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Über den Wassern der Nordsee stand ein schweres Gewitter. Träge lief die Flut an den Strand von Norderney, tiefe Finsternis bedeckte Erde und Meer; die immer so stille, weltabgeschiedene Insel schien in dieser Frühlingsnacht wie ausgestorben. Und doch regte sich auf dem Wasser ein dunkler Körper, ein Kanonenboot, dessen Besatzung emsig spähend nach allen Seiten ausblickte. Einer der bärtigen Soldaten legte beide Hände an den Mund und rief mit lauter Stimme in die Finsternis hinaus:

»Qui vive?« (Wer da?)

Keine Antwort. Das kleine Boot, welches dicht unter dem Bug des Franzosen dahinglitt, schien steuerlos zu treiben; auch das schärfste Auge hätte in dem Rund desselben keinen Menschen entdeckt, keine Bewegung wahrgenommen. Leise wiegend und schaukelnd führten es die Wellen hinaus bis in das offene Meer, der äußersten Landspitze der Insel entgegen.

Auf dem Kanonenboot ballte der Soldat die Faust. »Alle tausend Teufel«, rief er, »ich habe doch eine Nuss-Schale von einem Fahrzeug hier vorbeischwimmen sehen – wo ist denn nun das Ding geblieben?«

»Flucht nicht so lästerlich!«, mahnte eine andere Stimme. »Jeden Augenblick kann der erste Blitz vom Himmel herabfahren; gebt lieber einen Schuss ab und bohrt das Schmugglerboot in den Grund. Sie paschen doch alle, diese langen deutschen Lümmel mit ihren blauen Augen und ihren Bärenkräften.«

Der Soldat ließ sich den Befehl nicht zweimal geben. »Sehr wohl, Unteroffizier Durand«, rief er, »die Kanaille soll es haben, dass ihr Funken und Tropfen zugleich um die Ohren spritzen.«

Er hantierte einen Augenblick bei den Geschützen herum, dann kommandierte er selbst: »Feuer!« und der Schuss krachte donnernd durch die stille Nacht dahin, dass in den Dünen am Strande die kleinen Vögel erschreckt auffuhren und durch die Luft schwirrten. Fast im gleichen Augenblick schrie der Franzose laut auf:

»Mille tonnerres! Da ist das Boot wieder. Ein Knabe liegt darin!«

Er wollte den zweiten Schuss abgeben, aber Unteroffizier Durand fiel ihm hastig in den Arm.

»Lasst es bleiben, Chatellier – ich habe die Erscheinung auch bemerkt. Das da ist kein Mensch.«

Der Soldat sah sich plötzlich um, als vermute er, dass jemand ihm in den Rücken fallen werde. »Aber was könnte es denn sein, Unteroffizier?«, fragte er flüsternd.

»Ein Geist! Wir haben kürzlich zur Kirchzeit mit dieser selben Kanone ein Boot in den Grund gebohrt, wie Ihr wisst – da unten an der Wattgrenze – es war nur ein Knabe darin, ein armes Kind, das für die Badegäste Seeteufel und Muscheln gesammelt hatte, aber wir konnten natürlich das Geschehene nicht ungeschehen machen, der Junge starb und sah mich fest an – die Glocken da unten im Dorfe läuteten – er hielt im Todeskampfe den Blick auf meine Stirn geheftet. Wisst Ihr noch, Chatellier, wir warfen den Körper ins Meer. Das Läuten wollte an jenem Tage gar kein Ende nehmen.«

Der Soldat bekreuzigte sich. »Und Ihr glaubt, dass das sein Geist war, Unteroffizier Durand?«

Der andere nickte. »Gerade so lag er in seinem Boot! Er will uns hinauslocken, bis der Sturm losbricht – kein Splitter würde von der ›Hortense‹ heil bleiben, ich sage es Euch.«

»Die heilige Jungfrau beschütze uns. Soll ich das Steuer wenden?«

Der Unteroffizier nickte. »Das Gewitter zieht herauf, alle Offiziere sind in Norden auf dem Balle, ich mag die Verantwortung nicht tragen. Bergen wir uns, solange es Zeit ist.«

Das Steuer der »Hortense« wurde gedreht, alle Segel vor den, übrigens kaum bemerkbaren, Wind gebracht und der Rückweg zur schützenden Reede angetreten. Wenige Minuten später war das Kanonenboot verschwunden.

Aus dem kleinen Fahrzeuge erhob sich langsam, vorsichtig spähend die schlanke Gestalt eines etwa sechzehnjährigen Knaben. Das hübsche Gesicht lachte, die Finger machten den Franzosen eine lange Nase.

»Ihr Esel! Also das ist eure ganze Schießkunst. Ha, ha, ha, schwimme vier Fuß unter den Planken des Schiffes vorüber und ihr schleudert die Ladung fast ebenso viele Hunderte weit ins Meer hinein. Tröpfe! Welsche Schnattergänse!«

Nachdem er sich diesen Ausbruch spöttischen Zornes gestattet hatte, ergriff der junge Norderneyer seine beiden, auf dem Grunde des Fahrzeuges versteckten Ruder und holte aus, dass sich leuchtende Streifen durch das Wasser zogen.

Es war die Gegend unter der heutigen »Giftbude« am Herrenstrand, wo sich im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts diese Szene zutrug. Die Kontinentalsperre hatte ein ausgedehntes Schmugglerwesen zur Folge gehabt, französische Kanonenboote kreuzten überall zwischen den ostfriesischen Inseln und hatten häufig kleine Gefechte sowohl mit den Bewohnern derselben als auch mit englischen Fahrzeugen, welche den Schmuggelhandel unterstützten. Damals galt eben für Deutschland als Gesetz, was Napoleons Willkür beliebte – kein Wunder also, dass sich auch hier, wie überall im Leben, die List der Tyrannei entgegenstellte.

Unser junger Freund ruderte so hastig, wie es seine Kräfte erlaubten. Am Himmel zuckten zuweilen einzelne Blitze durch das Gewölk, der Ausbruch des eigentlichen Gewitters aber schien noch fern, und eben diese Pause musste er benutzen, um vorwärtszukommen. Der Strohhut flog auf die Bank, das Halstuch mit der Jacke folgte nach, immer schärfer und schärfer spannte der Knabe seine kräftigen Muskeln.

Plötzlich schien es ihm, als bewege stärkerer Wellenschlag seinen Kahn. Er hielt inne und horchte, das weit geöffnete Auge sandte spähende Blicke voraus über das stille dunkle Meer.

Ob nicht in geringer Entfernung ein Etwas, ein schwarzer Schiffsrumpf auf den Wogen lag?

Ein Blitz zerriss die Wolken, nur ein schwacher gelber Schimmer, nicht kräftig genug, um zu leuchten, aber dennoch glaubte der Knabe, während dieses kurzen Augenblicks ein weißes Segel gesehen zu haben.

Er trocknete den Schweiß von der Stirn, dann brachte er den kleinen Finger in den Mund, und langgezogen schrillte ein lauter Ton über das Meer.

Es war das Geschrei des Regenpfeifers.

Sekunden vergingen, dann, während der Knabe atemlos, mit klopfendem Herzen lauschte, erklang aus ziemlicher Nähe derselbe Ton, nur anhaltender, durchdringender, als befinde sich das Tier in großer Aufregung.

Der Knabe lächelte. Jetzt veränderte er seine Stimme. Das eintönige, ermüdende Geschrei der kleinen Möwe erfüllte die Finsternis.

Es blieb unbeantwortet, aber statt jedes anderen Zeichens erschien auf dem Wasser ein rotes Licht, das eine Schanzkleidung und die nächsten Segel und Taue der Takelage beleuchtete. Das Gesicht eines älteren Mannes sah ängstlich über Bord.

»Onnen«, sagte eine Stimme, »Onnen, bist du es?«

»Allstunds, Vater!«, war die Antwort. »Nehmt mich an Deck!«

Die Schaluppe legte back und das Fallreep wurde herabgelassen, während der junge Mensch sein Boot mittels einiger geschickter Ruderschläge unter den Stern brachte. Es an das Fahrzeug zu befestigen war Sache einer halben Minute, dann kletterte er wie eine Katze zum Deck hinauf.

Wenigstens zehn Männer empfingen ihn; sein Vater, der Kapitän des Schiffes, streckte ihm beide Hände entgegen.

»Um Himmels willen, Onnen, was tust du hier?«

»Bringst sicherlich böse Botschaft, nicht wahr?«

»Nur heraus damit, Junge, was ist geschehen?«

Es war ein eigentümliches Bild, das sich jetzt den Blicken des Knaben darbot. Überall an Deck standen und lagen Kaufmannsgüter jeder Art, Zuckerhüte, Kaffeesäcke, Tranfässer, Teekisten und unzählige Ballen Tabak. Zwischen diesen Gegenständen drängten sich Männer mit unruhigen, erwartungsvollen Gesichtern, während nur eine einzige kleine rote Lampe die ganze Szene mit ihrem rubinfarbenen Schimmer notdürftig erhellte.

Onnen sah in diesem Augenblick sehr ernst aus. »Ich bringe wirklich schlimme Kunde«, sagte er, »sehr schlimme. Die Insel hat heute Abend eine französische Besatzung erhalten.«

»Landmilitär? Gott verderbe die Elenden!«

»Ja, es ist eine Kompanie des in Norden liegenden Regimentes unter Oberst Jouffrin, den sie dort den Schinder nennen.«

Klaus Visser, der Kapitän, schüttelte den Kopf. »Bös genug, wenn wir jetzt auch noch eine Besatzung durchfüttern müssen«, sagte er, »aber bei alledem sehe ich nicht ein, weshalb du dich in dem kleinen Boote auf das Meer hinauswagtest, mein Junge. Die Kanonenboote mussten dir ja doch den Weg versperren.«

Onnen lachte belustigt. »Ich bin unter dem Bug der ›Hortense‹ hindurchgefahren – die Kerle haben mir auch eine Kugel über den Kopf weggeschossen.«

»Herrgott, Kind!«

»Schadet ja nicht, Vater! Ich musste euch um jeden Preis warnen; seht, ihr könnt die Waren auf keinen Fall in das Dorf bringen – überall stehen Wachtposten.«

Diese Nachricht fiel wie ein Stein auf die Herzen der Männer; ein lähmendes Schweigen folgte den Worten des Knaben.

»Ganz umstellt ist das Dorf?«, fragte endlich der Kapitän.

»Ganz umstellt.«

»Und wo haben die Franzosen Quartier genommen?«

»Im Badehause. Das ganze Dorf ist auf den Beinen – dreihundert Betten mussten noch vor Abend abgeliefert werden, sechshundert Handtücher, Kochgeräte, Stroh, Brennmaterial – der alte Amtsvogt war so außer sich, dass er weinte.«

»Und er hat dich zu uns geschickt, Onnen, mein Junge?«

»Nein, Vater, ich schlich mich heimlich fort, als die Wachtposten alle Straßen besetzten. Die ›Taube‹ muss gewendet werden und bis zur Wattgrenze gehen – dann bringen wir in meinem Boot die Waren aufs Land und in die Dünen.«

»Wo der nächste Regen alles verdirbt! Das gibt möglicherweise einen Schaden von Tausenden.«

»Ihr müsst Fischernetze darüber legen, alte Segel und dergleichen. Es ist ja doch alles bestimmt, um über das Watt nach Hilgenriedersiel und von dort in das Binnenland zu wandern, nicht wahr?«

»Bis auf das, was wir hier an Ort und Stelle brauchen, ja. Kornelius Houtrouv in Emden hat die ganze Ladung der ›Queen Elizabeth‹ gekauft, sie liegt auf Baltrum sicher geborgen – und nun müssen uns die Franzosen den Weg abschneiden.«

»Der Teufel hole sie alle!«

Wieder folgte ein längeres Schweigen, dann sagte endlich der Kapitän: »Nun, Kinder, wir müssen uns ruhig fügen, das geht nicht anders. Ehe der neue Tag beginnt, sollen die Waren sicher versteckt sein, das bedenkt.«

Niemand antwortete ihm, aber mehrere Hände griffen zu, als er die Schaluppe zu wenden begann; eine Stunde später lag sie unweit jener Stelle, an der heute der Leuchtturm steht und die damals ganz öde, ganz verlassen war, nur von Seehunden und großen Seevögeln bewohnt.

Die schwierige Arbeit der Ausschiffung nahm ihren Anfang. Das Boot brachte Fass auf Fass, Ballen auf Ballen auf den festen Saugsand des Watts, dann trugen die Schmuggler mit vereinten Kräften alles hinein in das unwegsame Gewirre der Dünen.

Wer jemals auf Norderney seinen Weg über das mittlere Innere der Insel nahm, wer halb fallend, halb gleitend, immer sprungbereit, immer treulos verlassen von dem vermeintlich festen Boden unter seinen Füßen atemlos vorwärts keuchte, nicht selten der Länge nach in den Sand fallend – der kennt die Riesenarbeit, welche jetzt von den verwegenen Schmugglern vollführt wurde.

Es gab ein Tal, von hohen Wänden umschattet, ein tiefes Tal, zu dem der Pfad durch losen Flugsand führte – dahin brachten die Männer ihr Eigentum. Der nächste Windstoß verwischte die Spur; es war unmöglich, das Nest zu entdecken.

Blitz folgte auf Blitz, ein Donnerschlag dem andern; später prasselte auch der Regen herab.

»Gott sorgt für Beleuchtung«, meinte der Kapitän. »Hurtig, Kameraden, jetzt ist die Sache bald getan.«

Der Sturm wirbelte ganze Wolken von Sand empor, donnernd und brausend schlug das Meer an seine Ufer; nun brach der Aufruhr der Elemente los, dass es fast unmöglich wurde, sich überhaupt aufrecht zu halten.

Alle verfügbaren Fischernetze waren mitgebracht und über die besseren Waren gedeckt worden; eine Schicht Sand verhüllte zuletzt alles bis zur gänzlichen Unerkennbarkeit. Die Taschenuhr des Kapitäns zeigte auf zwei, als der Heimweg angetreten werden konnte.

Jetzt zu Fuß; die »Taube« hatten einige der Verbündeten an ihren Ankerplatz gebracht und waren dann wieder zu den Übrigen gestoßen.

Der Weg von der äußersten Landspitze der Insel bis in das Dorf, vorüber an Dünen und immer wieder Dünen, der lange, ermüdende Weg war damals dasselbe, was er heute noch ist, aber von der Bootsbauerei und der Windmühle stand kein Stein, es gab vielmehr an diesem so einsamen, so todstillen Orte nur eine einzige halbverfallene niedere Bretterhütte, die ehemals von den Fischern als Aufbewahrungsort für allerlei Geräte benutzt worden war und die man dann einer krüppelhaften uralten Frau aus dem Dorfe als Wohnsitz überlassen hatte.

Die alte Aheltje wurde von den Bewohnern Norderneys sorgfältig gemieden, es ging die Rede, dass sie hexen könne, dass es überhaupt mit ihr nicht so recht geheuer sei, weshalb man denn sehr froh war, sich ihrer in dieser Weise entledigen zu können. Die alte Frau lebte von dem, was an jedem Tage zweimal die zurückweichende Flut auf dem Sande übrig ließ und was so viele Geschöpfe, Menschen und Tiere jahraus, jahrein ernährt – Fische, Taschenkrebse und Muscheln, daneben alle jene Geschöpfe, welche in trockenem Zustande von den damals schon seit einigen Jahren die Insel besuchenden Badegästen gekauft und gut bezahlt wurden: Seeigel, Drachen und Teufel, die hübschen Seesterne und die feinen zierlichen Algen.

Zuweilen humpelte Aheltje in das Dorf und brachte den Händlern ihre Beute, dann gab es Geld und die Alte konnte ein Stück Fleisch kaufen, nicht für sich selbst, sondern für einen großen grauen Kater, das einzige Wesen, welches sie liebte, dem ihr einsames verarmtes Herz warm entgegenschlug und das sie auch auf jedem solchen Wege wie ein Schatten, geräuschlos schleichend, begleitete.

Gleich nachdem links der heute noch gebräuchliche Ankerplatz der Schaluppen passiert war, kam zwischen zwei bewachsenen Dünen die Hütte der Hexe zum Vorschein; Onnen sah zuerst, dass aus dem einzigen halbzerbrochenen Fenster noch Licht hervorschimmerte.

»Aheltje wacht bereits«, sagte er.

In diesem Augenblick legte plötzlich der Kapitän die Hand auf seines Begleiters Schulter; ein stummer Wink genügte, um diesen und alle Übrigen zu verständigen. In der Entfernung von kaum fünfzig Schritten stand ein in seinen Mantel gehüllter französischer Wachtposten. »Still! Um Gottes willen, keinen Laut.«

Sie schlichen alle ohne weitere Verabredung nach rechts, so nahe wie möglich an die Dünen heran, um abermals diesen beschwerlichen Weg zu verfolgen, da ihnen jetzt für die letzte Strecke bis zum Dorfe der offene Strand verschlossen blieb. Ihrer neun kletterten sie, ermüdet und durchnässt bis auf die Haut, von Klippe zu Klippe, hart an der Hütte der Hexe vorüber.

Rings herrschte das Dämmerlicht des beginnenden Frühlingsmorgens. Grau und trostlos lehnte halbzerfallen das Bretterhaus an den Sandmauern, auf dem schiefen Dache wuchs Dünengras und Moos, die Tür knarrte in ihren verrosteten Angeln, so oft der Wind mit donnernder Gewalt an dem morschen Bau zu rütteln begann.

Onnen legte den Finger auf die Lippen. »Stimmen!«, flüsterte er. »Aheltje hat Besuch.«

Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Das kümmert uns nicht. Junge. Wir müssen so schnell wie möglich vorübergehen.«

Onnen horchte noch immer. »Da wurde eben dein Name genannt, Vater – und Eurer, Heye Wessel – es ist Peter Witt, der da drinnen spricht.«

»Alle Teufel – der französische Spürhund!«

»Aber was will er bei der alten Strandläuferin?«

Sie umringten nun, für den französischen Wachtposten unsichtbar, die Bretterhütte; der Kapitän und noch ein anderer gewannen durch das zerbrochene Fenster einen Blick in das Innere dieser trostlosen Behausung, und was sie entdeckten, war nicht geeignet, ihre einmal erwachte Unruhe wieder zu entkräften. Auf einem niederen Holzschemel saß die alte Aheltje und hielt in ihrer Rechten eine Anzahl zerrissener, fast schwarzer Spielkarten; neben ihr stand ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, groß und stattlich, in städtischer Kleidung, mit einem blitzenden Ordensstern auf der Brust – er sah aus, als sei ihm etwas Unangenehmes gesagt worden.

»Dummes Zeug, alte Hexe, lauter Unsinn – ich bin ein reicher Mann, schwer reich sogar, ich besitze die Gunst Seiner Majestät des Kaisers, das siehst du wohl an diesem Orden! Was könnte mir also geschehen?«

Die Strandläuferin wiegte den Kopf. »Hier steht es, Peter Witt, die Karten kümmern sich nicht um arm oder reich! Du musst durch Blut und Tränen gehen, du musst leiden, leiden – anderes kann ich dir nicht berichten.«

Der Mann schnippte mit den Fingern. »Deine ganze Kunst ist keinen roten Heller wert, Alte – wer hat dich denn um meine Zukunft befragt, he? Du sollst mir einzig und allein sagen, ob es gelingen wird, Klaus Visser und seine Genossen bei ihren Schmugglerfahrten zu ertappen, sodass man sie anzeigen könnte. Weiter will ich nichts wissen.«

Die Strandläuferin klappte ihre Karten zusammen. »Dann erkundige dich bei Leuten, die dir darauf einen sicheren Bescheid geben können, Peter Witt. Ich halte den Kapitän für einen Ehrenmann, für einen Ostfriesen vom alten tüchtigen Schlage, er wird wissen, was erlaubt ist und was nicht. Wolltest du ihn etwa den Franzosen in die Hände liefern, Mann?«

Peter Witt lachte. »Natürlich, Alte. Sieh nur, da auf meiner Brust ist noch Raum für mehr als einen Orden.«

Aheltje schüttelte verächtlich den Kopf. »Solch ein buntes Ding – ein Spielzeug! Und dafür wollte ein Norderneyer Kind das andere ins Verderben stürzen? Pfui!«

Der Mann schlug mit der Faust auf den Tisch. »Potz Blitz, Alte, nimm dich in Acht!«, rief er erbost. »Ich bin hier auf der Insel der reichste Mann!«

»Und ein Strohkopf dazu, Peter Witt, das lass dir gesagt sein. Mich kannst du nicht schrecken, die Gemeindevorsteher haben mir dies Haus zinsfrei überlassen, so lange ich lebe – und den weiten offenen Strand mit seinen Gaben schenkt mir Gott; weiter als das ist nichts auf Erden mein eigen. Und nun geh, Peter Witt – ich will hinaus, mir im Freien mein Frühstück zu sammeln.«

Der Mann schoss einen giftigen Blick. »Stehst wohl auch mit den Schmugglern in Verbindung, Hexe, was? Spionierst für sie, machst Gelegenheit, he? Wahre deinen Kopf, die Herren Franzosen pflegen sich nicht lange bei der Vorrede aufzuhalten.«

Mit diesen zornigen Worten öffnete er plötzlich die Tür und trat hinaus ins Freie, dem Kapitän gerade entgegen. Ein halberstickter Schreckensschrei brach über seine Lippen, er taumelte einige Schritte zurück. »Klaus Visser!«, sagte er stammelnd.

