Cover

Vorwort

 

 

 

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten!
Nachdruck, auch auszugsweise nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

______________________________________________

 

 

 

 

 

  

 

 

 

 

Do you believe in life after love?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

_________________________♥_____________________________

Prolog

 

 

Seine Lippen formen meinen Namen, doch ich höre nichts.

Das Blut in meinen Ohren rauscht nur so. Wie gebannt starre ich auf diese geschwungenen Lippen. Mein Atem geht stoßweise. Es ist dunkel um uns, doch der dunkle Rosaton, der seine Lippen ziert, ist alles, was meinen Blick im Moment fesselt.

Nach ein paar Sekunden beruhigt sich mein Atem und ich hebe den Blick. Wieder blicke ich in diese Augen, die mir schon im ersten Moment den Atem genommen haben.

Aber von welchem ersten Moment kann hier die Rede sein? Den, der irgendwo tief in meinen Erinnerungen verborgen ist oder den, den ich mit ihm erlebt habe? Nach meinem…

„Silver“, raunt er fast schon beschwörend und eine Gänsehaut zieht sich durch meinen Körper. Seine Stimme klingt heiser und doch so sexy.

Nein, nein, nein!, ermannt mich mein Verstand. Dieses Mal musst du deinen Verstand nutzen, lasse ihn nicht wieder so einfach davon kommen!

Ich blicke ihn fragend und auch abwartend an. Sein Blick ist so schleierhaft.

„Es tut mir Leid… Das hätte nicht passieren dürfen. Ich… Wir müssen endlich einen Schlußstrich ziehen.“

„Nein!“, krächze ich verzweifelt hervor und umklammere seine Arme.

„Nicht... nicht noch einmal... Du kannst mir das nicht antun!“

Wieso fällt es dir so leicht mir weh zu tun?

Meine Stimme bricht plötzlich völlig ab und endet in einem abgehackten Schluchzen. Kraftlos lösen sich meine Hände von seinen Armen und ich lege sie stattdessen auf seine Brust.

„Silver…“, höre ich ihn mit einem leicht verzweifelten Ton murmeln.

Geschlagen senke ich meinen Kopf an seine warme Brust und atme seinen Duft ein. Es ist wie eine Sucht.

„Ich…“ Plötzlich werde ich von zwei Händen gepackt und ganz nach hinten an die Wand gedrückt. Vor Schreck keuche ich nach Luft, doch im nächsten Moment pressen sich harte Lippen auf meinen. Fast brutal öffnet er mit diesen meinen Mund und lässt seine Zunge forschend hinein gleiten.

Ich brauche nicht lange bis ich kapituliere und diesen heißen, innigen Kuss erwidere. Als er seine Hüfte gegen meine presst und ich seine Härte spüre, stöhne ich leise auf. Es ist schon fast wie eine Erlösung.

Hektisch greife ich nach seinen Haaren und ziehe mit der anderen Hand seinen Nacken näher zu mir, um mehr von ihm zu spüren. Er gibt mir sofort mehr, indem er mit seiner Zunge Dinge mit mir anstellt, die mich schon im Schlaf verfolgen. Seine Hände, die an meinen Seiten auf und ab gleiten, machen mich wahnsinnig.

Er macht mich wahnsinnig.

Plötzlich bricht er den Kuss ab und fast hätte ich vor Verzweiflung gewimmert, doch stattdessen erwidere ich den intensiven Blick, den er mir jetzt gibt. Wir beide atmen wie zwei kaputte Dampfmaschinen, doch abgesehen davon herrscht um uns eine gespenstische Stille. Es gibt nur ihn und mich.

„Ich kann dir nicht sagen, was ich genau bin, aber eins kann ich dir versichern: Ich bin nicht gut genug für dich. Das war ich nie und werde es auch nie sein.“

Vorsichtig löst er seine warmen Hände von mir und bald darauf seinen ganzen Körper. Wie ein Blitz schlägt die plötzliche Kälte zwischen uns ein. Ich stehe nur gelähmt da und sehe ihm nach, wie er sich umdreht und ihn die Dunkelheit verschluckt.

Sein letzter Blick auf mir brennt förmlich in meinem Kopf. Es raubt mir den Atem.

Er war kalt, entschlossen und angsteinflößend zugleich. Doch ich sah auch, was sich hinter all dem verbarg.

Nämlich Liebe.

Kapitel 1

 

Es tropft und tropft. Plupp, Plupp, Plupp…

Gedankenverloren verfolge ich die einzelnen fallenden Tropfen und kann gar nicht damit aufhören.

Dieser Infusionsschlauch steckt schon seit Wochen in meinem Arm und meiner Nase. Ich bekomme das Gefühl nicht los, dass sie nicht nur Flüssigkeit in und aus mir fließen lassen. Es ist nicht nur die Flüssigkeit. Mit jedem weiteren Tropfen, den ich verliere, verliere ich auch ein Stück meiner selbst. Meiner Persönlichkeit.

Und ich kann es nicht kontrollieren. Genau wie den Unfall, den ich hatte: 

Fest entschlossen den brennenden Flammen, die alles verschlangen, was ihnen in die Quere kam, sprang ich vom 3. Stock eines Hotels. Ich landete auf  einem aufgespannten Schirm des Eiscafes, welches im Erdgeschoss des Hotels lag. Doch durch die Höhe und der resultierenden Beschleunigung prallte meine Körper vom Schirm weg und ich landete auf dem Dach eines Autos.

