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Herzenswunsch

Es war kurz vor Weihnachten und die meisten Familien waren schon lange emsig dabei, alles für die Festtage vorzubereiten. Es mussten noch so viele Besorgungen gemacht werden und überall herrschte helle Aufregung. 

Gerade bei den Kindern war die erwartungsvolle Spannung fast greifbar.

 

Nur beim kleinen Jonas war es anders. Er war zwar erst fünf Jahre alt, aber sein Vater hatte ihm schon sehr früh gesagt, dass es diesen Mann, der den Leuten angeblich die ganzen Geschenke bringt, überhaupt nicht gibt. Und auch, dass dieses ganze Heckmeck wegen dieser Festtage vollkommen überflüssig sei. 

So hatte der kleine Junge noch nie Weihnachten gefeiert, geschweige denn Geschenke vom Weihnachtsmann bekommen. Dieser würde ihn vermutlich da draußen auf dem Wasser sowieso nicht finden – wenn es ihn denn tatsächlich geben würde.

 

Und alles nur, weil Jonas´ Mama schon so früh verstarb. Er war erst knapp ein Jahr alt gewesen, als sie zur Weihnachtszeit bei einem schweren Sturm über Bord des alten Fischfängers gefallen und seitdem nie wieder gesehen worden war. So hatte Jonas die ganzen Jahre nur mit seinem Vater allein auf dem Boot gelebt. Auch wenn sie nie viel hatten, kamen sie doch zurecht. Normalerweise lebten sie vom Erlös der Fischverkäufe. Nur wenn der Fang mal wieder schlecht ausfiel, arbeitete Jonas´ Vater in irgendeinem Hafen irgendeiner Stadt, um sie beide ernähren zu können.

 

Und obwohl Jonas sein Vater, Jeremia, sehr streng und manchmal sehr herrisch seinem Sohn gegenüber war, so liebte er den Kleinen doch über alles. Liebend gerne hätte er ihm ein besseres Leben geboten, aber leider hatte er nichts anderes gelernt, als was er schon sein Leben lang tat – zur See fahren und Fische fangen. Er hatte das alte Schiff, die Maiden, von seinem Vater übernommen und kannte nichts anderes. Es war damals schon beinahe ein Wunder gewesen, dass ihm dieses wundervolle Wesen, seine geliebte Frau über den Weg gelaufen war. Sie hätte jeden anderen haben können und bei Gott, ihre Eltern hatten wahrlich ein anderes Leben für sie gewollt, aber Lucy hatte sich für ihn entschieden. Ihn, den alten brummigen Seebären und das Leben auf dem Meer. Und wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann hielt sie daran eisern fest, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Da hatte selbst er mit seiner eigenen Dickköpfigkeit nichts entgegenzusetzen gehabt.

 

Eines Tages hatte sie ihm dann erzählt, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Sie war so glücklich gewesen. Als das Baby dann da war – ihr wundervoller kleiner Sohn – blieben sie trotzdem auf dem Wasser, auch wenn er sich für sie und seinen Sohn an ein Leben auf dem Land gewöhnt hätte. Ein Leben auf See mit einem Baby war überaus gefährlich, das wusste er. Aber Lucy wollte das nicht. Sie wollte ihm nicht seine Heimat rauben und so blieben sie. Hätte er nur nicht auf sie gehört – wäre er nur nicht so egoistisch gewesen. Nun war es zu spät. Nun hatte nicht nur er für seinen Fehler bezahlen müssen, sondern seine gesamte kleine Familie. Denn Lucy war unwiederbringlich fort. 

 

Seine Schwiegereltern gaben selbstverständlich ebenfalls ihm die Schuld am Tod ihrer einzigen Tochter. Ihr Schmerz war so groß gewesen, dass sie in ihrer Ohnmacht ihn, damit aber leider auch seinen und Lucys gemeinsamen Sohn aus ihrem Leben verbannten. Dabei wäre Jonas die einzige Verbindung zu ihrer Tochter gewesen. Der Kleine glich seiner verstorbenen Mutter so sehr, dass es selbst für Jeremia manchmal schmerzte, ihn anzuschauen. Nicht nur äußerlich war Jonas seiner Lucy sehr ähnlich, nein, sein gesamtes Wesen war wie ihres. Aber das konnten oder wollten seine Großeltern damals nicht sehen.

 

Jeremia hatte jeden Tag gebetet, doch selbst Gott schien ihn für schuldig zu halten, denn er hatte ihn nicht erhört. Er hatte ihm seine Lucy nicht wiedergegeben. Und so hatte er sich schließlich von ihm abgewandt und wollte auch nicht, dass sein Sohn zu diesem Gott aufsah. Für Jeremia gab es Gott nicht mehr und auch nichts, was mit seinen Wundern oder Ähnlichem zu tun hatte. Und so war er in Tagen, wie diesen, so kurz vor Weihnachten immer froh, auf seinem Schiff, weit draußen auf dem Wasser zu sein. Hier, wo ihn und seinen Sohn der ganze Trubel der Feiertage nicht erreichen konnte.

 

Aber leider sollte es dieses Jahr anders kommen, denn es gab ein Problem. Es mussten sich im letzten Hafen Ratten auf das Schiff geschlichen haben, denn fast ihre gesamten Vorräte waren aufgefressen worden. So gab es leider keine andere Möglichkeit, als den nächsten Hafen anzusteuern. Als sie dort anlandeten, hatte sich bereits ein großer Knoten in Jeremias Magen gebildet. Denn dieser Hafen war ihm nicht unbekannt. Vielmehr war es der Hafen genau der Stadt, in der seine Schwiegereltern lebten und wo seine Lucy aufgewachsen war. Jonas wusste von alldem nichts. Er war damals einfach zu klein gewesen, um sich erinnern zu können.

 

Jonas fiel zwar auf, dass sein Vater angespannter war als sonst, aber er dachte sich nichts weiter dabei. Er wusste, dass sein Vater sich auf dem Festland nicht wohlfühlte. Als sie im Hafen lagen, sollte Jonas wie stets auf dem Schiff bleiben und nicht auf dem Hafengelände rumstreunen. Sein Vater ging, wie immer, wenn sie an Land waren, direkt auf Arbeitssuche und würde erst spät abends, wenn nicht sogar erst nachts zurückkehren. Er hatte Jonas das letzte Brot da gelassen, damit er den Tag über etwas zu essen hatte.