Der Fischer nickte. »Morgen, Witt. Lass dich nicht stören, Mann.«

Der Überraschte rang noch immer mit dem ersten heftigen Erschrecken. »Was tut ihr denn sämtlich so früh hier draußen?«, fragte er hämisch.

Der Kapitän sah ihm fest und offen ins Auge. »Wollen uns wahrsagen lassen, Peter Witt, wollen Aheltjes Karten befragen, wann endlich auf Norderney alle Schufte und Vaterlandsverräter an den Galgen kommen!«

Das Gesicht Peter Witts wurde fahl. »Spaß!«, brachte er mühsam hervor.

»Du wirst den bitteren Ernst früh genug kennenlernen, Witt. Adjes für diesmal!«

Er zog ein Geldstück aus der Tasche, um es dem alten Weibe in den Schoß zu werfen, dann gingen alle über die Fläche, welche heute das Ruppertsburger Gehölz umschließt, durch die Gegend der Winterstraße und der jetzt so eleganten vornehm-ruhigen Bismarckstraße in das Dorf hinab, jeder einzelne im Herzen beunruhigt und unangenehm berührt von dem lauernden, boshaften Blick des Franzosenfreundes. Noch wusste er offenbar nichts, aber er spionierte, und es galt der nahenden Gefahr gegenüber auf der Hut zu sein.

Stumm teilten sich nach kurzer Wanderung die Genossen des nächtlichen Zuges. Hier verschwand im Morgengrauen hinter einer niederen Tür der eine, dort der andere, zuletzt Kapitän Visser und sein Sohn, die in der Campstraße wohnten.

Hinter den verhüllten Fenstern der Fischerhütte glänzte noch Licht. Von den sechs- bis siebenhundert Menschen, welche damals das Inseldorf bewohnten, hatte wohl kein einziger während dieser Nacht wirklich geschlafen, am wenigsten aber Frau Douwe, Onnens Mutter, die jetzt weinend, mit ausgebreiteten Annen den beiden Ankömmlingen entgegenging.

»Gottlob, dass ihr da seid, Vater, du und Onnen! Ach, wie habe ich mich geängstigt, als der Kanonenschuss fiel! Mein Kind, mein einziger Junge!«

Sie schluchzte so heftig, dass sich der Kapitän gerührt fühlte. »Ich hab mich selbst gehörig erschrocken, als Onnen so unvermutet erschien, Mutter, aber seine Entschlossenheit wurde unsere Rettung. Am Strande stehen französische Wachtposten.«

»Ach Gott, sie stehen überall, sie spionieren und schleichen zwischen den Häusern und auf den Straßen. Jetzt ist Norderney verloren.«

Der Kapitän lächelte. »Mutter, du redest, als sei dem Herrgott da oben das Weltregiment über Nacht abhanden gekommen und dem übermütigen Korsen als gute Prise zugefallen! Sei ganz ruhig, auch für ihn steht geschrieben: ›Bis hierher und nicht weiter!‹«

In diesem Augenblick trat aus einer anstoßenden Kammer hervor ein Mann in Reisekleidern mit einer Ledertasche, die er über die Schulter gehängt hatte, Geerd Kluin, der Bruder der Frau Douwe und Hausgenosse der kleinen Familie. »Bist wieder da, Onnen«, sagte er nach der ersten Begrüßung, »deine Mutter hat sich schier halb zu Tode geängstigt um dich! Brr, hier auf Norderney ist’s ungemütlich geworden; ich gehe fort.«

»Ganz fort?«, fragte der Kapitän.

»Ja, nach Hamburg. Jetzt kommt die Zeit der Lieferungen und Abgaben, der Erpressungen aller Art, da mache ich mich lieber aus dem Staube. Kenne das von Emden und Norden her, schlage den Herren Franzosen beizeiten ein Schnippchen.«

Er lachte, während er behaglich den heißen Kaffee schlürfte. »Zu solchen Zeiten lässt sich gut sein Schäfchen ins Trockene bringen, man muss es nur anzufangen wissen. Ich gehe nach Hamburg, Schwager Klaus, und wenn du klug wärest, so würdest du mich auf der Stelle begleiten!«

Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Ich? Nein, mein guter Geerd, da habe ich doch mein Vaterland zu lieb. Was Norderney bedroht und bedrängt, das soll auch über mich kommen; was die armen Leute des Dorfes zahlen müssen, das will auch ich geben, der mich Gott mit Wohlstand gesegnet hat. Ich bleibe!«

Kluin lächelte. »Jeder nach seiner Weise«, sagte er. »Ich habe mein bisschen Geld – ein paar armselige Sparpfennige – in den Dünen versteckt, da findet es, so lange der Hahn kräht und der Wind weht, kein Mensch. Für den immer hungrigen Säckel des französischen Eroberers war mir’s zu schade.«

Der Kapitän dampfte große Wolken. »Sind vielleicht hundert Familienväter auf Norderney, Kluin«, versetzte er nach einer Pause, »hundert oder noch weniger, die müssen unter sich alle Lasten und Leiden des Krieges, soweit es die Insel betrifft, teilen! Du bist der Reichsten einer – still, still, ich weiß, was ich sage, wenn dir auch noch so viel daran liegt, für arm zu gelten! Glaubst du denn da, dass es anständig gehandelt ist, in der Stunde der Gefahr auf und davon zu gehen? Mir war’s wahrhaftig, als ließe ich meine Mutter wehrlos in den Händen roher Buben, ich könnt’s nimmermehr tun, Schwager Geerd!«

Der andere zuckte die Achseln. »Sehr schön gedacht«, sagte er etwas spöttisch, »ungeheuer edel, aber – für mich zu teuer. Glaubst du nicht, dass die Langfinger bei dir bald genug Moses und die Propheten entdecken werden? Dann heißt es, her damit!«

Der Kapitän reckte seine muskulösen Arme. »Lass fahren dahin!« rief er. »Ich kann arbeiten, kann genug verdienen, um drei Menschen zu ernähren – auch das ist Reichtum.«

Draußen klopfte es gegen die verschlossene Haustür. Frau Douwe schrie vor Schreck laut auf, während Onnen hinaussprang und durch das kleine Schiebfenster sah. »Es ist der Vogt, Mutter«, rief er ins Zimmer hinein, »sei nur ganz ruhig.«

Er ließ einen alten, von der Last der Jahre gebeugten Mann eintreten, einen Greis, der sich ächzend auf den nächsten Stuhl warf. »Grüß Gott miteinander! O Kinder, welch eine Zeit!«

Frau Douwe wollte ihm eine der bunten, rot und blau bemalten Tassen mit Kaffee füllen, aber er wehrte ihr sogleich. »Die Franzosen sind immer hinter mir drein, Nachbarin, hier soll ich sein und da, dies bewerkstelligen und das. Ach, großer Gott, es ist nicht zum Aushalten.«

Er trocknete den Schweiß von der Stirn und entfaltete dann ein Blatt Papier. »Sieh her, Visser, da steht’s geschrieben – sobald ein Trommelzeichen gegeben wird, haben sich alle Männer des Dorfes vor dem Badehause einzufinden. Etwa um sieben Uhr früh soll die erste Ansprache stattfinden.«

»Heute?«, fragte der Kapitän.

»Gewiss. Gleich, sage ich dir, jetzt! Adjes! Adjes, ich muss überall Bescheid bringen.«

Er schüttelte bekümmert den Freunden die Hand und eilte weiter, um als lebende Zeitung die Hiobspost von Tür zu Tür zu tragen.

Geerd Kluin erhob sich und sah seinen Schwager bedeutsam an. »Du hörst nun, was sich vorbereitet, Visser – sei vernünftig, Mann, geh mit nach Hamburg, so lange es Zeit ist.«

Der Kapitän lächelte. »Nimmermehr!«, versetzte er. »Ich bleibe, ich will stehen und fallen für meine Heimat – der Ostfriese wankt nicht und trügt nicht!«

Kluin umarmte seine Schwester und seinen Neffen, dann drückte er die Hand des eigensinnigen Schwagers. »Lebt wohl, ihr alle. Hoffentlich sehen wir uns wieder zur guten Stunde, wenn der Franzmann aus dem Lande geprügelt ist.«

Er ging, begleitet von den Seinigen, um sich an Bord eines nach Leer oder Emden fahrenden Schiffes zu begeben. Die Sonne schien jetzt schon hell vom Himmel; der Kapitän winkte nochmals dem Scheidenden, dann trat er in das kleine saubere Gemach zurück und breitete beide Arme aus. »Komm her, Mutter, und auch du, Onnen! Euch liebe ich zuerst und zunächst, aber danach meine Heimat. Gerade weil sie arm und klein ist, eine verlassene Sandscholle im weiten Meer, gerade darum liebe ich sie. Was meinst du, Onnen, wollen wir beide in Hamburg müßig zusehen, wenn hier unsere Brüder ringen und leiden?«

Die Augen des Knaben glänzten hell. »Nein, liebster Vater, nein, das verhüte Gott! Wir teilen alles, Gutes und Schlimmes.«

Der Kapitän nickte. »Das denke ich auch. ›Alle Mann auf!‹ Ein Fuchs oder eine Memme, wer das Kommando hört und nicht folgt.«

In diesem Augenblick ertönte draußen ein Geräusch, Onnen horchte auf. »Trommelwirbel!«, rief er. »Du musst hin, Vater!«

»Und du mit, Junge! Bist konfirmiert, stellst schon deinen Mann; lass dir nur die durchwachte Nacht nicht ansehen, hörst du.«

Frau Douwe weinte. »Die Unruhe bringt mich noch um«, schluchzte sie.

»So geh mit, Alte!«, sagte lächelnd der Kapitän. »Wirst ja noch immer ein wenig frische Luft schöpfen dürfen, wenn auch die Insel eine französische Besatzung erhalten hat! Den Kopf auf, Mutter! Die in Emden und Leer sind ja auch nicht gleich mit Haut und Haar verschlungen worden – wir kommen schon lebendig hindurch!«

Er hatte in aller Eile den Anzug gewechselt, ebenso Onnen, dann gingen die beiden bis zu dem Platze, auf welchem heute das neue Badehaus und die Anlagen stehen.

Die Franzosen waren in Reih und Glied aufmarschiert, Oberst Jouffrin mit seinen Offizieren ging vor der Front auf und ab, und im weiten Halbkreis sammelten sich die Bewohner der Insel, alle in ihrem Fischeranzuge, mit dem »Stummel« zwischen den Zähnen, und alle schweigsam, als sei es eine Leichenfeier, die hier vorbereitet werde.

Ein schlimmes Zeichen für jeden, der die harmlosen norddeutschen Seeleute und ihre Vorliebe für einen guten Spaß auch nur einigermaßen kennt.

Der Vogt mit seinem Angstgesicht lugte auch hier aus der Menge hervor; ein Schreiber vom Amt in Norden stand neben dem vortragenden Offizier, und nun wurde folgendes Schriftstück in französischer Sprache verlesen und von dem Dolmetscher übersetzt.

»Proklamation!

Seine Majestät der Kaiser geruhen allergnädigst zu befehlen wie folgt: Die Insel Norderney bekommt eine Besatzung, welche aus den Mitteln der Einwohner erhalten werden muss und wofür die Lieferungen demnächst ausgeschrieben werden sollen. Den Herren Offizieren werden Tafelgelder gezahlt, zu deren Beschaffung aus dem Vermögen der Eingesessenen eine Schätzung von Seiten des Herrn Obersten Jouffrin zu erfolgen hat. Wer sich dieser Zahlung entzieht, erhält sogleich doppelte oder vierfache Einquartierung; wer gegen die jetzt verlesenen Anordnungen irgendwie öffentlich auftritt oder rebelliert, wer gegen die Ausführung derselben irgendwelche Schritte unternimmt, wird mit der Strafe der Auspeitschung bedroht.«

Der Schreiber stockte. Bei den letzten entehrenden Worten überzog fahle Blässe sein Gesicht; des Vaterlandes bittere furchtbare Schmach schien ihn zu ersticken.

Ringsumher war alles so todesstill, dass das Summen der Mücken in der Luft deutlich hörbar wurde.

Oberst Jouffrin hob den Kopf. »Vite! Vite!« (Schnell! Schnell!) rief er ungeduldig.

Der Schreiber fuhr mit der Hand über die Stirn. »Ferner wird verfügt«, las er weiter, »dass zum Zweck einer gänzlichen Vernichtung englischer Waren die öffentliche Verbrennung derselben ungesäumt stattzufinden hat. Wer derartige Gegenstände besitzt, soll sie hierher abliefern; wer ihr Vorhandensein verschweigt, sie versteckt oder in irgendeiner Weise hinterzieht, wird mit denselben Strafen belegt, welche auf schweren Diebstahl stehen. Die Ablieferung der Waren hat sogleich zu erfolgen.«

Der Offizier schlug das Blatt zusammen; jetzt zum ersten Mal sah der Amtsschreiber seinen Landsleuten offen ins Gesicht. »Swigt still, Lüüd!«, sagt er in ermahnendem bittenden Tone. »Swigt um Gott’swillen still!«

Die lauernden Blicke des Obersten trafen ihn sofort. »Was war das?«, rief er. »Was hatten Sie hinzuzufügen?«

Der Schreiber blieb durchaus gelassen. »Ich forderte die Leute auf, jetzt ruhig auseinander zu gehen«, sagte er mit lauter Stimme.

Dieser Ermahnung ward auch sogleich Folge gegeben, obwohl einzelne der erbitterten Bewohner die Hände rangen und sich wie Verzweifelte gebärdeten. Dieser handelte während des Sommers mit ein wenig Kaffee, Tee oder Gewürz, jener mit Kinderspielzeugen, der dritte mit Kurzwaren und Dergleichen. Jetzt sollte das alles verbrannt werden.

Verbrannt! Vernichtet! Die kleine Habe des Armen, all sein Gut, seine Hoffnung, das Brot seiner unschuldigen Kinder – die Franzosen zwangen ihn, es in das Feuer zu werfen, es der Zerstörung preiszugeben. In alle Häuser verteilten sich die Soldaten, überallhin drangen ihre spähenden Blicke, ihre dreisten Finger. Sie sahen in die Schränke und Schubladen, sie krochen in Böden und Ställe, sie untersuchten die Taschen der Bewohner.

Jedes Stück Zucker, jedes bisschen Kaffee oder Tee wurde auf den Scheiterhaufen geschleppt oder von den Soldaten für gute Prise erklärt. Holz und Stroh kam hinzu – höher und höher wurde der Berg.

Männerfäuste ballten sich verstohlen, aus Männeraugen quoll die brennende Träne. Väter zeigten ihren Söhnen, was der korsikanische Tyrann gegen Deutschland auszuüben wagte – sie flüsterten ihnen zu von der Schuld, der ungeheuren, vermessenen, und von dem Tage der Vergeltung, die einst in späterer Zeit kommen müsse und werde.

Nur einzelne klagten laut, die meisten schwiegen, um nicht immer ärgeres Übel heraufzubeschwören. Von fern umstanden die Beraubten den Scheiterhaufen; es war, als könne sich keiner trennen von dem, was noch vor wenigen Stunden den Mittelpunkt aller seiner Interessen bildete, die Welt, in der er lebte, dachte und arbeitete.

Zu Hause alles leer – und hier die mühsam erworbenen Handelsartikel der Vernichtung preisgegeben. Wer mochte es glauben? Wer fasste das Schreckliche?

Die Weiber jammerten, sie warfen sich im Übermaß des Kummers den französischen Offizieren zu Füßen. »Erbarmen, Erbarmen! Wir hatten nichts weiter als nur diesen kleinen armen Besitz – woher sollen wir Brot nehmen für unsere Kinder?«

Niemand hörte sie, niemand achtete ihrer.

Und doch gab es einen Schmerz, eine Klage, vor denen jede andere Stimme schwieg.

Von Gruppe zu Gruppe ging ein bleiches Weib mit hohlen vergrämten Augen und gefalteten Händen; jeden der Männer redete es an im herzzerreißenden Tone des Wehes.

»Habt ihr mein Kind nicht gesehen, Leute, meinen armen Knaben? Seit vier Tagen ist er verschwunden, mein einziger! Sah ihn keiner? Ihr fahrt nach Baltrum und Juist, nach Norddeich und Hilgenriedersiel, seid ihr nirgends seinem Boote begegnet?«

Ein Kopfschütteln, wohin sich die Unglückliche wandte. Arme Wiebke Raß! Sie hatte doch mehr verloren als alle die, deren Eigentum da auf dem Scheiterhaufen lag.

Jetzt schlug einer der Franzosen Feuer, dann hielt er den brennenden Schwamm gegen die nächste Pappschachtel, in der Bänder und Spitzen lagen.

Es züngelte rot und leuchtend aus der Mitte der trockenen, leicht entzündbaren Gegenstände hervor – der Scheiterhaufen brannte.

»Jesus! Jesus! Meine Sachen!«

»O Nachbarin, Nachbarin, es ist doch nicht Euer Kind, Euer Fleisch und Blut! Möchten die Franzosen meine Hütte nehmen, alles was ich besitze, und mir dafür den Knaben wiedergeben – mit nackten Füßen wollt’ ich davongehen!«

Die beiden Frauen standen händeringend da; die, deren kleinen Kram man verbrannte, schluchzend, außer sich, die andere tränenlos, dem Irrsinn nahe. Umsonst bemühten sich mitleidige Menschen, sie zu trösten, Wiebke Raß schüttelte nur ruhig den Kopf. »Lasst das, Leute, lasst das, mir hilft nichts auf Erden mehr.«

Von der Seite des jetzigen Anlegeplatzes her kam ein Laufen und Rufen, eine Unruhe, die sich von Person zu Person fortpflanzte. Zwei Männer trugen eine Bahre, sie schienen den Weg rechts ab zum Dorfe nehmen zu wollen und widersprachen, als einige der Leute auf die vor dem Feuer Versammelten hindeuteten.

Die Franzosen hatten alles gesehen; ohne Zaudern trieben sie die beiden Fischer mit Kolbenstößen vor sich her bis zum Scheiterhaufen. Was da auf der Bahre lag, das sollte dem allgemeinen Schicksal des Verbrennens nicht entgehen.

Ein kecker Griff riss das Segeltuch herab – dann taumelte der Franzose, als habe ihn eine unsichtbare Faust gepackt »Diable!«, rief er stammelnd.

Durch die Menge ging ein Schrei des Entsetzens.

Auf der Bahre lag die Leiche eines vierzehnjährigen Knaben, entstellt und von schrecklichem Aussehen, mit durchschossener Brust. An der linken Seite klaffte eine tiefe Wunde, der Arm hing lose und zerschmettert herab.

»Kornelius Raß!«, ging es von Mund zu Mund. »Ach, die arme Mutter!«

Und nun hatte auch das blasse unglückselige Weib die Bahre gesehen. Ihre Arme hoben sich langsam zum Himmel empor, sie sprach keine Silbe, das Entsetzen schien ihre Zunge gelähmt zu haben.

Hellauf loderten die Flammen, der Wind fuhr hinein und fachte sie an, ein Funkenregen hob sich spielend in die Luft, knisternd stäubte weiße Asche.

Im weiten Halbkreis standen die Fischer und Schiffer, alle stumm, ihre kurzen Pfeifen jetzt in den Händen haltend. Da lag das schuldlose Kind mit der französischen Kugel im Herzen, purpurn überstrahlt von den Gluten, die Hab und Gut der Einwohner fraßen – es war, als verklagten die erhobenen Arme der beraubten Mutter jenen Gewaltherrscher, dem die Welt erschaffen schien zum Spielball seiner maßlosen Laune.