Doch all das weiß ich nicht mehr. Nicht mal, was den Unfall angeht. Denn, wie es mir die Ärzte vor zwei Tagen erzählt haben, als ich zum ersten Mal wieder aufgewacht bin, habe ich einen Teil meines Gedächtnisses verloren. Das Erste, wovon sie mir berichten, ist der Unfall. Genau das, was mich am wenigsten interessiert, jedenfalls für diesen Moment.

Aber wie konnte ich auch etwas anderes von den Ärzten erwarten? Sie waren nur zuständig mir beim Genesen zu helfen. Dass es mir physisch gut gehen soll. Doch wie soll es mir gut gehen, wenn ich nicht mal weiß, wie es war, sich gut zu fühlen?

Meine Jugend wurde mir genommen.

Ich erinnere mich an nichts mehr, was in den letzten 5 Jahren passiert ist.

 

 

„Hey, Schatz.“ Eine Frau streichelt sanft meine Wange. Noch völlig erschöpft vom Medikament, das ich am Morgen eingeführt bekommen habe, drehe ich langsam meinen  Kopf zur Seite und schaue sie an. Sie ist - abgesehen von meinem Arzt - die erste Person, die ich ansehe. Die ich seit dem Unfall ansehe.

Ich weiß, dass sie meine Mutter ist. Nicht nur, weil sie sich so verhält, sondern ganz einfach, weil sie kaum gealtert ist in den letzten Jahren. Mein Gedächtnisverlust wirkt sich schon mal nicht auf die Fähigkeit aus meine eigene Mutter zu erkennen.

„Möchtest du Wasser?“ Sie schaut auf die weiße Kommode neben dem Krankenbett. Dort liegen Süßigkeiten, Blumen, kleine bunte Kärtchen und ein Handy. Wahrscheinlich meins. Ich habe es noch nicht angefasst. Um ehrlich zu sein, möchte ich es auch nicht. Noch nicht. Ich muss mich erstmal lebendig fühlen. Denn so wie ich starr mit lauter Schläuchen und Verbänden im Bett liege, fühle ich mich alles andere als lebendig.

Ich will hier weg.

Ohne meine  Antwort abzuwarten, schenkt sie Wasser in ein Glas ein und stellt es auf die Kommode. Draußen steht mein Arzt und redet mit einem gewöhnlichen - sprich mit keinem Arztkittel - gekleideten Mann.

Ab und zu sieht dieser Mann in das Zimmer, in dem ich liege. Die Glaswand, die uns trennt, ermöglicht mir einen guten Einblick in den kleinen Ausschnitt des Arbeitsleben hier im Krankenhaus. Ich erkenne, dass es mein Vater ist, der jedoch sichtlich gealtert ist, im Gegensatz zu meiner Mutter.

 

Mein Kopf meldet mir das Gefühl von Schmerzen. Kopfschmerzen. Krampfhaft und erschöpft schlafe ich nochmal ein.

Kapitel 2

 

 

 

„… denn das ist genau das, was du die letzten Jahre gemacht hast! Du hast uns immer nur bei solchen Momenten, wo wirklich eine Entscheidung verlangt wird, mit deiner Anwesenheit beehrt! Du kommst aus heiterem Himmel und platzt hier mit deiner verdammten Meinung herein! Nein, das lasse ich mir nicht von dir bieten!“  Die angespannte Stimme kommt von draußen. Das habe ich an der Lautstärke abschätzen können, während ich mir über die Augen reibe.

Ein kurzer Blick durch die Glaswand und ich sehe meine Eltern davor stehen und miteinander diskutieren. Ihre Gestiken sprechen für sich. Fuchtelnde Hände, angespannte Schultern und deren Gesichter, die sich in alle möglichen Richtungen drehen, nur kaum in die direkte Richtung des Anderen.

Warum streiten sie sich so heftig? Ist es etwa nur wegen mir? Und warum spricht meine Mutter so, als wäre mein Vater kein guter Ehemann? 

Es sind zu viele Fragen. Doch ich versuche sie zurück zu drängen. Das alles macht mich fertig.

Augenblicklich muss ich an den Tag zurückdenken, als ich zum ersten Mal aufgewacht bin.

 

 

Das Erste, was ich hörte, war das nervige Gepiepse einer Maschine. Ich wollte meine Augen öffnen, doch musste vorher etliche Male vorher blinzeln, da das Licht so grell war.

 

Mein Körper fühlte sich komplett taub an und mein Kopf dröhnte erbarmunglos. Neben mir vernahm ich eine Stimme, für die ich mühsam einen Moment brauchte bis ich erkannte, dass sie zu meiner Mutter gehörte. Sie klang verzweifelt, aber auch glücklich. Total widersprüchlich.

„Mum?“, schaffte ich es zu sagen. Meine Lippen fühlten sich schrecklich ausgetrocknet an und ich öffnete meine Augen jetzt ganz.

„Oh Gott, mein Schatz. Du bist endlich wach“, murmelte sie erleichtert und drückte meine rechte Hand. Ich wollte mich bewegen, doch fühlte mich unendlich schlapp. Als hätte ich einen schrecklichen Muskelkater.

