ortsvorstehers Konclusio, betritt, wie so häufig, heute aber unbemerkt von mir,die langezogene,rauchige Schankstube.Seine Haartracht ist feurig-rot,modisch den fünfziger Jahren angepaßt. An den Stirnseiten gleich satyrischen Hörnern aufgetürmt, was ihm eine, je nach Lichtstimmung, fast faustische Wirkung verleiht.Auch könnte er einem Shakespeare Stück entsprungen sein, der jetzt als Puck sein Schabernack,oder einen Jig,betreiben möchte.Seine Gestalt ist schmächtig, dabei von tänzelnder Beweglichkeit.
Enge seidig-glänzende Röhrenhosen, dazu eine
offene Lederjacke sollen signalisieren:Auch bei mir ist der Trend der Zeit angekommen.
Teddy-Boy,Rock `n`Roller.Flux greift er zum nächsten Stuhl,Schwung,Zack,kommt so zum Sitzen.Bühnenreif.Ungerührt von seinem neuen Gast,putzt Wirt Jason gemächlich Glas für Glas.
Erst in einer Stunde werden die Stammgäste vom Ort erwartet.Malinco ist somit zu früh, aber mit einer Handgeste macht er deutlich, daß er einem frisch-gezapften Bier wohl nicht abgeneigt wäre." Ein Bier,Wirt!",platzt es unwirsch, fast hochnäsig aus ihm heraus,als wollte Malinco seiner Bedeutung besonderen Nachdruck verleihen.Jason nickt.Zapft.Um sich dann wortlos wieder der monotonen Tätigkeit
zuzuwenden.Während die sommerliche Abendstimmung langsam hereinbricht, klingen aus einer verborgenen Musikbox die gedämpften Töne einer lyrische Ballade -"If I give my heart to you..",Malinco zaubert,rhythmisch,gleich einem Taschenspieler,eine Zigarette in seinen Mundwinkel."Klack",macht das Feuerzeug.Dabei läßt er im Takt,die Beine genüßlich weit ausgestreckt,die Hacken seiner Stiefel fest auf die Dielenbretter gepreßt,nur die Spitzen seiner boots schwingen.Hin und her.Her und hin.
Der Blick wie in Trance fixiert." Ich werde heute Nacht auf die Feste gehen", bricht es plötzlich aus ihm heraus." Auf die Feste?",brummt Jason."Was willst Du denn da?"
Gedehnt wie in Zeitlupe schraubt sich Malinco von seinem Sitz,um sich unmittelbar,fast theatralisch, in tippelnden,windenden Tanzschritten der Theke zu nähern." Ich bin
d e r Fremdenführer der Feste".Dabei gestikuliert er,gespielt trunken, mit aufreizender Mimik.In der linken Hand Glas und Zigarette, die rechte mit einer einer weitausholenden Kreisbewegung auf Jason deutend." Da staunst Du",dabei rückt er Jason immer näher.Nocheinmal läßt er prüfend den Blick in der Runde schweifen, so als müßte er sich vor ungebetenen Zuhörern absichern.Seine Stimme wird hörbar leiser."Man munkelt."
"Was?" Jason stellt das letzte geputzte Glas in Reihe.Wie im Spalier stehen sie,und wieder
läßt er den prüfenden Blick über sie schweifen.
"Was munkelt man?" " Man munkelt in der Nacht würde ein Licht ruhelos im Wandelgang sichtbar.
So als würde jemand mit einer Laterne herumgeistern.Das Licht wandert, verstehst Du?
Irgendetwas stimmt da oben nicht. Nur ich und Vera haben einen Schlüssel.Es gibt keine Besucher, alle Räume sind für die Öffentlichkeit gesperrt.Ich will wissen,was da oben los ist." "Hm", Jason stutzt." Irrlicht,könnte eine Täuschung sein.Hört man immer wieder.Die Leute sehen so alles mögliche.