Immer mehr näherte sich Wiebke Raß der Bahre, dann ließ sie sich auf ihre Knie nieder und legte die Hand auf des Knaben Wunde – leise, wie schützend, voll zärtlicher Sorgfalt. Über ihre Lippen kam ein Wimmern, das furchtbarer, erschütternder klang als selbst der lauteste Verzweiflungsschrei.

Niemand dachte mehr an die brennenden Sachen, in aller Augen glänzten Tränen, alle Herzen fühlten mit der unglücklichen Mutter den Jammer dieser Stunde, selbst die Franzosen schienen ergriffen.

»Es soll eine Untersuchung eingeleitet werden«, sagte schaudernd der Oberst. »Bringt die Leiche fort, Leute – schnell, schnell!«

Ein paar Fischer näherten sich der armen Frau, sie führten sie mit sanfter Gewalt von der Bahre nach Hause. Hier half kein Trösten, kein Zureden, das Übermaß des Schmerzes musste sich Bahn brechen, bevor die Wunde langsam zu heilen vermochte.

Noch flüsterten die Leute, noch standen die einzelnen Gruppen händeringend beisammen, da nahte vom Dorfe her eine halbgelähmte Greisin, die einen flachen Korb mit Putzartikeln herbeitrug, bescheidene Bänder und Tücher, Kinderschürzen, Kragen, ein paar Fingerhüte, Nähnadeln und Scheren. Sie sah immer nach allen Seiten, und als ihre Blicke das Feuer trafen, da stand sie erschreckend still – ein Schrei von den Lippen der armen Alten lenkte die Aufmerksamkeit der französischen Zollwächter auf ihren Korb.

»Hallo!«, rief einer. »Englische Ware – her damit!«

Die Alte schüttelte den Kopf. »Ich kann es ja doch nicht! Mein ein und mein alles – erst gestern Abend ist mir mein einziges Bett genommen worden! Lieber Gott, was soll ich unglückliche Frau anfangen?«

»Her damit! Her damit!«, schrie der Franzose.

Die alte Frau schien in Verzweiflung zu fallen. »Helft mir doch, Landsleute«, rief sie mit bebender Stimme. »Da in dem Korbe stecken zwanzig Taler – all mein Vermögen! Wenn mir’s geraubt wird, muss ich betteln gehn!«

»Diable m’emporte! (Hol mich der Teufel!) Was zetert die Hexe?«

Der Franzose näherte sich mit gezücktem Säbel der schreienden Frau und würde sie vielleicht im selben Augenblick verwundet haben, wenn nicht Kapitän Visser zwischen beide gesprungen wäre. Seine sehnige Gestalt war hoch aufgerichtet, sein Auge blitzte, er schob mit unwiderstehlicher Gewalt den Soldaten beiseite und nahm zugleich den Korb der alten Frau, um ihn mittels eines einzigen Ruckes auf den Scheiterhaufen zu schleudern.

Funken und Flammen schlugen hoch empor – die arme Händlerin schrie laut auf.

»Sei ruhig, Folke Eils«, tröstete der Kapitän, »du musst eben der Gewalt weichen wie wir alle. Mit deinem bunten Kram kannst du jetzt nicht handeln, denn die Franzosen würden ihn für englische Ware ansehen, gleichviel woher du die Sachen genommen hättest; aber deine zwanzig Taler will ich dir wiedergeben und außerdem wird Mutter Douwe auch ein Bett für dich in deine Hütte schaffen. Komm jeden Tag und iss mit uns, was Gott beschert, es soll dir von Herzen vergönnt sein.«

Die Alte schluchzte halb vor Freude, halb vor Angst. Ringsumher erhob sich ein Murmeln des Beifalls, nur Oberst Jouffrin, der Kommandeur der französischen Soldaten, schien die Sache sehr übel aufgenommen zu haben. Er strich wütend den schwarzen Schnurrbart und pflanzte sich gerade vor den ihn um Kopfeslänge überragenden Kapitän auf.

»Kewalt?«, schrie er. »Aben Sie sagen: Kewalt?«

»Ja!«, antwortete mit festem Tone der Seemann. »Das habe ich gesagt, Herr Oberst. Es ist ein Akt der Gewalt, nicht des Rechtes, armen Leuten ihr Eigentum zu nehmen und es zu verbrennen. Wünschen Sie sonst noch etwas!«

»Rebell!«, schrie der Franzose. »Chien!«

Er griff an den Degen, zögerte aber doch, ihn zu ziehen. Dichter und dichter hatten sich die Fischer um den Kapitän geschart, sie murrten, sie ballten die Fäuste – noch einen einzigen Schritt weiter, und der Tumult wäre ausgebrochen.

Oberst Jouffrin sah es und trieb es klugerweise nicht weiter. Sich abwendend, sprach er einige Worte mit seinem Adjutanten, der darauf den Leuten befahl, jetzt sogleich auseinander zu gehen. »Dieser Platz ist fernerhin nur dann zu betreten«, hieß es, »wenn irgendeine Proklamation erfolgen soll. Ungerufen darf niemand kommen.«

Die Fischer entfernten sich langsam, einer nach dem andern bot dem Kapitän treuherzig die Hand. »Wenn du es nur nicht noch büßen musst, Visser! Der Franzose sah dich so giftig an.«

Der Seemann lachte. »Sie wissen, dass meine ›Taube‹ in ihrem Schnabel allerlei Waren nach Norderney trägt, mein Junge, und sie ärgern sich, dass sie ihnen niemals zu Schuss kommt.«

»Beschrei dein gutes Glück doch lieber nicht, Visser!«

»Pah, die ›Taube‹ wird noch in den nächsten Tagen nach Baltrum fliegen und dort allerlei aufpicken, was hier in den Häusern fehlt – Zucker, Tabak und Kaffee.«

Sie nickten einander zu, mühsam durch den tiefen Sand watend. Gepflasterte Straßen hat Norderney bekanntlich auch heute noch nicht, damals aber fehlten selbst die Bürgersteige aus Ziegelsteinen, die kleinen Gärten und Rasenflecke, während Pferde und Esel, Kühe, Schweine und Hühner nach Belieben herumliefen, um sich im Dorfe oder auf den Dünen das unentbehrlichste Futter zusammen zu scharren.

Als der Kapitän mit seinem Sohne nach Hause kam, saß die alte Folke Eils schon da, um sich nach Herzenslust auszuweinen, es nahten aber von der ändern Seite her noch sonstige Gäste, der Oberst Jouffrin in eigener Person, begleitet von fünf Soldaten, die ohne Gruß oder Frage in das Zimmer gingen und jedes Stück vorn Platze rückten, jeden Gegenstand herabwarfen, umkehrten oder auseinander nahmen.

Sie drängten sich alle zugleich in den engen Raum; dabei wurde hier eine Fensterscheibe zerstoßen, dort der Spiegel oder die Tür des Glasschrankes. Binnen wenigen Minuten glich das saubere Zimmer einem Schutthaufen, selbst Hund und Katze hatten Fußtritte erhalten, die blühenden Topfgewächse waren zerrissen und geknickt.

Der Kapitän beherrschte mit den Augen seine Frau und seinen Sohn. Oberst Jouffrin sollte nicht die Genugtuung haben, ein Glied der kleinen Familie verhaften zu dürfen, er wollte ihn vielmehr in den Augen der Soldaten empfindlich demütigen.

»Da, Folke Eils«, sagte er, ruhig der alten Frau eine Handvoll Taler reichend, »da sind die zwanzig. Und das Bett bringt dir mein Junge herüber.«

»Gewiss!«, rief Onnen. »Komm her, Mutter Eils, da hast du, was meine Sparbüchse vermag. Nun weine nicht mehr!«

Der Oberst und seine Leute mussten abziehen, ohne auch nur eine Kaffeebohne oder ein Reiskorn gefunden zu haben, das steigerte ihre Wut auf das Höchste, und zwar aus einem die Menschheit schändenden Grunde.

Einzelnen Personen, Zollbeamten wie Zivilisten, war es nämlich gegen eine Abgabe gestattet, die aufgefundenen Güter der Schmuggler zu behalten und für ein Billiges an die Offizierstische oder die Hofhaltung der französischen Fürsten zu verkaufen; es wurde daher nach unversteuerten Waren gesucht wie nach Vogelnestern; wer sie fand, der machte sich den Vorteil zum Nutzen. Frau Douwe schlug die Hände zusammen. »Klaus, Klaus – das ist doch zu arg! Leben wir denn jetzt unter Räubern?«

Der Kapitän nickte. »Genau genommen, ja. Aber lass dich das nicht anfechten, Frau – es ging wohl schon Besseres verloren als ein paar Fensterscheiben.«

Er suchte nach der durchwachten Nacht womöglich einige Stunden zu schlafen, während Onnen hinausging auf das Watt, um die »Taube« zu scheuern und für ihre nächste Fahrt herzurichten wie immer.

Auch hier traf er Soldaten. Sie hatten die Kajüte erbrochen und den ganzen Raum durchforscht; der Fischkasten lag zerschlagen da – alles Ausbrüche einer gemeinen Rachsucht, die nur den Gegner schädigen will, gleichviel ob mit Recht oder Unrecht.

Onnen sah von einem zum ändern, das Blut schoss ihm heiß ins Gesicht. »Ich denke«, sagte er, »dass die Herren wohl auch den Schlüssel zur Kajüte hätten verlangen können! Weshalb ist die Tür erbrochen worden?«

Der kommandierende Unteroffizier lachte. »Was kräht das Bürschchen?«, rief er höhnisch. »He, was willst du Grünschnabel?«

»Ich frage Sie, weshalb die Tür in meines Vaters Schiff erbrochen wurde?«

»Und nennst uns in deiner Einbildung Räuber und Diebe, nicht wahr? Das sind Beleidigungen! Heda, Meunier und Dubois, bringt ihn zum Amtsvogt!«, setzte er hinzu. »Das soll exemplarisch bestraft werden.«

Onnen schlug um sich. »Rührt mich nicht an!«, schrie er. »Was wollt ihr Galgengesichter?«

»Bindet ihn!«, schrie wütend der Unteroffizier.

Die fünf Männer überwältigten ohne Mühe den wehrlosen Knaben und schleppten ihn fast zur Wohnung des Amtsvogts. Unterwegs gesellten sich Leute zu dem Zuge, der Kapitän wurde geweckt und erschien selbst auf dem Schauplatz der Begebenheiten, auch Oberst Jouffrin kam fluchend und den tiefen Sand verwünschend herbei; mürrisch ließ er sich durch den Unteroffizier Bericht erstatten.

»Der Junge soll zehn Stunden Arrest erhalten, dann mag er laufen. Vogt, Sie sperren ihn, wie es hier üblich ist, in Ihren Keller! Es sind Rebellen, die Vissers, der Vater sowohl als der Sohn.«

Der Kapitän atmete leichter. Also wenigstens keine Prügel!

»Junge«, sagte er, »geh ruhig mit. Weshalb hast du nicht geschwiegen!«

Und dann besänftigte er seine Landsleute. »Wer sein Vaterland liebt, der verhält sich völlig ruhig, Kinder, völlig ruhig. Der Übermacht müssen wir uns ja doch ergeben. Amtsvogt, du bürgst mir für meinen Jungen!«

»Das tu ich, Visser, das tu ich!«

Der Platz um die Amtswohnung dicht unter der Kirche wurde allmählich leer, und nun begann die sonderbare Strafe, welche damals für leichte, besonders knabenhafte Vergehungen auf Norderney üblich war.

Die Kellerfenster der Amtsvogtei wurden geöffnet, um jedem Bewohner des Dorfes das Schauspiel da drinnen vollkommen deutlich zu zeigen. Auf dem Hofe lagen Backsteine, diese musste der arme Sünder in den unterirdischen Raum hinabtragen und davon zwei Säulen oder Strebepfeiler bauen; sobald das geschehen war, legte der Wächter des Gesetzes über beide ein Brett und auf demselben saß dann der Schuldige diejenige Stundenzahl, welche ihm zuerkannt worden war.

Onnen begann halb erbittert, halb lachend die sonderbare Arbeit. Sobald erst einmal auf der Insel alles schlief, würde ihn ja der Vogt entschlüpfen lassen, das wusste er.

Die Steine waren bald hinabgetragen, das Brett folgte nach; heimlich ließ die Frau Amtsvögtin auch einige tüchtige Butterbrote und eine Anzahl gekochter Eier mit in die Finsternis des Kellers wandern, dann schwang sich Onnen auf seinen harten Sitz.

Draußen war die Umgebung wie ausgestorben. Wenn sonst ein junger Bursche im Amtskeller thronte, so hänselten ihn seine Genossen, wodurch ja eben die ganze Sache erst eigentlich zur Strafe wurde, aber heute zeigte sich niemand. Auch die Rohesten wollten den Sohn des geachtetsten Mannes von Norderney nicht verspotten.

Onnen ballte die Fäuste. »Wär’ ich ein erwachsener Mann«, dachte er, »auf irgendeine Weise schliche ich mich von hier fort und könnte gegen die Franzosen kämpfen! Ach, fühlten doch alle Deutschen so wie ich – sie hielten zusammen und prügelten den Korsen zum Lande hinaus auf Nimmerwiederkehr!«

Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und verschränkte seine Arme. Wenn es ganz dunkel geworden war, konnte er ein wenig schlafen; die Vögtin hatte eben erst stillschweigend eine wahre Sündflut von alten Kartoffelsäcken die Kellertreppe hinabregnen lassen – ein sauberes Leintuch flog hinterdrein, das war genug, um wie ein König darauf zu schlummern.

Schon jetzt schloss er die Augen und fing an zu träumen. Während der vorigen Nacht hatte er, anstatt zu schlafen, gearbeitet und marschiert, dafür packte ihn nun im Dämmerlicht des stillen einsamen Kellers die Ermüdung mit verdoppelter Stärke; er sah schon die Bilder seiner erregten Fantasie, bevor noch Minuten vergangen waren.

An der Spitze einer siegreichen Armee stürmte er vorwärts, und während tausend Schwerter im Sonnenglanz blitzten, tausend Herzen frohlockend im Rausche der wiedererrungenen Freiheit schwelgten, sah er den französischen Kaiser vollen Laufes entfliehen. Damals fanden sich die Bildnisse Napoleons überall, jedes Kind kannte sie – im Traume zeigte Onnen dem Tyrannen seine geballte Faust.

Ein halblautes Kichern ließ ihn plötzlich auffahren. Er sah umher, ein Seufzer der Enttäuschung hob seine Brust. »Nichts!«, murmelte er. »Nichts! Keine Schlacht!«

Draußen lachte es wieder, und Onnen hatte nun sein volles Bewusstsein zurückerlangt.

»Wer ist da?«, rief er.

»Dir träumte wohl recht etwas Angenehmes, nicht wahr?«

Onnen zuckte die Achseln. »Du bist’s, Adam Witt!«, sagte er gleichgültig.

»Ja, ich bin’s wirklich. Die Franzosen haben dich erwischt, nicht wahr?«

»Und du möchtest jetzt ein wenig spionieren, möchtest, dass ich mich zu Schmähreden hinreißen ließe, um sie brühwarm zu hinterbringen, nicht wahr?«

»Was du denkst! Ich finde es höchst ergötzlich, dich da so baumeln zu sehen. Eben murmeltest du im Schlafe von gewaltigen Prügeln.«

»Die ich dir aufzählen will, ja. Und jetzt belästige mich nicht weiter.«

Der Sohn des Franzosenfreundes lachte. Er kannte die Faust dessen, den er im Augenblick ungestraft necken durfte; eben um dieser vielen schlimmen Erfahrungen willen freute es ihn, sich heute einmal gehörig rächen zu können.

Sobald Onnen die Augen schloss, weckte er ihn. »Du, die Gefangenen in der Amtsvogtei dürfen nicht schlafen! – Ich werde nun bald mit meinem Vater nach Paris gehen, wollte dir’s nur sagen, damit du siehst, wer ich bin und wer du bist! Wir sind reiche Leute, wir haben Geld die Hülle und Fülle – neulich durfte ich mit Vaters Flinte nach einer Möwe schießen – ein Hunderttalerschein war als Kugelpfropf hineingesteckt. So viel könnt ihr sicherlich in einem ganzen Monat nicht aufwenden.«

Keine Antwort.

»Schläfst du wieder, Onnen?«

Alles still.

Der Bursche mit dem gelben galligen Gesicht ärgerte sich, während er seinen Altersgenossen zu ärgern glaubte. Als völlige Finsternis herabgesunken war, glitt Onnen vom Brett und legte sich auf die Kartoffelsäcke, aber zu wirklicher Ruhe kam er nicht denn Adam Witt rief entweder mit lauter Stimme seinen Namen oder er warf kleine Steine in das offene Fenster hinein – immer ohne von drinnen ein Lebenszeichen zu erhalten.

Als die alte Kuckucksuhr in der Kammer des Amtsvogtes fünf schlug, da kam dieser würdige Mann bedächtig in den Keller gestiegen und erlöste seinen Gefangenen. »Du«, sagte er tief seufzend, »du, ich wollte dich schon gestern Abend wegspringen lassen, aber der lange Bengel, der Adam Wirt, spionierte hier fortwährend herum.«

Onnen lachte. »Ist er noch da, Vogt?«

»Wie weggeblasen! Er fürchtet wahrscheinlich deine Fäuste.«

Onnen nickte. »Diese Vorahnung soll ihn nicht trügen. Adjes, Vogt!«

Er streckte sich, schüttelte dem Alten die Hand und hatte binnen wenigen Minuten seines Vaters Haus erreicht.

Frau Douwe küsste ihren Einzigen mit mütterlicher Liebe. »Sollst gleich Kaffee haben, mein Junge! Die Franzosen finden zwar viel, aber doch, Gott sei dank, noch lange nicht alles.«

 

An Bord der »Taube« herrschte seltsames Treiben.

Zwei mit Nachtfernrohren versehene Männer hielten scharfen Ausguck, zwei andere standen am Mast, um jeden etwa gegebenen Befehl sogleich vollziehen zu können, während sechs Fischer damit beschäftigt waren, sich äußerlich unkenntlich zu machen, indem sie Kapuzen aus schwarzem Segeltuch über die Köpfe banden und um den Hals herum befestigten.

Nur Augen und Mund sahen aus dieser Teufelsmaske hervor, sonst waren alle Teile des Kopfes vollständig verborgen. »Für euch liegen die Kapuzen hier«, sagte einer der Männer zu denen am Ausguck und am Steuer. »Dass ihr eure Gesichter nicht sehen lasst!«

»Haltet Ihr denn die Gefahr heute Abend besonders groß, Heye Wessel?«

Der Gefragte zuckte die Achseln. »Wenn nun Doppelposten ausgestellt wären?«, versetzte er. »Man kann nie in die Zukunft sehen.«

»Ein Kanonenboot in Sicht!«, meldete mit leiser Stimme der Mann am Ausguck.

Kapitän Visser ergriff eiligst das Fernrohr. »Ein englisches«, sagte er aufatmend. »Das ist gut, es zeigt uns wenigstens sogleich an, wenn sich etwa Franzosen nähern sollten, und verschafft uns dadurch Zeit zur Flucht.«

Ein blaues Licht blitzte hart backbord von der »Taube« aus der Finsternis auf, der Gegengruß erfolgte in ähnlicher Weise, und geräuschlos, wie es gekommen war, glitt das englische Fahrzeug vorüber, so den Schmugglern den Weg zum Wattstrande freihaltend, gleichsam ihr Vorläufer zum sicheren Ziel.

In den schwedischen und schleswigschen Häfen lagen damals Hunderte von Kauffahrteischiffen, die ihre Ladung, der Kontinentalsperre wegen, nicht löschen konnten und die daher, wenn sie nicht Zeit und Geld verlieren wollten, lediglich auf die Schmuggler angewiesen waren. Napoleon befahl, und seine Schergen, zum Teil Wüteriche wie Davoust und Vandamme, führten auf das Schonungsloseste diese widerrechtlichen Anordnungen aus, ohne im Allermindesten zu beachten, dass dadurch ganze Völkerschaften geschädigt, ganze Gewerbe vernichtet wurden. So erklärte zum Beispiel der Gewalthaber alle Schiffe, die sich mit Kolonialwaren beladen in den deutschen Flüssen fanden, einfach für konfisziert.

Immer aber, immer und überall in der Welt stellt sich dem Missbrauch einer Macht die Umgehung, die List entgegen. Was Hände besaß, das schmuggelte; hoch und niedrig, jung und alt, nicht am wenigsten die Franzosen selbst, sobald es galt, Seidenstoffe, Samt oder sonstige Wertsachen heimlich auf die Seite zu bringen.