Plötzlich hörte ich Schritte und das Bett, auf dem ich lag, hob sich maschinell an, sodass ich so direkt durch den Raum blicken konnte. 

Es war ein Krankenzimmer. Und was für eins. Noch nie hatte ich ein modernes Krankenzimmer gesehen. Auch nicht, als Cindys Oma im Krankenhaus lag und wir sie besucht hatten. Das hier glich schon fast einem banalen Schlafzimmer. Nur eben mit den ganzen Maschinen oben drauf.

„So, Frau Haygilton, ich muss Sie bitten draußen zu warten. Die ersten Stunden sind sehr wichtig.“, hörte ich eine tiefe Männerstimme zu meiner Mutter sagen. Ich blickte leicht verzweifelt zu der Frau rüber, die etwas älter ist als ich sie in Erinnerung hatte. Wie lange habe ich denn bitte geschlafen?

„Na schön“, hörte ich sie unglücklich aussprechen und sie küsste daraufhin meine Hand. „Bleib stark, ja Schatz? Ich habe das Beste für dich tun lassen und jetzt tu das Beste für dich und kämpfe!“

Kurz darauf entfernte sie sich mit dem Klackern ihrer Schuhe. Langsam drehte ich mich von ihrem Anblick weg und sah den Mann in Arztkittel vor mir an. Drei weitere Krankenschwestern standen um das Bett herum. Eine hantierte an einer Maschine, die andere bereitete eine Spritze vor und die letzte wechselte den Beutel, der mit einem Infusionsschlauch verbunden war, der in meinem Arm endete.

Der Arzt überreichte mir ein Glas Wasser, das ich sofort gierig austrank.

„Silver“, sprach er mich dann lächelnd an. „Wie geht es Dir?“

Was mache ich hier? Habe ich nicht noch eben ein Deutschdiktat geschrieben? Hatte ich vergessen heute zu frühstücken und bin umgekippt?

„Nicht gut“, murmelte ich wahrheitsgemäß. Mein Körper fühlte sich fremd an und ich sah an mir herunter. Augenblicklich zuckte ich zusammen. Oh Gott, wie sah ich denn aus?!

„Was ist los, Silver?“, fragte mich der Mann leicht besorgt, als er meinen erschrockenen Blick sah.

„Ich…“, fangte ich an, doch musste husten. Im nächsten Moment hielt mir eine Krankenschwester wieder ein Glas Wasser hin, von welchem ich einen weiteren Schluck nahm. Ich spürte Schmerzen an meinem ganzen Körper, als ich mich leicht vorbeugte. Stöhnend ließ ich mich wieder auf das Bett sinken und sah den Mann vor mir verzweifelt an. 

„Wie sehe ich denn aus? Ich sehe nicht wie ich aus! Meine Beine!“

„Was ist mit ihnen?“, hakte dieser nach. Dabei verzog er kaum seine Miene.

„Sie… sind so komisch lang. Und braun.“ Ich sah auf meine Arme.

„Meine Arme… sie sind auch so lang“, flüsterte ich fast weinerlich.

Scheiße, was ist hier los?

„Silver, was ist das Letzte, an das du dich erinnern kannst?“, fragte der Mann im Arztkittel mich plötzlich ruhig.

„Deutschdiktat“, murmelte ich leise und frage mich im selben Moment, ob er etwas damit anfangen kann. Die Krankenschwester gab mir die Spritze in den Infusionsschlauch und ich war ihr unglaublich dankbar, dass sie mir dieses Monsterding nicht in den Arm stach. Denn da würde ich wahrscheinlich nochmals in Ohnmacht fallen.

„Welches Jahr haben wir heute?“

Hä? Was sollte die Frage? Hatte der etwa kein Kalender bei sich zuhause?

„2009“, beantwortete ich leicht genervt die Frage. 

Sollte das etwa ein doofer Test sein? Ich hatte doch gerade eben eine Klausur hinter mir! Tyler würde ihm in den Hintern treten, dass er sich so ein Spaß mit mir erlaubt. War er nicht ein Arzt?

„Wie alt bist du?“, kam wieder eine unerwartete Frage. 

Ich schluckte unter seinem ernsten Blick und beschloss das Spiel mitzuspielen.

„13.“ Mit meterlangen Beinen, ja Mister, erkennst du das Problem jetzt auch?!

Plötzlich schürzte er seine Lippen und sah zu den Krankenschwestern, die alle aufeinmal nicht mehr arbeiteten und mich sprachlos anstarrten. Er nickte denen kurz Richtung Tür und kurze Zeit später war ich nur noch alleine mit ihm im Raum. 

„So Silver, ich stelle dir jetzt noch ein paar weitere Fragen, wo du wahrscheinlich denkst, dass sie unnötig sind und auf Papieren nachzulesen sind, aber ich muss die Antworten nun mal von dir hören, okay?“

Ich nickte zur Antwort langsam und spüre, wie die Schmerzen langsam vergehen. 

„Du sagtest, dass das an das du dich als Letztes erinnern kannst, ein Deutschdiktat ist?“

Wieder ein Nicken meinerseits.

„Und in welche Klasse gehst du gerade?“

„In die 8.“ Will der gleich noch meine Schuhgröße wissen?