 

Ganz im Geheimen liebte Jonas diese Tage. Er durfte zwar nie allein das Schiff verlassen, aber das wollte er auch gar nicht. Es war jedes Mal ein riesiges Abenteuer für ihn, wenn er allein auf dem Schiff sein konnte. Das durfte er seinem Vater gegenüber natürlich nicht erzählen - er würde nur traurig werden – soviel wusste er schon von seinem ihm.

 

Jonas hatte viel Fantasie und so dachte er sich die verschiedensten Spiele und Geschichten aus, mit denen er sich den Tag über beschäftigte. Als es dunkel geworden war, hatte er sich ein kleines Stückchen vom Brot abgebrochen – den Rest wollte er lieber noch aufheben. Sein Vater war immer noch nicht zurückgekehrt, daher legte Jonas sich schon in seine Koje. Oben am Himmel waren bereits die Sterne zu sehen, die er durch ein kleines Fenster beobachten konnte. Und jeden Abend suchte Jonas nach dem größten und schönsten Stern am Himmel. In einem der Häfen hatten ein paar Kinder, die damals in der Nähe der Maiden spielten, davon geredet, dass, wenn ein geliebter Mensch stirbt, dieser in den Himmel kommt. Jonas konnte damit anfangs nicht viel anfangen, und als er versucht hatte, seinen Vater danach zu fragen, war dieser nur wütend geworden und hatte ihn schlafen geschickt. Aber mit der Zeit – Jonas schaute seitdem jeden Abend zum Himmel und zu den Sternen empor – war ihm eine Idee gekommen. Vielleicht wurden ja aus den verstorbenen Menschen die vielen Sterne dort oben? Denn die Kinder hatten auch davon gesprochen, dass diese dann von dort oben auf sie aufpassen würden. Dann wäre also auch seine Mama dort.

Diese Idee gefiel ihm so gut, dass er fortan so tat, als wäre der Nordstern seine Mama, die von weit oben über ihn und seinen Vater wachte. Immer wenn er abends mal wieder allein auf dem Schiff war, erzählte er seinem Stern die tollsten Geschichten. Von den vielen Seeungeheuern, die er schon besiegt hatte und von den Meerjungfrauen, vor denen man sich in acht nehmen musste. Seine Mama würde es ihm schon verzeihen, dass er sich für diese Geschichten der einen oder anderen kleinen Unwahrheit bediente. Aber viel zu oft erzählte er ihm auch, wie traurig er war, seine Mama nicht bei sich zu haben. Er liebte seinen Vater sehr, auch wenn dieser oft sehr streng war. Aber Jonas vermisste seine Mama so schrecklich und war traurig, dass er sich nicht mehr an ihr Gesicht, geschweige denn ihren Geruch oder ihre Stimme erinnern konnte. Immer wenn er daran dachte, fing Jonas auch an zu weinen. Leider passierte das in letzter Zeit immer häufiger. Denn obwohl Jonas oftmals schon wie ein uralter Seebär wirkte, war er schließlich doch nach wie vor ein kleines Kind. Und auch an diesem Abend weinte der kleine Junge sich wieder in den Schlaf. 

 

Doch in dieser Nacht sollte sich etwas verändern. Als Jonas schlief, fiel durch sein Fenster ein gleißend heller Lichtstrahl und landete direkt neben seinem Bett. Durch das plötzlich helle Licht in der Koje geweckt, blinzelte Jonas vorsichtig durch seine, nur einen spaltbreit geöffneten Augen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Vater dieses Licht entzündet hatte, denn die Kerzen, die auf dem Schiff waren, warfen alle nur ein spärliches Licht, wenn sie denn brannten.

 

Direkt vor seinem Bett, dort wo der Lichtstrahl endete, konnte Jonas eine Gestalt vor ihm kniend wahrnehmen. Und er bemerkte noch etwas. Jemand hatte eine Hand ganz federleicht auf seine Brust gelegt. Als seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, öffnete Jonas sie schließlich ganz und war sprachlos. Die Gestalt vor ihm war eine wunderschöne Frau. Sie hatte langes, gelocktes Haar, das ihr über die Schultern floss, wie flüssiges Gold und ein Gesicht, dass eine unglaubliche Wärme und Freundlichkeit ausstrahlte. Sie schien von innen heraus zu leuchten und Jonas wurde ganz warm ums Herz. Er hatte absolut keine Angst vor ihr, nein, er fühlte sich sogar eher eigenartig sicher und geborgen. Sie lächelte ihn immer noch freundlich an und sagte dann: "Mein lieber kleiner Jonas. Wie groß du doch geworden bist." Während sie sprach, strich sie ihm sanft über den Kopf und es sah so aus, als hätte sie Tränen in den Augen.

"Wer bist du?", traute sich Jonas endlich zu fragen und blickte die fremde Frau fragend an.

"Du kannst dich nicht mehr erinnern. Du warst damals noch zu klein. Aber ich weiß sehr wohl, wer du bist, denn ich habe seither jeden Tag über dich und deinen Vater gewacht. Mein kleiner Schatz, ich bin deine Mama. Du bist ein so tapferer kleiner Junge und ich bin unglaublich stolz auf dich!", sagte sie daraufhin und strich ihm abermals über seinen Kopf.

 

Und trotz dem Jonas sich nicht mehr an seine Mama erinnern konnte, wusste er doch, dass das, was die Frau ihm erzählte, die Wahrheit war. "Bist du ein Traum? … Es muss ein Traum sein, denn wie könntest du sonst hier vor mir sitzen? Ach, Mama! Ich wünschte, ich könnte immer hier bei dir sein und würde nie wieder aufwachen. Ich vermisse dich so schrecklich doll!", sagte Jonas und fiel seiner Mama um den Hals. 

 

"Nein, mein Schatz, du träumst nicht. Ich bin wirklich hier, aber leider kann ich nicht bleiben. Ich habe nur wenig Zeit, um bei dir zu bleiben und dir zu helfen, deinen Herzenswunsch zu erfüllen. Ja, ich weiß davon! Du hast es mir ja jeden Abend erzählt und ich konnte es auch immer tief in dir drin fühlen. Und endlich habe ich die Erlaubnis bekommen, dir zu helfen." 

 

"Aber wie, Mama? Wie ist das alles möglich? Vater hat immer wieder gesagt, dass es so etwas wie Wunder nicht gibt. Dass nichts und niemand dich zu uns zurückbringen könne!" 

