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LESEPROBE

<<Eins mit dir von Geburt bis zum Tod.
Ich bin bei dir, in dir, neben dir, über dir, hinter dir,
ich bin, wer du sein sollst und im Innern immer sein willst.
Ich bin dein stiller Gefährte und verlasse dich nie.
Ich trauere mit dir und liebe mit dir,
ich schütze dich, ich kämpfe für dich, ich leite dich.
Wann immer du mich rufst, ich bin schon bei dir
und helfe dir auch dann, wenn du es nicht weißt.
Meine Flügel umhüllen dich wie ein leuchtendes Kleid.
Immer bei dir>>


Man sagt, dass die Seele den Körper verlässt, wenn man stirbt, doch dieses eine Mal war es genau andersherum. Das unsterbliche Bewusstsein war gelöscht und der seelenlose Körper hat überlebt. In einem schrecklichen Albtraum aus ewiger Dunkelheit.

Ich sah ihn. Er stand auf der Straße und lächelte mir zu. Regen rann von seinem Haar. Er kam einen Schritt näher als ein Transporter um die Kurve raste, genau auf ihn zu. Ich wollte schreien, wollte rennen, doch ich blieb stumm und meine Beine bewegten sich wie in Zeitlupe. Eine furchtbare Sekunde später erfasste ihn der Transporter, schleuderte ihn hoch und mit einem dumpfen Knall landete er auf der Straße. Blutüberströmt lag er da und lächelte seinen letzten Atemzug.
Ich wurde von meinem eigenen entsetzlichen Schrei wach. Das Bett war zerwühlt und ich war schweißgebadet. Mein Herz schlug so heftig, dass ich es bis in den Hals hinauf spüren konnte. Diesen Albtraum würde ich nie mehr vergessen können.


Mein Name ist Lilly und wir trafen uns das erste Mal im Frühling. Es war ein wunderschöner kalter Tag und ich lief mit Buddy durch den Park. Trotz seiner sechs Monate war Buddy schon ein kräftiger Bernhardiner mit ausgeprägtem Spieltrieb und so sah ich ihm dabei zu, wie er ausgelassen über die Wiese tobte und den ersten Schmetterlingen hinterher jagte. Leider ignorierte er dabei sämtliche Kommandos und ich rannte entweder eine Ewigkeit hinter ihm her, wobei ich keine Chance gegen seine Wendigkeit hatte, oder ich setzte mich auf eine Bank und wartete bis er freudig angetrottet kam. Heute hatte ich keine Lust auf eine Jagd und setzte mich auf eine Bank direkt in der Sonne und genoss die ersten warmen Strahlen. Buddy raste gerade mit voller Geschwindigkeit auf eine Gruppe Tauben zu, als ein Mann auf die Wiese zugeschlendert kam.
Mein Hund setzte zum Sprung an, schlug gegen die Beine des erschrockenen Mannes und warf ihn um.
Einmal auf dem Rücken gelandet hatte er keine Chance mehr. Plötzlich hatte er zwei Pranken auf dem Brustkorb und eine Zunge im Gesicht. Mein gut gelaunter Bernhardiner freute sich sichtlich über seinen unfreiwilligen Spielgefährten, sprang um ihn herum und leckte ihm immer wieder über seine Nase. Ich betrachtete die Situation mit einer Mischung aus Belustigung und Schrecken, bis mir klar wurde, dass ich Buddys neuen Freund befreien sollte.
Dann passierte alles wie in Zeitlupe. Ich schaute nach unten und sah ihn. Ich hatte noch nie etwas Schöneres gesehen, das wusste ich. Auf einmal verschwamm die Umgebung um mich herum und Geräusche drangen zu mir, wie durch einen Nebel. Mein Herz setzte sekundenlang aus, machte Pause, um sich im nächsten Moment zu überschlagen und ich verlor mich in einem Meeresblau.
Doch jäh wurde ich aus meinem Traumzustand gerissen.
>>Was zum...? Verdammt! Was ist denn in ihren Hund gefahren?<<
Ich bemerkte mein dämliches Grinsen leider zu spät.
Der Mann war dabei sich den Sand von der Hose zu klopfen und sah mich zum ersten Mal an.
>>Das finden sie lustig?<<
In seinen eisblauen Augen blitzte es wütend. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst und seine Wangenknochen traten markant hervor. Das nachtschwarze, kurze Haar war zerzaust. Ob er schon so aus dem Haus gegangen war oder die Frisur dem kleinen Zwischenfall nicht standgehalten hatte, wusste ich nicht, aber es gefiel mir. Ich senkte den Kopf und dann sprudelte es aus mir heraus.
>>D-das ist alles meine Schuld. Es tut mir so leid. Das da...also der...äh...der Hund, das ist Buddy, eigentlich ist er noch ein Welpe, naja ziemlich groß ist er schon, und eigentlich hört er auch...wenn er will. Wie kann ich das wieder gutmachen? Wirklich, das tut mir leid...<<
Plötzlich prustete er laut los. Ich blinzelte ihn verwirrt an. Hatte er nicht grade noch so böse ausgesehen?
>> Aufgedreht wie eine Nachtigall. Ich bin Sam.<<
Er streckte mir eine Hand entgegen, doch ich war so überrascht von seiner Reaktion, dass ich nichts anderes konnte, als ihn ungläubig anzustarren.
>> Lilly.<< brachte ich so grade heraus. Und dann musste ich mitlachen. Sein Gefühlsausbruch war unwiderstehlich ansteckend.
In dem Moment warf ich alle meine Prinzipien über den Haufen und verliebte mich unwiderruflich.
>>Ich denke, ich habe eine kleine Wiedergutmachung verdient!<<, sagte er fröhlich, klemmte meinen Arm unter seinen und zog mich hinter sich her.
>>Im Diner´s ist um diese Zeit nicht viel los und ein warmer Kaffee tut echt gut bei dem Wetter.<<
Ich konnte es nicht fassen. Das war unverschämt. Ich war zu verdutzt um etwas zu sagen, eigentlich war ich überwältigt …. von Sam, aber das gestand ich mir nicht ein. Ich wollte ein kleines bisschen wütend sein wegen dieser Entführung aber das wollte mir einfach nicht gelingen. Buddy legte den Kopf schief, wartete kurz ob mir dieser Spaziergang gefiele und hüpfte dann fröhlich um uns herum.