„Hmm“, kam es plötzlich nachdenklich von ihm. Ich beschloss in dem Moment ihm eine Frage zu stellen.

„Wie lange habe ich denn geschlafen?“ Wie lange musste man denn schlafen, um sich wie ein kaputtes Wrack zu fühlen wie ich gerade?

„Du hast nicht geschlafen. Du lagst etwa zwei Wochen im Komma.“

„Im Ko- Komma?“, stotterte ich ungläubig und fasste mir vorsichtig an die Stirn. Heilige Scheiße!

Er nickte und sah mich etwas mitleidig an. „Ja, Silver. Ich werde dir gleich mehr erzählen, aber vorher muss ich mir deine Bilder anschauen, okay?“ 

Ich nickte nur müde. „Kann… Darf meine Mutter wieder rein?“

„Ja, klar. Ich hole sie gleich rein.“ Der Mann im Arztkittel schenkte mir noch ein kurzes Lächeln bevor er dann aus dem Raum verschwand. Minuten vergingen bis meine Mutter schließlich erschien. Sie trägte einen Lederrock und eine rote Bluse, das ihr ziemlich stand. Doch ihr müdes Gesicht stand leider im Kontrast.

„Mein Schatz. Wie fühlst du dich?“, fragte sie besorgt nach und kippte mehr Wasser in das Glas auf dem Tisch neben meinem Krankenbett.

„Es geht wieder. Ich glaube, sie haben mir Schmerzmittel eingeführt“, murmelte ich und musste müde gähnen. Ich wollte am liebsten wieder schlafen, doch irgendwas hielt mich wach.

„Mum, warum hat mir der Arzt so komische Fragen gestellt?“

„Was meinst du?“, hakte sie nach und zog ihre wohlgeformten Augenbrauen hoch. 

„Er fragte mich nach dem Jahr, meinem Alter, an was ich mich als Letztes erinnern kann und solche Sachen. Richtig komisch.“ Ich sah sie verzweifelt an. „Und warum sieht mein Körper so anders aus? Mum, was ist bloß passiert?“

„Ich…weißt du…die Sache ist die… du… ich…“, stotterte sie völlig zusammenhangslos herum, was mich nur mehr verwirrte. Sie sah überall hin nur nicht zu mir.

„Mum!“, rief ich zu ihr und sie tat dann etwas völlig Unerwartetes. Sie stand plötzlich auf, murmelte ein „Es tut mir so leid.“ und verließ fluchtartig das Zimmer.

Ich war so erschrocken über ihre Reaktion, jedoch zu erschöpft, um aufzustehen. Wo war mein Dad? Und Tyler und Cindy?

Stunden später schlief ich schließlich ein. 

Ich schlief einen weiteren Tag durch. 

Als ich wieder aufwachte, kam der Oberarzt zurück in Begleitung meiner Mutter.

Und dann kam der Moment, wo mir mitgeteilt wurde, dass ich durch den Unfall eine Amnesie erlitt.

 

 

 

Wenigstens spüre ich jetzt kaum noch Schmerzen. Zum ersten Mal schaue ich wirklich an mir herunter. Die dünne Decke schiebe ich mit einer Hand weg bis sie auf den Boden fällt, aber das ist mir gerade egal. Das Erste, was mir auffällt, sind meine langen dünnen Beine. Ich musste ziemlich gewachsen sein, denn das letzte Mal - mit 13 Jahren -, wo ich sie gesehen habe, waren sie nicht so... lang.

5 Jahre reichen auch wirklich aus, um ein 13 Jahre altes Kind zu einer fast ausgewachsenen 18-jährigen Frau zu machen. Vorsichtig streiche ich mit den Händen meinen Körper entlang. Vom Hals bis zu den Beinen, bis schließlich die Armlänge nicht mehr mitspielt. Dabei fühle ich sowohl kleine Hüftknochen als auch Bauchmuskeln an mir. Hatte ich Sport gemacht?

 Mein Körper ist auf jeden Fall trainiert. Vielleicht war der Schulsport auch nur streng gewesen.

Schule. Krampfhaft versuche ich mich an die letzten Schultage zu erinnern. Mit 13 Jahren ging ich in die 8.Klasse. Nach kurzem Rechnen komme ich darauf, dass dieses Jahr eigentlich mein Abiturjahr ist. Na super.

So wie ich meine Eltern kenne, werden sie mich zu allem Möglichen zwingen - wenn auch 5 Jahre zurückversetzen -, damit ich auch ein Einserabi haben werde. Ich seufze.

In dem Moment treten meine Eltern, der Oberarzt und eine Krankenschwester ein.

„Hallo, Silver“, begrüßt mich lächelnd der Arzt. „Wie fühlst du dich?“

Ich überlege nicht lange. „Wie eine Leiche ehrlich gesagt.“

Gequälte Gesichter meiner Eltern.

Mein Arzt hingegen bleibt bei seinem professionellen Lächeln.