 

"Ach, Jonas. Es gibt so viel zwischen Himmel und Erde, was man nicht erklären kann und vielleicht auch nicht sollte. Denn viele Dinge sind nur möglich, wenn man auch daran glaubt, dass sie wahr werden können. Dein Vater hat sich leider damals, als ich von euch fort musste, aus seinem Schmerz heraus von alldem abgewandt und hat dadurch auch dir die Möglichkeit genommen, an Wunder zu glauben. … Du glaubst gar nicht, wie viel möglich sein kann! Nun mein Schatz schlafe ruhig wieder ein. Ich werde, wie immer über dich wachen und dir, wenn es an der Zeit ist, den richtigen Weg zeigen, um deinen Wunsch wahr werden zu lassen."

 

Anfangs wollte Jonas nicht die Augen schließen. Er hatte zu große Angst seine Mama dann nie wiederzusehen und er wollte sich doch wenigstens für die Zukunft jedes noch so kleine Detail von ihr einprägen, damit er es ja nie wieder vergaß. Doch dann übermannte ihn doch die Müdigkeit. Seine Augen wurden unter den liebevollen Blicken seiner Mutter immer schwerer und fielen schließlich ganz zu. Er spürte noch, wie sie ihn auf die Stirn küsste und ihre Hand ein letztes Mal zärtlich über seinen Kopf strich – dann war er doch eingeschlafen.

 

Erst am nächsten Morgen erwachte Jonas aus einem tiefen, ruhigen Schlaf. Seine Mama war nicht mehr da. Es war also doch nur ein wirklich schöner Traum gewesen. Doch endlich hatte er wieder ein Bild von ihr in seinem Kopf. Ob es ihrem wahren Aussehen entsprach, wusste er nicht, aber wenigstens hatte sie nun wieder ein Gesicht, eine Stimme und einen Geruch. Und dieser Geruch schien irgendwie noch im Raum zu schweben – ihn zu umhüllen, wie ein warmer, schützender Kokon – als Jonas schließlich aus seinem Bett krabbelte.

 

Oben an Deck angekommen hielt er nach seinem Vater Ausschau, aber konnte ihn dort nicht finden. Auch unter Deck war er nicht gewesen. Also schien Jonas´ Vater entweder erst gar nicht zurückgekehrt zu sein, oder er war bereits wieder früh aufgebrochen und hatte ihn schlafen gelassen. Glücklicherweise hatte Jonas tags zuvor noch etwas von dem wenigen Brot aufgespart, sonst hätte er nun schon nichts mehr zu essen gehabt.

 

Dieser Tag verlief anders als sonst. Jonas hatte keine Lust zu spielen und auf dem Schiff herumzutollen. Heute hatte er sich an seinen Lieblingsplatz auf Deck gesetzt und dachte die ganze Zeit an die Begegnung mit seiner Mama, auch wenn es nur ein Traum gewesen war. Der Tag verging wie im Flug und sein Vater war immer noch nicht wieder da. Es hatte angefangen zu schneien. Dicke, weiße Schneeflocken fielen dicht an dicht vom inzwischen dunklen Himmel. Das einzige Licht, was noch auf die Schiffe fiel, kam von den wenigen Hafenlokalen, in denen mittlerweile reges Treiben herrschte. 

 

So lange war sein Vater noch nie fort gewesen, ohne Jonas Bescheid zu sagen. Der kleine Junge fing an, sich Sorgen zu machen. Unruhig lief er an Bord des Schiffes hin und her. Den einzigen Schutz vor dem Wetter und der Kälte bot ihm eine alte Decke, die er sich um den kleinen Körper geschlungen hatte. Er fror fürchterlich und seine Lippen und Finger waren schon ganz blau vor Kälte, aber er konnte einfach nicht unter Deck gehen, bevor nicht sein Vater endlich wieder bei ihm war. Nach einer gefühlten Ewigkeit, Jonas´ Beine waren schon ganz steif gefroren, setzte er sich dann doch an einen etwas geschützteren Platz, von dem aus er den Landungssteg gut beobachten konnte, denn von seinem Vater war leider immer noch nichts zu sehen.

 

Jonas musste eingeschlafen sein, als er plötzlich von einem polternden Geräusch am Landungssteg aufgeschreckt wurde. Er sprang auf und lief zur Reling, um sehen, was oder wer diesen Lärm verursacht hatte. Die Angst fuhr ihm in die Glieder, als er seinen Vater unten am Steg erblickte. Dieser konnte kaum noch laufen und stand dort gekrümmt und wie von starken Schmerzen geschüttelt. Jonas eilte gleich hinunter, um ihm zu helfen. Auch wenn er noch ein kleiner Junge war, so hatte er doch eine unglaubliche Kraft in sich, die ihm nun half, seinen Vater an Bord und unter Deck zu bringen.

 

Als sie es endlich gemeinsam geschafft hatten und sein Vater auf seinem Bett lag, entfachte Jonas sogleich ein Feuer im Ofen, damit sie sich beide daran wärmen konnten. Sein Vater war verletzt. Wie schwer konnte Jonas nicht sehen, denn Jeremia bestand immer wieder darauf, dass es nicht so schlimm sei und es ihm morgen wieder gut gehen würde. Jonas sollte sich ruhig in sein Bett schlafen legen und sich ebenfalls aufwärmen. Es wäre schließlich nichts schlimmer, als wenn er krank werden würde.

 

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch gehorchte Jonas seinem Vater. Er legte sich in sein Bett, aber schlafen konnte er trotzdem nicht. Immer wieder hörte er auf die Atemzüge, die ganz schwach und flach aus der anderen Ecke des Raumes kamen. 

 

Dann, Mitternacht musste bereits vergangen sein, hörte Jonas, wie sein Vater sich in seinem Bett immer wieder herumwarf und vor Schmerzen aufschrie. Er lief zu ihm hinüber, aber er schien Jonas gar nicht mehr wahrnehmen zu können. Der kleine Junge hatte schreckliche Angst und wusste erst gar nicht, was er nun machen sollte. Noch nie hatte er seinen Vater, einen wirklich zähen und kräftigen Mann, so gesehen. Noch nie hatte sein Vater, wenn Jonas mit ihm sprach, ihm nicht geantwortet. Und noch nie hatte er seinen Vater vor Schmerzen weinen und sogar schreien gesehen. 

 

Jonas kniete vorm Bett seines Vaters und die Tränen rannen wie Sturzbäche über sein kleines Gesicht. Als er im nächsten Moment wieder eine federleichte Berührung an seinem Kopf bemerkte, blickte Jonas auf und direkt in das liebevolle Gesicht seiner Mama. Ohne nachzudenken, sprang er auf, warf sich seiner Mutter in die Arme und weinte noch bitterlicher. 