Gerade in der Nacht - ich würde nichts darauf geben.Aber wenn es dich beruhigt, so geh rauf und schau nach dem Rechten.Ich habe keine Zeit,
bald kommt der Stammtisch,und ich will gleich in Ruhe ein paar Rechnungen ins Geschäftstagebuch übertragen." "Klar,verstehe ich",erwiedert Malinco.Sichtlich enttäuscht, wirft er abgezählte Geldstücke auf den Tresen.
Offensichtlich hatte er sich von Jason etwas mehr Unterstützung erwartet.Vielleicht ist ihm die Mission selbst nicht mehr ganz geheuer.Aber jetzt aufgeben? Nein, da muß er durch.So verlassen sie gleichzeitig den Raum.Jason entschwindet durch eine Tür hinter dem Tresen, während Malinco fast mit abwesendem Blick nach außen strebt.Nach einer Weile ist absolute Stille eingekehrt.Niemand hat mich zur Kenntnis genommen.In einer etwas abgelegenen Niesche konnte ich verborgen das seltsame Treiben beobachten.
Jetzt, wo der Schankraum verlassen schien,wollte ich ihn noch etwas näher in Augenschein nehmen.Hinter der Theke,im Zentrum,fällt mir ein prächtiges Ölgemälde auf.Eine sehr sorgfältig allegorisch,ausgestaltete Meisterarbeit.Ungewöhlich für einen Gasthof.
Ein mächtiger,stilisierter Baum ziert die Bildmitte,wobei geschwungene Spruchbänder erklärend beigefügt sind: " Arbor vitae", dann der aufstrebende Stamm mit "intelligentia","sapientia" und abschließend eine goldene Krone.Links im Bild die detailfreudige Darstellung der Schöpfung,die paarweise Pflanzen,niederes Getier bis zu höheren Species darstellen.Am Ende der Kette:Adam und Eva.Sie hält einen Apfel, der mit "malus mala" beschriftet ist.Auf der rechten Seite erkenne ich kabbalistische Symbole und Zeichen.Begriffe wie:Mashova.,Misna.,Gemara.,Sepher Jesira.,Zohar.,Tarot.,Clavicula.So mache ich mir Notizen von einer mir unbekannten geistigen Welt.Theorie und Praxis der Kabbala in Form von Hieroglyphen,mystischen Buchstabenversetzungen,magische Manuskripten...
Bezüge,die auf uralte Überlieferungen von Moses,Salomon und den Propheten hinweisen...
Im Baum selbst sind verschiedene Formen von Früchten in überhöhter,perfekt ausgefertigter
Darstellung zu sehen,verführerisch, in leuchtend-plastischer Form, scheinen sie dem Betrachter begehrlich zum Greifen nah.Über der
Baumkrone schließlich eine Wolke, die ein goldenes strahlendes Dreieck trägt, gesäumt von
zwei Seraphinen, die wiederum ein Spruchband halten:"Nolito tangere".In diesem Moment fällt mir eine Notiz ein, die ich Tage zuvor, bei der Anreise zu diesen wunderlichen Ort, in mein Notizbüchlein eingetragen hatte.Intuitiv,
mehr spielerisch, hatte ich einen Baum gezeichnet, wobei ich die Begriffe "Wissen","Können","Kompetenz" aufsteigend vermerkt hatte.Dann drei Äste mit "Kommunikation","Beteiligung" und "Kooperation".War es eine Vorahnung?Zufall?Wie ich so meinen Gedanken nachhänge, betritt Jason,der Wirt,wieder den Thekenraum.Sichtlich erstaunt, denn irgendwie hatte er mich verdrängt.So zahle ich meine Zeche, bedanke mich mich,und verlasse eiligst das Gasthaus.Es ist merklich kühler geworden,langsam setzt Regen ein,der Lehmboden haftet wie glitschige
Masse an meinen Schuhen,irgendwie habe ich das Gefühl nicht von der Stelle zu kommen...ein Blick zurück...da sehe ich es mit eigenen Augen: Über dem Eingang des Gasthofes steht in verwitternden Lettern:"Zum wilden Mann"....

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Publication Date: 01-21-2010

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