„Alles klar, das ist ganz normal, Silver. Du bist hart gelandet und hattest viele innere Verletzungen, die jedoch in geraumer Zeit vollständig heilen werden. Das Wesentliche war deine Kopfverletzung. Du bist leider mit dem Kopf auf der Seite mit dem Hippocampus gelandet. Das ist das Erinnerungszentrum deines Gehirns. Dadurch wurde es stark beschädigt und bedauerlicherweise tritt trotz der erfolgreichen Operation die Amnesie bei dir ein, was bei dir die letzten 5 Lebensjahre umfasst. Es tut mir wie gesagt leid, Silver.“ Er macht eine Pause und schaut mich erwartungsvoll an.

Ich weiß in dem Moment nicht so recht, was ich sagen soll.

Hey, danke für die Info, wird schon irgendwie gehen, mein Leben weiterzuleben. Sind ja nur 5 Jahre!!!

Oder: Danke, dass sie mir eben die schlimmste Nachricht meines Lebens bestätigen, aber ihr professionelles Lächeln macht es schon irgendwie wieder gut?

Schließlich entscheide ich mich für: „Okay, und wie wird es jetzt ablaufen?“

Die Assistentin läuft - genau wie der Arzt - lächelnd zum Regulator meiner Infusion und stellt irgendetwas ein. Ich beschließe, meine Aufmerksamkeit voll und ganz dem Oberarzt zu widmen.

„Zuerst müssen deine Verletzungen heilen. Du lagst hier bereits zwei Wochen in einem leichten Komma und die Genesung verlief ziemlich gut bei dir. Nimm dir soviel Zeit, wie du willst. Du musst erstmal in dein eigenes Leben zurückkommen.“ Jetzt steht er am anderen Ende des Bettes.

„Was ist mit der Schule? Muss ich jetzt wieder in die 8. Klasse kommen?“ Das ist einer der Fragen, die mir besonders brennend auf der Zunge lagen, seitdem ich wieder aufgewacht bin.

„Nein, bei deinem Fall, können wir einen Privatlehrer organisieren, der dich dann in innerhalb von zwei Jahren auf denselben Stand bringen wird, wie du es für dein eigentlichen also heutigen Jahrgang brauchst.“ Die Stimme meines Arztes klingt wirklich beruhigend. Für jetzt gebe ich mich mit der Antwort zufrieden. Außerdem bin ich sowieso zu müde.

„Wir haben uns schon ein paar Privatschulen angeschaut. Das besprechen wir später“, wirft meine Mutter kurz ein und nickt mir aufmunternd zu. Meine Eltern stehen immer noch hinter dem Arzt.

„So ich muss weiter. Silver, du kannst bereits heute entlassen werden, wenn du dich bereit fühlst. Aber überstürze nichts. Dein Körper muss sich auch mit dem Gedächtnisverlust zurechtfinden und das wird Zeit beanspruchen. Ich wünsche Dir weiterhin alles Gute.“ Mit den Worten schüttelt er mir höflich die Hand mit seinem Profilächeln, wofür er bestimmt schon einen Oscar bekommen hat, und verlässt das Zimmer. Ich schiele etwas rüber. Die Krankenschwester tippt immer noch am Gerät herum.

„Du hast den Arzt gehört.“ Meine Mutter setzt sich auf den Hocker neben meinem Bett und nimmt meine Hand. „Fühlst du dich bereit, um nach Hause zu kommen?“

Auch mein Vater tritt hervor und sieht mich schwach lächelnd an. Aber ich sehe, dass er über etwas nachdenkt.

„Ja, ich fühle mich gut. Ein Tag länger hier, Mum, und ich werde verrückt“, ist meine Antwort.

Meine Mutter nickt verständnisvoll. Sofort fangen sie an, meine Sachen zu packen, während ich mich umziehe.

 

Kapitel 3

 

Während der Fahrt redet keiner. Ich schaue neugierig aus dem Fenster und sauge die vorbeisausende Gegend auf. Hudson hatte sich in den Jahren ziemlich verändert. Sie blieb altmodisch dennoch sind nun mehr modernere Häuser zu sehen.

Ich sehe plötzlich das Haus von Tyler. Es ist ein dunkelblaues Einfamilienhaus mit einem vorderen Garten.

Damals war es immer voller Blumen und auch die Büsche waren immer perfekt geschnitten. Tylers Mutter hatte wirklich einen grünen Daumen.

Doch jetzt steht es da. Kahl und ohne Leben. Wenn ich mich nicht täusche, erwischt mein Blick sogar ein paar Unkräuter, doch ich muss mich geirrt haben.

Tyler kenne ich schon seit dem Kindergarten. Unsere Familien sind gut befreundet und ich war sehr oft bei ihm spielen. Das blieb auch bis zur 7. Klasse soweit ich mich erinnern kann. Er war wie ein großer Bruder gewesen, den ich nie hatte. Nur, dass ich manchmal vor ihm rot wurde und mir nie gestehen wollte, dass ich doch in manchen Situation mehr gefühlt habe, als mir lieb war.

Ich schüttele den letzten Gedanken weg und drehe mich zu meiner Mutter, die angespannt aus dem Autofenster schaut.

„War mich Tyler besuchen gewesen während ich im Komma lag?“, frage ich sie. Es dauert einen Moment bis sie sich von dem Anblick draußen abwendet und sich zu mir dreht. Ich kann ihren Blick jedoch nicht deuten, mit dem sie mich gerade ansieht.