 

„Mama, oh, Mama! … Was soll ich nur tun? Ich will nicht, dass Vater mich verlässt! Ich habe doch sonst niemanden mehr!“

 

Seine Mutter drückte Jonas fest an sich. Er vergrub seinen kleinen Kopf an ihrer Schulter in ihrem wallenden Haar und atmete ihren beruhigenden Duft so tief ein, wie er nur konnte.

 

„Jonas, mein Schatz, du musst jetzt deinen ganzen Mut zusammennehmen, sonst kannst du deinem Vater nicht helfen! Beruhige dich, mein Kind und höre mir gut zu! Ich werde dir zeigen, wie du ihm helfen kannst, aber dafür musst du das Schiff verlassen und nach jemandem suchen. Dein Vater ist hier sicher, dafür sorge ich, aber du musst dich beeilen! Hörst du, Jonas? Sieh her!“

 

Der kleine Junge hob seinen Kopf und blickte zu seiner Mutter, die ihn abgesetzt hatte und nun neben seinem Vater dicht am Bett stand. Sie legte diesem eine Hand auf die Brust und mit einem Mal hörte er auf zu weinen. Die Krämpfe, die ihn die ganze Zeit über geschüttelt hatten, verebbten und sein Atem floss nun ruhig und gleichmäßig. Nun war es an Jonas, er durfte jetzt keine Zeit mehr verlieren. Seine Mutter erklärte ihm genau, wo er hinlaufen musste. Auch sollte er einen besonderen Gegenstand mit sich nehmen. Dieser würde ihm helfen, wenn er bei den Leuten angelangte, die er dringend finden musste. Sie würde hier auf seinen Vater aufpassen, bis Jonas mit Hilfe zurückkäme.

 

Schneller als ihn seine kleinen Beine eigentlich tragen konnten, lief Jonas los. Er hatte sich alles gut eingeprägt und auch, wenn er noch nie in dieser Stadt gewesen war, so hatte seine Mama ihm Mut gemacht, den Weg finden zu können. Jonas lief und lief. Erst vom Hafengelände runter und dann Richtung Stadt, die etwas oberhalb vom Hafen auf einem Hügel lag. Den Weg dorthin konnte er wirklich leicht finden, denn die Lichter der Stadt strahlten ihm schon von Weitem entgegen. In der Stadt selbst würde es sicherlich schwerer werden. Als Jonas das große Stadttor passierte, folgten ihm die misstrauischen Blicke der Wachposten, aber er hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Er lief einfach weiter, so wie seine Mama ihm den Weg beschrieben hatte. Es war wirklich alles da, wie in ihrer Beschreibung. Die geschwungene Straße, die vom Stadttor Richtung Innenstadt verlief. Der Marktplatz auf der rechten Seite. Der große, aus kleineren Feldsteinen gemauerte Brunnen gegenüber vom Pferdehändler und auch die weiter abseits von den weitaus ärmlicheren Hütten stehenden prächtigen Villen, in den die wohlhabenderen Leute der Stadt lebten. Und egal, wo er hinschaute, überall hatten die Leute, ob arm oder reich, ihre Häuser festlich geschmückt. Hier und da konnte er sogar durch die Fenster riesige Bäume in den Zimmern stehen sehen, die anscheinend mit allerhand Dingen behangen waren und die Kinder der Stadt tollten spielend durch die Gassen. Jonas war so beeindruckt von den ganzen Eindrücken, die in der Stadt auf ihn einstürmten, dass er gar nicht mitbekam, wie er mit etwas Abstand auf seinem Weg verfolgt wurde. Erst als er um die letzte Biegung lief, die zu den Villen hinaufführte und vor sich zwei Männer in einer Art Uniform und mit langen Lanzen bewaffnet stehen bleiben sah, nahm er auch die beiden anderen ebenfalls so gekleideten und bewaffneten Männer hinter sich war.

 

„Halt, junger Mann! Du bist nicht von hier, was? Wer bist du und wo willst du denn so eilig hin?“, sagte einer der Männer mit einer tiefen und stark dröhnenden Stimme.

 

„Der hat bestimmt nichts Gutes vor!“, kam es von einem anderen.

 

„Nein, bitte! Ich muss dringend den Doktor finden. Mein Vater … mein Vater ist schwer verletzt! Bitte, ich muss zum Doktor!“ Jonas hatte solche Angst vor den Männern, dass er, während er sprach, immerzu wie Espenlaub zitterte.

 

„Er lügt doch! Kommt lasst ihn uns mitnehmen. Wir sperren ihn vorsichtshalber ins Verlies, bevor er doch noch etwas anstellen kann.“, kam es wieder von einem der Männer.

 

„Nein, ich lüge nicht und ich habe wirklich nichts Böses vor. Bitte, ich möchte doch nur meinem Vater helfen! Es ist nicht mehr viel Zeit!“ Voller Verzweiflung blickte er die vier Männer an. 

 

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, während er von dem Mann mit der tiefen, dröhnenden Stimme ausführlich gemustert wurde. Er schien der Anführer der Männer zu sein, denn keiner der anderen wagte in dieser Zeit, weitere Vorschläge zu machen.

 

„Gut, ich denke, du sagst die Wahrheit. Aber, da wir dich nicht kennen, kann ich mir da nicht hundertprozentig sicher sein. Deshalb werde ich dich zum Doktor begleiten und auf dich aufpassen, damit du ja keine Dummheiten machst! … Männer! Ihr setzt euren Rundgang durch die Stadt fort und bezieht anschließend wieder am großen Tor eure Posten!“, dröhnte endlich seine Stimme durch die Straße.

 

Trotz dem die Männer anscheinend mit dieser Entscheidung nicht ganz einverstanden waren, sagten sie doch nur „Verstanden, Hauptmann!“ und gingen in verschiedene Richtungen davon.

 

Jonas war erleichtert. Hoffentlich würde sein Begleiter, der Hauptmann, nicht noch seine Meinung ändern und ihn doch einsperren lassen. Er hatte einfach nicht so viele Erfahrungen mit anderen Menschen und konnte ihn so schlecht einschätzen. Sonst war immer sein Vater bei ihm gewesen und hatte mit den Leuten gesprochen, wenn sie doch mal in eine Stadt gegangen waren. Aber heute war er auf sich allein gestellt.