Die öffentliche Moral war verdorben durch das Beispiel von oben; man hatte den Norderneyer Schiffskapitänen ihr ehrliches Gewerbe entrissen, also schmuggelten sie wie alle Übrigen auch.

Als ein einziges Mal der Prediger des Dorfes gegen dies Unwesen seine Stimme erhob und den Spruch: »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist!« den verwegenen Paschern zu bedenken gab, da hatten sie ihm geantwortet: »Der Kaiser ist nicht unser Landesherr, sondern ein hereingebrochener fremder Räuber!« – und seitdem wurde von der Sache nicht wieder gesprochen.

2

Die »Taube« glitt vor frischer Brise dem Lande entgegen. Jetzt war man nahe am Ziel; zwischen der Küste und der Schaluppe befand sich kein Fahrwasser mehr, in welchem noch ein französisches Kanonenboot hätte treiben können – die nötigen Vorsichtsmaßregeln galten daher nur noch der bevorstehenden Landung.

Alle Männer trugen die schwarzen Larven; eine Anzahl Seile und Streifen von altem Segeltuch wurden bereitgehalten.

Die Schaluppe hatte volle Ladung und sogar darüber, sie ging daher sehr tief, sodass der scharfe Kiel schon den Sand des Ufers streifte, ehe noch jemand in den bewegten Fluten Fuß fassen konnte. Das Boot wurde ausgesetzt, die Anker herabgelassen, und während zwei von den Fischern in der Schaluppe blieben, schlichen die Übrigen nach links und rechts durch die Dünen.

Heute galt es einen verwegenen Handstreich auszuführen.

Am Strande schritt ein französischer Zollwächter gelangweilt auf und ab. Mit eintönigem Klatschen schlugen die Wellen gegen das flache Ufer, Möwen schrieen und der Wind strich kalt über das Wasser daher; den Sohn des wärmeren Himmelsstriches fror es, er gedachte seines schönen Landes und schauderte im Angesichte der kahlen nordischen Küste, des Bildes, das ewig das gleiche blieb, jahraus, jahrein – ewig das gleiche.

Hinter ihm erklangen Schritte; er legte im Fluge das Gewehr an und spähte scharf in die Dunkelheit hinaus.

»Wer da?«

»Sei doch still, Dummkopf!«

»Ah – Perrier, du bist es! Aber wenn der Leutnant käme?«

»Er ist fort!«, frohlockte der andere. »Die Offiziere gähnen sich auf dieser Sandscholle zu Tode – dafür haben wir desto größere Freiheiten. Man kann wenigstens plaudern.«

Die beiden Soldaten setzten sich auf den Rand einer niederen Düne. »Lorrain«, flüsterte der zuletzt Gekommene, »ich möchte dir einmal einen Vorschlag machen.«

»Gib mir lieber einen Schluck Branntwein.«

»Da nimm, du Schlauch! und jetzt höre mich an. Hier in den Dünen soll ein Warenlager versteckt sein – wenn man es fände!«

»Hm, das wäre verteufelt angenehm. Man löst einen Lizenzschein und verkauft die Geschichte für ein Ei und ein Butterbrot.«

»Um dabei selbst tüchtig zu gewinnen. Wollen wir einmal die Dünen durchsuchen, du und ich?«

Lorrain schüttelte den Kopf., »Weißt du denn die Stelle, Perrier?«

»Ziemlich sicher wenigstens. Unter uns – der Peter Witt hat mir einen Wink gegeben! Er fand eine Schlucht, wo größere Vorräte gelagert haben müssen, alle vorhandenen Zeichen verrieten es, aber nun war das Nest leer, die Pascher haben ohne Zweifel ihre Beute auf dem Festlande in Sicherheit gebracht.«

»Natürlich, natürlich. Man muss sie ganz ungestört lassen, damit neue Vorräte herbeigeschafft werden.«

»Das denke ich auch. Die ›Taube‹ des alten Klaus Visser ist heute ausgelaufen, angeblich zum Fischen, aber Peter Witt glaubt, dass wieder eine Ladung Kolonialwaren geborgen werden soll – du, er sitzt in der Nähe des Versteckes auf der Lauer!«

»Und gibt uns ein Zeichen?«, rief Lorrain.

»Pst! Er merkt sich den Ort, das ist alles. Morgen, wenn die Schmuggler abgezogen sind, bewacht einer von uns ihre Niederlage und der andere löst bei dem Präfekten in Norden den Lizenzschein. Wir haben das Geld so gut wie in der Tasche.«

»Müssen aber dem langen Esel, der den ganzen Tag mit seinem Orden liebäugelt, eine tüchtige Abgabe zahlen, nicht wahr?«

»Gar nichts!«, raunte in vergnügtem Tone der andere. »Gar nichts, du! Er begnügt sich mit der Ehre. Sein Rock hat ja noch mehr Knopflöcher als nur das eine, weißt du, und für so ein buntes Ding verrät dieser Mensch seinen Herrgott und sein Vaterland!«

Sie lachten beide, sie hatten sich in ihre angenehmen Hoffnungen auf Beute dermaßen vertieft, dass es ihnen vollständig entging, als von den höher gelegenen Dünen mehrere dunkle Gestalten langsam herabkletterten. Sowohl Lorrain wie Perrier hielten die Gewehre zwischen den Knien und den Rücken in bequemer Stellung gebogen, sie sprachen von der Möglichkeit, morgen einige hundert Taler in die Tasche stecken zu können, während ihnen ungesehen der Feind immer näher rückte.

Vier Arme erhoben sich geräuschlos, ein dunkler Gegenstand schwebte in der Luft und fiel dann gedankenschnell herab auf die Köpfe der beiden Zollbeamten. Erstickte Laute wurden gehört, Lorrain kämpfte wie ein Verzweifelter gegen den Knebel, welchen ihm Heye Wessel, der Riese, in den Mund stopfte, während Klaus Visser seinen Genossen überwältigte.

Perrier setzte sich in keiner Weise zur Wehr, er stieß vielmehr dem anderen fortwährend in die Rippen, um ihm zu sagen: »So lass doch alles geschehen! Die Leute bringen ja ihr Eigentum zu unserem Vorteil an Land, sie wissen nicht, dass wir ihr Versteck kennen – desto schlimmer für sie selbst.«

Aber Lorrain verstand keinen dieser freundschaftlichen Püffe. Er kugelte mit seinem herkulischen Gegner im Sande umher und die beiden lieferten sich eine regelrechte Schlacht, ehe endlich der Franzose gebunden und geknebelt, mit einem Tuche über den Augen dalag, jetzt außerstande, auch nur noch einen Finger zu bewegen.

Heye Wessel riss die Kapuze ab, er trocknete sich den Schweiß von der Stirn, dann winkte er den anderen; es war ja immerhin besser, wenn die Franzosen auch ihre Stimmen nicht erkannten. Sie entfernten sich etwa zwanzig Schritte vom Kampfplatze und standen nun still, um zu beraten.

»Also der Hund, der Witt, hat unser Versteck ausgespürt!«

»Wir können nun die Ladung nicht dahin bringen.«

»Das steht fest, aber – wo lassen wir sie?«

»Nach Hilgenriedersiel!«, entschied der Kapitän.

»Zu wem?«, fragte hastig ein anderer.

»Zu meiner Schwester, die gleich hinter dem Deiche wohnt. Wir müssen es wagen oder einfach die Ladung im Stich lassen. Der Witt soll nicht triumphieren, soll nicht sagen, dass er uns überlistet habe.«

Darin waren alle einig, und dennoch schüttelten sie die Köpfe. So im Dunkeln zu Fuß über das Watt, durch das seichte Meer zwischen der Insel und dem Festlande? Ein schauriger Gedanke.

»Wie viel Uhr ist es?«, fragte der Kapitän.

»Etwa zwölf. Gegen drei kommt die Flut.«

»Wir haben also Zeit genug. Die Schaluppe kann uns später in Hilgenriedersiel wieder an Bord nehmen.«

»Es bleibt nur dies Mittel übrig«, meinte auch Heye Wessel. »Auf! Zwei von uns sind Wattführer – die finden den Weg auch im Dunkeln.«

Niemand antwortete, und so eilte die ganze kleine Gesellschaft zur Schaluppe zurück. Die beiden an Bord gebliebenen Schmuggler wurden verständigt und dann aus einem Versteck im untersten Schiffsraume vier kleine Räder hervorgeholt. Das Boot verwandelte sich in einen Wagen, es wurde im Fluge beladen und außerdem den Männern auf den Rücken geschnallt, was sie irgend tragen konnten.

»Vorwärts – es muss sein!«

»Onnen, du könntest nach Hause gehen«, meinte tief atmend der Kapitän.

Der Knabe erschrak. »Nur mit dir, Vater; wo du bleibst, da bleibe auch ich!«

Und so willigte Klaus Visser denn kopfschüttelnd ein, das Boot wurde bespannt, die beiden Wattführer gingen mit den gegen das Land geschlossenen Laternen voran, ihnen folgten, einer hinter dem anderen, alle Übrigen.

»In anderthalb bis zwei Stunden können wir drüben sein«, sagte der Kapitän.

Niemand antwortete; die Gefahr des Unternehmens lähmte alle Herzen. Nur ein Gedanke beherrschte die Leute: »Wenn wir vom Wege abkämen!«

Dünne Birkenstämme bezeichneten die Furt; rechts und links brauste das Meer, bläulich schimmerten im ungewissen Licht die einzelnen Rinnen und Lachen, deren trübe Fluten unter den Füßen der Männer hoch aufspritzten. Man war vor einem wenigstens sicher, vor jeder Begegnung nämlich, daher brauchte kein Stillschweigen zu herrschen. Weder Freund noch Feind würde sich hinauswagen in die grauenvolle Einöde, den feuchten Grund des Meeres, das einige Stunden später rollend und brandend zurückkam, um alles zu verschlingen, was seine wilden Wogen fanden und erwürgten. Unter den Füßen kroch es und flog, huschte nach allen Seiten; jede kleinste Erhöhung war bedeckt mit lebenden Wesen, die einander bekämpften. Große Mantel- und Silbermöwen, Austernfischer, Kampfhähne, Gänsesäger, Brandenten und Lummen bevölkerten das Watt, um auf demselben ihre Nahrung zu suchen; sie saßen in ganzen Scharen beieinander, flogen ab und zu, kreischten und flüchteten, wo sich ihnen die Menschen näherten.

»Halb zwei Uhr vorüber. Wo sind wir, Uve Mensinga? Du musst es wissen.«

Der Wattführer nickte. »Haben bald die Hälfte des Weges, Kapitän Visser! Mehr nach links, Leute – drüben läuft die tiefe Rille.«

Sie wechselten ab mit Schieben und Tragen; von allen Stirnen floss der Schweiß. Schien es nicht ringsumher dunkler zu werden anstatt heller?

»Westwind!«, sagte Heye Wessel. »Es gibt Regen!«

»Ob die Teekisten dicht halten?«

»Sind alle gut verzinkt. Die ersten Tropfen fallen schon.«

Langsam zog eine schwarze Wolke am Horizont herauf, dichter und immer dichter rieselte in schweren Schauern der Regen herab. Binnen weniger Minuten schien alles ringsumher in Wasser verwandelt, es glitzerte und leuchtete, es plätscherte unter den Tritten der Männer.

»Nach links, nach links!«, ermahnte Uve Mensinga, und auch der zweite Wattführer schob mit kräftigem Ruck den Karren in diese Richtung hinüber.

»Siehst du die Stämme, Uve?«, fragte er etwas unruhig.

»Ich denke, dass nun gleich wieder einer kommen muss!«

Aber im selben Augenblick brach über seine Lippen ein Schreckensruf. »Das breite Loch!«, rief er. »Zurück! Zurück! Wir sind aus der Furt herausgekommen!«

Es brauste in den Lüften wie ferner Donner, die See brandete und der Regen floss in Strömen. Das helle Lachen der Möwe klang schaurig durch all den Graus – dicht um die Köpfe der Männer strich mit schwerem Flügelschlage die große Raubmöwe, als wolle sie sich jetzt schon der Beute versichern.

Und Mensinga schob den Wachstuchhut tiefer in die Stirn.

»Ich muss zurückgehen und die Furt untersuchen«, sagte er.

»Aber bleib um Gottes willen nicht lange. Noch eine Stunde, dann ist die Flut an dieser Stelle.«

»Wir können in vierzig Minuten drüben sein! Das breite Loch liegt, wie ihr wisst, hinter zwei Dritteln des Weges.«

»Ja! Ja! An diese Nacht will ich denken, solange ich lebe!«

Dicht nebeneinander, mit pochenden Herzen standen die Schmuggler. Wasser ringsumher, bewegtes, wellenschlagendes Wasser, das schon ihre Füße netzte. Wenn jetzt eine Springflut kam, was dann? Es war der sichere Untergang für alle; sie wussten es.

Wo nur der Wattführer bleibt? Er könnte wohl schon zurück sein!

»Uve!«, rief halblaut eine Stimme.

Keine Antwort; nur die Möwe lachte und der Sturm brauste.

»Uve Mensinga, wo bist du? Gib doch Bescheid!«

Das Licht der Laterne blitzte auf; mit todbleichem Antlitz stand der Wattführer vor seinen Genossen. »Wir müssen ganz vom Wege abgekommen sein – ich bin außerstande, einen der Birkenstämme zu finden.«

Sekundenlang schwiegen alle, das Entsetzliche wirkte lähmend, dann aber sprachen sämtliche Stimmen zugleich:

»Vorwärts, vorwärts, das breite Loch lassen wir rechts liegen!«

»Wir dürfen nicht länger zögern, uns bleiben bis zum Eintritt der Flut nur noch fünfzig Minuten.«

»Aber dann steigt der Boden allmählich an. Wir haben noch eine volle Stunde, und das genügt.«

Wieder schoben vereinte Kräfte das Boot. Eine neue Gefahr tauchte langsam aber sicher aus dem Dunkel herauf; auch der Deich von Hilgenriedersiel hatte eine Wache französischer Zollbeamten. Nur um diesen Letzteren in die Hände zu fallen, sollte der furchtbare Weg über das gefahrdrohende Watt zurückgelegt sein? Das wäre entsetzlich.

»Kennst du dich gar nicht mehr aus, Uve? Und auch du nicht, Lars Meinders?«

Der Letztere nickte. »Wir sind in der Furt«, sagte er, »aber zu weit rechts.«

»Hurra!«, rief in diesem Augenblick Onnens Stimme, »hier ist eine Birke.«

Die beiden Führer eilten zu ihm. »Links hinüber!«, riefen sie. »Jetzt geht noch alles gut!«

Ein sonderbar gurgelndes Geräusch ließ die Männer aufhorchen. Breit und schaumbedeckt rollte eine Welle vor ihre Füße, um im gleichen Augenblick wieder zurückzutreten und zu verschwinden. Das war keine Rinne, keine Vertiefung – so flutete nur das ansteigende Meer, so hob und senkte sich in gemessenen Pausen die Riesenbrust – da, da, es kam wieder – ja, es war das Meer, die Flut. »Eilt euch, eilt euch, so sehr ihr euer Leben liebt!«

Das Boot flog über den nassen Sand, die Schmuggler bissen ihre Zähne zusammen, sie sprachen kein Wort, sie flüchteten nur in toller, atemloser Hast, wie das Leben vor dem Tode flieht, vor dem entsetzlichen Gedanken der Vernichtung.

Ein helles Pünktchen blitzte auf – in weiter, weiter Ferne. Es schien mit jeder verrinnenden Sekunde größer zu werden.

»Licht in Hilgenriedersiel!«

»Das ist nicht das Dorf«, keuchte Lars Meinders. »Es muss dort hinüberliegen!«

»Auch da erscheint ein Licht!«

»Ruhig! Ruhig!«, ermahnte der Kapitän. »Wo haben wir denn unsere Augen, Kinder? Das Meer leuchtet!«

Überall in Nähe und Ferne schienen die Wellen mit flüssigen Feuertropfen besät, überall spielten und glühten schimmernde Brillanten, die sich in ganzen Wogen hoben und senkten. Ein brennendes Meer, brennende windgepeitschte Fluten – so entrollte sich das Bild voll wunderbarer ergreifender Schönheit.

Jetzt leuchtete alles. Weithin von Norderney bis zum Ostfriesischen Deiche schaukelten und schwellten die blitzenden Wassermassen; jede Woge warf funkelnde Rubinen den Schmugglern vor die Füße, jede schien in ihren Flammenschoß die dunklen Gestalten hinabziehen zu wollen auf Nimmerwiederkehr.

»Ob wir die Räder abreißen? Ob wir das Boot treiben lassen?«

»Geduld! Geduld! Seht ihr denn nicht den schwarzen Streifen? Das ist das feste Land!«

»Aber noch weit ab, weit ab! Jesus, mein Heiland, wenn dort Franzosen ständen!«

»In diesem Regen? Die feinen Muttersöhnchen würden ja schier den Schnupfen kriegen! Sie sind ohne Zweifel beizeiten unter Dach und Fach gekrochen.«

»Oder sie werden geknebelt wie drüben die beiden anderen. Alle Hagel, das Wasser steigt!«

Wenn jetzt die Welle heranrauschte, dann standen alle Männer still und hielten sich mit beiden Händen an den Bootsrändern, bis die Gewalt des Andranges nachließ, dann wurde die kurze Pause benutzt, um mit verdoppelter Hast zu laufen.

Ein Kampf, ein Ringen auf Tod und Leben. Jede Woge stieg höher, kam mit stärkerer, vollerer Wucht, jede erschwerte das Gehen auf dem durchweichten Grunde. Wo sich das Salzwasser mit dem vom Regen in den Kleidern der Schmuggler zurückgebliebenen mischte, da schien sekundenlang ein Kochen und Brodeln zu entstehen; Funken fielen herab, es glühte und leuchtete, bis langsam der Schimmer wich und neue Dunkelheit alles umhüllte.

Jetzt gingen die Wogen bis an den Bootsrand. Noch einen einzigen Zoll höher und das sonderbare Fahrzeug, halb Schiff, halb Karren, musste versinken.

»Da ist der Deich! Zwanzig Schritte weiter hinaus! Haltet stand, Leute, haltet noch einige Minuten stand!«

»Pst! Da oben können Posten stehen!«

Die letzte Welle kam, hoch und donnernd schlug sie heran. Einer der Schmuggler stürzte, die Übrigen rissen ihn mit vereinten Kräften empor – es war ein Augenblick, in dem alle glaubten, dass nun das Ende, das furchtbare, nahe sei.

»Onnen, wo bist du?«

»Hier, Vater!«

Mit einer Hand hielt der Kapitän die Kiste auf seiner Schulter, mit der anderen den Knaben. Wortlos kämpften in den wenigen Augenblicken zwischen Welle und Welle die abgehärteten seegewohnten Fischer, um den rettenden Strand zu erreichen.

Heye Wessel, der Riese, hatte festen Grund gefunden. Er warf seine Last von sich und fasste Posto, breitspurig, unerschütterlich wie der Koloss von Rhodos.

»Gib mir die Hand, Junge!«

Onnen kam als der Zweite an das rettende Ufer, dann folgten mit dem Boote die Übrigen. Ihnen nach, donnernd und brausend, stürzten die Wogen.

Stumm, keuchend, mit dem Schweiß der furchtbarsten übermenschlichsten Anstrengung auf den glühenden Stirnen standen die Schmuggler beieinander. Wie eine Riesenflamme glühte weithin das Meer, wie Millionen Diamanten sprühte es aus jeder Woge. Durch dies brandende, ungestüm schwellende Element, durch das wilde, tobende Wasser waren sie stundenweit gewandert, hatten sie die kostbare Ware unbeschadet hinübergebracht auf das feste schützende Land.

»Wisst ihr, wie mir ist?«, raunte Heye Wessel. »Ich möchte Hurra schreien, dass alles Donnern und Brüllen der See sich ängstlich dagegen verkröche.«

»Um des guten Gottes willen nicht! Sollen dich die Parlewus hören?«

»Ich tu’s ja nicht, Kamerad, aber – man möchte eben seinem Herrgott danken, und das kann ich immer am besten, wenn ich einmal ganz gewaltig schreien darf!«

Uve Mensinga versuchte umsonst, mit dem völlig durchnässten Taschentuch seine Stirn zu trocknen. »Wie sich der Witt da oben in den Dünen ärgern mag«, sagte er grimmig lachend. »Sitzt und lauert immerfort – aber es kommt niemand!«

»Still doch! Still doch! Bedenkt, wenn uns ein Franzose hören würde!«

Sie standen auf dem breiten, langsam ansteigenden Fahrdamm, der von der mehr benutzten Bootstreppe einige fünfzig Schritte weit entfernt war. Hier erwartete man auf keinen Fall Gäste, es ließ sich daher hoffen, dass der Übergang ohne Hindernis möglich sei – wenigstens musste die Sache erst einmal versucht werden.

