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Fisherman



Recht zufrieden sass ich auf der ummauerten Terrasse einer kleinen Pension, in die ich mich fuer ein paar Tage eingemietet hatte. Zum felsigen Ufer waren es nur wenige Meter, und die schattenspendenden Tamarisken wuchsen bis fast an die Wasserlinie. Im Becken des nahen Fischereihafens lagen einige Boote und zwei, drei Schiffe. Einige Maenner waren noch bei der Arbeit.
Die Sonne war eben untergegangen. Die Farbe der vielen kleinen Riffs und Inseln wechselte schnell von grau ins anthrazit und vom anthrazit ins schwarz. Flache Wellen plaetscherten leise, und eine flache weisse Gischt hob sich deutlich vom dunklen Wasser ab. Es wurde Nacht.
Etwas tat sich dort unten. Ich hatte den Eindruck, als wuerde sich halbrechts von mir, da, wo das Wasser an die zerkluefteten Steine schlug, etwas bewegen. Langsam, irgendwie ziehend, vom Wasser ans Land, eine triefende, grauschwarze Masse. Langsam richtete sie sich auf, gut mannshoch, schwergewichtig, korpulent, glaenzend vor wasserschwerer Naesse. "Panagia. Oh Panagia. Ein Fisch, ein Fisch, ein riesiger Fisch." Noch waehrend er sich aufrichtete, veraenderte sich seine Form: aus der kraeftigen Schwanzflosse wurden Beine, aus den Kiemenflossen Arme. Der Koerper wurde der Leib eines ausgewachsenen Mannes. Nur der Kopf blieb, was er war - ein Fischkopf.
Und genauso schnell, wie sich der Fischleib in einen Menschenleib verwandelte, genauso schnell schluepfte der Fischmann in eine Kleidung von der Art, wie sie Maenner ueberall auf der Welt tragen: Anzug mit Weste, Hemd mit Krawatte, Socken und Halbschuhe. Der Fischmann setzte sich leicht schwankend in Bewegung, blickte sich um, seine Augen wirkten befremdlich, auch der Uebergang von dem weissen Hemdkragen zum Kopf erschien eigenartig zu sein. Einen Hals hatte der Fischmann nicht. Er bewegte sich in meine Richtung.
Er sah mich sitzen. Er wandte sich noch einmal um und kam mit taenzelnden, federnden, schwankenden Schritten auf mich zu. Seine Erscheinung hatte etwas Leichtes, Heiteres, Freundliches. Ich war total aufgeregt und rief noch einmal: "Oh Panagia, Panagia!" Er laechelte: "Da kann Dir die Jungfrau auch nicht helfen! Sie hat keine Ahnung von meiner Mission und meiner Anlandung hier auf Kreta. Der junge Herr uebrigens auch nicht. Beide sind nicht eingeweiht. Das, was hier laeuft, ist reine Chefsache. Das hat sich der Alte alleine ausgedacht, und er verantwortet das auch alleine. Ich bin nur sein Sprecher und du hast Dich um das Organisatorische zu kuemmern. O.K.?" Das war keine Frage. Das war ein Befehl. Ich war sprachlos. Das Fischwesen sprach so, dass ich es ohne Anstrengung verstehen konnte. "Ach Uebrigens, ich bin der Fischermann, oder Fisherman, ganz wie Du willst. Ich komme direkt von Gott. Er selbst hat mich geschickt. Ich soll euch sein Wort ueberbringen. Ein update sozusagen - eine aktualisierte Fassung von Gottes Wort. Noch einmal. Ein letztes Mal."
Ich betone es unaufgefordert: selbstverstaendlich war ich sprachlos, und wenn ich nicht genau gewusst haette, dass ich waehrend des Tages und auch am Abend keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte, waere mir das Ganze womoeglich als Ausgeburt einer grenzenlosen Weinseligkeit erschienen.
Es war inzwischen ganz dunkel geworden, was mich zwei banale, aber praktische Fragen stellen liess: "Wo wollen Sie hin?“, und „Wo wollen Sie uebernachten?" Das Ziel, das er mir nannte, lag nicht besonders weit von dem Ort entfernt, an dem er dem Meer entstiegen war. Bei angemessen langsamer Fahrt mit dem Auto konnte er in eineinhalb Stunden dort sein. "Nein, nein. Ich gehe zu Fuss zu dem Kloster. Ich habe keine Eile."