 

„Danke.“, sagte Jonas nur und ging zusammen mit dem Hauptmann in die vorbestimmte Richtung. Eine ganze Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, bis der Hauptmann plötzlich fragte: „Wie heißt du eigentlich, Junge?“

 

„Jonas. Ich heiße Jonas.“

 

„Du kannst mich Olaf nennen. Ich bin hier der Hauptmann der Stadtwache und sorge dafür, dass es hier mit Recht und Ordnung zugeht. … Wie alt bist du, Jonas und wo kommst du her? Du sagst, dein Vater ist verletzt? Was ist passiert und wo ist er?“, nun war der Hauptmann plötzlich überhaupt nicht mehr brummig und Angst einflößend. Eigentlich war er sogar richtig nett.

 

Jonas nahm allen Mut zusammen und berichtete dem Hauptmann, was er wissen wollte. „Ich bin fünf Jahre alt. Mein Vater und ich leben eigentlich auf der Maiden. Das ist unser Schiff. Damit fangen wir Fisch und verkaufen ihn in den Häfen der verschiedensten Städte. Eigentlich wären wir jetzt auch draußen auf dem Meer. Mein Vater fühlt sich auf dem Festland nicht besonders wohl und gerade jetzt, wo es doch bald Weihnachten ist, wäre er lieber wieder auf dem Wasser. Aber unsere gesamten Vorräte sind von Ratten aufgefressen worden und so mussten wir diese Stadt ansteuern. Immer wenn mein Vater auf dem Land nach Arbeit sucht, bleibe ich auf dem Schiff. Er möchte nicht, dass ich ganz alleine auf dem Hafengelände rumlaufe. Aber dieses Mal ist er fast zwei Tage nicht zurückgekommen und ich hatte schon beinahe nichts mehr zu essen. Gestern Abend kam er dann doch noch. Er war verletzt und … und …“ Jonas schniefte – plötzlich stiegen ihm wieder Tränen in die Augen „Vater meinte, es wäre nicht so schlimm. Ich solle mich ruhig schlafen legen. Er wäre am nächsten Morgen wieder in Ordnung. Er würde nur etwas Ruhe brauchen. Ich bin dann auch ins Bett gegangen. Ich … ich wollte ihn doch nicht noch verärgern, aber schlafen konnte ich trotzdem nicht. Dann, plötzlich in der Nacht, fing mein Vater an zu weinen und zu schreien … Ich habe meinen Vater noch nie weinen gesehen! … und er zitterte am ganzen Körper. Er hat nicht mit mir geredet. Ich habe immer wieder gefragt, was mit ihm ist, aber er hat einfach nicht mit mir geredet – nur immer wieder geweint und geschrien. Mein Vater und ich haben doch nur noch uns! … Bitte, ich muss unbedingt den Doktor finden!“, schloss Jonas mit der puren Verzweiflung in der Stimme und in seinem Blick.

 

Der Hauptmann hatte ihm die ganze Zeit ruhig und aufmerksam zugehört. Der kleine Junge tat ihm so unsagbar leid. Und so, wie er sprach, waren alle Zweifel, die er ihm gegenüber gehegt hatte, wie weggewischt. 

 

„Komm, mein Kleiner, wir beeilen uns!“, sagte er zu Jonas, schnappte ihn kurzerhand und hob ihn sich auf die Schultern, um schneller voranzukommen. So eilte er mit dem Jungen vorwärts, bis sie schließlich an einer riesigen, wunderschönen Villa ankamen. Der Hauptmann lief direkt auf die Eingangstür zu und klopfte eindringlich an. Wäre die Tür weniger stabil gewesen, sie wäre sicherlich unter den starken Schlägen zerbrochen.

 

Die Tür wurde durch eine ältere Dame in einem vornehmen Kleid geöffnet. Ihr Haar war bereits grau und ihr Gesicht mit zahlreichen Falten gezeichnet. Im ersten Moment hatte Jonas sich bei ihrem Anblick ein wenig erschreckt, aber ihre Augen blickten ihn und den Hauptmann warm und freundlich an.

 

„Olaf, mein lieber Hauptmann, wen bringst du uns denn da ins Haus?“, sprach sie und bat beide mit einer einladenden Geste ihrer Hand ins Haus. „Kommt erst einmal herein, sonst holt ihr euch noch den Tod da draußen.“ Es hatte inzwischen wieder angefangen zu schneien und es war noch kälter geworden.

 

Der Hauptmann nahm Jonas von seinen Schultern und stellte ihn vor sich hin. Beide waren durch die Schneeflocken so nass geworden, dass sich nun, da wo sie standen, bereits eine kleine Pfütze gebildet hatte. Olaf blickte die alte Dame verzeihend an, aber diese winkte nur mit einem Lächeln ab.

 

„Kommt ihr zwei, ich mache euch erstmal eine schöne heiße Tasse Schokolade! Wie würde dir das gefallen, mein kleiner Freund?“, sagte sie dann und streckte eine Hand nach Jonas aus, um ihn mit sich in den Salon zu nehmen.

 

„Danke, Mrs. Dalcon, aber wir haben leider keine Zeit. Dieser junge Mann hier benötigt dringend die Hilfe Ihres Mannes!“

 

„Oh nein, bist du verletzt, mein Junge? Natürlich – kommt bitte hier entlang. Ich bringe euch in seine Behandlungsräume. Was ist denn passiert, Olaf?“, plötzlich war sie wie ausgewechselt. Nichts erinnerte mehr an die alte Dame, die sie noch vor wenigen Minuten vor sich gehabt hatten. Ohne eine weitere Erklärung abzuwarten, stürmte sie davon, wohl erwartend, dass man ihr folgte, und führte den Hauptmann sowie Jonas in ein Zimmer im hinteren Bereich des riesigen Hauses.

 

Der Raum war zwar zweckmäßig eingerichtet, so, wie es wohl für einen Doktor üblich war, wirkte aber trotzdem einladend und gemütlich. Hinter einem großen Schreibtisch saß ihr Mann, Doktor Dalcon und war anscheinend gerade dabei einen Brief zu verfassen, als sie auf ihn zugingen.

 

„Charles, schnell!“, sagte Mrs. Dalcon nun ohne Umschweife zu ihrem Mann. Dieser blickte überrascht auf, denn er schien so in seinen Brief vertieft gewesen zu sein, dass er die Anwesenheit der drei Personen gar nicht bemerkt hatte.