„Ja klar doch, Schatz. Aber ich glaube, er hat im Moment viel zu tun, deswegen konnte er noch nicht kommen, seitdem du wach bist“, erklärt sie mir mit einer ruhigen Stimme. Schon fast etwas zu ruhig, meiner Meinung nach.  

„Wer war mich denn alles besuchen, Mum?“, hake ich weiter nach. Körperlich geht es mir soweit gut. Ich bin am Genesen. Jetzt möchte ich geistlich wieder fit sein. Und das geht nur mit Informationen. Über meine Freunde, Familie, ja sogar Nachbarn oder flüchtige Bekannte. Ich muss alles über die letzten 5 Jahre erfahren.

„Ja ein paar Freunde soweit ich weiß. Ich habe ihnen aber gesagt, sie sollen sich auf das Abitur konzentrieren und ich würde ihnen schon Bescheid geben, wenn du aufwachst“, beantwortet sie meine Frage.

„Und hast du das auch?“, entgegne ich.

„Ich habe es vor lauter Aufregung vergessen. Ruh dich erstmal aus, Silver. Deine Freunde wirst du auch später sehen können“ Mit den Worten dreht sie sich wieder zum Fenster um.

Ich wollte sie aber jetzt sehen. Alles jetzt erfahren. Von jedem meiner Freunde Dinge gesagt bekommen, die ich gemacht habe und wie ich drauf war. Und überhaupt, wer meine Freunde waren. Hatte sich mein Freundeskreis geändert?

Tyler ist mein bester Freund, das ist klar. Eine beste Freundin hatte ich nie im Kindergarten oder in der Grundschule, doch in der 5. Klasse, als Tyler und ich auf das Gymnasium kamen, freundeten wir uns beide mit Cindy an. Zuerst habe ich sie nicht gemocht. Wegen ihrem Namen. Er war so typisch girly und ich hasste alles, was damit zu tun hatte. Das lag wohl daran, dass ich immer nur mit Tyler Jungskram gemacht habe.

Aber genau das war das Gute. Wir erkannten, dass Cindy und ich uns perfekt ergänzten. Sie entdeckte das etwas Jungenhafte in ihr und ich das bisschen Mädchenhafte in mir.

Ob sie mich besucht hatte? Bestimmt. Wir waren alle drei unzertrennlich gewesen. Und das hatte sich bestimmt nicht geändert. Ich beschließe, sie später anzurufen. Und Tyler.

 

Irgendwann kommen wir in eine schmale Straße, wo jeder Baum  dem anderen gleicht. Es sieht schon fast gruselig aus, so perfekt, wie diese Straße aussieht. Mein Vater fährt gerade mal an fünf Häuser vorbei, als er schließlich langsamer wird und den Wagen in die Einfahrt eines großen weißen Hauses einlenkt.

„Dad?“, frage ich sichtlich verwirrt. Das ist bestimmt nicht unseres.

Mein Vater wirft mir einen kurzen Blick zu, bevor er seinen Blick wieder nach vorne wendet. „Wir wohnen nicht mehr am Hafen. Dieses Haus haben wir vor einem Jahr gekauft.“ Seine Stimme klingt gezwungen ruhig.

Ich mustere es neugierig. Die Einfahrt scheint ewig lang zu sein bis wir auch endlich an ein großes antikes Tor kommen, welches uns automatisch reinlässt, als mein Vater einen Code eingibt. Dann fahren wir an einen wunderschönen bunten Garten vorbei bis wir schließlich in der Garage parken. Ich springe förmlich aus, als der Wagen still steht und kassiere sofort einen besorgten Blick meiner Mutter.

„Silver, jetzt schone dich mal. Mach nicht alles so schnell“, ermahnt sie mich streng.

Als Antwort strahle ich sie mit einem verschmitzten Lächeln an, bevor ich mich dann einfach umdrehe und mit meiner kleinen Tasche aus der Garage stolziere. Ich spüre mein Handy in der Tasche auf und ab hüpfen, aber ich ignoriere es. Stattdessen hopse ich durch den Weg, den wir eben mit dem Auto hinterlegt haben, und begutachte den Garten. Er ist wirklich gut gepflegt geworden und ich beschließe, dass er mein neuer Zufluchtsort ist, wenn ich mal wieder Ruhe brauche.

Dann stehe ich unschlüssig vor unserer Haustür. Es gibt keine Klinke, sondern man muss einen Code eingeben. Stirnrunzelnd betrachte ich unsere Klingel mit dem Namen Haygilton und brauche einen Moment, um zu realisieren, dass es mein Nachname ist.

Mein Kopf ist wirklich noch nicht ganz heile.

Mein Vater taucht schließlich hinter mir auf. Er schiebt mich sanft zur Seite und tippt schnell einen Code ein, woraufhin die Tür automatisch aufschwingt.

„Sagst du mir den Code?“, frage ich während wir eintreten.

„Klar, Schatz. Ich zeige dir auch gleich alles Nötige. Nur sollten wir das im geschlossenen Raum bereden“, antwortet er mir lächelnd.

Ich zucke daraufhin mit den Schultern. Hauptsache ich bin am Ende fähig die Haustür zu öffnen.

Mein Mund bleibt offen, als ich sehe, wie groß allein unser Erdgeschoss ist. Aber die Einrichtung gefällt mir nicht. Es ist so steril. Ganz anders als unser altes Haus.