Ich kannte das an der Kueste gelegene Kloster Chryssoskalitissa und die Gegend, wo sich das Kloster befindet. Wenn auch mittlerweile im naeheren Umkreis das eine oder andere Haus errichtet wurde, vermittelt es auch heute noch einen eher lastenden Eindruck von Einsamkeit, weit weg von groesseren Ansiedlungen und weit weg von einem Hafen. Da, wo in vergangenen Zeiten bis zu dreihundert Nonnen und Moenche beteten und ihrer Arbeit nachgingen, beleben heute gerade noch ein Moench und eine Nonne die Gebaeude und einige Laienarbeiter, die fuer ihre Arbeit bezahlt werden. Die vielen Touristen aus den verschiedensten Laendern, die auf ihrem Weg zum beruehmten Strand von Elafonissi zu einem Besuch im Kloster einkehren moechten, muessen ja irgendwie versorgt werden. Dafuer braucht man heute bezahlte Mitarbeiter; die meisten davon kommen aus den weiter entfernt liegenden Doerfern.
"Und was treibt Sie dorthin?", wollte ich wissen. "In Chryssoskalitissa werde ich zu den Menschen sprechen. Gott schickt mich, seine Botschaft zu uebermitteln. Es sei das letzte Mal, dass er dies tut, sagte er mir vor meiner Abreise. Dieses eine Mal noch. Ein letzte Warnung an die Menschheit. Verbunden mit einer letzten Frist. Keine Verlaengerung moeglich." "Und wenn die Frist nicht eingehalten wird?" "Aus, finito, the end, fin, telos. Das wars dann mit dem Experiment Mensch. Mein Job ist es, das wirklich ueberzeugend klarzumachen.“ – „ Adi, und dazu brauche ich deine Hilfe!" Erschrocken wandte ich mich ihm wieder voll zu. Er hatte meinen Namen genannt, obwohl ich mich nicht vorgestellt hatte. "Du musst nicht so erschreckt tun. Wir kennen dich da oben." Er zeigte mit einem Flossenarm nach oben, himmelwaerts. "Oder glaubst du etwa, unsere Begegnung dort am Strand sei zufaellig passiert? Komm lass uns jetzt gehen."
Fisherman ging mit schwankenden Schritten voraus und machte das Tempo. Ich trottete hinter ihm her und kam mir reichlich albern vor. "Du musst dir jetzt nicht albern vorkommen. Es ist einfach albern, wenn ein ausgewachsener Mann, der auf die sechzig zugeht, ohne Murren und Widerstaende einem Wesen hinterher laeuft, das sich vor Kurzem noch im Meer tummelte, um sich dann in einen Fischmann zu verwandeln und von einem Auftrag Gottes zu faseln. Ich jedenfalls finde es toll und schaetze das an dir, dass Du wie ein Kind ohne Arg bei dieser Sache mitmachst. Dein Herz mag ja etwas krank sein - aber es ist auch gross und stark und du hast es am richtigen Fleck. Gratuliere". Jeder wird verstehen, dass mir nach diesen Worten leicht schwindelig wurde: hatte ich mich bereits als Kind haeufiger als mir lieb war von meiner Mutter durchschaut gefuehlt, so sah ich mich jetzt einer Durchleuchtungs-Energie ausgesetzt, verglichen mit der Roentgenstrahlen offenbar nur die Kraft einer Stearinkerze hatten. Seine Auftraggeber und wohl auch er selbst kannten mich anscheinend inn- und auswendig. Eine Mischung aus Stolz und Furcht ueberkam mich und stroemte durch meinen Koerper.
Fisherman kam gut voran. Sein schwankender Schritt verhinderte zwar, dass er schnell gehen konnte. Dafuer ging er stetig, kraftvoll und ohne Pausen. Da hatte ich mehr Probleme beim anhaltenden Bergaufgehen - mein Herz machte mir zu schaffen, und ich musste von Zeit zu Zeit stehen bleiben und kraeftig durchatmen. "Bilde dir bloss nicht ein, die da oben haetten das nicht bedacht, als sie dich fuer die Umsetzung ihres Planes ausgewaehlt haben." "Ja, ran mit den Behinderten, die Herz- und Fusskranken ran an die grossen Aufgaben dieser Welt. Ich fuehle mich geehrt, Fisherman. Allerdings hatte nicht vor, in meinem Alter und mit meinen Einschraenkungen noch Mitglied eines kleinen, privaten und elitaeren Wanderclubs zu werden. "GOW – ‚God's Own Walkers' - oder so." Er kicherte und sagte: "Mann, Du hast die Chance Deines Lebens, noch einmal gross rauszukommen. Weltweit. Und das ist in den Zeiten dieser daemlichen Globalisierungs-Vergoetzung nicht zu verachten. Auf jeden Fall ist es besser, als in die hohle Hand gesch..., wie wir dort oben sagen, wenn die Jungfrau gerade nicht um die Ecke ist. Denn die ist ja inzwischen so heilig gesprochen worden, dass sie sich auch den kleinsten schraegen Spruch nicht mehr anhoeren will. Ganz anders als frueher, als sie nur die Mutter Christi war. Das ist jetzt manches Mal eine Stimmung, sage ich Dir, eine Stimmung ... Auf jeden Fall hast Du noch einmal die Chance, ganz gross rauszukommen, als der Organisator von ‚DLWG’, ‚Die Letzten Worte Gottes'. So glaube ich, sollten wir die anstehende Kampagne nennen. Oder? Wie klingt das in Deinen Ohren?" Dieser Fisherman war wirklich eine Nummer. Waehrend er vor mir hertaenzelte, sprach er ueber Himmel und Erde, ueber seinen Auftrag und meine Chancen, ueber die Jungfrau Maria und hohle Haende. Er war pathetisch und ordinaer, unterwuerfig und ueberheblich - und er war der Fischermann Gottes. Daran hatte ich auf einmal keine Zeifel mehr. Hatte ich mich zu Beginn unserer Bekanntschaft von ihm ueberrumpeln lassen, war ich trotz oder wegen meiner Zweifel mit ihm gegangen. Und hatte ich vorher alles zusammengenommen fuer eine ausgekochte Farce gehalten, glaubte ich auf einmal an die Notwendigkeit von Fisherman's Mission.