 

„Rose, was ist denn los? Ist etwas passiert? Oh, guten Tag, Hauptmann. Was führt euch her?“, erst während Doktor Dalcon sprach, bemerkte er neben dem Hauptmann und seiner Frau den kleinen Jungen stehen. Dieser hatte sich ein wenig hinter seinem Begleiter versteckt, sodass der Doktor erst nur die blond gelockten Haare erkennen konnte.

 

„Charles, nun bitte! Dieser kleine Junge ist verletzt! Du musst ihm helfen!“, sagte wieder Mrs. Dalcon nun noch ungeduldiger zu ihrem Mann.

 

„Was? Du bist verletzt? Komm mal her und lass mich dich bitte anschauen. Was ist passiert?“, fragte gerade der Doktor, als er vom Hauptmann unterbrochen wurde.

 

„Nein, nein, Herr Doktor. Das ist ein Missverständnis. Jonas ist unversehrt. Es geht um seinen Vater, der schwer verletzt auf seinem Schiff liegt. Jonas wollte für ihn Hilfe bei Ihnen erbitten, bevor meine Männer und ich ihn in der Stadt aufgriffen, da wir annahmen, dass er etwas im Schilde führt. Jonas konnte mich aber von seiner Aufrichtigkeit überzeugen und so habe ich ihn hierher zu Ihnen gebracht.“

 

Während der Hauptmann noch sprach, schob er Jonas vorsichtig hinter seinem Rücken hervor und in Richtung von Doktor Dalcon. Jonas blickte etwas verunsichert drein. Für so einen kleinen Jungen konnte das alles aber auch wirklich schon sehr einschüchtern und verängstigend sein. Und trotzdem, Jonas wusste, dass nur der Doktor seinem Vater helfen konnte und er jetzt nicht kneifen durfte. Also sagte er schließlich „Ja … bitte, Herr Doktor … es ist alles richtig, was der Hauptmann sagt … bitte … können Sie meinem Vater helfen? Ich habe ihn so lieb und er ist doch der einzige Mensch, den ich noch habe!“ Jonas blickte den Doktor und seine Frau mit großen Augen voller Erwartung an. In ihnen schimmerten schon wieder die Tränen, die wieder hervorbrechen wollten, da Jonas solche Angst um seinen geliebten Vater hatte und nicht wusste, wie viel Zeit ihm noch blieb. Wie lange seine Mama seinen Vater noch beschützen konnte.

 

Nun, wo der Junge gänzlich vor dem Doktor stand, konnte er neben seinen blonden Locken, auch seine großen Kinderaugen sehen. Sie waren von solch einem satten Grün – solche Augen hatte er erst einmal gesehen. Eine ferne Erinnerung blitzte in seinen Gedanken auf. Als er seine Frau anblickte, erkannte er auch bei ihr, dass es ihr anscheinend ähnlich erging. Aber es konnte nicht sein. Und so schob er die Erinnerung beiseite, denn nun war er hier als Doktor gefragt. Es ging schließlich um eine verletzte Person. Nun mussten seine Gedanken vollkommen im Hier und Jetzt sein und durften nicht länger in der Vergangenheit verweilen.

„Bitte, Herr Doktor, bitte helfen sie mir. Ich habe zwar kein Geld, aber ich kann Ihnen das hier geben. Vielleicht reicht es ja?“, sprach da Jonas schon weiter und zog einen kleinen Gegenstand aus der Jackentasche. Was er nun dort in seiner kleinen Hand hielt, verschlug dem Doktor und seiner Frau den Atem.

 

„Wo hast du das her? Sprich, Junge! Sag mir, hast du es irgendwo gestohlen?“, drängte ihn nun der Doktor und trat näher auf ihn zu.

 

„Nein, nein! Ich habe es nicht gestohlen.“, verteidigte sich Jonas. Im nächsten Moment hatte der Doktor ihm die winzige goldverzierte Dose aus der Hand genommen, drehte Jonas den Rücken zu und drückte sie an sein Herz. „Du musst sie gestohlen haben,“ sagte er wieder, „denn hiervon gibt es nur eine Einzige. Diese Spieldose ist ein Unikat. Wir haben sie unserer Tochter damals zum fünften Geburtstag geschenkt! Wo also sollst du sie sonst herhaben, wenn du sie nicht irgendwo gestohlen hast?“

 

Bis jetzt hatte Jonas seine Tränen tapfer zurückgekämpft, aber nun brachen bei ihm alle Dämme und er weinte bitterlich. „Aber … aber“, Jonas schniefte, „diese Dose hat doch meiner Mama gehört! Ich sage doch, ich habe sie nicht gestohlen!“

 

Bei diesen Worten drehte sich der Doktor abrupt um und blickte zusammen mit seiner Frau den kleinen Jonas sprachlos an. Zwei Augenpaare musterten ihn daraufhin ausführlich. Dann sprach Mrs. Dalcon: „Wie heißt deine Mama, mein Junge?“

 

„Sie hieß Lucy, aber sie ist schon vor vielen Jahren gestorben. Da war ich noch ganz klein und seitdem sind mein Vater und ich nur noch allein. Bitte glauben Sie mir, diese Dose hat wirklich meiner Mama gehört und ich brauche ganz dringend Hilfe für meinen Vater, sonst habe ich bald niemanden mehr!“, antwortete Jonas immer noch mit tränenüberströmten Gesicht.

 

Sogleich fiel Mrs. Dalcon vor Jonas auf die Knie und zog ihn unter den verdutzten Blicken des Hauptmanns in ihre Arme. Auch der Doktor kniete sich neben den beiden nieder und umarmte den kleinen Jungen. Es hatte den Anschein, als wollten sie ihn nie wieder loslassen.

 

„Verzeih uns, Jonas! Bitte verzeihe uns! … Dann haben wir uns vorhin also doch nicht geirrt. Ich dachte schon, dass unsere Erinnerungen uns nur einen Streich spielen, aber du siehst deiner Mama, unserer Lucy, so unglaublich ähnlich. Wenn du uns anschaust, dann ist es so, als ob Lucy uns ansehen würde, denn du hast ihre Augen und auch deine blonden Locken sind von ihr. Oh, Jonas, mein lieber kleiner Jonas!“, sprach seine Großmutter zu ihm.