Lars Meinders als der Schmächtigste und Gewandteste von allen kroch in einiger Entfernung vorsichtig bis zur vollen Höhe des Deiches hinauf, dann sah er spähend umher; im nächsten Augenblick gab seine Hand den unten Wartenden ein Zeichen.

»Still!«, hieß es. »Feinde in der Nähe!«

Sie horchten mit aussetzendem Herzschlag.

»Macht das Boot leer!«, raunte der Kapitän. »Wir müssen im Notfall die Kisten einzeln tragen.«

Sie legten sämtlich Hand ans Werk, dann wurden in aller Stille die Räder abgeschraubt, aus dem untersten Grunde die Riemen hervorgesucht und das Boot zu Wasser gebracht, wo es zwei Männer an Seilen festhielten.

Lars Meinders glitt geräuschlos vom Deiche wieder herab. »Seht dorthin«, flüsterte er, auf das Meer hinaus deutend, »da naht unsere Rettung.«

Aller Köpfe wandten sich der bezeichneten Richtung entgegen. Ein weißes Segel schimmerte nahe am Strande; es war eine Schaluppe, die der Landungstreppe zusteuerte.

»Die ›Taube‹!«, rief leise der Kapitän. »Sie kann uns nur ohne die Kisten aufnehmen! Das ist nichts, Meinders.«

Der Wattführer schüttelte den Kopf. »So meine ich’s ja nicht, Mann. Onnen, mein guter Junge, gib doch einmal das Zeichen, dass sie da, wo sie jetzt sind, kreuzen und sich nicht aus Sicht entfernen, aber auch nicht näher herankommen sollen.«

Der Sohn des Kapitäns richtete sich höher auf. Dreimal erscholl das ärgerlich klingende Geschrei des Kampfhahnes, täuschend nachgeahmt, sodass es keinerlei Verdacht erregen konnte. Die Männer sahen gespannten Blickes hinüber – an Deck der »Taube« erschien und verschwand gedankenschnell ein blaues Licht, dann war alles dunkel.

»So ist’s gut«, nickte Lars Meinders. »Nun gebt mir das Boot, Kameraden, und wenn ihr einen gellenden durchdringenden Pfiff hört, so bringt die Kisten in das Dorf. Lasst mich nur machen!«

»Willst du uns nicht wenigstens einige Erklärungen geben, Lars?«

Der Wattführer stieg in das Boot. »Wäre zu weitläufig«, sagte er. »Ihr habt eure Verhaltungsmaßregeln.«

Und geräuschlos die Riemen in das Wasser tauchend, fuhr er der Bootstreppe zu. Unruhig spähend und horchend blieb das kleine Häuflein der Schmuggler in völliger Ratlosigkeit zurück.

»Vater«, flüsterte Onnen wie aus gepresster übervoller Brust, »Vater, ein ehrlich Gewerbe wäre mir doch lieber!«

Der Kapitän nickte. »Mir auch, Kind, aber die Franzosen haben uns alle Wege verlegt, haben unser Land ausgeplündert und uns an den Bettelstab gebracht. Wenn wir in Deutschland nichts mehr zu beißen und zu brechen haben, dann müssen wir dem Himmel danken, dass das reiche Frankreich uns seine Arme öffnet, dahin soll’s kommen, wenigstens träumt’s der freche Korse so.«

Onnens Augen blitzten. »Dass wir Franzosen würden; ganz und für immer, Vater? Dass es gar kein Deutschland mehr gäbe!«

»Ja! Ja!«

»Nie!«, rief der Knabe. »Gott kann das Abscheuliche nicht geschehen lassen!«

»Wir wollen’s hoffen; einstweilen müssen wir schmuggeln, wenn unsere Kranken und unsere Säuglinge noch ein Stückchen Zucker behalten sollen, die alten Frauen ihren Kaffee und Tee.«

Während dieser Unterhaltung war Lars Meinders bis zur Bootstreppe gerudert, hatte das Fahrzeug lose an einem Pfeiler befestigt und stieg nun die Treppe hinan, aber dermaßen ungeschickt, dass ihn der Wachtposten sogleich bemerkte.

»Qui vive?«, rief er aufhorchend in das Dunkel hinein.

Lars Meinders erkünstelte einen halbunterdrückten Schreckensschrei, er polterte die Stufen hinab und plumpste in das Boot, als wolle er schleunigst flüchten.

Der Franzose, beutegierig wie alle diese angeworbenen, durchweg moralisch verkommenen Zollbeamten – der Franzose lief sogleich in die offene Falle des schlauen Wattführers hinein.

»Hierher!«, schrie er. »Hierher! Hilfe!«

Eine Sekunde später sah Lars Meinders den Soldaten, welcher am Fahrdamm Wache hielt, schnellen Laufes herbeieilen; über sein ehrliches rotes Gesicht flog jenes stille Lachen, das ihm eigen war, er steckte zwei Finger in den Mund – ein langgezogener Pfiff gellte durch die Luft.

»Das war das Zeichen!«, raunte Uve Mensinga.

»Schnell! Lars Meinders ist nicht der Mann, uns irre zu führen.«

Sie nahmen die Kisten wieder auf, und Onnen schlüpfte als der Erste den Fahrdamm hinan. »Alles leer!«

Wie schwarze Gespenster glitten die Schmuggler hinüber zum Dorfe, sechsmal nacheinander, ungehindert, im Fluge – dann waren alle Teekisten geborgen.

Der Wattführer hatte ihnen den Weg freigemacht, jetzt wussten sie es.

Während die Beamten das Zollboot vom Pflock lösten und sich anschickten, jenes andere Fahrzeug von der »Taube« abzuschneiden, entkamen die wirklichen Pascher ungehindert über den Deich in ein grünes Gärtchen, dessen Hecken ihnen genügende und sichere Verstecke boten. Im Schutze des hohen Walles blühten hier bescheidene Blumen, wuchsen Stachelbeeren und Flieder, sogar ein paar knorrige verkümmerte Apfelbäume, denen aber der salzige Wind die Kronen verdorrt hatte, wie überall am Nordseestrande.

Tief in der Mitte des bäuerlichen Besitzes lag ein niederes strohbedecktes Haus, dem jetzt die Schmuggler ihre Schritte zulenkten.

»Meine Schwester muss schon aufgestanden sein«, sagte flüsternd der Kapitän. »Es brennt Licht in der großen Stube.«

Sie schlichen auf dem schmalen Pfade zwischen dem Hause und der Stachelbeerhecke vorsichtig zum Fenster und Klaus Visser sah hinein. »Na! Na!«, raunte er. »Was ist denn das?«

Drinnen in der »Döns«, der geräumigen einzigen Stube des Bauernhauses, saß eine ältliche Frau und stützte den Kopf in beide Hände. Die Ellbogen vor sich auf den Tisch gestemmt, sah sie unverwandt ins Leere, während große Tränen, eine nach der anderen, über ihre bleichen Wangen herabrollten.

Außer dieser Frau befand sich niemand im Zimmer.

»Da ist etwas Schlimmes geschehen«, murmelte der Kapitän. »Ich will einmal anklopfen – dann folgt mir nach, Kameraden.«

Er ging um das Haus herum, und bald sahen die Übrigen, dass er Einlass begehrt haben musste, denn die weinende Frau fuhr plötzlich auf und schien zu erschrecken – sie öffnete die Tür wie jemand, der ein großes Glück erwartet, und ließ dann, als der Kapitän eintrat, mutlos die Arme sinken.

Er sprach mit ihr. Die Draußenstehenden sahen ihn die Fäuste ballen. »Herrgott, Herrgott, das ist zu arg!«

Sie alle hatten es verstanden, er winkte ihnen auch schon, und eilends, voll schlimmer Erwartung betraten sie das Haus. Frau Antje, die Herrin desselben, verhüllte das Fenster – sie weinte jetzt noch ärger als vorher.

»Tante Antje«, rief Onnen, »was fehlt dir? Wo ist Onkel Martin?«

Aber nur ein Schluchzen antwortete ihm. »Kinder«, sagte der Kapitän, »die Franzosen haben eine neue infame Schurkerei verübt! Das junge Volk soll zum Kriegsdienst ausgehoben werden, wie ihr wisst. Mancher hat sich beizeiten auf- und davongemacht – na und da stecken sie nun die Väter dieser Flüchtlinge einfach ins Gefängnis, als Geiseln für die Söhne. Schwager Martin Hansen ist gestern mit noch mehreren anderen aus Hilgenriedersiel abgeführt nach Norden.«

Frau Antje weinte bitterlich. »Mein Sohn ein Flüchtling«, schluchzte sie, »und mein Mann ein Gefangener! Was soll nun aus Haus und Hof, aus dem Geschäft und den kleinen Kindern werden?«

Uve Mensinga näherte sich der unglücklichen Frau. »Was das Geschäft betrifft, so seid außer Sorge, Frau Antje«, sagte er, »der Lars Meinders und ich wollen schon Martin Hansens Dienst als Wattführer mit übernehmen und euch den Lohn getreulich abliefern. Die Pferde versorgt dieser oder jener aus dem Dorfe – und Fische bringen wir euch reichlich ins Haus. Getrost, Frau! Wenn die Not am größten, dann ist die Hilfe am nächsten. Der Korse stößt sich schon irgendwo ein Loch in den Kopf, sodass das Land wieder frei wird vom Übel.«

Er bot treuherzig der Weinenden die Hand, und auch Klaus Visser bemühte sich, sie zu trösten, »Lass es gut sein, Antje, ich bin ja kein armer Mann, kann wohl dir und deinen Kindern über die böse Zeit hinweghelfen. Der Martin wird es leicht ertragen, da so ein paar Wochen oder Monate im Loch zu sitzen, er ist ja ein starker, kräftiger Mann.«

Die arme Frau trocknete ihre rinnenden Tränen. »Ich danke euch, Uve Mensinga«, sagte sie seufzend, »und auch dir, Bruder Klaus. Gott möge unser unglückliches Land beschützen! Wisst ihr schon, was man sich Neues erzählt?«

»Nun?«, rief der Kapitän. »Heraus damit!«

»Der Korse marschiert nach Russland, dafür braucht er so viele Soldaten. Ach, sie sagen ja, dass er sich die ganze Welt untertänig machen will!«

»Holl Pust! (Halte auf!)«, lächelte der Kapitän. »Gott stüert de Bööm, dat se nich in’n Heben wast!« (Gott wehrt es den Bäumen, in den Himmel hineinzuwachsen.)

Die vermeintliche Schreckensnachricht schien den Fischern eine heimliche Hoffnung einzuflößen. Nach Russland! Das konnte ja kein gutes Ende nehmen!

Aber es blieb jetzt für Vermutungen und Pläne keinerlei Zeit übrig; man musste die Teekisten nach Emden schaffen, ohne einer einzigen der zahllosen umherstreifenden Zollpatrouillen in die Hände zu fallen, und da war guter Rat teuer, bis endlich Onnen einen Ausweg gefunden zu haben glaubte.

»Ich weiß, wie wir es machen!«, rief er.

»Nun?«, fragte der Kapitän. »Und das wäre?«

»Die alte Kutsche, mit der Onkel Hansen seine wasserscheuen Badegäste über das Watt fährt, muss heraus und –«

»Prachtvoll!«, unterbrach Klaus Visser. »Wir setzen die beiden großen Lederpuppen, von oben bis unten mit Tee gefüllt, hinein. Zufällig sind die Dinger hier bei dem Krämer Hildebrandt in Hilgenriedersiel.«

»Und einen Pass habe ich auch«, meinte Heye Wessel. »Schwerenot, es kommt einem doch gut zustatten, wenn man mit den Schreibern auf der Präfektur zusammen zur Schule gegangen ist und für Geld und ein freundliches Wort so einen gestempelten Papierfetzen erhält, so oft man es wünscht.«

Er zog einen zusammengefalteten Bogen aus der Brieftasche und las den Inhalt vor: »Reisepass von Emden nach Norderney und auf dem Landwege zurück, für Herrn Kaufmann Poppinga nebst Sohn und Tochter!‹ Alle Wetter, woher nehmen wir die Tochter! Meine Amke macht sonst die Fahrt mit dem alten Hansen und dreht sich und wispert wie eine richtige Dame, aber die sitzt ja jetzt zu Hause auf Norderney!«

»Schadet nicht!«, rief Onnen. »Was Eure Amke kann, das bringe ich auch fertig, Heye Wessel! Die Base Hurtke – oder Johanna, wie sie lieber hört! – muss mir ihre Sonntagskleider leihen, und fort geht es als Fräulein Poppinga nach Emden.«

Der alte Seebär lächelte. »Das hübsche glatte Gesicht dazu hast du Schlingel, bist auch durchtrieben genug für ein lustiges Schelmenstück, aber so lang aufgeschossen sind die Mädels doch selten. Wo sollen wir’s abschneiden, am Kopf oder an den Füßen? he?«

»Lasst alles an seinem Platz, Gevatter, ich bleibe im Wagen sitzen und tue ganz ängstlich. Ach, ach – Bruder und Vater sind so krank, man darf sie nicht stören, kein Wort mit ihnen sprechen! Ich weine ein wenig und seufze, das macht die französischen Herzen gleich windelweich.«

Sie lachten alle, selbst Frau Antje streichelte das blühende Antlitz ihres Neffen. »Ich will dir Hurtkes Sonntagsstaat herbeiholen«, sagte sie voll neuen Mutes. »Du musst doch die Sachen erst probieren.«

Ein paar Flaschen Bier und Branntwein, ein großes Brot und ein Schinken kamen auf den Tisch; dann, nachdem alle gesättigt waren, folgte die »Kostümprobe«, wie Onnen es nannte. Mit dem Hute und der seidenen Mantille ging die Sache vortrefflich, aber unter dem Kleide sahen die Wasserstiefel bedenklich lang hervor, während Base Hurtkes kleine Schnallenschuhe nicht ohne Ach und Weh den derberen Füßen ihres Vetters angepasst werden konnten. Aber auch das würde sich machen lassen – man braucht ja im Wagen keine Schuhe. Onnen fand den Spaß prachtvoll.

Allmählich begann unter diesen Vorberatungen der neue Tag, und die ganze Schmugglergesellschaft siedelte über in den Wagenschuppen, wo einige Stunden Schlaf die müden Glieder zu weiterer Arbeit stärkten; dann, gegen neun Uhr morgens, entwickelte sich hinter verschlossenen Türen ein eigentümliches Schauspiel.

Frau Antje holte vom Krämer die beiden Lederpuppen, in denen der Tee durch das Land geschickt zu werden pflegte, umfangreiche Männergestalten mit Gesichtern und Perücken, die im Sitzen, namentlich bei etwas zweifelhafter Beleuchtung, von lebenden Menschen nicht so leicht unterschieden werden konnten. Man fuhr sie unter den verschiedensten Namen und auf allen Wegen des Landes schon seit Langem umher, und wo sie im Dunkel des Abends hinter irgendeinem Torweg verschwanden, da wurde schleunigst eine Hinrichtung vollzogen – der Kopf fiel ab, der Rumpf neigte sich und der ganze Herr Baron oder Präsident schrumpfte zusammen zur bloßen Mumie, während vierzig bis fünfzig Pfund Tee von flinken Händen in ein sicheres Versteck überführt wurden.

An diesem sonnigen Morgen erhielten die ledernen Herren ihre Füllung als Kaufmann Poppinga und Sohn. Heye Wessel, der Riese, stopfte mit den langen Armen so viele Pfunde Tee in die Puppen hinein, wie diese nur zu fassen vermochten, dann bekleidete man sie auf das Ausgesuchteste, zog ihnen Handschuhe an, kämmte Bart und Haar und setzte sie in die große alte Kutsche mit dem tiefen Sitz, den die grünen Gardinen beinahe gänzlich verhüllten. Unterdessen hatte Onnen seine Verwandlung bewerkstelligt, etwas Mundvorrat für ihn war auch in den Wagen gebracht, ein Knecht des Wattführers setzte sich auf den Bock und die Fahrt konnte beginnen.

Onnen hielt sein Kleid zierlich in beiden Händen, er hatte das Gesicht tief verschleiert und über die braunen derben Knabenfäuste ein Paar Handschuhe gezogen; der Pass steckte in dem Arbeitsbeutel, ohne welchen damals kein wohlerzogenes junges Mädchen zu denken war.

»Vorwärts!«, rief er lustig. »Wir können gerade bei einbrechender Dunkelheit in Emden sein, wie ich hoffe. An der Westerbutfenne bei Düke Mommsen, dem Gastwirt, gebe ich die Ladung ab, da mag sie Hans Houtrouv in Empfang nehmen.«

Der Kapitän nickte. »Aber hüte dich, Junge, lass lieber den Tee im Stiche als deine Freiheit. Ist alles besorgt, so gehst du zum Vetter nach Larrelt und von dort hole ich dich morgen selbst mit der ›Taube‹ ab.«

»Allstunds, Vater! Und nun: Adjes.«

»Behüt Gott! Adjes, Adjes.«

Der schwere Wagen rumpelte aus dem Gehöft hinaus, und die Lederpuppen nickten mit den Köpfen. Onnen fühlte sich hinter seinem Schleier keineswegs behaglich; was er dachte, das war in lauter Bitterkeit getaucht: »Möchten wir doch lieber die Franzosen zum Lande hinausprügeln, als dass sie uns sämtlich zu Schelmenstücken zwingen! Sitzt man da wie ein angezogener Affe auf dem Jahrmarkt!«

Sobald aber eine französische Streifwache nahte, begann das Vergnügen. Der Kutscher hielt, ein bärtiger Zollwächter trat an den Schlag und fragte nach dem Passe. Onnen reichte ihm das Blatt. »Wir haben so große Eile, mein Herr! Ach bitte, bitte, der arme Vater ist leidend.«

Die Zollbeamten sahen seine schönen Augen, seine Seufzer und das hübsche verschleierte Gesicht, sie warfen nur einen einzigen Blick auf den Namenszug des Präfekten Jeannesson und gaben dann den Pass zurück. »Alles in Ordnung. Reisen Sie glücklich, Mademoiselle!«

Dann wurden Onnens braune Wangen sehr rot, er ärgerte sich wieder und gab den Lederpuppen Nasenstüber, aber es freute ihn doch, dass Meile nach Meile hinter dem Wagen zurückblieb und dass gegen Abend die Türme von Emden im letzten Sonnenglanz vor seinen Blicken erschienen.

Mehr als zweihundert Pfund Tee steckten in den beiden Puppen, das war ein barer Verdienst von 180 Frank; denn die Franzosen erhoben damals eine Steuer von 90 Frank für den Zentner. Onnen wollte bei Düke Mommsen die Ware am gewohnten Orte verbergen und dann mit Hans Houtrouv, dem Krämer, abrechnen.

Der Wagen fuhr durch das Stadttor und ungehindert bis zur Westerbutfenne. Düke Mommsens Gasthof mit dem großen Dreimaster im Schilde und mit der weiten sauberen Toreinfahrt war erreicht, es dunkelte stark, und leise stäubend begann ein feiner Regen herabzuträufeln. Onnen wollte eben mit einem Seufzer der Erleichterung fein jüngferlich aus dem Wagen steigen, als vom Hofe her ein Offizier der Zollwache langsam hervortrat und die Hand auf den Schlag legte, um ihn zu öffnen.

»Ich bitte, mein Fräulein! Den Pass!«

Onnen gab ohne ein Wort das Dokument – jetzt fühlte er, dass ihm das Herz stärker schlug.

Sollte er wirklich im Hafen Schiffbruch leiden?

»Alles gut!«, nickte der Offizier. »Wollen die Herrschaften aussteigen?«

In der Tür erschien in diesem Augenblick Düke Mommsen, der Wirt. Er hatte den Wagen des Wattführers erkannt und beeilte sich, die Aufmerksamkeit des Franzosen abzulenken. »Ach«, rief er, »das sind meine kranken Gäste! Schnell, Lorenz, schnell, fahre auf den Hof, der alte Herr liebt es nicht, wenn ihn die Leute so ansehen.«

»Monsieur Renard«, setzte er hinzu, »wenn es Ihnen gefällig ist! Das Abendessen wartet!«

Der Franzose nickte stumm; er sah immer dem verschwindenden Wagen nach und wollte dann wie zufällig durch den Torweg gehen, aber der Wirt hielt ihn zurück »Monsieur Renard, auf ein Wort!«

»Nun?«

»Haben Sie das junge Mädchen näher angesehen?«

»Weshalb?«, fragte stirnrunzelnd der Offizier. »Ich kenne die Dame nicht.«

»Aber sie ist reich, besitzt viele Tausende!«

Der Offizier zuckte die Achseln. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich zum Torweg und ging hinein.