Endlich hatten die Serpentinen ein Ende, und wir bogen in die Hauptstrasse ein. Nach links ging es nach Kissamos-Kastelli und nach rechts nach Platanos und Chryssoskalitissa. Mit schlafwandlerischer Sicherheit ging er nach rechts, in Richtung Platanos. Und dort direkt zu der etwas hoeher gelegenen Platia. Wir setzen uns auf die Terrasse eines Kafeneons und streckten unsere Glieder. Bei dem aelteren, beleibten Kafetier bestellten wir unsere Getraenke und schauten harmlos in die Runde. Die Maenner waren wie versteinert. Mit offenen Muendern starrten sie auf Fisherman, natuerlich auf seinen Kopf zuerst, dann auf mich, dann wieder auf Fisherman. Ein Jugendlicher sprang auf und rannte weg. Niemand traute sich, das Wort an uns zu richten. Schliesslich brach ich das Schweigen. "Das ist Fisherman. Gott, der Herr, hat ihn zu uns geschickt. Nicht nur zu uns, den Menschen hier in Platanos. Nein. Auch nicht nur den Menschen auf Kreta. Nein. Auch nicht nur den Griechen, allen Griechen. Nein. Er hat ihn zu allen Menschen dieser grossen, schoenen Welt geschickt. Zu den Indern und Eskimos. Zu den Afrikanern und Asiaten. Zu den Australiern und Indianern, den Rothaeuten. Ja. Zu den Amis und den Europaeern. Ja. Sogar zu den Tuerken. Gott der Herr hat eine wichtige Nachricht fuer uns alle. Eine Nachricht, bei der es um Leben und Tod geht, sagt der Fisherman. Und ausgerechnet auf Kreta, und ausgerechnet hier, ganz in der Naehe von Platanos, hat sich der Sendbote Gottes vom Fisch zum Fisherman verwandelt. Ist das nicht toll, frage ich euch? Ist das nicht ein Wunder, frage ich euch weiter? Und was werden die von den Zeitungen und was werden die vom Radio und die vom Fernsehen zu der Sache sagen? Und Bischof Irenaeus, was wird der sagen? Und der Papst? Und der deutsche Kanzler? Der Berlusconi? Der englische Premier? Und der Praesident der Vereinigten Staaten von Amerika? Was werden all diese maechtigen und machthungrigen Herren dazu sagen? - Ja, dass Bischof Irenaeus nicht machthungrig ist, wissen wir alle - und ich weiss das auch. Es tut mir leid, dass ich ihn hier einfach mit untergemischt habe. Ich wollte nur sagen, dass es mich wirklich interessiert, was Bischof Irenaeus zu der Sache sagen wird. Tut mir leid. Also ..." Inzwischen hat sich das halbe Dorf um uns versammelt. Fisherman zwinkerte mir mit dem rechten Fischauge zu. Das sah komisch aus und ich musste lachen. "Du machst das grossartig, mein Lieber. Mach weiter! Gib ihnen Pfeffer!" Er war aufgeregter als ich. Ich fand es schoen, zu den Menschen zu sprechen. Sie hingen an meinen Lippen. Ich erzaehlte ihnen, wie wir uns unten am Strand kennengelernt hatten. Natuerlich schmueckte ich die Geschichte von der Verwandlung des Fisches in den Fisherman gehoerig aus, und die Leute hatten ihren Spass daran. Auch seinen Watschelgang machte ich vor und alle lachten. Dann aber wurde ich ernst und machte einige Andeutungen und verwies auf die grosse Kundgebung vor dem Kloster Chryssoskaltissa.