 

 

Jonas wusste gar nicht, was er sagen sollte, so überwältigt war er von all den neuen Informationen. Dies waren also die Eltern von seiner Mama, seine Großeltern. Er hatte immer gedacht, sie würden ihn nicht wollen, ihn nicht lieb haben. Aber nun schienen sie sich zu freuen, dass es ihn gab. Aber über all dies, und das war für einen noch so kleinen Jungen wirklich erstaunlich, vergaß er nicht, warum er hergekommen war - sein Vater. Er brauchte immer noch dringend Hilfe.

 

"Mrs. Dalcon, ... Doktor Dalcon, bitte können wir jetzt meinem Vater helfen gehen? Ich möchte ihn nicht verlieren! Ich habe ihn doch so lieb!", fragte Jonas zögerlich.

 

"Natürlich Jonas, wir brechen sofort auf. Herr Hauptmann wären Sie bitte so freundlich und würden uns begleiten, auch um sicherzustellen, dass wir ohne Schwierigkeiten in den Hafen gelangen?", sprach nun Jonas' Großvater und war schon eifrig dabei, alles Notwendige in einem kleinen Handkoffer zu verstauen. "Und Jonas sag doch bitte nicht Mrs. und Doktor Dalcon zu uns. Wir sind deine Großeltern. Bitte sag doch Großmutter und Großvater zu uns. Darüber würden wir uns wirklich freuen!"

 

Als alles verstaut war, machten sie sich eilig auf den Weg zum Hafen. Auch Jonas' Großmutter war mit dabei. Sie wollte unbedingt mitkommen, um helfen zu können, wo es nur möglich war.

 

Nach einer scheinbar endlosen Zeit erreichten sie endlich den Hafen und dort das alte Schiff. Jonas stürmte an Bord - schneller, als die anderen ihm folgen konnten. "Vater! Vater, ich bin wieder da. Jetzt wird alles gut. Ich habe Hilfe mitgebracht. Vater hörst du mich?“ Jonas lief in den Raum, in dem sein Vater lag. Der tröstliche Duft seiner Mama hing noch in der Luft, aber sie war nun fort. Jonas fühlte einen leichten Stich in seinem Herzen, denn er hätte sie gerne noch einmal gesehen und ihr gedankt, aber nun war sein Vater erst einmal wichtiger. 

 

Als seine Großeltern die Koje betraten, eilte sein Großvater gleich an Jeremias Seite und untersuchte ihn auf seine Verletzungen hin. Jonas' Großmutter nahm ihren Enkel behutsam beiseite und setzte sich mit ihm auf das andere Bett. Gemeinsam warteten sie, was die Untersuchung ergeben würde. Sie waren glücklicherweise noch rechtzeitig gekommen, Charles Dalcon konnte ihm helfen. Noch an Bord versorgte er notdürftig die fürchterliche Wunde, die Jeremia sich auf seinem Rücken zugezogen hatte. Es musste ein schrecklicher Unfall passiert sein, dass er solch eine Wunde davongetragen hatte und es grenzte wahrlich an ein Wunder, dass er bis jetzt durchgehalten hatte. Mit Hilfe von einigen der Stadtwachen, die der Hauptmann zwischenzeitlich herbeigerufen hatte, wurde Jeremia nun in das Haus seiner Schwiegereltern geschafft. Dort konnte ihm wesentlich besser geholfen werden, als auf dem alten Fischfänger. Und Jonas' Großvater tat wirklich alles ihm Mögliche, um seinen Schwiegersohn wieder auf die Beine zu bringen. Die Wut, die Ohnmacht von damals war über die vergangenen Jahre längst verschwunden und Lucys Eltern hatten sich schon sooft die schlimmsten Vorwürfe gemacht, dass sie Jeremia damals mit dem Baby und der Trauer um ihre geliebte Tochter, seiner Frau allein gelassen hatten. Schlimmer noch, sie beide sogar vollkommen aus ihrem Leben verbannt hatten. Und trotz aller Widrigkeiten hatte Jeremia sich offensichtlich sehr gut und liebevoll um seinen Sohn gekümmert, denn aus Jonas war ein guter und liebenswürdiger kleiner Junge geworden, der seinen Vater über alles liebte und treu zu ihm stand. 

 

Jonas und sein Vater waren nun schon seit zehn Tagen im Haus der Dalcons. Jeremia hatte während dieser Tage, fast die ganze Zeit geschlafen, aber es ging ihm mit jedem Tag besser. Er hatte natürlich mitbekommen, in wessen Haus sie waren und eines Abends, als Jonas bereits schlief und Jeremia für kurze Zeit erwacht war, sah er Rose neben sich am Bett sitzen. Es war reiner Zufall, dass gerade in diesem Moment auch Charles ins Zimmer trat, denn er wollte sich nach Jeremias Befinden erkundigen. Nachdem Jeremia dann einen kleinen Happen zu sich genommen und einen Schluck Tee getrunken hatte, unterhielten sie sich über damals. Rose und Charles erkundigten sich, wie es ihnen in den vergangenen Jahren ergangen war und was sie alles in Jonas und seinem Leben verpasst hatten. Und nachdem sie sich bei Jeremia aus tiefstem Herzen für ihr damaliges Verhalten entschuldigt hatte, baten sie ihn darum, dass er und Jonas sie zukünftig doch bitte regelmäßig besuchen sollten. Sie wollten sie beide so gerne wieder in ihrem Leben haben und Jeremia unterstützen, wo sie nur konnten. Und da es auch nur noch zwei Tage bis Weihnachten war, wären sie überglücklich, die Feiertage endlich wieder als Familie miteinander verbringen zu können. Natürlich nur, wenn Jeremia damit einverstanden wäre. 

 

Schließlich war es soweit. Es war Heiligabend. Jonas hatte die vergangenen Tage das geschäftige Treiben, das sich im Haus seiner Großeltern ausgebreitet hatte, mit stetig wachsender Neugier beobachtet. Er konnte sich einfach nicht erklären, was da vor sich ging. Und aus irgendeinem Grund durfte er heute nicht, wie in den letzten Tagen, im gesamten Haus herumtollen. Der große Salon war abgeschlossen. Hin und wieder sah er eins der Dienstmädchen oder seine Großmutter selbst diesen Raum betreten, aber ihm blieb der Zutritt verwehrt. Es war wirklich alles sehr eigenartig, zumal alle Bewohner des Hauses, immer, wenn sie ihn irgendwo antrafen, dieses besondere Lächeln aufsetzten und fürchterlich geheimnisvoll taten. 