Düke Mommsen lächelte vergnügt. Während der halben Minute, in der er den Franzosen aufgehalten, hatten seine Knechte die beiden Lederpuppen in Sicherheit gebracht, das wusste er.

Monsieur Renard sah zuerst den leeren Wagen, dann das flatternde Kleid des vermeintlichen jungen Mädchens – der Hof lag wie ausgestorben.

Er blieb vollkommen gelassen, aber die Sache erschien ihm verdächtig; zwei Minuten später stand er wieder neben dem Wirt im Gastzimmer.

»Wer sind die Leute, welche soeben kamen, Herr Mommsen?«

»Emdener Bürger«, antwortete dieser. »Ein Herr Poppinga mit Sohn und Tochter, mein werter Monsieur Renard; sie kommen von Norderney.«

Der Franzose nickte. »Ich möchte mit den Herren sprechen«, sagte er in ruhig befehlendem Tone. »Haben Sie die Güte, mich zu melden.«

»Sogleich! Sogleich!«

Er verschwand, um erst einmal Zeit zu gewinnen. »Verfluchte Geschichte! Wem soll ich ihn nun vorstellen? Onnen, Junge, gib mir den Pass und dann schäle dich aus den Weiberkleidern heraus. Der französische Schuft hat Verdacht geschöpft!«

Er schloss aus Vorsicht die Tür ab, hinter welcher unser Freund verborgen war, und lief dann mit dem von der Präfektur gestempelten Passe zu dem Franzosen zurück. »Die Herren lassen um Entschuldigung bitten«, sagte er, »auch das Fräulein kann Sie heute Abend nicht mehr empfangen, aber hier ist der Reisepass. Das genügt, nicht wahr?«

Der Offizier ergriff das Blatt und hielt es gegen die Lampe. Über sein Gesicht flog ein zufriedenes Lächeln.

»Ich bestehe darauf, die Herren zu sehen«, rief er. »Wo ist das Zimmer derselben?«

»Aber ich begreife nicht«, murmelte Düke Mommsen, »ich begreife wirklich nicht! Monsieur Renard befiehlt, als ob –«

»Ich diesem Befehle auch Nachdruck verleihen könnte? So ist es, Herr Wirt. In welchem Zimmer finde ich die Herren?«

Er war auf den langen Gang hinausgetreten und wollte eben die erste Tür desselben gewaltsam öffnen, als plötzlich ein Herr heraustrat und ihn ruhigen Blickes ansah, ein junger, sehr vornehm scheinender Mann, dessen halbes Antlitz von einem bis auf die Brust hinabreichenden Barte völlig verdeckt war.

»Mein Herr Offizier«, sagte er, »ich stelle mich Ihnen zur Verfügung. Da der Reisepass in Ihren Händen liegt, so weiß ich nicht, woran es etwa sonst noch fehlen könnte! Bitte, befehlen Sie!«

Monsieur Renard schien zu erschrecken, »Sie wären Herr Andreas Poppinga?« sagte er in zweifelndem Tone.

»Ja. Wünschen Sie sonst noch etwas?«

Die Blicke des Franzosen verrieten sein Misstrauen. »Weshalb, wenn Sie hier in Emden wohnen, beziehen Sie ein Hotel, mein Herr Poppinga?«

»Weil ich in einer Stunde wieder abzureisen gedenke«, war die Antwort. »Haben Sie übrigens das Recht, unverdächtige Personen derartig auszufragen, mein Herr?«

Der Offizier drehte sich um, er ließ den Pass auf einen Tisch fallen. »Es ist gut«, sagte er, »Sie können gehen.«

Der Fremde ergriff das Blatt, wie sich jemand auf einen mühevoll errungenen Schatz stürzt. »Lassen Sie in einer Stunde einen Wagen bereitstehen, Herr Wirt, mein Vater und ich reisen weiter nach Bremen, meine Schwester dagegen bleibt hier bei Verwandten.«

»Sehr wohl, Herr Poppinga.«

Der Wirt rieb sich untertänigst die Hände. Damals fand jede Lüge ein williges Ohr, der Betrug war das gewohnte Verkehrsmittel und die kecke Schlauheit das preisgekrönte Verfahren des einen gegen den anderen. Zwei fremde Herren ohne Gepäck oder Legitimation waren am vorigen Abend im Hause Düke Mommsens erschienen und hatten gesagt, dass sie unbemerkt ein paar Rasttage zu halten wünschten – jetzt bemächtigte sich einer derselben des fremden Passes und Namens, er bestellte einen Wagen und ging selbst hastig die Straße hinab, aber der Gastwirt verriet durch keine Bewegung das Erstaunen, welches er empfand, er verdoppelte nur sogleich in Gedanken die Preise der bisher aufgestellten Rechnung und bewunderte die Geistesgegenwart des Unbekannten, der sich auf so dreiste Art in den Besitz des Legitimationspapieres zu setzen gewusst hatte.

Monsieur Renard war fortgegangen. Düke Mommsen eilte in Onnens Zimmer und erlöste diesen aus der Gefangenschaft. »Gottlob«, keuchte er, »es ist alles gut abgelaufen. Der Teufel hole die Franzosen! So, nun bist du wieder ein Junge; komm mit hinunter, ich denke, du sollst mit den fremden Herren eine Strecke weit fahren, um nur erst einmal aus dem Gesichtskreise des schurkischen Beamten zu verschwinden.«

Onnen folgte ihm in das Gastzimmer. »Wer sind die beiden?«, fragte er.

»Weiß ich es? Menschen, denen dein Pass vortrefflich zustatten kam. Nun iss nur erst ein wenig, hörst du – da ist wahrhaftig der eine schon wieder; er sieht aus, als sei ihm ein großes Glück begegnet.«

Duke Mommsen umschmeichelte aalglatt den Fremden, er stellte ihm den Sohn des Kapitäns förmlich vor und erreichte es, dass dieser mitfahren durfte. »Wir werden dich nach Larrelt bringen«, sagte freundlich der Herr. »Lassen Sie nur den Wagen vorfahren, Herr Wirt, und besorgen Sie die Rechnung.«

Von Monsieur Renard war nichts zu sehen. In völliger Dunkelheit fuhren die beiden Fremden mit Onnen auf dem Rücksitz davon und in die Nacht hinaus; sie sprachen sehr eifrig miteinander, aber immer französisch, sodass unser Freund keine Silbe verstand; erst als hinter dem Wagen ein anderes Pferd wieherte, hob einer der Herren horchend den Kopf.

»Man verfolgt uns!«

»Schadet nicht!«, versetzte gleichmütig der Zweite. »Ich bin auf der Präfektur gewesen und habe unseren Pass nach Bremen ausfertigen lassen; mögen also die Franzosen kommen.«

Der Erste sah immer noch aus dem kleinen Hinterfenster der Kutsche. »Ein Einspänner«, sagte er, »zwei Männer sitzen darin. Verfolgt man dich, mein guter Junge?«

Onnen schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Herr.«

»Was bist du denn eigentlich? Ohne Zweifel ein Schmuggler!«

Onnen schwieg. Es war, als drücke ihm eine unsichtbare Hand die Kehle zusammen. Ein Schmuggler! Jemand, der auf verbotenen Wegen ging!

Im gleichen Augenblick schlug einer der Insassen des zweiten Wagens Feuer für seine Pfeife. Obwohl er den aufflammenden Blitz sogleich mit der Hand bedeckte, war doch dem Beobachter Zeit genug geblieben, um sein Gesicht zu sehen – er erschrak heftig und bog den Kopf zurück, als fürchte er, trotz Finsternis und Entfernung selbst erkannt zu werden. »Es ist Lemosy!« sagte er halblaut. »Bei Gott, Lemosy!«

»O – du wirst irren. Das wäre schrecklich!«

»Es ist Lemosy, ich sage es dir.«

»Um Verzeihung«, warf Onnen ein, »der Herr, den Sie da soeben gesehen zu haben glauben, ist Polizeimeister des Departements Ostems.«

»Das wusste ich nicht! Alle Teufel, was fangen wir an?«

»Sie wollen also von diesem Herrn Lemosy nicht gesehen werden?«

»Unter keiner Bedingung!«

»Dann lassen Sie mich nur machen.«

Er öffnete das Vorderfenster und befahl dem Kutscher, einen Seitenweg einzuschlagen.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Da kämen wir ja an das Emswatt!«, sagte er verdrießlich.

»Das ist auch unsere Absicht.«

»Na, mir kann’s recht sein. Hü, Lotte!«

Er wandte das magere alte Pferd und fuhr in veränderter Richtung weiter; der Fremde beobachtete dabei klopfenden Herzens den zweiten Wagen – ohne zu zögern, nahm dieser die Verfolgung auf, beide fuhren auch jetzt wieder hintereinander.

»Das gilt dem Knaben!«, sagte leise der Fremde. »Lemosy hat uns weder gesehen, noch kann er vermuten, dass wir hier sind.«

Der andere strich mit der Hand über die Stirn. »Zum Watt kommen wir, Junge? Werden uns da die Franzosen nicht erreichen können?«

»Ich hoffe nicht. In Larrelt steht ein Wachtposten der Zollbeamten, dahin können Sie auf keinen Fall gehen.«

Der Wagen fuhr auf dem ebenen Wege ziemlich schnell dahin, sodass der feuchte Hauch vom Watt herüber sehr bald die Luft erfüllte. Über dem Schlick (dem zur Zeit der Ebbe trockenliegenden Grunde des Watts) ballten sich Nebelwolken; grau in grau lag baumlos in herzerkältender Öde die ganze Umgegend. Onnen stand aufrecht im Wagen. »Sobald ich deine Schulter berühre, hältst du, Landsmann! – oder ist dir selbst die Gegend genau bekannt?«

»Ganz genau!«

»Gut, dann lass deine Mähre bei dem tiefen Einschnitt des Weges, wo der Kanal ausmündet, ganz plötzlich stillstehen!«

Er beobachtete fortwährend. »Jetzt kommt die Stelle! Öffnen Sie ein wenig die Wagentür und laufen Sie mir getrost nach! – Nun!«

Das Gefährt hielt mit einem einzigen Ruck, so schnell und unerwartet, dass das Pferd des anderen Wagens mit dem Kopfe gegen das Kutschendach stieß und der Einspänner von der Wucht dieses plötzlichen Anpralls auf die Seite fiel.

Beide Insassen stürzten unsanft auf die Straße.

»Hurra!«, schrie Onnen. »Mir nach, Poppinga und Sohn! Ha, ha, ha –«

Er hatte mit einem gewaltigen Satz den Schlickgrund erreicht und stürmte vorwärts, gefolgt von den beiden Fremden, welche wie Schatten auf dem grauen, schlüpfrigen Watt neben ihm herliefen.

Während auf der Straße die Kutscher schimpften und die Pferde stampften und wieherten, hatten sich Monsieur Renard und der Polizeimeister Lemosy in aller Eile aufgerafft und waren den Flüchtlingen gefolgt. Mit den genaueren Verhältnissen des fremden nordischen Landes völlig unbekannt, konnten sie Onnens Plan nicht voraussehen und verloren dadurch mindestens zwei Minuten, anderseits aber erwachten auch durch den Sturz auf den Fußboden der Ärger und Verdruss – hitziger als sonst wohl wurde die Verfolgung im selben Augenblick aufgenommen und fortgeführt.

Onnen horchte. »Sie sind hinter uns!«, flüsterte er.

»Können aber des Nebels wegen nicht schießen! Vorwärts! Vorwärts!«

»Um Gottes willen!«, raunte der Zweite. »Da ist Wasser!«

»Die Ems! – Wir haben Raum genug!«

Weiter und weiter ging die tolle Jagd. Vor den Flüchtigen lag unermesslich das öde Grau, hinter ihnen erklangen die Schritte der Feinde – näher und näher, wie einer der Herren meinte.

»Lass sie kommen, die verfluchten Franzosen, unter deren Krallen das arme Deutschland aus tausend Wunden blutet, lass sie kommen! Wir sind unserer drei gegen zwei!«

»Aber sie haben Schießwaffen, ich sah es!«

Wie zur Bestätigung dieser Worte knackte in einiger Entfernung der Hahn einer Kugelbüchse. »Ergebt euch!«, rief die Stimme des Zollbeamten. »Ergebt euch oder ihr erhaltet eine Kugel zwischen die Rippen!«

Onnen lachte laut, aller Groll seines ehrlichen Herzens drängte sich auf die Lippen. »Nichts von ergeben!«, rief er. »Tut euer Schlimmstes, ihr Raubgesindel!«

Sie liefen auf Tod und Leben, atemlos, in äußerster Eile. Ihre Pulse jagten, ihre Herzen schlugen zum Zerspringen.

Hinterher die Verfolger. Langsam minderte sich der Zwischenraum, langsam, aber sicher. Onnen hätte für sich allein längst aus dem Bereich der Feinde herauskommen können, aber die beiden Fremden hielten mit ihm auf dem schlüpfrigen Boden nicht gleichen Schritt, und verlassen mochte er sie um keinen Preis.

»Ergebt euch! Steht!«

»Ha! ha! ha!«

Eine Büchsenkugel streifte hart an dem Kopfe des Knaben vorüber, er schwenkte die Mütze und lachte laut. »Bist ein Esel, Franzose, lass dir dein Lehrgeld wiedergeben!«

»Wir sind verloren!«, keuchte der ältere der beiden Fremden. »Ich kann nicht weiter laufen.«

Auch der Zweite taumelte. »Rette dich selbst, Knabe! Es ist umsonst, wir können nicht weiter!«

»Nein! Nein! – Die Hilfe naht schon!«

Im Nebel regte sich’s wie gespenstische Formen, flog vorüber und kehrte zurück – hier ein seltsames Etwas, dort eins, mehr und immer mehr.

Menschenaugen sahen in die Gesichter der Fliehenden, Menschenstimmen redeten sie an. »Hierher! – Schnell! Schnell!«

»Wer seid ihr?«, keuchte der vorderste Fremde.

»Gute Deutsche wie ihr! – Die Pest über alles, was französisch ist!«

Kräftige Arme drückten die Widerstandslosen auf einen engen Sitz und fort ging es, ins Dunkle hinein, ehe Sekunden verrannen. Alle Dreie waren voneinander getrennt, aber als die beiden Franzosen aus dem Nebel auftauchten, fanden sie die Stelle leer, ihre vermeintlichen Gefangenen hatten unbeschadet den rettenden Hafen erreicht.

Wieder krachten Büchsenschüsse durch die Nacht, wieder folgte das tolle Lachen der Sieger, diesmal vielstimmig, aus Nähe und Ferne zugleich.

Es huschte und eilte über den grauen dampfenden Schlick, es wirbelte durcheinander von sonderbaren Gestalten. Wie ein Volk von Zwergen tummelte sich’s auf dem Emswatt, wie Mücken im Sommer umschwärmten spöttische Zurufe die beiden erbitterten Franzosen. Sie hörten alles, sahen aber nichts.

»Monsieur Renard«, sagte kopfschüttelnd der Polizeimeister, »wissen Sie, was ich glaube, oder vielmehr, wovon ich ganz fest überzeugt bin?«

»Nun, Herr von Lemosy?«

Der andere beugte sich näher zu ihm. »Diese Deutschen haben bisher geschlafen«, sagte er, »aber sie beginnen jetzt langsam zu erwachen. Wir werden dann erst die Tatze des Löwen wirklich kennenlernen.«

»Bist du es, Heinz Thiedemann?«, fragte Onnen.

»Allstunds, junger Herr. Was tust du denn auf dem Emswatt? Willst doch nimmer ein ›Buttjer‹ (Schlammfischer) werden? Das wäre für den Kapitänssohn zu geringe, wie mir deucht.«

Onnen schüttelte traurig den Kopf. »Das ehrliche Gewerbe ist niemals zu geringe, Heinz – du brauchst nicht zu flüchten, wenn dir französische Zollwächter begegnen.«

»Aber du musstest es, weil du Konterbande bei dir führtest. Na, darum gräme dich nicht, Junge; die Gelbgesichter sind ja fremde Eindringlinge, denen wir Schoß und Zoll rechtlich nicht zu leisten brauchen, sondern nur, weil sie eben die Gewalt besitzen.«

»Na, Onnen«, fuhr er gutmütig bittend fort, »steige aus, Junge; ich muss fischen, wenn nicht meine Kinder morgen hungern sollen.«

Unser Freund sprang leichtfüßig aus der »Kreie«, dem sonderbaren Fahrzeuge, das seinem Baue nach unseren Kinderschlitten gleicht. Eisenreifen umgeben die unteren Ränder, am Vorderteil befindet sich ein großer offener Kasten und im Hinterteil liegt fest ein ausgehöhlter Block, in den der Buttjer das Knie presst, um dann mit dem rechten Fuße gleichsam zu rudern oder zu schieben, wobei die »Kreie« mit der Geschwindigkeit des laufenden Pferdes über das Watt schießt.

»Wo hast du deine Reusen, Heinz?«

»Gleich vor uns. Wer war mit dir, Junge? Dein Vater?«

»Nein, zwei ganz Fremde, der Himmel mag wissen, wer sie sind. Ob sie wohl glücklich davonkamen, Heinz?«

»Natürlich. Meine Kameraden werden so wenig einen Verfolgten im Stiche lassen, wie ich selbst es täte. Aha, da beginnt die Jagd!«

Aus dem grauen schlüpfrigen Wattgrunde erhoben sich viereckig angebrachte feste Zäune von Birken- oder Weidengeflecht, die etwa den Flächenraum eines gewöhnlichen Zimmers umschlossen und deren dichte Wände keinen noch so kleinen Fisch hindurchließen. Jede dieser Fanggruben war angefüllt mit zappelnden, ängstlich in den kleinsten Vertiefungen Schutz suchenden Meeresbewohnern, denen jetzt der Buttjer den Garaus machen wollte.

»Das habe ich noch nie gesehen«, rief Onnen, mit lebhaftem Interesse die eigentümliche Jagd beobachtend. »Deine Reusen befestigst du zur Ebbezeit, nicht wahr, Heinz?«

»Natürlich. Die Flut geht hoch darüber hinaus, und was mit derselben hineingerät, das findet nachher keinen Rückweg.«

Er sammelte mit beiden Händen große Butten, Schellfische, Schollen, Zungen und Makrelen, endlich hoben beide mit vereinten Kräften einen großen Kabeljau in den Kasten, ein Ungeheuer, das der Schlammfischer gleich an Ort und Stelle schlachtete, um es nur mit sich führen zu können.

Jede Reuse trug ihr Zeichen, das von den Buttjern unbedingt geachtet wurde. Wie Schatten, geräuschlos und mit Windeseile schossen sie im Nebel aneinander vorüber, keiner aber stahl dem anderen auch nur ein einziges jener kleinen silbernen Fischchen, die unter der Bezeichnung »Stinte« in den Handel kommen und die zu Tausenden in allen Rillen und Löchern umherzappelten.

»Wie weit pflegst du zu gehen, Heinz?«, fragte Onnen.

»Bis zur Paap (Sandbank in der Ems). Dort liegt ein Langboot, das die Buttjer gemeinschaftlich halten.«

»Und auf dem ihr mich mitnehmt nach Larrelt?«

»Allstunds, junger Herr.«

Die Flut musste jetzt bald eintreten, schneller und schneller eilten der Schlammfischer und sein Kamerad über das Watt, dessen Nebel sich allmählich zu zerteilen begannen. Hell stand der Mond am nächtlichen Himmel, das Treiben auf dem Schlick beleuchtend, die Arbeit der emsig sammelnden Menschen und den Schmaus der Raubvögel, die mit dem fürlieb nahmen, was jenen zu gering erschien.

Auch hier Kampf und Streit, Flügelschlagen und Schnabelhiebe, auch hier Feldgeschrei und heißes Ringen um den Platz an der großen Tafel, die Gott der Herr für jedes seiner Geschöpfe gedeckt hat und in erbarmender Liebe täglich neu mit Speise füllt. Aufatmend hielten zu beiden Seiten des tieferen Fahrwassers die Schlammfischer mit ihren hochbeladenen Kreien inne.