Fisherman hatte kein Wort gesagt. Er liess mich reden und gestikulieren und beobachtete dabei aufmerksam die Reaktionen unter den Zuhoererinnen und Zuhoerern auf jeden meiner Saetze. Dann wandten wir uns an einen juengeren Mann, der die ganze Zeit mit Gesten und Zeichen auf sich aufmerksam gemacht hatte. Es war Kostas, ein Grundschullehrer aus dem Dorf, der in freier Mitarbeit die Lokalredaktion fuer Platanos und Umgebung betreute, und alles Berichtenswerte per e-mail an seine Zeitung in Kissamos schickte. Er bat uns um weitere Informationen, schoss einen ganze Reihe von Fotos von Fisherman und mir und versprach, noch am gleichen Abend einen fundierten und umfangreichen Artikel ueber die Begebenheit und ihre Hintergruende nach Kissamos zu schicken. Er gluehte vor Eifer. "Wenn wir Glueck haben, sind wir schon morgen damit in der Auflage!" Er sagte nicht Zeitung, er sagte Auflage. Fisherman ueberlegte einen kurzen Moment. Dann machte er Kostas das Angebot fuer eine feste freie Mitarbeit als Pressechef von ‚Die Letzten Worte Gottes'. Kostas fuehlte sich geehrt und war begeistert. Von einer solchen Chance hatte er lange getraeumt, bis er schliesslich den Lehrerjob in Platanos annahm, in der tiefen kretischen Provinz. Mit einem kleinen Raki wurde die Vereinbarung besiegelt. Auch Fisherman trank ein Schlueckchen. "Raki in Fish" sagte er, schuettelte sich ein wenig und schmunzelte.
Haben Sie schon einmal einen Fisch schmunzeln sehen? Ehrlich? Toll sieht das aus, kann ich da nur sagen. Wirklich krass.
Es ging so voran, wie wir uns das gewuenscht hatten: Kostas schickte den Bericht per e-Mail an seine Redaktion nach Kissamos und als Anlage die Daten der Fotos, die er mit seiner digitalen Kamera gemacht hatte, gleich mit. Am anderen Morgen berichtete die Zeitung in grosser Aufmachung von Fisherman's Kundgebung in Platanos. Das hatte zur Folge, dass sich andere Redaktionen aus Kreta, dann aus ganz Griechenland und spaeter aus vielen Laendern Europas bei Kostas meldeten und dringend um weitere Informationen und um aufmacherfaehiges Bildmaterial baten. Kostas hatte wirklich alle Haende voll zu tun, um die Flut der Anfragen zu beantworten. Er schrieb, verschickte e-Mails, telefonierte, schoss Portaits, bearbeitete Bilddaten und hielt so auf ausserordentlich effiziente Weise den Kontakt zwischen unserer kleinen Gruppe von DLWG, zwischen dem von Gott gesandten Fisherman, und der grossen weiten Welt jenseits von Platanos auf Westkreta.
Zum Thema Gott: es dauerte nicht lange, da meldeten sich die Bueroleiter und die Sprecher der grossen Kirchenoberen. Zuerst waren die kretischen Bischoefe daran interessiert, was sich da Merkwuerdiges auf ihrer Insel tat. Der Metropolit aus Athen liess anfragen. Die Griechisch-Orthoxen, einschliesslich ihrer zahlreichen Ableger im Ausland, fuehlten sich besonders betroffen, aber auch verantwortlich, fuer die Vorgaenge um Fisherman. Die Orthodoxen Kirchen Serbiens, Rumaeniens, Bulgariens und natuerlich auch Russlands wollten informiert werden und kuendigten die Entsendung von Beobachtern an. Der Rat des Reformierten Weltbundes und die Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes nahmen ueber ein gut funktionierendes Netzwerk Kontakt zu Kostas auf. Nur Rom hielt sich erst einmal bedeckt. Der Heilige Vater und die ihn beratenden Kardinaele waren von den Geruechten um das ploetzliche Auftauchen dieses selbst ernannten Fisherman tief verunsichert. Verstand er sich nicht - der Papst - selbst als der Fischer, als Seelenfischer, der im Auftrag Gottes handelte? Was bedeutete das Auftauchen dieses Fisherman mit seinem unerhoerten Anspruch fuer die Roemisch-Katholische Kirche? Und was bedeutete das fuer ihn persoenlich, den Papst? Fuer diesen alten, kranken Oberhirten, der sich nicht durchringen konnte, seiner schweren chronischen Erkrankung wegen aus dem Amt zu scheiden. Sogar sein Intimus, Josef Kardinal Ratzinger, der doch schon als Kind in Inn, Alz und Chiemsee gefischt hatte, konnte mit diesem Fisherman nichts anfangen. Man machte in Rom das, was man auch anderswo in solchen Faellen zu tun pflegt: man installierte einen Ausschuss und sandte einen Beobachter.