Ich hielt mich mit einem Job bei der Anwaltskanzlei der Brüder O´Connel über Wasser. Jeff und Ted O´Connel waren Zwillinge und ergänzten sich perfekt.
Jeff, klein und rundlich, war der nette der beiden. Er besaß, wie auch sein Bruder, schütteres Haupthaar und trug dazu eine winzige Nickelbrille auf der kleinen Nase. Immerzu lächelnd wirkte er höflich und auch in schwierigen Fällen oft überlegen. Und er war besessen. Besessen vom Sammeln. Er archivierte täglich jede Zeitung, jeden Polizeibericht und jeden noch so unwichtigen Artikel aus den Tagesblättern. In dem Keller unter der Kanzlei befand sich ein Rückblick auf die letzten 38 Jahre Amerikas und viele andere Teile der Erde. In hunderten Holzregalen befanden sich tausende Papphefter, chronologisch geordnet. In der ersten Reihe unter den Heftern stand der jeweilige Monat, an dem die Artikel veröffentlicht wurden und darunter war in dicken schwarzen Zahlen das Jahr eingetragen. Auf jeden Ordner schrieb Jeff das Datum des Tages. Manchmal war er stundenlang mit dem liebevollen Sortieren beschäftigt. Diese Chronologie hatte sich schon oft bei kniffeligen Fällen als hilfreich erwiesen, da Jeff die Gegner seiner Mandanten mit seinem Wissen überrumpeln und in die Ecke drängen konnte. In diesen Fällen zog er die Brille ein Stück in Richtung Nasenspitze, blitze mit seinen Augen über den Rand und lächelte überlegen in die erstaunten Gesichter. Das brachte ihm auch den Namen Dr. Know ein. Jeff mochte diesen Namen.


Ted hingegen ähnelte ihm nur durch seine Gesichtszüge. Er war schlank, rastlos und wirkte immer zu angestrengt und verkniffen. Seine stahlblauen Augen ließen ihn ehrfürchtig und eiskalt erscheinen. Durch ihre naturgegebenen Unterschiede beherrschten Jeff und Ted das ,,guter-Cop-böser-Cop-Spiel“ wie niemand sonst. Zu meinen Aufgaben in der Kanzlei gehörte das Sortieren von Aktenbergen, ich nahm Telefonate entgegen und beteuerte jedes Mal, dass keiner der beiden Zeit hätte jetzt persönlich ans Telefon zu kommen, ich machte Termine mit Klienten, Staatsanwälten und in Jeffs Massagestudio. Der Rücken, wie er sagte. Das waren die einfachen Aufgaben. Wirklich schwierig war einzig das Reservieren der unzähligen Tische in den unzähligen Restaurants. Ted bat mich um einen Tisch um 19 Uhr. Hatte ich ihn reserviert, passte es ihm um 20.30 Uhr besser.
>>Gerne Ted!<<
Ich rief erneut an.
>>Lilly? Welcher Tisch?<<
>>Nr. 13, hinten rechts, ruhige Ecke<<
>>Nr. 13? Nein nein nein! Nicht Nr. 13, Lilly bitte. Das ist ein sehr sehr wichtiger Termin, Lilly<<
Ted erwähnte gerne öfter als nötig meinen Namen wenn er aufgebracht war. Doch irgendwie gefiel mir das, denn die Namen seiner Klienten merkte er sich nie.
>>Lilly, fragen sie nach Nr. 10 oder 12 oder.....ach wie auch immer, nur bitte nicht Nr. 13!<<
Ja, ich hatte verstanden. Ted war abergläubisch. Also rief ich wieder an, bat um einen anderen Tisch und konnte nur hoffen, dass dieser ihm nicht zu laut, zu kalt, zu dreckig oder zu klein war. Dann durfte ich mir nämlich den ganzen nächsten Tag anhören wie schrecklich der Abend war. Er sprach es ungefähr so aus: >>schrääääcklich!!!<< und schnaubte nach jedem Satz.
Die Arbeit machte mir Spaß, nicht zuletzt weil Jeff es immer schaffte, mich mit seiner unfreiwillig komischen Art zum Lachen zu bringen.