„Komm, ich zeige dir dein Zimmer.“ Mit den Worten zieht mein Vater mich die Treppe hoch und lacht, als ich auf der ersten Stufe stehen bleibe und zweimal auf und ab hüpfe. Sie sieht eben so unstabil aus.

„Schatz, das Haus ist neu renoviert und alles stabil. Keine Sorge.“ Kopfschüttelnd nimmt er die letzten Stufen, als wir dann auch im Obergeschoss landen. Wir stehen in einem Flur und ich zähle fünf Zimmer auf jeder Seite.

„Haben wir noch ein Geschoss?“, frage ich neugierig.

„Nein, nur noch der Dachboden“, antwortet er mir und öffnet eines der Türen.

Ich sehe mein altes Zimmer. Also eigentlich ist es ja nicht mein altes Zimmer, denn mein altes ist auch im alten Haus, doch das hier gleicht es bis auf das kleinste Detail. Sofort verzieht sich mein Mund zu einem Schmunzeln und ich trete ein. Ein wohliges Gefühl überkommt mich und ich schließe die Augen. Kurze Bildschleifen laufen in meinem Kopf ab.

Ich. Hier alleine. Ich hier mit meinen Eltern abends, die mir Geschichten vorlasen. Dann wieder ich alleine. Plötzlich ein Bild von mir und Tyler. Er lag neben mir im Bett und…

„Silver?“ Die Stimme meines Vaters stiehlt sich dazwischen.

Ich öffne die Augen. „Ja?“

„Ich lasse dich mal eine Weile alleine.“ Er gibt mir einen kurzen Kuss aufs Haar und verlässt das Zimmer.

 

 

Ich weiß nicht wie lange ich schon auf diesem Bett liege, seitdem mein Vater das Zimmer verlassen hat, aber als ich auf mein Handy schaue, ist es 16:05 Uhr. Obwohl ich schon  inmitten der Bewegung bin mein Handy wieder weg zu legen, halte ich inne und starre es an. Vielleicht sollte ich jetzt…

Bevor ich den Gedanken zu Ende bringe, tippen meine Finger von alleine den Pincode ein. 1-7-0-7. Tylers Geburtstag.

Doch plötzlich springt mir der Satz entgegen: Falscher Code. Sie haben noch 2 Versuche.

Mir klappt der Mund ohne Weiteres auf. Was zum Henker?

Soweit ich mich erinnern kann, habe ich diesen Code seit dem ich auf das Gymnasium kam und das Handy bekam. Ich hatte es seitdem nie geändert. Selbst, als Tyler einmal den Code erhascht hatte.

Erschöpft werfe ich mich mit dem Rücken wieder auf das Bett.

Mein Blick bleibt immer noch an meiner Hand hängen, in welches ich das Handy halte. Vielleicht hatte ich es doch einfach mal innerhalb der 5 Jahre geändert. War gut möglich.

Also belasse ich es dabei. An mein Handy würde ich auch später rankommen. Ich drehe mich auf die Seite und stütze meinen Kopf auf einem Arm. Langsam schweife ich mit dem Blick durch mein Zimmer. Mein Schreibtisch, der ziemlich groß ist und von zwei Bücherregalen umgeben ist. In der Mitte steht der Laptop. Ich kenne es nicht, also muss ich es nach der 8. Klasse bekommen haben. Unter dem Schreibtisch liegen viele verschiedene Umhängetaschen, die ich wahrscheinlich für die Schule benutzt habe. Außerdem sehe ich viele Schubladen an der Seite, die ich mir später anschauen werde. Neben meiner weißen Zimmertür ist eine weitere und da ich keinen Kleiderschrank erblicken kann, vermute ich dahinter meine Kleidungen. Gegenüber mir, also dem Bett, steht ein kleiner Plasmafernseher, den ich vorhin gar nicht bemerkt habe und ich wundere mich, dass meine Eltern so etwas in meinem Zimmer dulden. In der Grundschule haben sie mich immer von allem, was mich Technik zu tun hat, fern gehalten und fernsehen durfte ich auch nur zu bestimmten Zeiten.

Ja, meine Eltern haben so ihre Prinzipien.

Seufzend lasse ich mich wieder auf den Rücken fallen, schließe meine Augen und will gerade etwas schlafen, als mich das Knurren meines Magens daran hindert. Mit einem Stöhnen schwinge ich meine Beine vom  Bett und stehe auf. Vor der weißen Schiebetür neben meiner Zimmertür bleibe ich jedoch stehen und mache sie auf. Die Dunkelheit hier drinnen veranlasst mich mit meinen Fingern nach einem Schalter zu tasten, den ich schließlich finde.

Vor mir ist wirklich ein begehbarer Kleiderschrank. Und was für einer. Zögernd trete ich ein. An den Seiten stehen zwei Kleiderschränke, die größtenteils aus offenen Regalen bestehen. Ganz hinten erblicke ich den Schuhregal.

Ich drehe mich mitten im Raum um meine eigene Achse und kann es irgendwie immer noch nicht fassen. Was mich wundert, ist, dass die Regale alle leer sind und auch beim Schuhregal stehen nur ein paar Sportschuhe und Ballerinas.