Inzwischen war ein ziemlicher Wirbel um das abseits gelegen Dorf Platanos entstanden. Neugierige, Beobachter, Glaeubige, Berichterstatter, Gebrechliche und Rat- und Hilfesuchende waren nach Westkreta gekommen, um den Fisherman zu sehen und ihn sprechen zu hoeren. In einer umfangreichen Telefonaktion, die ich ohne Kostas Unterstuetzung nicht haette verwirklichen koennen, konnte ich eine grosse Zahl von Hotelbesitzern und Managern grosser Hotelanlagen entlang der ganzen Nord- und Ostkueste Kretas bis hinunter nach Sitia, dafuer gewinnen, uns mit Betten, Matratzen, Bettwaesche, Notbetten, Tischen, Stuehlen, Geschirr, Glaesern und Bestecken auszuhelfen. Und zwar bereits zielgerichtet fuer die Ebene rund um das Kloster Chryssoskalitissa. John, ein pensionierter Touristikmanager, den ich einmal in der Naehe von Sparta auf dem Peloponnes kennengelernt hatte, und der ueber exzellente Beziehungen zum griechischen Militaer verfuegte, ebnete mir den Weg zur griechischen Militaerverwaltung auf Kreta. Und eigenartig: als stuende unser Tun unter dem besonderen Schutz des Herrn da oben, funktionierte alles, was wir auch immer in die Hand nahmen, reibungslos und ohne groessere Probleme. Mir kam es vor, als haetten viele Menschen geradezu darauf gewartet, uns helfen zu koennen. Die Militaerverwaltung auf Kreta zum Beispiel, stellte uns jede Menge Zelte, Feldbetten, Decken, Tankwagen fuer Trinkwasser, Feldkuechen, Toilettenwagen und viel geschultes Personal - einschliesslich von Sanitaetern und Militaeraerzten – kostenlos zur Verfuegung. Fuer sie mochte es nur das Training fuer einen Katastrophenfall sein, mir mich war es die Erloesung aus meinen Planungs-und Organisations-Albtraeumen.
Der Pilgerzug nach Chryssoskalitissa kam nur langsam voran. Und das lag nicht nur an Fisherman's zeitaufwendigem Gang. "Siga, siga", sagte er immer wieder, blieb stehen und blickte zufrieden und voller Stolz auf die stuendlich groesser werdende Menge interessierter Menschen, auf die die Uebertragungswagen der Rundfunk- und Fernsehanstalten - inzwischen waren auch BBC, CNN, TNN und die Deutsche Welle praesent. Die Volksrepublik China wurde vorlaeufig durch einen Fernsehsender aus Hong Kong vertreten, man wollte aber moeglichst schnell eine Uebertragung in eigener Regie stellen. Ja, ein moderner Pilgerzug war unterwegs. Wollten alle in Chryssoskalitissa wirklich das Wort Gottes hoeren? Oder wollten sie einfach an diesem Milleniumsereignis teilhaben? Um ihren Familien davon erzaehlen zu koennen, ihren Freunden, ihren Kindern und Enkelkindern. Was man ihnen nicht verdenken konnte. Oder?
Waehrend ich bestaendig hin und her pendelte und von den inzwischen zahlreichen ehrenamtlichen Helfern eine Art Zeltstadt im Umfeld des Klosters errichten liess, bewegte sich der Zug um Fisherman langsam nach Sueden. Wir hatten die Polizei ersucht, die Strasse von Platanos ueber Sfinari, Kambos, Vathi nach Chryssoskalitissa fuer den Durchgangsverkehr zu sperren und statt dessen ueber Topolia, Voutas und Slavopoula beziehungsweise Kandanos und Paleochora umzuleiten. Wieder Erwarten funktionierte das gut, so dass die Schar, die sich dem Zug um Fisherman angeschlossen hatte, ohne behindert zu werden und ohne zu behindern, die kurvenreiche Strasse hoch ueber dem Meer benuetzen konnte. Kosta hatte uebrigens sein Presse-Zentrum nach Kambos verlegt, damit er naeher am Geschehen sein und effektiver arbeiten konnte.