Das Diner´s war eine wunderbare, überschwänglich bunte Bar im Pinup-Stil. In jeder Ecke gab es etwas seltenes, lustiges oder außergewöhnliches zu entdecken. Die Wände waren farbenfroh mit halbnackten Frauen und Männern mit dicken Armen im Matrosenkostüm bemalt. Es passte kein Tisch und kein Stuhl zu dem anderen. Die Luft war rauchgeschwängert und zeugte von vielen redseligen Abenden und aus den Lautsprechern drangen leise Songs von den Dixie Chicks. Ausser Sam, Buddy und mir vertrieb sich noch ein Trucker seine Zeit an der Theke mit goldenem Whiskey und anzüglichen Bemerkungen. Man sah Lynn, der Bedienung an, dass sie sich zusammenreißen musste, um den Kerl nicht eigenhändig vor die Tür zu setzen. Anscheinend war sie es gewohnt, sich von betrunkenen Männern auf den Hintern starren zu lassen. Am anderen Ende der Bar saß ein sichtlich frisch verliebtes Pärchen an einem dunklen Tisch. Die beiden hatten sich einen dieser XXL-Cocktails bestellt. Zwei Strohhalme, eingebettet in viel Alkohol, waren der Garant für einen freizügigen Abend. Ich dachte kurz darüber nach einen dieser leckeren Romantiker zu bestellen. Vielleicht einen Golden Gate Sling. Weißer Rum, Cointreau, Zitronensaft, Grenadine, Bitter Orange. Eine gelungene Mischung aus süß und herb. Doch das kam mir irgendwie zu aufdringlich vor, denn es gab genau zwei Möglichkeiten die Bestellung falsch zu verstehen. Er würde sicherlich denken, ich müsste mir Mut antrinken oder aber ich wollte ihn gefügig machen. Ich wollte diesen fantastischen Mann einfach nur in meiner Nähe haben, ihn bei mir wissen. Mehr nicht. Ich wusste nach diesen wenigen Augenblicken dass ich diesen Mann nicht ziehen lassen durfte. Ich würde mein Leben dafür geben, ich würde die Erde anhalten, ich würde die Wolken beiseite schieben, nur um ihm den Blick auf die Sterne zu ermöglichen. Diese kindliche Romantik war eigentlich überhaupt nicht mein Ding, aber anscheinend entdeckte ich gerade ein lang versiegte Ader in mir, die mir wirklich gut gefiel. Ich war plötzlich wieder 14 Jahre alt, die Welt war bunt und aufregend und ich war verliebt.
Sam bestellte Nachos mit Käse und diesen wunderbaren Eistee, den Lynn jeden Tag nach einem Geheimrezept selber machte. Ich hatte keinen Hunger. Wie auch! In meinem Bauch hatten sich unzählige Schmetterlinge eingenistet und sausten wie wild durch meinen Körper. Daher bestellte ich den mittlerweile vierten Kaffee und beantwortete immer noch eine Unmenge Fragen. Sam wollte alles wissen. Er fragte mich über meine Kindheit, über meine Zeit im College, über meine Familie, ich musste ihm sogar alles über Cliff erzählen. Cliff war ein kleiner hellbrauner Mischlingshund, den ich als Kind besaß. Wir redeten, naja, eigentlich redete ich, stundenlang bis Buddy unruhig wurde. Ich hob meinen Kopf und sah mich um. Wir waren die letzten Gäste. Es war spät geworden. Sam bezahlte und wir traten in die kühle Nachtluft. Vor dem Diner´s herrschte absolute Stille, kein Auto fuhr mehr, alle Gespräche waren verstummt, nicht einmal die optimistischen Balzrufe der Spechte waren zu hören. Es war fast, als hätte die Welt aufgehört sich zu drehen, um uns, Sam und mir, zu lauschen. „Begleitest du mich noch durch den Park?“ ein Kribbeln durchflog meinen Magen. Buddy spürte meine Aufregung und tänzelte um mich herum. Dabei ließ er Sam nicht aus den Augen und verpasste ihm ein paar unbeabsichtigte aber heftige Schwanzschläge. „Gerne, wenn du das willst.“ antwortete er mit einem Lächeln in der Stimme. So gingen wir still nebeneinander her. Ich betrachtete den Mond. Eine gleißende, silberne Scheibe erhellte die ansonsten tiefschwarze Nacht. Verstohlen betrachtete ich ein paar Mal Sam´s Gesicht. Im sanften Licht des Mondes wirkte es markant. Sein Gesicht war das perfekte Werk eines göttlichen Bildhauers. Die feinen Züge um Nase und Augen zeugten von Kummer und ich wollte unbedingt herausfinden, was geschehen war.. Diesmal war es an Sam ein bisschen über sich zu erzählen. An seinen Lippen hängend, lauschte ich seinen Worten. Irgendwann fand seine Hand die meine und ein vertrautes Gefühl von Wärme und Geborgenheit durchströmte mich. Es sollte so sein. Er sollte so sein. In diesem magischen Moment waren wir eins, ein Band der Unzertrennlichkeit legte sich um uns. Sam erzählte viel von seiner Familie. Seine Eltern lebten auf einer Farm in Indiana und betrieben dort eine kleine Rinderzucht. […...] Den Rest des Weges schwiegen wir. Es war kein unangenehmes Schweigen. Langsam fing es an zu dämmern, und wir erreichten eine Weggabelung. Vorsichtig blieb er vor mir stehen. Es trennten uns nur wenige Zentimeter. Unfähig irgendetwas zu sagen, stand ich vor Sam und fühlte mich schwerelos. Mir wurde schwindelig, elektrische Impulse jagten durch meinen Körper. „Ich muss da lang.“ vernahm ich Sams sanfte Stimme. Dann beugte er sich nach vorne, strich zärtlich mit seinen Händen über meine Haare und küsste mich sanft auf die Stirn. Ich schloss die Augen und versuchte, das warme Gefühl für die Ewigkeit einzufangen. In meinem Kopf drehte es sich immer noch und ich wollte die Augen nicht öffnen, da ich befürchtete, ohnmächtig zu werden. Langsam beruhigte sich der Wirbelsturm in mir. Ich streckte die Hände vor, wollte Sam umarmen, doch ich griff ins Leere. Erschrocken öffnete ich die Augen und sah mich gehetzt um. Sam war fort. Ich blickte in alle Richtungen, machte ein paar schnelle Schritte den Weg entlang. Nichts. Er war weg. Das konnte doch nicht sein! Mein Kinn begann zu zittern und warme stille Tränen liefen mir die Wangen hinab. Jetzt lief ich, wollte rennen aber meine Beine gehorchten mir nicht. Der Weg teilte sich an dieser Stelle. Der linke Weg schlängelte sich durch den Rest des Parks und führte zu der vielbefahrenen Hauptstraße. Zu beiden Seiten führten Trampelpfade zu winzigen grünen Tümpeln und kleinen maroden Holzhütten, die von verliebten Teenies als romantisches Nachtlager genutzt wurden. Der zweite Weg führte nach rechts zu dem ruhig dahinfließenden Bach, indem sich Buddy oft die Pfoten abkühlte und mit einem lauten Platsch hinein sprang und die Stöcke jagte, die ich hineinwarf. Viele Bänke säumten den Bachlauf, in einiger Entfernung glühte eine verlassene Feuerstelle und alte Weiden ließen ihre traurigen Äste bis ins dichte grüne Gras hängen. Beide Wege ließen sich von der Stelle, auf der ich verzweifelt von einem Bein auf´s andere trat, gut überblicken. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und ich nahm jede nächtliche Bewegung wahr. Angestrengt spähte ich in alle Ecken und Winkel. Und endlich hatte ich ihn gefunden. Einige Meter entfernt stand er, bewegungslos und still. Ich konnte nur die Silhouette erkennen und verstand seinen plötzlichen Aufbruch nicht aber ich war so erleichtert. Vor wenigen Sekunden brach meine Welt zusammen, hatte ich Sam verloren geglaubt. Euphorisch ging ich auf ihn zu. Er hatte mir einen riesigen Schrecken eingejagt und ich überlegte kurz, ob ich gespielt böse auf ihn sein sollte. Ein paar empörte Äußerungen würden sicherlich nicht schaden. Nach wenigen Schritten wunderte ich mich darüber, dass er noch immer reglos dastand. Ich kniff die Augen zusammen und verlangsamte meine Schritte. Nicht mehr weit und ich hatte ihn erreicht. Dann erschrak ich, mein Herz hörte auf zu schlagen und augenblicklich flossen die Tränen wieder. Ich war außerstande mich zu bewegen. Sam blieb verschwunden.
Ich war nicht auf ihn sondern auf einen alten, mannshohen Baumstamm zugelaufen. Wahrscheinlich war der Baum krank und der Stamm porös gewesen und irgendjemand hatte seine Krone abgesägt. Tiere hatten sich daran zu schaffen gemacht und dem traurigen Überrest des Baums bizarre menschliche Konturen verliehen. Ich lehnte schwer atmend meinen Kopf gegen den rauen Stamm und grub meine Fingernägel wütend in die bröckelnde Rinde. Dann gaben meine Beine nach und ich sackte ins vom Tau nasse Gras, schlug die Hände über die Augen und schluchzte laut los. Ich hatte in der Aufregung Buddy vergessen. Er ließ sich neben mich fallen und legte liebevoll seinen großen Kopf auf meine Beine.