 

Jonas' Vater ging es inzwischen so gut, dass er aus dem Bett aufstehen konnte. Auch er war wie ausgewechselt und tat geheimnisvoll. Er wollte seinem Jungen partout nicht sagen, was da unten vor sich ging. Und als er Jonas ins Gesicht blickte, verspürte er eine unsagbare Freude darüber, seinen Sohn so auf die Folter spannen zu können und zu wissen, dass auf diesen später am Abend noch eine riesige Überraschung wartete. Jeremia war so glücklich, wie schon lange nicht mehr. Da war es sogar vollkommen nebensächlich, dass er sich nun schon seit mehreren Tagen auf dem Festland befand. Er wusste, seine Lucy wäre auch sehr froh über diese Wendung in Jonas und seinem Leben gewesen.

 

Der Tag selbst verging unglaublich schnell, und als es Abend wurde, trafen sich alle unten im Esszimmer. Selbst das Hauspersonal saß dieses Mal mit an der langen Tafel, die extra für diesen Tag festlich geschmückt worden war. Das Abendessen war einfach nur köstlich. Alle langten gleich mehrfach zu und schlugen sich ihre Bäuche voll, bis bald nichts mehr hineinging und sie mehr als zufrieden und satt waren.

 

Am Ende lud Charles Dalcon alle zusammen ein, ihm in den großen Salon zu folgen, um dort den Abend bei Grog, Eierpunsch und warmer Schokolade zu verbringen. Alle Arbeiten könnten ausnahmsweise auch bis zum nächsten Tag warten.

 

Rose hatte Jonas bei der Hand gefasst und betrat nun als letzte mit ihm den Salon. Jonas war sprachlos. So etwas Schönes hatte er noch nie in seinem Leben gesehen. Überall im Raum hingen Girlanden aus Tanne. Diese waren allesamt mit roten Schleifen, kleinen Äpfeln und Nüssen verziert. Im Kamin prasselte gemütlich ein Feuer vor sich hin und in den Fenstern, auf den Regalen und auf den kleinen Tischchen, die im Zimmer verteilt standen, waren Kerzen entzündet worden. Aber das Beste, das Beeindruckendste stand genau in der Mitte des großen Raumes. Dort stand ein riesiger Tannenbaum, über und über geschmückt mit den verschiedensten Süßigkeiten, Äpfeln, Schleifen und an einigen Stellen blitzten auch zierlich Glasfiguren hervor. Es war einfach ein atemberaubender Anblick, von dem sich der kleine Junge überhaupt nicht mehr losreißen konnte.

 

"Jonas. Hey, Jonas! Sieh einmal, ich glaube da hat jemand etwas für dich unter den Weihnachtsbaum gelegt.", sagte sein Großvater, als er bemerkte, dass der Kleine nach wie vor wie angewurzelt dastand. 

 

Endlich löste Jonas sich aus seiner Starre, ging zum festlich geschmückten Baum hinüber und nahm eines der vielen Geschenke, die darunter lagen in seine Hände. Das Geschenk, das Jonas sich gegriffen hatte, war nicht, wie von allen erwartet das größte und schönste von ihnen. Nein, der kleine Jonas hatte sich für das kleinste und unscheinbarste Päckchen entschieden. Als er es auspackte, war darin ein kleines silberfarbenes Medaillon, welches an einem einfachen Lederband befestigt war. Jonas gefiel es vom ersten Moment an, und als er es dann öffnete, fand er darin ein kleines Bild versteckt. Beim Anblick dieses Bildes traten Jonas Tränen in die Augen. Dieses Mal aber waren es Tränen der Freude und nicht der Angst oder Traurigkeit, denn auf diesem Bild war das wunderschöne Gesicht seiner lieben Mama zu sehen. Und es sah genauso aus, wie das, was er seit ihrer Begegnung auf der Maiden von ihr im Gedächtnis hatte. Er war überglücklich, denn nun konnte er sie jeden Tag anschauen und nicht nur von ihr träumen oder sich auf die sicherlich bald verblassenden Erinnerungen verlassen. Nun konnte er sie immer dicht an seinem Herzen bei sich tragen ... Über die anderen Geschenke freute er sich natürlich auch, vor allem da er noch nie so viel überhaupt besessen hatte, aber dieses Medaillon war sein liebstes Stück und eigentlich hätte er gar nichts mehr gebraucht, als dieses eine kleine Geschenk.

 

Es war ein wunderschöner und sehr fröhlicher Abend gewesen. Alle waren ausgelassen und heiter. Es wurden viele Weihnachtslieder zusammen gesungen, während seine Großmutter auf dem Klavier dazu spielte und natürlich durfte Jonas sich rund um den ganzen Baum naschen. Und als der Abend zu Ende ging und Jonas von seinem Vater und seinen Großeltern gemeinsam ins Bett gebracht wurde, war er in diesem Moment der glücklichste kleine Junge auf der ganzen Welt.

 

***

 

Lucy kniete sich noch ein letztes Mal neben dem Bett ihres geliebten Sohnes nieder. Es hatte funktioniert. Sie hatte beobachtet, wie von Jonas und Jeremia mit jedem Tag, den sie im Haus von Lucys Eltern verbrachten, mehr und mehr die Traurigkeit abfiel, die sie schon so lange begleitet hatte. Heute Abend waren beide endlich, seit langer, langer Zeit wieder richtig glücklich gewesen. Und was das Wichtigste überhaupt war, sie würden jetzt nicht mehr alleine sein. Nun hatte Jonas auch seine Großeltern, die ihn über alles liebten und beiden helfen würden, ein leichteres Leben zu führen. Das machte Lucy unglaublich glücklich. Sie würde trotzdem nach wie vor immer über ihre Lieben wachen, aber nun mit weniger Sorgen um ihre Zukunft.

 

Jonas schlief friedlich in dem Bett, welches einst ihres gewesen war und nun ihm gehören sollte. Sie liebte ihren kleinen Jungen so sehr. Eine einzelne kleine Träne bahnte sich ihren Weg ihre Wange hinab ... Wie schon einmal küsste sie ihn vorsichtig auf die Stirn, strich ihm seine Locken aus dem Gesicht und sagte dann: "Ich wünsche dir ein wundervolles, glückliches und spannendes Leben, mein kleiner Schatz. Ich verspreche dir, irgendwann werden wir uns wiedersehen. Ich liebe dich, mein kleiner Jonas!" 

 

Und dann war sie endgültig fort ...

Imprint

Text: Jessica Pichl
Images: unter Verwendung von CC0 Bildern von Pixabay
Cover: unter Verwendung von CC0 Bildern von Pixabay
Publication Date: 10-22-2012

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