Ich hatte als Ehrenamtlicher schon an manchen humanitaeren Aktionen teilgenommen. Doch eine solche problemlose Bewegung von Menschen und Material, ohne Streitereien und Gebruell, ohne Pannen und Unfaelle, ohne Unterschlagungen, Diebstaehle, Handgreiflichkeiten und Betruegereien - so etwas hatte ich noch nie erlebt. Allerdings war ich auch noch nie an einer Aktion von einer solchen Groessenordnung beteiligt gewesen. Egal was man gegen Fisherman einwenden mochte, und egal, als was sich seine grosse Schlussversammlung vor dem Kloster Chryssoskalitissa entpuppen wuerde: Fisherman hat die Massen mobilisiert, hatte die Medien neugierig und die Weltoeffentlichkeit aufmerksam gemacht auf diesen einen winzigen Punkt auf dem Erdball, auf dieses unbedeutende griechisch-orthodoxe Kloster im Suedwesten Kretas. Die Speisung der Fuenftausend, von der die Heilige Schrift berichtet, muss ein Klacks gewesen sein gegen das, was Fisherman hier auf- und abzog.
Nach und nach sammelten sich die Menschen vor dem Kloster. Zwei riesige Parkplaetze, die wir in der Eile organisieren konnten, fuellten sich in Windeseile. Dazu hatte ich einen eigenen Platz anlegen lassen fuer die Wohnwagen- und Wohnmobilfahrer, die wir mit ihren eigenen Unterbringungsmoeglichkeiten erwarteten. Eine Vielzahl von ambulanten Minimaerkten, Imbissbuden und Tavernen waren eingerichtet worden. Anders als in der Heiligen Schrift, musste man hier fuer sein Essen und seine Getraenke zahlen. Dafuer wurde aber auch mehr als nur Fisch und Brot angeboten.
Die eintreffenden Besucher bezogen Quartier in den Zelten, auf Liegen und Betten unter freiem Himmel und in den wenigen ‚Rent Rooms' der Umgebung.
Die beigen, blauen und weissen Mauern, die Daecher und Kuppeln des Klosters Chryssoskalitissa strahlten in der Sonne des sinkenden Nachmittags. Langsam kehrte Ruhe ein unter den ueber zehntausend Menschen, die sich auf der Ebene vor dem Kloster versammelt hatten. Eine erwartungsvolle Spannung hatte sich ueber den Platz gelegt. Spuerbar. Greifbar. All die Anwesenden wollten jetzt endlich wissen, was sich hinter Fisherman und seiner angekuendigten Botschaft versteckte.
Fisherman, um den Griechen gerecht zu werden, gab noch eine Stunde dazu, und als er dann leicht schwankend, taenzelnd und mit federnden Schritten zu den aufgebauten Mikrofonen ging, hielten viele den Atem an und bedeckten ihre Augen. Ein so schreckliches, ein so bizarres Geschoepf, hatten sie in ihrem Leben noch nicht gesehen. Fisherman raeusperte sich, hob die Stimme und sagte:
"Herr, ich danke Dir, und wir danken Dir, dass Du es moeglich gemacht hast, dass wir dies hier bewerkstelligen konnten. In dieser unglaublich kurzen Zeit. Und ich bitte Dich, auch in den naechsten Stunden waehrend unseres Zusammenseins in Chryssoskalitissa, bei uns zu bleiben und uns Deinen Geist und Deine Liebe spueren zu lassen zu. Ja, so soll es sein.
Also, meine Lieben, die ihr so zahlreich aus Nah und Fern an diesen entlegenen Ort gekommen seid, auch ihr von der Presse, vom Funk und vom Fernsehen: ich bin Fisherman und Gott, der Herr, hat mich zu euch gesandt. Ich begruesse euch. Jeden einzelnen von euch begruesse ich sehr herzlich. Und ich hoffe, dass ihr alle gut untergebracht seid, und genuegend zu essen und zu trinken bekommt. Wer nicht, soll sich bei dem Verantwortlichen dort drueben beschweren, ja, das ist der grosse schwere Mann, der immerfort grinst, weil er glaubt, heute einen besonders gute Arbeit geleistet zu haben." Er deutete auf mich. Die Leute lachten.
"Wenn ich sage, der Herr hat mich zu euch gesandt, dann ist der Anlass dazu eine ganz ernste Sache Angelegenheit. Gott ist naemlich sauer auf euch. Er ist sauer auf alle Menschen. Er habe lange genug zugeschaut, sagt er, und habe sich viel zu viel und viel zu oft an der Nase herum fuehren lassen. Aber damit sei jetzt Schluss, sagt er. Mit mir als Boten schickt er Euch ein letztes Mal, ultimativ gewissermassen, die Erwartungen, die er an euch hat.