Sekunden
wertvoller als Jahre,
Augenblicke
schneller als ein Herzschlag,
Gefühle,
ewig wie das Licht

Als ich aufblickte, dämmerte es. In die Schwärze der Nacht mischte sich ein tiefes Blau. Ich zitterte am ganzen Körper und meine Beine waren taub vor Kälte, was darauf hindeutete, dass ich schon zu lange auf dem frostigen Boden saß. Buddy schlief friedlich und stieß seinen gleichmäßigen, warmen Atem in mein Gesicht. Ob ich auch eingeschlafen war? Ich konnte mich nicht an die letzten kalten Stunden erinnern. Aber ich erinnerte mich an Sam. Wo war er? Oder hatte ich das auch nur geträumt? Ich war mir plötzlich nicht mehr sicher. Ich streckte mich, bewegte langsam meinen steifen Nacken. Buddy hob seinen Kopf und blinzelte mich müde an. Aus seiner Kehle kam ein dumpfes Grollen. Umständlich richtete ich mich auf, schüttelte meine Hände und Füße aus und kontrollierte die Funktion meiner Arme und Beine. Alles bewegte sich tadellos und die klirrende Kälte in meinen Muskeln verwandelte sich langsam in eine gut auszuhaltende Kühle. Ich musste mich kurz orientieren und ging dann entschlossen den Weg entlang, der aus dem Park hinaus und auf die Hauptstraße führte. Buddy legte den Kopf schief, schnaubte zweimal laut in die kalte Morgenluft und trabte dann müde und hungrig neben mir her.
Etwa zwanzig Minuten später erreichte ich erschöpft mein Appartement. Schnell füllte ich zwei große Näpfe mit Hundefutter und zog hastig meine nasse Hose und den feuchten Parker aus. Erschöpft ließ ich mich ins Bett fallen, zog die Decke über den Kopf und fiel in einen tiefen Schlaf. Ich hatte einen wirren Traum. Ich lief durch den Park und immer wieder tauchte Sam auf, mit zerrissenen Kleidern und einem grausamen Clownsgesicht. Er lachte mich aus. Es war ein verrücktes, irres Lachen, hohe glucksende Laute kamen aus seiner Kehle und sein Kopf neigte sich in einem merkwürdigen Winkel zu dem Rest des Körpers. Hatte ich ihn einmal entdeckt, verschwammen alle Konturen und er war verschwunden um an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen. Das Lachen wurde lauter und schriller.

Wenn die Stille wertvoller ist als das gesprochene Wort,
ergibt ein Blick den Gedanken,
eine Geste den Sinn.
Im schweigenden Dialog
liegt nur die Wahrheit,
die jeder Laut unter Furcht verbirgt.....


[...]


Jedes Mal, wenn jemand geboren wird,
stirbt ein andere,
denn sein Kräfte sind aufgezerrt,
und hinterlässt einen Platz,
den es zu füllen gilt.
Doch manchmal,
nur ganz selten,
bleibt der Platz leer
und ein Wesen wird geschaffen
um zu schützen
was geblieben ist.


Kälte umgab mich Tag und Nacht wie ein Käfig aus Eis. Die Sehnsucht brannte schmerzlich in jeder Zelle meines Körpers. Ich versuchte, mich einfach nicht zu erinnern, schloss meine Gedanken ein. Das alles änderte nichts daran, dass er mir so sehr fehlte. Das Wertvollste, dass es zu schützen galt, konnte ich nicht halten, ihn nicht an mich binden. Wir hatten ein gestern, aber ein morgen würde es für mich ohne ihn nicht geben.