Vor ihnen lag die Paap, eine öde, langgestreckte, bei tiefster Ebbe von den Meereswellen – die in den Emsfluss hineinströmen und ihn füllen – freigelassene Sandbank.

Weit und breit war kein Boot zu entdecken.

»Was beginnen wir jetzt?«, fragte etwas unruhig der Knabe.

»Pst! Ich will es dir gleich erklären. Siehst du da auf dem Sande die großen, träge hingestreckten Tiere?«

»Die Seehunde? Natürlich.«

»Na, dann gib nur Acht. Es sind jedenfalls Jäger hier, und um ihretwillen ist unser Boot in der Entfernung geblieben.«

Sie hielten sich eine Zeitlang vollkommen lautlos, dann zupfte der Buttjer seinen Genossen am Ärmel und deutete auf die Sandbank. »Jetzt gib Acht, junger Herr!«

An der anderen Seite der Paap erschienen in diesem Augenblick fünf oder sechs Männer, die sich sogleich mit lautem Geschrei und Armschwenken der Mitte näherten, wobei die scheuen Seehunde, aus ihrer behaglichen Ruhe aufgeschreckt, kopfüber in das Wasser schossen, gerade dadurch aber in die Hände ihrer Verfolger fielen.

Sobald die großen plumpen Tiere verschwunden waren, erwachte rings umher neues Leben. Zwei Fischerboote kamen von rechts und links herbei; mit allen Kräften wurde ein großes, aus starkem Geflecht verfertigtes Netz zusammengezogen und aufgewunden.

Unter dem Wasser schien ein gewaltiger Aufruhr zu toben. Die Wellen spritzten hoch hinauf gegen das Ufer, schäumten und brodelten, bewegten sich dermaßen, dass die Boote schaukelten; dann, nachdem ein ungeheures, von zwei Fahrzeugen zur Zeit der weichenden Flut ausgesegeltes Netz emporgehoben war, entstand eine plötzliche Stille. In den Maschen zappelten zwei große Seehunde.

»Nur zwei!«, rief Onnen. »Und wenigstens zwölf waren vorhanden.«

»Das ist immerhin noch eine gute Jagd. Sehr, sehr häufig gelingt es sämtlichen Seehunden, nicht allein zu entkommen, sondern sogar auch das Netz zu zerreißen!«

Die Fischer ruderten ihre beiden Boote nahe aneinander heran und fünf Männer brachten mit vereinten Kräften die gefangenen Tiere in den großen durchlöcherten Kasten, der wie ein zweites Boot hinter dem ersten durch das Wasser glitt.

Von fernher näherte sich auch das Langboot der Buttjer und außerdem ein weißes Segel, das Heinz Thiedemann nicht gleich erkannte. »Ich glaube, es ist eine Schaluppe«, sagte er, »aber was will sie hier?«

Onnen beobachtete scharf. »Die ›Taube‹!«, rief er. »Mein Vater kommt, um mich abzuholen.«

Die Flut rauschte auf, Kreien und Fischkörbe wurden in das Boot geschafft; von frischem Wind getrieben, kam die Schaluppe unter vollen Segeln heran. Heye Wessel hielt Wache am Steuer, er war nicht wenig erstaunt, den Sohn des Kapitäns hier in der Gesellschaft der Schlammfischer zu finden, dann aber lachte er, als ihm der Zusammenhang der Dinge erzählt wurde, recht behaglich und gab dem Buttjer ein reichliches Trinkgeld als Entschädigung für die gehabte Mühe.

Onnens Abschied von seinem Retter war sehr herzlich; der arme Heinz hatte wohl lange keinen so guten Zug getan wie eben heute. Er schwenkte noch die Mütze, als schon die Schaluppe weit ausholte, um zu wenden und wieder in See zu gehen.

Onnen suchte sein Lager, erzählte aber vorher dem aufhorchenden Riesen die Geschichte des letzten Tages, einschließlich des Abenteuers mit den beiden Unbekannten, welche auf so geschickte Weise den Pass erbeutet hatten.

Heye Wessel dampfte ganze Wolken. »Muss doch ein tüchtiger Kerl sein, der Fremde«, meinte er, »einer, der sich nicht ins Bockshorn jagen lässt. Unser Pass für Poppinga und Sohn soll ihm übrigens wohl bekommen – wir hätten den Wisch doch nicht weiter brauchen können, er ist schon gar zu häufig und von den verschiedensten Leuten benutzt worden. Dein Monsieur Renard, der Schnüffler, hat ihn ohne Zweifel früher gesehen und wiedererkannt! – Gerade auf die Nase fiel er, der feine Herr?«

»Gerade auf die Nase!«, wiederholte Onnen, schon halb schlafend. »Ha, ha, ha, so sollen sie alle purzeln – alle!«

3

Über die öde braune Moorfläche, wo jetzt eine breite Landstraße von Emden nach Aurich führt, zog im Sonnenbrand eine Abteilung französischer Infanterie. Zwei Offiziere ritten voraus und hintendrein rumpelte schwerfällig ein Gepäckwagen, auf dem ein Schreiber des Präfekten, ein Emdener Kind, Platz genommen hatte, um den Franzosen als Dolmetscher zu dienen.

Vor der kleinen Truppe und hinter derselben, überall dehnte sich das nackte unübersehbare Moor. Wie auf der offenen See bemerkte der Blick keinen noch so unbedeutenden Gegenstand, keine Erhöhung irgendeiner Art, überhaupt nichts als Luft und Erde, als eine pfadlose braune Wüste, von der sich das Auge beinahe mit Grauen abwandte.

Lautlosen Fluges erhob sich dann und wann aus den tiefen schlammigen Rissen des Bodens eine Sumpfeule mit grauem Gefieder, Bekassinen schrieen ihr heiseres »Rätsch! Rätsch!« oder eine Rohrdommel erhob klagend, ohne sich zu zeigen, die Stimme: »I prumb hu hu‹ i prumb hu hu!« – bis der Ton wie eine Totenklage die Herzen der Franzosen durchkältete.

»Sapristi!«, rief einer der Offiziere. »Ob das noch dieselbe Erde ist, auf der Frankreich liegt? Man glaubt sich in den Vorhöfen der Hölle zu befinden.«

Der andere nickte. »Dabei scheint jetzt noch die Sonne hell und warm vom Himmel herab, Monsieur Renard, aber nun lassen Sie es Winter werden, denken Sie sich die Luft grau wie den Boden, eisig kalt, den Wind pfeifend, ein tolles Schneetreiben vor sich herjagend – das Herz in der Brust müsste erstarren.«

»I prumb hu hu! – I prumb hu hu!«

Monsieur Renard riss die Pistole aus dem Sattel. »Wo ist der verfluchte Vogel?«, rief er. »Ich will ihm den Hals umdrehen!«

»Hallo! Hallo! – Ein Rudel Hirsche!«

Das Rotwild war aus einer Niederung, in der es lagerte, aufgeschreckt worden und stürmte nun vollen Laufes davon. Der Leithirsch mit hoch erhobenem Kopfe eilte voran, ihm folgten mehrere jüngere Hirsche und dann das weibliche Wild mit den Kälbern, zusammen etwa zwanzig Köpfe. Die schönen flüchtenden Tiere glichen auf dem braunen Erdboden einem Gemälde, das alle Beschauer entzückte, wenn auch in sehr verschiedener Weise.

»Endlich lebende Wesen!«, rief Monsieur Renard. »Es war hohe Zeit. Eine Art von Verzweiflung hatte sich meiner bemächtigt.«

Hinter ihm krachte ein Schuss, und der Leithirsch sprang hoch in die Luft, er taumelte, überschlug sich und stürzte, während seine Genossen mit wilder Hast zur Rechten und Linken an ihm vorüberstürmten, nur darauf bedacht, das eigene gefährdete Leben zu retten, unbekümmert um ihr Oberhaupt, dessen letztes Röcheln das laute Siegesgeschrei der Franzosen gewaltig übertönte.

»Zur Jagd! zur Jagd! Kein Tier darf lebend davonkommen.«

Monsieur Renard wandte lächelnd den Blick. Als echter Sohn seines Landes hatte er für das Großartige, Fremde dieser Moorlandschaft, dieser todesstillen Einöde kein Verständnis, er brauchte Lärm und wechselnde Bilder, um der inneren Langeweile zu entgehen; eine Jagd war dazu gerade das rechte Mittel.

»Drauf, meine Kinder!«, rief er. »Holt sie! Holt sie!«

Der Emdener Ratsschreiber auf seinem harten Sitz ballte verstohlen die Faust. »Schandbuben!«, dachte er. »Raubgesindel! Da wird alles abgeschlachtet, was gut schmeckt! O die armen Tiere! – Unser schönes Rotwild!«

Aber laut durfte er nichts sagen; die Franzosen verfolgten mit Ungestüm, ohne alle Rücksicht auf die Gesetze der Jagd das fliehende Wild. In weniger als einer Viertelstunde hatten ihre Büchsenkugeln die schutzlosen Hirsche und Kälber ereilt; durcheinanderschwatzend und lachend weideten sie dieselben aus, schnitten das Fleisch ab und beluden sich jeder mit dem, was er schleppen konnte. Breite Blutlachen bezeichneten die Stelle, an der noch vor einer Stunde das Wild so ruhig lagerte.

»Heda!«, rief der Offizier zu dem Insassen des Gepäckwagen hinüber. »Kommt denn nicht bald ein Dorf, Herr? – Man möchte essen.«

Der Ratsschreiber lächelte verstohlen. »Das Dorf kommt«, antwortete er, »aber ob sich große Vorräte finden werden, das ist eine andere Frage.«

Ein misstrauischer Blick traf sein Gesicht, dann ritt der Offizier schweigend weiter, bis sich nach und nach in einiger Entfernung ein dichter, dem Boden entströmender Rauch bemerkbar machte, ein Etwas, das den Atem beklemmte und Tränen in die Augen trieb.

Monsieur Renard schnupperte. »Was ist denn nun das?«, rief er. »Nirgends ein Haus und doch eine Feuersbrunst. Sapristi, wie das beißt!«

Sämtliche Soldaten niesten und husteten. Der Qualm wurde immer ärger, bald sah man im dichten Rauche auch die Flammen und zwischen ihnen schwarze Gestalten, die mehr Kobolden oder bösen Geistern als Menschen von Fleisch und Blut glichen. Jeder dieser Leute hielt in den Händen eine langstielige eiserne Pfanne, mit der er kräftigen Schwunges die Feuerbrände nach allen Richtungen auf den Acker verteilte.

Hände, Gesicht und Anzug geschwärzt, den Bart versengt und das Zeug zerlumpt, so erschienen die Moorbrenner vor den Franzosen, ohne von ihnen sonderlich Notiz zunehmen. Die armen Leute bearbeiteten mühsam den unfruchtbaren Boden, um da, wo die Flamme das Gestrüpp zerstört hatte, im nächsten Jahre Buchweizen säen zu können, sie schleuderten die Brände stumpfsinnig nach allen Seiten und schienen von dem fürchterlichen Rauche in keiner Weise belästigt zu werden.

»Vorwärts! Vorwärts!«, kommandierte Monsieur Renard. »Das ist nicht auszuhalten; ich will lieber vor dem Feinde stehen als hier. Sie da, Schreiber, wo bleibt denn schließlich das Dorf, he?«

Der Emdener deutete mit erhobenem Arme nach links. »Da sehen Sie schon die Häuser, Herr Leutnant.«

Monsieur Renard zog die Lorgnette hervor. »Das da?«, rief er. »Beim Himmel, es ist eine Kolonie von Zwergen, die dort hausen muss. Lauter Hundehütten!«

Doch dann sagte er: »Einerlei, einerlei – wo Menschen leben, da gibt es frisches Wasser, Eier, Butter, Gemüse, das Fleisch bringen wir ja schon mit.«

Der Ratsschreiber lächelte wieder, aber er sprach kein Wort.

Eine Gruppe von Hütten, regellos auf das Moor gestreut, trat allmählich immer klarer hervor. Aus Lehm erbaut, mit einem Binsendach versehen, glichen diese Wohnungen den Scheunen und Ställen, welche man heute noch bei besonders armen Landbewohnern trifft. Zwei kleine Fenster hingen windschief in der zerbröckelnden Wand, die Sparren standen zum Dache heraus, die Tür war niedrig und der Schornstein fehlte ganz. In einem Anbau, der unmittelbar an das einzige Gemach der trostlosen, mit grauer Erdfarbe überzogenen Behausung stieß, in einem lichtlosen schmutzigen Winkel grunzte ein Schwein, während einige zerzauste Schafe auf dem umgebenden Moor die wenigen dürren Halme suchten.

Von Menschen war nichts zu sehen, selbst die Kinder, sonst überall zahlreich vertreten, schienen hier zu fehlen.

Monsieur Renard ließ seine Leute halten, er wischte sich mit dem Taschentuche den Staub aus der Stirn.

»Sucht einen Brunnen!«, rief er ärgerlich.

Der Ratsschreiber kletterte von seinem unbequemen Sitz, um sich wenigstens einen Augenblick zu strecken. »Herr Offizier«, sagte er, »Brunnen gibt es hier überhaupt nicht.«

Der Offizier sah ihn groß an. »Mein Gott«, rief er ganz fassungslos, »was trinken denn die Leute?«

Der Schreiber deutete auf eine Tonne, die vor dem nächsten Hause in den Boden gegraben war. »Regenwasser!«, antwortete er. »Da ist die Zisterne.«

Ein hölzerner Eimer hing an der Kette vom Querbalken herab, und einer der Soldaten ließ ihn fallen, um einen Trunk zu schöpfen, aber als das wenige Nass seinen Blicken begegnete, wich er schaudernd zurück. »Das ist doch kein Wasser!«, rief er.

Die Flüssigkeit war braun wie der Erdboden, undurchsichtig und mit allerlei kleinen treibenden Splittern und Halmen vermischt. Es schien unmöglich, diese dicke Suppe zu genießen.

»Pfui!«, rief der Franzose. »Sucht in den Häusern nach Bier oder Milch, Leute!«

Die Franzosen öffneten sogleich alle Türen und durchforschten jede dieser elenden Hütten, während der Ratsschreiber den Offizieren alle mögliche Auskunft geben musste.

Nur einige kranke Personen oder kleinere Kinder wurden angetroffen. Der Fußboden in den Wohnungen bestand aus festgestampftem Lehm, die Möbel aus einem großen Strohlager, einem rohen hölzernen Tische und einigen Stühlen nebst Küchengerät. Keine Vorhänge verhüllten die Fenster, keine Blume blühte, kein Vogel sang – es waren Stätten der äußersten trostlosesten Armut

»Was essen die Leute?«, rief der Franzose. »Was treiben sie? Mein Gott, das ist eine Stätte der Verdammnis!«

Der Ratsschreiber nickte. »Viel Besseres wirklich nicht«, gestand er seufzend. »Hier wohnt das ärmste Volk unseres Landes, häufig Gesindel, das schon mit dem Zuchthaus Bekanntschaft machte, verlaufene Strolche aller Art. Andere als nur solche würden aber in einem Moordorfe nicht leben wollen, weil doch der Aufenthalt zu unerträglich ist. Die Leute haben ihren Buchweizen und ihr Schwein – missrät der Erstere und stirbt das Letztere, so sieht die Hungersnot zur Tür hinein.«

Monsieur Renard schüttelte sich. Er ließ die Soldaten wieder antreten und tröstete sie im Hinblick auf das Fehndorf, welches ja bald erreicht sein werde. »Wo doch nur die Bewohner sind?«, sagte er kopfschüttelnd. »Es ist alles wie ausgestorben.«

»Die Männer haben Sie beim Moorbrennen gesehen«, antwortete der Schreiber, »die Frauen handeln in den Städten mit Besen; ihre kleinen Kinder tragen sie dabei im Tuche, die größeren müssen nebenherlaufen.«

»Brr! – Ein schreckliches Land, dieser nordwestliche Winkel Germaniens, von dem schon Plinius sagt: Die Bewohner sitzen auf feuchten Erdklumpen und haben nichts zu trinken! – Vorwärts, vorwärts, einmal muss ja das grauenhafte Moor ein Ende nehmen!«

Der Marsch begann aufs Neue; die durstigen ermüdeten Soldaten murrten laut, und die Sonne schien brennend heiß vom Himmel herab. Buchweizenfelder lagen zur Seite des Weges, andere ebenso trostlose Moorhütten – dann kam endlich der Augenblick, wo Monsieur Renard durch seine Lorgnette vor sich einen etwas erhöhten Gegenstand sah.

»Sie, Herr, was ist das da? Man könnte es wahrhaftig für eine Mastspitze halten!«

»Und hätte damit das richtige getroffen, Herr Leutnant. Es ist wirklich eine solche.«

»Was?«

»Es ist eine solche, sage ich.«

Über dem braunen Erdboden erschienen kleine bunte Fähnchen, wie Kinderspielzeug in Reihe und Glied aufgestellt, noch mehr Mastspitzen, endlich rote Ziegeldächer, helle silberne Rauchwölkchen, die sich lustig zum Himmel erhoben. Mit jedem Schritt über das öde Moor erweiterte sich das Panorama da unten, ein Dorf kam zum Vorschein, Fruchtbäume, Gärten, saubere Straßen, Schiffe und endlich ein Kanal.

Mitten im dürren wüsten Moor, meilenweit von der See, von der Ems entfernt, tief im Herzen des Binnenlandes Schiffe! Das war ein unerwarteter Anblick.

»Dort wird es wenigstens Lebensmittel geben!«, rief Monsieur Renard.

Der Ratsschreiber sah unruhig hinab auf das kleine blühende Gemeinwesen zu seinen Füßen. Ob die arglosen Fehnbauern ohne Plünderung davonkommen würden?

Die Soldaten begannen schon zu singen. Da unten harrte ihrer eine reiche Beute.

Zwischen Obstbäumen lagen Kirche und Schule, dörfliche Läden zeigten ihre bescheidenen Warenvorräte, und aus allen Enden und Winkeln strömte das kleine Völkchen herbei, um die fremden Ankömmlinge zu bewundern.

Hinter den Scheiben erschienen bleiche Gesichter; der Vogt eilte den gefürchteten Gästen entgegen, um zu hören, weshalb sie kämen – das ganze Dorf versammelte sich auf der einzigen, den Kanal begrenzenden Straße.

Vor jeder Haustür lag ein Fahrzeug, bald ein größeres Schiff, bald ein Langboot, das nur den kostbaren Schlick des Emswatts hierher brachte auf das unfruchtbare Moor, Torfkähne aller Art, selbst größere Schaluppen, die den Brennstoff einnahmen, um ihn den Städten zuzuführen und dafür Waren oder – Dünger nach Hause zu bringen.

Alles glänzte in tadelloser Sauberkeit, im Schmucke bunter Blumen und Wimpel. Alles zeigte auf den ersten Blick jenen behäbigen Wohlstand, der genügende äußere Mittel besitzt, um über die nackte Plage des Daseins hinaus seine Umgebung hübsch und bequem einzurichten.

Monsieur Renard strich sich den Bart. Er ließ den Vogt kommen und seine Leute in Reih und Glied aufziehen, dann erfolgte eine Proklamation des Präfekten Jeannesson, übersetzt vom Ratsschreiber und mit dem furchtbarsten Erschrecken von den Einwohnern vernommen. Die armen Leute glaubten ihren Augen, ihren Ohren nicht trauen zu dürfen.

Auf Norderney sollten Schanzen gegen die Engländer erbaut werden und dazu brauchte Seine Majestät der Kaiser sowohl Mannschaften als Schiffe. Kapitän d’Ortalan und Leutnant Renard waren beauftragt, beides herbeizuschaffen; sie zogen von einer Fehnkolonie zur andern, um sämtliche Fahrzeuge mit ihrer Bemannung nach Norddeich zu bringen. Die nötige Erde konnte hier genommen werden und dann der Bau vonstatten gehen.

Als die Hiobspost verlesen war, ließ der Kapitän seine Leute bei den Bauern einquartieren, und nun begann ein allgemeines Gelage, in dessen Verlauf die Leute hergeben mussten, was Küche und Keller enthielten. Während gänzliche Verarmung, der Ruin alles Bestehenden durch den auf sämtliche Fahrzeuge gelegten Beschlag unausbleiblich schienen, mussten die hartbetroffenen Menschen noch ihre Vorratskammern öffnen und das Beste, was sich darin vorfand, preisgeben – die französische Willkür trat eben damals zur Befriedigung ihrer Wünsche, ihrer üppigen Genusssucht ganz Deutschland rücksichtslos mit Füßen.