Ihr habt weder die Gebote, die er Moses an die Hand gab, noch die weisen und weitreichenden Ausfuehrungen seines eigenen Sohnes jemals ernst genommen. Ihr habt euch auf dieser Erde breit und fett gemacht, als haettet ihr sie erschaffen. Und ihr verdraengt und zerstoert alles Natuerliche - also seine Schoepfung, und auf diese bildet er sich nicht wenig ein! Und ihr habt eure Gesetze so gestaltet, dass der Staerkere den Schwachen, der Reichere den Armen und der Trickser den Unbedarften ungestraft in die Ecke draengen kann, bis diesem die Luft zum Atmen ausgeht. Das will Gott, der Herr, nicht. Er will auch nicht, dass Ihr euch mit Leib und Seele verkauft. Prostitution in jeder Form ist im zuwider. Auch liebt Gott eure Suechte nicht: die Alkoholsucht oder die Nikotin- oder Tablettensucht, die Drogensucht, die Arbeits-, Sex- oder Fressucht, die Fernseh-, Einkaufs- oder Vergnuegungssucht, Gott liebt das Rasen nicht, die Sucht nach Extremsportarten hasst er, und eure Sucht nach den immer aktuellsten Nachrichten und Informationen findet er laecherlich. Ganz besonders verwerflich aber findet er euere Sucht nach Geld und Besitz, nach angehaeuften Vermoegen und Reichtum. Dafuer hat er nichts, aber auch gar nichts uebrig.
Gott liebt den friedfertigen Menschen. Krieg und Gewalt sind ihm ein Greuel. Und ihr muesst es doch allmaehlich selbst begriffen haben: durch Krieg und Gewalt ist bisher kein einziger Konflikt auf Erden geloest worden. Im Gegenteil: aus Krieg und Gewalt sind immer neue Kriege und Gewalttaten hervorgegangen. Leid gebiert immer nur neues Leid. Ihr alle wisst das schon seit tausenden von Jahren. Trotzdem dreht ihr immer weiter an der Gewaltschraube und erfindet immer neue Argumente und Beweise, die sie rechtfertigen soll. Ihr seid Kindskoepfe und Idioten in einem. Und jetzt habt Ihr euch auch noch Waffensysteme zugelegt, mit denen ihr den ganzen Globus mitsamt seiner Bevoelkerung zerstoeren, vernichten, ausloeschen koennt. Und ihr denkt, ihr seid im Recht, seid klug, seid intelligent, seid ueberlegen.
Er will auch nicht, das der weisshaeutige Mensch dem schwarzhaeutigen Menschen gegenueber als Unterdruecker, oder der gelbhaeutige dem rothaeutigen als Herrenmensch, oder weiss-, schwarz-, gelb-, rothaeutige Menschen gegenueber den gruenhaeutigen als hoeherwertig auftreten. Euere verschiedenen Religionen, die sogenannten Weltreligionen, und die tausend verschiedene Glaubensgemeinschaften, findet Gott gelinde ausgedrueckt laecherlich. ‚Ein Gott ist ein Gott ist ein Gott ist ein Gott!', schreit er dann und haut auf auf den Tisch, dass es nur so donnert, und die tektonischen Platten dieser Welt sich aneinander reiben. Dann koennt ihr wieder Erd- oder Seebeben-Forschung betreiben. Ihr Leute in Griechenland und auf Kreta kennt das ja. Ihr wisst, wovon ich rede.
Noch etwas laesst Gott, der Herr, ausrichten: er kennt euere Erwartung dem Leben gegenueber und er weiss, dass ihr euch das Leben wie ein Fuellhorn vorstellt, oder wie eine Wundertuete. Aber taeuscht euch nicht: oft genug sind in einer solchen Wundertuete einfach nur erbaermlich schlecht schmeckende Suesstoffmaeuse. Oder gammliger, ekelerregender Baerendreck. Und - das ist die Weisheit - es ist trotzdem euer Leben. Ihr habt kein anderes, ihr habt kein zweites im Keller oder im Bankfach. Also umarmt es, liebt es und seid gut zu ihm. Und hoert auf, staendig rumzumaulen, zu meckern und unzufrieden zu sein. Das mag Gott nicht! Er will zufriedene, strahlende Gesichter um sich haben!"
Ich blickte um mich und sah die ganze grosse Menge Menschen wie erstarrt dastehen. Da war keine Unruhe mehr, kein Getuschel, keine Gezupfe, keine Muedigkeit. Gespannt schauten die Menschen zu der kleinen Plattform, auf der Fisherman sich mit beiden Haenden am Pult festhielt und seine schwankenden Bewegungen unter Kontrolle hielt. Obwohl ich schon seit Tagen mit ihm zusammen war, erschien mir sein Fischkopf aus dem Hemdkragen ebenso grotesk wie am Anfang unserer Bekanntschaft. Aber seinen Zuhoerern schien das nichts auszumachen. Jedes Wort lasen sie ihm von seinem Fischmaul ab, stoehnten und atmeten schwer, wenn er sie an ihre Versaeumnisse erinnerte und kicherten und lachten, wenn er eine witzige Bemerkung machte.