Niemand auf dieser Welt konnte mich trösten, denn niemand empfand meinen Schmerz. Das einzig tröstliche war das leise Rattern des Motors. Ich fror. Trotz der Kälte hatte ich die Scheiben meines Autos herunter gekurbelt, nur so hatte ich das Gefühl noch zu leben. Schneeflocken wirbelten durch die Luft und vollführten einen Abschiedstanz Richtung Erde. Gerade erst im Himmel geboren waren sie dazu verdammt, nach kurzer Zeit der stillen Schönheit auf grauem Asphalt zu zerfließen und niemand erinnerte sich mehr an die unschuldige Reinheit. Das war absurd. Dennoch interessierte mich die schöne Winterlandschaft nicht. Plötzlich wurde ich wütend und trat das Gaspedal noch etwas fester durch. Wie konnte er mich nur verlassen, mich allein lassen? Er hatte doch versprochen, mich immer zu beschützen, jeden Moment mit mir zu teilen. Alles Lüge. Meine Hände umklammerten so fest das Lenkrad, dass die Knöchel weiß hervor traten. Ich schaute in den Rückspiegel, fast als ob ich vermutete, Sam würde auf der Rückbank sitzen und sein warmes Lächeln lächeln. Doch im Spiegel war nichts außer weiß. Tränen rannen mir das Gesicht hinab und tropften eiskalt auf meine Brust, alles verschwamm vor mir und so merkte ich auch nicht, dass ich viel zu schnell fuhr. Auch die Kurve bemerkte ich nicht.
In dem Moment, wo die Scheiben explodierten war ich für einen Augenblick hellwach. Quietschendes Metall, der beißende Geruch von brennendem Gummi, das alles erschreckte mich nicht. Ich wusste plötzlich wo die Reise enden würde und für eine tödliche Sekunde war ich glücklich, die Wärme, nach der ich mich so lange gesehnt hatte, durchfuhr meinen Körper. Dunkelheit. Stechende Schmerzen in der Brust.
Ich riss meine Augen auf und sah Sam´s Gesicht. Es war verschwommen und merkwürdig verzerrt. Um ihn herum leuchtete es blutrot. Er sah angestrengt aus. Mit einem Arm drückte er fest auf meinen Brustkorb und Blitze zuckten aus seiner Hand. Rote, orangene und silberne Blitze. Ein gleißender Lichtbogen schoss aus mir hinaus. Ich spürte nur diesen starken Druck auf mir. Ich beobachtete Sam´s Gesicht, ich sehnte mich so sehr nach ihm, wollte ihn umarmen, ihn küssen, aber ich brachte keine Bewegung zustande.
Plötzlich entspannten sich seine Gesichtszüge, er lächelte mir sanft zu und schaute mich unendlich liebevoll an und mit einem Mal war er verschwunden.
>>Sam, nein.<< flüsterte ich mit letzter Kraft. >>Bleib bei mir, bitte lass mich nicht allein...bitte.<<
Dann fiel ich in einen tiefen, grausamen Schlaf. Ich hatte schlimme Träume. Und alle waren ähnlich. Ich rannte durch einen Wald. Um mich herum war nichts als tiefgrüne Dunkelheit, Bäume griffen mit knorrigen Ästen nach mir. Ich fror, atmete schwer und hatte Angst. Eine widerliche Mischung aus Regen, Schweiß und Morast ließ mein Shirt an meiner Haut kleben. Irgendetwas verfolgte mich, ich musste entkommen. Harte Äste peitschten mir ins Gesicht, meine Haut platze auf, Haare verfingen sich und rissen aus. Es war ein Kampf um Leben und Tod und nur wenn ich einen Ausweg fand, ein Versteck, eine Straße, konnte ich gewinnen. Ich war fest entschlossen, nicht aufzugeben. Ich konzentrierte mich, durfte nicht fallen. Hinter mir wurden Schritte lauter, Äste brachen, ein lautes Keuchen wechselte sich mit einem tiefen kehligen Grollen ab, etwas schweres wurde über den Waldboden gezogen. Ich hatte meine Schuhe verloren, spitze Steine und Tannenzapfen bohrten sich bei jedem Schritt in meine Füße, ich hinterließ blutige Spuren. Langsam wich die Kraft aus meinem Körper.
Plötzlich packte mich eine Hand, etwas eiskaltes legte sich um meinen Knöchel. Ich schlug mit dem Gesicht auf den Waldboden, mein Kiefer knackte. Mit letzter Kraft grub ich meine Finger in den harten Boden, versuchte an einer Wurzel Halt zu finden. Doch vergeblich. Ich wurde gewaltsam nach hinten gezogen und meine verzweifelten Schreie hallten mit einem leisen Echo durch den Wald. Dunkelheit.


Schmerzen. Höllische Schmerzen. Meine Körper brannte furchtbar, fast unerträglich. Ich konnte mich nicht bewegen, meine Beine konnte ich nicht spüren und meine Arme versagten ihren Dienst. Alles fühlte sich so schwer an. Ich wollte schreien, doch ich blieb stumm. Hitze. Ich öffnete kurz die Augen und sah verschwommene Schatten. Mein Kopf versuchte erst gar nicht, die Person zu erkennen. Dunkelheit.

>>...wieder zu sich...ich hätte nie gedacht, dass...ja furchtbar...arme kleine Lilly...<<

Wortfetzen drangen durch den Nebel in meinem Kopf. Ich erkannte keinen Zusammenhang, der Name Lilly sagte mir etwas. Müde.

>>...intubieren, sofort...verlieren sie...<<

>>Sam!!! Saaaaaaaaaaaaam!!!<< warum stand er nur da und bewegte sich nicht? Das verwirrte mich. Sam stand auf der Straße und sah zu dem Auto, dass mit rasender Geschwindigkeit direkt auf ihn zu fuhr. Nur noch ein paar Meter und es würde ihn...oh mein Gott, nein!
>>Neeeeiiiinnnnn!<<
Doch Sam stand nur da und lächelte. Langsam drehte er den Kopf in meine Richtung.
>>Hab keine Angst, kleine Nachtigall<< , sagte er sanft.
Das Auto fuhr einfach durch ihn hindurch, als wäre er nichts als Luft.

>>...kommt zu sich...vielen Dank Mr....später wieder...<<

>>Sam! Nein!<<
>>Lilly? Lilly, ich bin´s, Mom. Beruhige dich Liebling, alles ist gut. Du bist in Sicherheit<<

Meine Lider waren so schwer. Ich lenkte meine ganze Kraft darauf etwas zu sehen, doch jedes Mal wenn es mir gelang brannte grelles Licht in meinen Augen und ich stöhnte vor Schmerz. Mom? Ja, ich hatte eine Mom, Justine, die herzlichste Mutter die man nur haben konnte. Aber warum tat sie meinen Augen bloß so weh? Ich werde sofort Sam fragen. Ich musste nur aufstehen und zu ihm gehen, er konnte ja nicht weit sein. Buddy muss gefüttert werden, er ist bestimmt schrecklich hungrig.