Kapitän d’Ortalan und Leutnant Renard begaben sich in das Haus des Predigers, um jedenfalls für sich das bequemste Plätzchen zu erhaschen, aber sie wurden von dem geistlichen Herrn sehr kühl empfangen, nicht in das Familienzimmer geführt und keiner Unterhaltung gewürdigt; man gab Lebensmittel und Wohnung, aber das war alles.

Bald erschienen auch mehrere Kapitäne und Schiffer, um gegen die angeordnete Maßregel Einspruch zu erheben; sie zeigten ihre Papiere, nach denen eingegangene Verpflichtungen zu erfüllen waren, sie baten und flehten, aber ganz umsonst, schon am nächsten Tage sollten sämtliche Fahrzeuge, Schiffe und Kähne nach Norddeich unter Segel gehen.

Wie ein Blitzstrahl hatte die Gewaltmaßregel die Kolonie betroffen. In allen Häusern flossen bittere Tränen, rangen Männer und Frauen dem hereinbrechenden Verhängnis gegenüber die Hände. Mit den Schiffen schwand auch die Möglichkeit der Arbeit, der ehrlichen bürgerlichen Existenz.

Die Soldaten sangen und jubilierten. Sie hatten die Hirschkeulen gebraten, das junge Gemüse aus den Gärten geraubt, die Früchte von den Sträuchern, Bier und Wein aus den Kellern; sie ließen sich’s wohl sein, indes ihre unwilligen Wirte voll bitterer Angst die Hände zum Himmel erhoben.

Kapitän d’Ortalan runzelte die Stirn. »Mir scheint, dass man den Befehlen Seiner Majestät sehr unwillig nachkommt«, sagte er in scharfem Tone. »Das Volk hegt rebellische Gedanken – wäre es nicht gut, ein Exempel zu statuieren?«

»Sicherlich!«, nickte Monsieur Renard. »Je fester wir die Zügel erfassen, desto leichter wird unsere Aufgabe.«

Das Dienstmädchen des Predigers erhielt den Befehl, schleunigst den Vogt herbeizuschaffen, und als der Geängstigte kam, da fuhr ihn Kapitän d’Ortalan sogleich grob an, sprach von schärferen Maßregeln und strenger Handhabung der Gesetze, dann erwähnte er, dass in der Familie Seiner Majestät des Kaisers heute ein Geburtstag gefeiert werde. »Es bedarf zur Verherrlichung des Tages einer Illumination«, schloss er seine Rede, »bei Beginn des abendlichen Dunkels sollen vor jeder Fensterscheibe zwei Lichter brennen, außerdem gebe ich den Soldaten einen Ball, wozu das Dorf die nötigen Musiker sowie Getränke und Speisen zu liefern hat. Alle Frauen und Mädchen müssen in ihren Sonntagskleidern erscheinen.«

Der Vogt wurde blass. »Wenn sie nun aber nicht tanzen wollen!«, rief er voll heimlicher Furcht.

Ein boshaftes Lächeln kräuselte die Lippen des Franzosen. »Dann gebe ich meinen Leuten die Erlaubnis, sich ihre Damen selbst einzuladen«, versetzte er.

Und der Vogt schwieg. Es half nichts, sich den Gewalthabern entgegenzustemmen, selbst wenn die heiligsten Rechte bedroht waren.

Von Tür zu Tür huschte die schlimme Botschaft, von einem erschreckten Menschenherzen zum andern; als der Abend herabsank, glühten langsam, einzeln, die befohlenen Flämmchen in den Fenstern auf und warfen spielende rosige Lichter hinüber zum Kanal, in dessen Fluten es wie helle Sterne zu glänzen schien. Haus nach Haus in langer Reihe schmückte sich mit den glitzernden Lichtern, – blassen Antlitzes schlichen die Dorfmusikanten mit Fiedelbogen und Klarinette zum Tanzsaal.

Gedrängt an den Wänden, ängstlich blickend und stumm saßen Frauen und Mädchen. Von den Männern des Dorfes hatte kein Einziger den Tanzplatz betreten, aber alle standen im Hofe des Wirtshauses und in aller Herzen lebte ein trotziger, verwegener Entschluss. Wenn da drinnen eine Ungebühr geschah, sollten die Franzosen an diesem Abend erfahren, wie ihnen im Grunde die Deutschen gesinnt waren.

Es kam nichts Dergleichen. Die lebensfrohen Soldaten dachten nur an das Vergnügen, obwohl dasselbe sonderbar genug ausfiel. Stumm reichte der Wirt das verlangte Getränk, stumm erhob sich die Tänzerin, wenn der Kavalier mit zierlicher Verbeugung nahte – es lag ein Grabesschweigen auf dem ganzen Feste.

Der Fiedelbogen glitt über die Saiten, bleiche ernste Männergesichter sahen in die Fenster hinein und im Kanal spiegelten sich die Hunderte von Lichtern der anbefohlenen Illumination.

Es betete während dieser Stunden wohl unbewusst jegliches Herz; nur ein einziger, aber ein glühender, leidenschaftlicher Wunsch lebte in den Herzen aller: Möchte Deutschland frei werden, möchte es das verhasste Joch des Todfeindes, des dreisten, unleidlichen, doch endlich – endlich abschütteln können.

Am folgenden Tage gingen alle Schiffe und Kähne der ganzen Kolonie ab nach Norddeich, wo es natürlich damals noch keine von dem flacheren Strande bis zum Fahrwasser hinabführende Brücke gab, sondern wo die Erde zu Wagen an den Deich und mit dem Boote an das Schiff befördert werden musste.

Sämtliche Bauern und Seeleute waren zu den erforderlichen Arbeiten einfach gepresst worden; die Franzosen hatten es mit ihrem Schanzenbau sehr eilig, sie konnten nicht warten; denn in der Nähe von Norderney lagen wieder zwei neue englische Kauffahrteischiffe voll verbotener Waren, und der Schleichhandel gewann immer größeren Umfang.

Es hatte während der letzteren Nächte sogar kleine Scharmützel gegeben; dennoch aber entkamen die Schmuggler, und nun sollte ihnen der Garaus gemacht werden. Was sich zwischen der Insel und dem ostfriesischen Festlande zeigte, das bohrten die Kanonen in den Grund, gleichviel, wen ihre Kugeln trafen.

Ganz Norderney war in Aufruhr, alle Männer ballten die Fäuste. Lahmgelegt der ehrliche Erwerb, ausgebeutet und ausgeplündert das arme Land, nun auch noch das Letzte, der Fischfang unmöglich gemacht – was sollte endlich daraus werden?

Es gab nichts Gewinnbringendes mehr als nur den Schleichhandel. In Hamburg wurde sogar Marschall Neys Equipage tagtäglich zum Transport eingeschmuggelter Waren benutzt; das hatte jemand in Norderney erzählt und damit dem herrschenden Schmuggel neue Sympathien zugeführt. Die Schiffer verbündeten sich mit den Arbeitern am Lande – jede Karre erhielt einen doppelten Boden und jede Fuhre, welche die Franzosen umsonst verlangten, brachte den gemaßregelten Leuten einen guten Verdienst ins Haus.

Der Kaffee kostete eine Steuer von zwei Frank das Pfund, da verlohnte es sich schon der Mühe, auch die kleinsten Mengen einzuschwärzen.

Alle Schaluppen waren für den Schanzenbau in Dienst gestellt, aber an jedem vierten Tage durften die Fischer mit ihren Netzen auf die See hinausfahren, um den nötigen Bedarf für sich und ihre Familien einzufangen oder in Emden und Leer zu verkaufen, wobei dann ein französisches Kanonenboot jede Bewegung überwachte und bei dem geringsten auftauchenden Verdachte seine Soldaten an Bord der Schaluppe schickte, um dort nach versteckten Waren zu fahnden.

In vielen Häusern zeigte schon jetzt der Hunger sein Schreckensantlitz. Frau Douwe Visser seufzte, wenn sie an den Winter dachte. Sonst konnte man nach beendetem Sommerfang hinübergehen in die Städte und reichlich einkaufen, Kisten und Kasten waren schwer – aber wie würde es in diesem Unglücksjahre werden?

Dunkle stürmische Nächte folgten auf Tage voll Regen und kalter unruhiger Luft. Das Viereck für den Schanzenbau war abgesteckt und die Arbeit begann. Jede Fischerschaluppe hatte ihre Nummer, nach der Fahrzeug und Besitzer in Dienst gestellt oder auf einen Tag und eine Nacht entlassen wurden – die Franzosen gingen dabei nach dem Alphabet, sodass Klaus Visser und Heye Wessel immer miteinander frei waren, weil eben V und W zwei zusammenstehende Nummern ergaben.

Die beiden Wattführer brauchten, da sie keine Schiffe besaßen, nur bestimmte Tagesstunden hindurch zu arbeiten, ihre Nächte blieben unbewacht.


Es war an einem stürmischen rauen Abend, als auf dem unruhig tobenden Wattenmeer an verschiedenen Stellen Lichter aufblitzten. Die beiden englischen Kauffahrer, bewaffnet und begleitet von einem Kanonenboot, kreuzten zwischen der Insel und dem Lande, während in ziemlicher Entfernung ein französisches Kanonenboot Wache hielt. Der erste Versuch, sich den Söhnen Albions etwas mehr zu nähern, war mit einer dem Schiffe durch die Takelage fahrenden Kugel beantwortet worden, man zog sich daher zurück im Bewusstsein, dass ja die Schanzen demnächst bewaffnet werden und das ganze Gebiet beherrschen würden, aber man beobachtete doch den Feind, und auf beiden Seiten schlugen die Herzen voll todesverachtender Kampflust.

Die drei stattlichen Engländer lagen dicht nebeneinander, ihre Laternen waren weithin sichtbar, ihre Kanonen immer bereit, das vernichtende Feuer den Franzosen auf die Köpfe zu speien. Unter dem Bug des einen der Kauffahrer glänzte verstohlener Schimmer und warf spielende Silberstreifen auf die tobenden Fluten, auf das Bild einer weißen flügelschlagenden Taube an der Galion einer Schaluppe.

An Deck stand der Kapitän und verstaute Kiste nach Kiste, wie sie ihm die englischen Matrosen aus dem weitbauchigen Innern des Schiffes zureichten. Der Kaffee konnte nur so, aber nicht in Säcken transportiert werden, da bei einer etwaigen Flucht oder Verfolgung von vornherein mit Durchnässung gerechnet werden musste.

Jetzt war die Schaluppe beladen, Lars Meinders und Onnen setzten die Segel, der Kapitän nahm den Platz am Steuer und nun hörte man den Schrei eines Regenpfeifers zwei- bis dreimal rasch hintereinander.

Aus einiger Entfernung erklang das gleiche Zeichen, dann wurde die Schaluppe von dem Dreimaster gelöst und vor den Wind gebracht; der Kapitän sah unverwandt durch ein Nachtfernrohr in die Gegend des französischen Kanonenbootes hinaus.

Zwischen diesem und der »Taube«, ziemlich weit von Letzterer entfernt, segelte eine zweite Schaluppe, hochbeladen mit Kisten wie die Erstere, dem gleichen Ziele, der Landungstreppe von Norddeich, entgegen. Wer sie genauer beobachtete, der musste unwillkürlich glauben, dass dies Fahrzeug den Franzosen besser hätte aus dem Wege gehen können – es streifte fast den Lichtschein der »Hortense« und wurde von dort aus sogleich bemerkt.

»Ein Schmuggler!«, raunte Chatellier.

Der Unteroffizier schüttelte schwermütig den Kopf. »Vielleicht der fliegende Holländer«, sagte er, »oder sonst ein Spuk. Seit jener Geschichte mit dem erschossenen Knaben verfolgt mich das Unglück auf allen Wegen.«

Mehrere andere Soldaten kamen hinzu. »Es ist eine wirkliche und wahrhaftige Schaluppe«, riefen sie, »man muss die Verfolgung aufnehmen.«

Der kommandierende Leutnant erhielt eine Meldung, die »Hortense« wurde gewendet und machte nun Jagd auf das langsam dahingleitende Fahrzeug. Fast im selben Augenblick schoss am Mast desselben das große Segel herauf, und wie eine Möwe flog der schlanke Bau vor dem Kanonenboot her durch die hochgehenden Wogen.

In den Augen des Unteroffiziers blitzte es auf. »Ein Schmuggler! Es ist einer, so wahr ich lebe! Vorwärts, Kinder, wir müssen ihn fangen!«

Alle Segel wurden beigesetzt, aber das kleinere Fahrzeug blieb dennoch bedeutend im Vorteil, da es sich schneller und gewandter zu bewegen vermochte. Sein Ziel war die Landungsstelle von Norddeich, das erkannte man auf dem Kanonenboot sofort.

»Keinen Schuss!«, gebot der kommandierende Offizier. »Wir haben ihn!«

»Aber wenn draußen ein Engländer läge?«

»Dann würden wir es wissen. Der Bursche hat uns für weniger wachsam gehalten – jedenfalls ist in der Schaluppe eine Ladung englischer Waren.«

»Also gute Prise! Sollen wir ihm nicht einen Gruß hinübersenden?«

»Nein! Nein! Wohin will er entkommen? – Da wird ein Exempel statuiert, der Schiffer verliert bei dieser Geschichte den letzten Heller.«

Und der Franzose rieb sich zufrieden die Hände. Wie viele Verweise waren nicht schon von oben herab erteilt worden, wie viele ungnädige Bemerkungen gefallen. Noch niemals hatte man der Schmuggler habhaft werden können!

Und jetzt liefen sie der »Hortense« so plötzlich, so besonders glücklich in den Weg.

»Nur immer kaltes Blut! Es ist besser, wir bringen Schiff und Ladung unbeschädigt nach Emden, als dass wieder so ein paar Esel dabei sterben und die Bevölkerung immer mehr gegen uns aufgehetzt wird.«

Er ging mit stolzen Schritten über das Verdeck. Wie angenehm, morgen Früh gehorsamst melden zu können: »Hier habe ich die Schleichhändler abgefasst!«

Einem weißen Vogel gleich schwebte die Schaluppe, mit den Wellen stürzend und fallend, über das Meer. Am Steuer stand Heye Wessel und lächelte sonderbar, ganz sonderbar – der siegessichere französische Leutnant würde mit einigem Befremden dies stillvergnügte, vor Behagen glänzende Antlitz betrachtet haben.

Weit hinter dem Kanonenboot, ganz im Dunkel, ganz auf der Seite lief geräuschlos die »Taube« durch das Wasser. Der Wind heulte und die Wogen sprühten hoch über Deck – auf den drei englischen Schiffen war jedes Licht erloschen.

Die Fahrt nach Norddeich ist nicht lang; bei günstigem Winde genügen drei Stunden. Mehr als einmal während dieser Zeit hatte der französische Leutnant die Schaluppe angerufen, aber niemals eine Antwort erhalten – sie flog voraus unter dem Druck aller Segel, unaufhaltsam, als könne nur die größte Eile sie retten.

Immer ärger polterte der Wind, immer tiefer senkte sich die Finsternis herab auf Wasser und Land. Es regnete, ein Haufen schwarzer Wetterwolken stand am Himmel – nur unter Aufbietung seiner ganzen Sehkraft vermochte es der Leutnant, das weiße Segel im Auge zu behalten.

Der Schmuggler hoffte höchstwahrscheinlich, in der Nähe der Küste das flachere Fahrwasser zu erreichen und dadurch den Weg des tiefer gehenden Kanonenbootes abzuschneiden. Mochte er doch! Eine Menge von Schaluppen lagen in der Nähe; es ließ sich leicht genug auf Booten die Jagd fortsetzen.

Immer weiter, immer weiter. Diese Nacht musste eine glückliche genannt werden.

Vorsichtig, im Bogen umfuhr die »Taube« das Kanonenboot und die Schaluppe, mit weißen Flügeln an Norddeich vorüberstreifend, weiter hinaus, bis wohin der Lichtschein von der Landungsstelle nicht mehr reichte. Da schaukelten mehrere Boote, und dunkle Gestalten harrten zusammengekauert der Dinge, die da kommen würden.

Als die »Taube« nahte, verschlang das Brausen der Wellen den dumpfen Laut, welchen der herabfallende Anker verursachte. Die tanzenden Boote schwammen heran, immer mehr Männer tauchten auf aus der Finsternis, Kiste nach Kiste glitt herab, wie Eidechsen kletterten die Seeleute an der Böschung des Deiches empor und nach einer halben Stunde war das Schiff vollständig ausgeräumt.

»Rasch«, ermahnte der Kapitän, »wir müssen nach Norderney zurück, ehe die Flut weicht. In vier Tagen sind wir wieder hier.«

»So Gott will!«, antwortete einer der Männer.

»Wird’s schon wollen, Freund. Hat ja bisher immer noch geholfen. Adjes!«

»Adjes, Visser – grüße den Heye Wessel!«

Sie lachten beide, und unbemerkt, wie es gekommen war, schlüpfte das schlanke Fahrzeug, jetzt, wo der Ballast fehlte, mit ausgevierten Seitenschwertern wieder hinaus in das undurchdringliche Dunkel.

Vor Norddeich war unterdessen die erste Schaluppe, der »Kampfhahn«, beim Landungsplatze angelangt, verfolgt von dem Kanonenboot, dessen Kommandeur sogleich die erforderlichen Maßregeln anordnete. Eine Kette von Booten, alle mit französischen Soldaten bemannt, umstellte das Schmugglerfahrzeug, während die »Hortense« demselben ihre eine Breitseite zugekehrt hielt und so jede Flucht zur Unmöglichkeit machte.

Heye Wessel lachte immer noch wohlgefällig in sich hinein. Der Riese nickte sogar, als er aus seiner Flasche eine Herzstärkung zu sich nahm, ganz vertraulich nach der Richtung des Kanonenbootes hinüber. »Prosit, Franzmann, wohl bekomm’s!«

Als der Morgen anbrach, schickte der Leutnant einen Boten nach Norden, von wo bald darauf mehrere Offiziere und der Unterpräfekt zu Wagen ankamen. Jetzt lagen die Kisten an Bord des »Kampfhahn« offen im Sonnenschein und alle Franzosen rieben sich die Hände. Schiff und Ladung verfielen der Beschlagnahme.

Mehrere Wagen waren zur Stelle, eine Abteilung Soldaten hielt mit aufgepflanztem Gewehr das Schmugglerschiff besetzt und vorsichtig wurden die Kisten in bereitgehaltene Boote herabgelassen. Fünfundzwanzig an der Zahl – ein hübscher Fang!

Heye Wessel und Uve Mensinga befanden sich mit geschlossenen Händen an Bord des Kanonenbootes; jetzt begann, von dem Unterpräfekten geführt, ein genaues, peinliches Verhör.

»Das Schiff ist Ihr Eigentum, nicht wahr?«

»Ja«, nickte der Riese.

»Weshalb hielten Sie nicht an, als man Ihnen vom Bord des Kanonenbootes zurief? Sie hofften zu entkommen, nicht wahr?«

»Allerdings«, gestand sehr zerknirscht der arme Sünder.

»Weil Sie sich der Übertretung bewusst waren? Weil Sie die Strafe fürchteten?«

»Ja! Ach Gott, ja!«

»Nun, das ist immerhin ein ehrliches Geständnis. An welchen Ort gedachten Sie den Inhalt dieser Kisten ursprünglich zu bringen?«

Heye Wessel seufzte. »Ja, du lieber Gott!«, zögerte er.

»Heraus damit! Schnell!«

»Na, wenn es denn durchaus sein muss – ich wollte ihn in Norden verkaufen!«

»Natürlich. Und Sie dachten unbemerkt im Schutze der Dunkelheit an Land zu kommen, nicht wahr?«

»Ja, eben.«

Der Protokollführer schrieb, dass es knisterte, der Leutnant ging stolz wie ein Spanier in der Kajüte auf und ab.

»So, das wäre alles«, meinte der Unterpräfekt, »Sie müssen jetzt das Blatt unterzeichnen, Schiffer Wessel. Aber halt, noch eins! Was befindet sich in den Kisten?«

Jetzt sah Heye Wessel von einem zum andern; sein Gesicht war harmlos wie das eines Kindes. »Was darin ist?«, wiederholte er. »Ja, wissen es denn die Herren noch nicht? Sand natürlich, sauberer weißer Sand von den Dünen. Die in Norden kaufen ihn zum Putzen und –«

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Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Publication Date: 03-20-2013
ISBN: 978-3-7309-1568-4

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