Ploetzlich sah ich Papas Georgos, den Priester aus meinem Dorf, unter dem Publikum. Er war voll konzentriert bei der Sache und und laechelte vertraeumt vor sich hin, und seine blaugrauen Augen strahlten, als waere er keine siebzig, sondern zwanzig Jahre alt.
"Bevor ich zu dem Kern meiner Rede komme, meine lieben Zuhoerer, moechte ich euch auf drei Dinge aufmerksam machen, die bei uns da oben jedem schon seit langem in Fleisch und Blut uebergegangen sind.
Erstens: Wenn Gott kommt – geht die Langeweile.
Zweitens: Wo Gott ist, kommt Erregung auf.
Drittens: Wo Gott ist, ist Lebendigkeit und Freude.
Denkt darueber nach. Ob Ihr das meditieren, beten oder analysieren nennt - Meditation, Gebet oder Analyse - Gott ist das gleichgueltig. Aber er will, dass ihr eure grauen Zellen auch benuetzt, die er euch mit auf den Weg gegeben hat. Und nicht nur beim Ausfuellen eines Lotterie-Scheins oder eines Kredit-Vertrages. Sondern zum Denken. Also, o.k. Leute: Denkt!
Und jetzt, meine Lieben, kommt das grosse Finale! Ein einziger Satz! Der einzig wichtige Satz im Leben! Der Satz, der euer Leben, euer aller Leben und alles Leben auf dieser Erde, erhalten kann. Und es lebenswert bleiben laesst! Und so lautet der Satz:
JEDER TUT NUR DAS, WAS FUER DEN ANDEREN GUT IST.
Verstanden? Wirklich? Ich widerhole diesen Satz noch einmal:
JEDER TUT NUR DAS, WAS FUER DEN ANDEREN GUT IST.
Noch einmal? Ist das nicht ein grossartiger Satz?
JEDER TUT NUR DAS, WAS FUER DEN ANDEREN GUT IST.
Damit, und mit den besten Gruessen von Gott, dem Herrn, lasse ich euch jetzt alleine. Jedem Einzelnen wuensche ich von Herzen alles Gute, eine gute Nacht, einen guten Nachhauseweg und viel Zufriedenheit beim Arbeiten, beim Spielen und beim Anwenden des Satzes.
Ach ja, uebrigens, wenn die Weltbevoelkerung von heute an gerechnet in dreiunddreissig Jahren diesen Satz nicht umgesetzt hat in entsprechendes Handeln, wird diese wunderschoene Erde, diese wunderbare Schoepfung Gottes, nicht mehr sein: aus, finito, the end, fin, telos. Keine Verlaengerung moeglich. Servus. Baba. Good Bye. Arrivederci. Jasas."
Er taenzelte vom Podium hinunter und zum Kloster hinueber und vom Kloster ueber die Klippen zum Strand. Auf dem Weg dorthin zog er sich die Schuhe und die Kleidungsstuecke aus. Zum ersten Mal sah ich, dass er Boxershorts trug. Er winkte noch einmal zu uns herauf. Fast vollstaendig hatte er sich in den Fisch zurueck verwandelt, als der er vor nicht langer Zeit dem Meer entstiegen war. Mir aber kam es vor, als waere das vor langer Zeit passiert.
Fisherman. Der von Gott gesandte Bote. Jonas der Wal. Jesus fischte unter den Fischern nach seinen Juengern. Die Speisung der Fuenftausend. Petrus, der Menschenfischer. Fisherman. Mit einem eleganten Kopfsprung sprang er zurueck in sein Element, stiess einen merkwuerdigen Laut aus – eine Mischung aus Juchzer, Schrei und Jodler -, und verschwand. Nichts blieb zurueck, ausser einigen Kleidungsstuecken und konzentrische Wellen im Meer.
Ueber zehntausend Menschen standen starr und stumm auf dem Platz beim Kloster. Kinder weinten. Hunde bellten. Da und dort startete eine Auto oder ein Moped. Die Starre loeste sich auf. Langsam. Und langsam kam wieder Bewegung in die Menge.
Bedrueckt und schweigend gingen sie ihrer Wege.
Das alles geschah am Donnerstag, den 27. Juni 2002. Der Mond war noch fast voll. Die Uhr lief. Sie soll bis bis zum 26. Juni 2035 laufen. Dann wuerden die Ergebnisse begutachtet, gewogen und beurteilt werden.
Ob wir uns noch aendern koennen? Ob wir das wollen? Ob wir das rechtzeitig schaffen?
Ob es Gott so ernst meint, wie Fisherman es verkuendigt hat? Weisst Du es? Wissen Sie es? Ich jedenfalls weiss es nicht.
Obwohl ich dabei war.



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Publication Date: 11-12-2011

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