>>Lilly? Bitte wach auf, sieh mich an. Bitte.<<

Ich kannte diese Stimme. Langsam lichtete sich der Nebel in meinem Kopf. Ich gewöhnte mich langsam an das Licht. Ich presste die Lippen aufeinander. Mein Kopf fühlte sich an, wie in Eisenseile gewickelt.

>>Mo........om.<<

Ich musste noch 6 lange Wochen im Krankenhaus bleiben, in einem kalten, weißen Zimmer. Unablässig piepsten und surrten medizinische Geräte. Ich war an mindestens ein halbes Dutzend davon angeschlossen und aus meinem Körper führten Schläuche. Infusionsschläuche, Blutschläuche, Atemschläuche. Eine Lebenspipeline neben der nächsten. Ärzte und Pfleger kamen und gingen, überprüften die verschiedenen Monitore und Schläuche, nahmen Blut ab, machten sich Notizen. Eine sehr engagierte Schwester fragte mich täglich nach meinem Befinden, doch ich starrte nur stumm an die Decke. Ich lag auf der Intensivstation, wie sollte es mir schon gehen? Prächtig, fabelhaft ging es mir, wäre ich nicht von oben bis unten verkabelt gewesen, ich hätte getanzt! Am dritten Tag, nachdem ich das Bewusstsein wiedererlangt hatte,erfuhr ich, was eigentlich geschehen war. Der Arzt, der zwei Wochen um mein Leben gekämpft hatte, klärte mich über meinen Gesundheitszustand auf und ich konnte nur staunen.
>>Nach einem schweren Autounfall rief ein Mann den Notarzt. Als die Rettungskräfte am Unfallort ankamen, war dort niemand mehr. Die Polizei hatte versucht, den Anruf zurückzuverfolgen, wollte Fragen zum Unfallhergang stellen, Zeugen finden, aber es war nicht möglich. Lilly, können sie sich daran erinnern, dass jemand bei ihnen war?<<
Ich überlegte kurz. >>Nein, ich....ich weiß nicht genau. Ich kann mich an niemanden erinnern.<< Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und versuchte,mir noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, was passiert war. Ich wurde aus dem Wagen geschleudert und landete rücklings irgendwo im schneebedeckten Gras. Ein brennender Schmerz breitete sich rasend schnell in meinem ganzen Körper aus. Ich sah den grauen Himmel über mir, Wolken rasten über mir vorbei, ich schmeckte Blut, konnte nicht atmen. Ein Schatten legte sich über mich. Gleißende Farben breiteten sich am Rand meines Gesichtsfeldes aus. Plötzlich strömte Luft in meine Lungen, der Schatten verschwand. Dann wurde ich ohnmächtig und träumte diesen schlimmen Sachen.
>>Da war...irgendetwas. Ich konnte aber nichts erkennen. Vielleicht ein Mann, aber er sprach nicht...ich weiß es nicht.<<
>>Lilly, die Rufnummer gibt es anscheinend in ganz Amerika nicht. Und noch etwas ist mehr als mysteriös. Der Anrufer nannte seinen Namen, aber die Recherche der Polizei ergab, dass dieser Mann vor ca. einem Jahr verstorben ist. Kennen sie einen Sam Jones?<<
In diesem Augenblick schlug der Monitor, der meine Herzfrequenz überwachte, Alarm. Rote Lampen begannen zu flackern und schrille Signaltöne heulten durch den Raum. Ich schnappte heftig nach Luft, mein Magen verkrampfte sich. Das durfte nicht sein. Das konnte nicht sein. Es lag bestimmt eine Verwechselung vor.
Menschen in Weiß stürmten in mein Zimmer, alle waren aufgeregt und riefen wild durcheinander. Ich war wie betäubt,


Lang nichts von dir gehört,
hat die Welt dich entführt
und ein kleines Stückchen mitgenommen
auf ihre Reise
leise
ihre Schönheit offenbart
und dir gesagt
wie wertvoll du bist?

Haben die Wellen
dich sanft umschlungen
verklungen
ist die Trauer
und der Schmerz
spürst du dein Herz?
Wie es schlägt
in einem Takt,
der der unsere ist
und du niemals vergisst
wie es sich anfühlt
zu atmen und zu sein

Frei wie der Wind
er kennt weder Ort
noch Zeit
nur den Gesang
den ich dir schenke
er wird zu dir getragen
an manchen schweren Tagen
wenn die Sonne aufgeht
in dir
war es ein Gedanke von mir
an dich.....


>>Neeeeeeeeeeeeeeeeeeiiiiiiiiiinnnnnnnnnn<<, ich schrie und streckte meine Hand aus, doch ich fasste ins Leere. Gehetzt schaute ich mich um, doch da war nichts, denn ich saß in meinem eigenen Bett. Aber da war doch gerade noch dieser Junge...erst jetzt registrierte ich, dass ich geträumt haben musste. Es war ein furchtbarer Traum. Immerzu sah mich dieser kleine Junge an, sein Gesicht blaß, verdreckt und tränenverschmiert, die Augen blutunterlaufen waren vor Angst geweitet. Er saß zusammengekauert in einer Ecke und streckte einen Arm aus. Er wollte mir etwas zeigen. Doch ich konnte in der Finsternis nicht erkennen was ihn so ängstigte. Der Raum war dunkel, nur durch ein kleines, dreckiges Fenster kam ein wenig Licht. Ich wollte zu dem Jungen gehen, aber ich konnte mich nicht bewegen, war ein stummer Zuschauer. Es war fast als sähe ich einen Film im Kino, alles war überdimensioniert und auf erschreckende Weise verzerrt. Die Farben vermischten sich mit einem Blaßgrau und alles schien wie durch eine Nebelwand. Und so stand ich nun regungslos in diesem Raum mit der tiefen Decke und dem maroden Holzfußboden und konnte nicht einmal als Trost dienen.
Kalter Schweiß lief mir von der Stirn, der Traum war so vollkommen real. Mit einem dumpfen Knall ließ ich mich wieder ins Bett fallen und starrte zur Decke. Der alte Ventilator über mir drehte müßig seine Runden und hatte fast etwas hypnotisierendes. Um meinen Herzschlag etwas zu beruhigen schloß ich die Augen und tastete mit einer Hand nach der Zigarettenschachtel. Müde schüttelte ich an ihr. Leer. Das ärgerte mich und ein Blick auf den Wecker konnte meine Laune auch nicht ändern. 4:17 Uhr in der Nacht. Irgendwie konnte ich mich daran erinnern, genau eine Zigarette in der Schachtel gelassen zu haben. Ja, ich war mir ziemlich sicher. Dass sie nun fehlte konnte nur bedeuten, dass ich so langsam den Verstand verlor. Dagegen gab es Tabletten und ich sollte so schnell wie möglich Dr. Winterberg danach fragen. Es gab ja schließlich mehr als nur einen guten Grund dafür. Widerwillig stand ich mit halboffenen Augen auf, um eine neue Zigarettenschachtel zu holen. Mein Kopf begann zu dröhnen, jemand pochte wie wild von Innen gegen meinen Schädel. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen, atmete langsam ein und aus. Das half nicht. Irgendwo lagen Tabletten gegen Kopfschmerzen, ich musste nur unbeschadet einen Weg dahin finden. Einen Schritt vor den anderen, nur einen Schritt und noch einen. Ich war fest entschlossen, dieses Mal den Kampf über meinen Körper zu gewinnen und akzeptierte den Verlust über die Kontrolle meiner Sucht. Ich musste eine Zigarette haben. Im Wohnzimmer angekommen, knipste ich eine kleine Lampe an und musste sofort die Augen zusammen kneifen. Das Hämmern in meinem Kopf wurde heftiger, fast unerträglich. Es waren nur noch ein paar Schritte, nur an der Wohnungstür vorbei. Verdammt! Ruckartig drehte ich mich um und stieß dabei heftig mit der Hüfte gegen den maroden Telefontisch. Im Augenwinkel hatte ich gesehen, wie etwas unter der Tür hindurch geschoben wurde. Ich sah weg, schüttelte langsam meinen sowieso schon schmerzenden Kopf. Ich verlor tatsächlich den Verstand. Das war nicht gut. Ich zwang mich, nochmal hinzusehen und hatte mich nicht getäuscht. Vor der Tür, in meinem Wohnzimmer lag ein weißes Etwas. Ein Schritt, noch ein Schritt. Ein...Briefumschlag. Mitten in der Nacht. In meinem Wohnzimmer. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn, schlagartig war der Schmerz vorbei, der mich zu der Tür getrieben hatte. Panisch schaute ich mich um, rannte unsinniger weise durch alle Räume. Niemand konnte dort sein, der Brief kam von draußen, aber ich musste einfach nachschauen um mich etwas sicherer zu fühlen. In der Wohnung konnte ich nichts ungewöhnliches erkennen. Volle Aschenbecher, bergeweise Briefe, dreckiges Geschirr, alles war wie immer. Ich dachte kurz nach und riss dann die Wohnungstür auf, spähte ängstlich ins kalte Dunkel und sah....nichts. Es hatte geschneit, Schneeflocken fielen wie Puder auf den grauen Asphalt und legten sich wie ein beschützender Mantel um die Äste und Blätter der Bäume. Vor meiner Tür waren keine Fußspuren. Vor nicht einmal einer Minute hatte ich den Brief entdeckt und es gab keine Fußspuren. Gesetz dem Fall ich würde träumen, das war ein schrecklicher Traum, aber daran gewöhnte ich mich ja zur Zeit. Ich machte auf dem Absatz kehrt, knallte die Tür hinter mir zu und lehnte mich schwer atmend dagegen. Ich hatte nicht den Mut nach unten zu schauen, dorthin, wo der Brief gelegen hatte. Ich wehrte mich gegen eine unsichtbare Macht, die meinen Blick gegen meinen Willen nach unten zog. Doch ohne Erfolg. Und da lag er....ein weißer Umschlag. Im Dämmerlicht konnte ich nicht erkennen, ob er beschriftet war. Ich bückte mich, hob ihn mit zitternden Fingern auf und ging auf die Lampe zu. Lilli stand auf der Vorderseite, die Schrift kannte ich, konnte mich nur nicht daran erinnern, woher. Mein Magen verkrampfte sich und Übelkeit stieg in mir hoch. Kurz dachte ich darüber nach, den Brief einfach auf den Haufen zu den anderen zu schmeißen und ihn gekonnt gewohnt zu ignorieren, doch da mein Körper zunehmend lernte, ohne mein Zustimmen Dinge zu tun, riss ich den Brief auf und wusste Augenblicklich woher meine Übelkeit rührte. Ich las die Zeilen immer und immer wieder. Leise murmelte ich sie in mich hinein. Das konnte nicht sein. Jemand spielte einen makabren Scherz. Vielleicht spielte mein Körper mir einen Scherz. Nein untrüglich stand dort
Weine kleine Nachtigall,
du strahlst auch im Schmerz.
Schrei ruhig, kleine Nachtigall,
schrei so laut du kannst.
Nur vergiss mich nicht,
denn das zerstört auch mich.


In Liebe, Sam.

Ich warf den Brief auf den Tisch, rannte ins Schlafzimmer und vergrub mich unter meiner Bettdecke.


Dunkelherz, Schattenwald,
Emotion begraben in Asche und Blut.
Ausgelöschte Feuergestalt,
gejagt, gehetzt von dunkler Brut.
Schweige still, du Narr gib Acht,
er hört dich schon, riecht deine Angst,
seine Element scheint nur die Nacht,
in der du um dein Leben bangst.


Als ich mich nach langer Zeit der Einsamkeit dazu entschloss, mein Appartement zu verlassen, war es Herbst. Die Blätter der Bäume hatten sich blutrot gefärbt und fielen traurig und ohne ein Lebewohl von den Ästen. Sie fielen in den sicheren Tod und diesen Abschied kannte ich nur zu gut. Viel zu lang schon war jegliches Leben aus mir gewichen, viel zu lang schon atmete ich stumme Traurigkeit. An diesem kalten, verregneten Tag sollte Schluss sein. Als ich meine verstaubten Boots langsam aus dem Schrank holte zweifelte ich kurz an meiner Entschlossenheit. Ich hatte es lange ohne richtiges Tageslicht ausgehalten und konnte bestimmt noch eine Ewigkeit in meiner Lethargie leben, aber ich hatte etwas zu erledigen. Ich zog eine verwaschene Jeans und einen dicken, schwarzen Pullover an. Meine Haare waren so lang geworden, dass sie nicht mehr richtig unter die Mütze passen wollten, die mir Sam einst geschenkt hatte. Ich legte nicht viel Wert auf meine äußere Erscheinung, denn mir war es egal, was andere Menschen von mir dachten, schließlich spürte niemand diesen schlimmen Schmerz, ganz tief in mir. Zögernd griff ich nach dem Türschlüssel und betrachtete ihn eine lange Zeit. Sollte das wirklich das Ende meiner selbstgewählten Isolation sein? Ich hatte furchtbare Angst davor, Dinge sehen zu müssen, die mich an Sam erinnerten. Schon bei dem Gedanken an die Gedanken schauderte es mich, kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Ich konnte nicht anders, der verhasste Spiegel zog mich an, als würden lange, dünne Fäden mich umspinnen und mich immer näher auf mein eigenes Bild zutreiben. Der Anblick war erschreckend. Unter meinen Augen lagen tiefe, dunkle Schatten und ich hatte das Gefühl, direkt in meine zerstörte Seele zu blicken. Meine Lippe waren blaß, blutleer und aufgesprungen und durch die Haut schimmerten blau und rote Adern.
Das war also aus mir geworden, ein seelenloser Zombie. Nur zu gerne hätte ich einmal in den Spiegel gelächelt, aber es wollte mir einfach nicht gelingen. Konnte man soetwas verlernen? Anscheinend schon. Mit einem Ruck wandte ich mein Gesicht ab, ich konnte es einfach nicht mehr ertragen. Vorsichtig ging ich einen Schritt auf die Tür zu und berührte mit meiner Hand langsam das Holz, es fühlte sich glatt und warm an. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Tür und atmete schwer. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass es mir jemals so schwer gefallen war mein Appartement zu verlassen. Doch mein Entschluß stand fest. Die Türklinke war eiskalt, doch ignorierte ich die letzte Warnung und drückte sie viel zu feste nach unten. Ich hatte nicht mitbekommen, wie meine Beine sich in Bewegung gesetzt hatten und stand im gleichen Augenblick auch schon auf der Straße. Es war ein kalter, nebelverhangener Tag, kein Sonnenstrahl drang durch die dichte Wolkendecke und dicke Regentropfen platschen lautstark auf den grauen Asphalt. Mir war das nur recht, ich wollte die Sonne nicht sehen. Noch nicht. Ich fröstelte. Die Bäume bewegten sich im starken Wind und es schien, als ob die Äste nach mir greifen, mich zu sich rufen wollten. Irgendetwas war dort im Wald und ich allein musste herausfinden, was dort geschehen war.


Ich war in meinen Träumen schon unzählige Male diesen Weg gegangen. Nein, ich war gerannt. Immer den gleichen Weg. Ich war geflohen vor etwas unbeschreiblich grausamen. Vor dem Monster ohne Gesicht und Namen. Ich zog den Kragen des Pullovers bis über mein Kinn. Die Kälte kroch immer tiefer in meine Kleidung. Mit der rechten Hand fasste ich in meine Hosentasche. Dort lag kalt und schwer ein Derringer. Ich hatte noch nie geschossen, ich wäre überhaupt nicht in der Lage dazu gewesen, denn der Respekt vor Schusswaffen war einfach viel groß. Ich hatte Andrew lediglich ein paar Mal dabei zugesehen, wie er auf der Farm auf zerbeulte Dosen geschossen hatte. Kurz bevor ich Landsend verließ, fand ich die kleine Pistole in Andrews Kommode unter einem Stapel alter Hemden und zerschlissener Hosen. Einer inneren Entschlossenheit folgend steckte meinen Fund in einen Beutel und vergaß ihn dort erst einmal. In meiner neuen Wohnung hatte ich mir ja erst garnicht die Mühe gemacht, meine Sachen auszuräumen. Ich wollte das alles nicht mehr sehen, wollte damit abschließen.

Nun hatte die Welt für mich aber aufgehört, sich zu drehen. Die ganze Sache war ein Alptraum ohne erkennbaren Ausweg. Die Tatsache, dass mein Finger über das kühle Metall der Pistole strichen, beruhigte mich. Ich war fest entschlossen auf alles bedrohliche zu schießen, dem Horror der letzten Tage und Wochen ein Ende zu bereiten. Ich ließ meinen Blick nach links und rechts über die Straße gleiten. Keine Menschenseele war unterwegs, niemand sah aus einem Fenster, nirgends hörte ich Stimmen. Nicht einmal fahrende Autos waren zu hören. Ein vertrautes Gefühl machte sich in mir breit. Ich war allein. Das erste Mal nach Sam´s Tod wünschte ich mir jemanden an meiner Seite. Jemand, der stark war, hinter dem ich mich verstecken konnte, jemand, der mich beschützten würde. Doch da war niemand und da würde auch niemand sein, weder jetzt noch später. Diese Aufgabe musste ich alleine lösen. Ich überlegte kurz, umzudrehen und wieder in mein Appartement zu gehen. Ich konnte mich auf die Couch legen und einfach sterben. Ich musste nur lang genug den Deckenventilator anstarren. Irgendwann würde mein Kopf explodieren. Einfach so.


Imprint

Publication Date: 11-13-2010

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Dedication:
"Und so ereilte mich der Tod und führte mich in die dunkle, finstere Nacht. Doch ich hatte keine Angst, denn das einzige, wovor ich Angst hatte, war das Leben."

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