Automatisch öffne ich die Schränke und erwarte Klamotten zu sehen, doch außer ein paar Basic Tops und Schlafanzüge bekam ich nichts an Bekleidung zu sehen, was mir helfen sollte, zu sehen, was für einen Klamottenstil ich habe. Ging ich etwa immer nur mit einem Top oder Schlafanzug zur Schule oder vielleicht sogar nackt?

Ich schüttele den Gedanken ungläubig ab, mache das Licht aus und gehe aus meinem Zimmer. Unschlüssig bleibe ich im Flur stehen. Mein Blick gleitet von einer Tür zur anderen, die hier alle auf dem Obergeschoss stehen und ich überlege, jeweils einen Blick rein zu werfen, als mich eine Stimme von unten ruft: „Silver, das Essen ist fertig. Komm doch runter!“

Ich folge der Stimme meiner Erzeugerin und laufe die Treppe vorsichtig runter. Irgendwie habe ich einfach kein sicheres Gefühl auf dieser Treppe, obwohl ich zugeben musste, dass sie doch ziemlich stabil aussieht, sowie es mein Vater behauptet hat.

Unten angekommen lächelt meine Mutter mich an während sie einen Auflauf auf den Küchentisch stellt und einen Stuhl frei schiebt mit einem Blick, der mir deuten soll mich dort hinzusetzen.

„Mum?“, frage ich, als ich am Tisch sitze.

„Ja Schatz?“ Sie zieht ihren Küchenkittel aus und setzt sich zu mir. „Dein Vater ist übrigens auf der Arbeit.“

„Oh okay.“ Obwohl ich daraufhin nach der Arbeit meines Vaters fragen will, weil ich mir nicht sicher war, ob noch alles beim Alten war, stelle ich diese Frage zurück.

„Also ehm - ich habe mir mein Zimmer etwas angeschaut. Mum, warum habe ich kaum Klamotten?“, frage ich vorsichtig, während wir anfangen zu essen.

Meine Mutter stockt, wenn auch nur einen kurzen Moment, bei ihrer Bewegung, doch sieht mich daraufhin lächelnd an.

„Die waren alle schon so alt. Wir haben sie nicht auf dein Zimmer mitgenommen, sondern gespendet. Es ist doch eine gute Gelegenheit, dass du gleich selbst Klamotten einkaufen gehst.“ Sie löffelt etwas von ihrem Auflauf. „Dein Stil hat sich bestimmt geändert“, fügt sie kurz hinzu.

Als Antwort zucke ich kurz mit den Schultern. „Wann habt ihr denn dieses Zimmer eingerichtet?“

Meine Mutter sieht mich ernst an. „Als wir hier hin umgezogen sind.“

„Aber du meintest, dass du meine alten Klamotten nicht auf das Zimmer mitgenommen hast, was heißt, dass mein neues Zimmer nie mit Klamotten ausgestattet war. Habe ich etwa ein Jahr in einem Zimmer ohne Klamotten gelebt?“

Ich stutze selbst über meinen kleinen Redefluss, doch warte gespannt auf die Antwort meines Gegenübers, die sichtlich unbehaglich, aber auch etwas überfordert schaut.

„Du hast nicht wirklich hier gewohnt.“

„Was?“

Mein Gegenüber atmet tief ein, bevor sie mir die nächsten Worte zuwirft. „Du hast ausschließlich nur bei einem Freund gewohnt.“

Ich starre sie an. Mit der Antwort habe ich einfach nicht gerechnet.

„Wem?“

„Das wissen wir bis heute nicht.“

Jetzt klappt mein Mund auf. Warum habe ich meinen Eltern nicht gesagt, bei wem ich gewohnt habe? Hatten wir uns nicht verstanden?

„Silver“, setzt meine Mutter vorsichtig an. „Es ist ziemlich viel, was du noch nachholen musst, deswegen gib dir etwas Zeit. Zerbrich dir bitte jetzt nicht den Kopf darüber.“

„Aber ich finde das alles komisch“, entgegne ich direkt.

Mein Gegenüber lächelt schwach. „5 Jahre, Silver. Natürlich ist viel passiert.“

Daraufhin bleibe ich stumm und esse meinen Teller leer.

Als ich aufstehe und meinen Teller zum Spülbecken bringe, schreitet meine Mutter zu mir.

„Wir sollten mit dem ersten Schritt anfangen. Lass uns in die Stadt einkaufen gehen.“

Kapitel 4

 

Während meine Mutter noch den Rest in der Küche aufräumt, spüle ich das bisschen Geschirr. Als ich schließlich fertig bin, rufe ich meiner Mutter schnell zu, dass ich mich schnell für die Stadt fertig mache, und flitze nach oben. Schnurstracks laufe ich zum Spiegel, der über meiner kleinen Schminkkommode hängt, und betrachte mich. Mir blicken zwei grüne Augen entgegen, die etwas müde wirken, denn leichte Augenringe zeichnen sich unter ihnen ab. Meine Haut ist so blass wie ich sie noch nie gesehen habe und auch meine Wangenknochen stechen hervor. Dunkelbraune glatte Haare, die kurz bis zu meiner Brust gehen, umranden das Gesicht. Trotzdem sehe ich nicht schwach oder zerbrechlich aus. Nein, im Gegenteil: Durch mein blasses und unscheinbares Auftreten scheint dennoch eine feurige Entschlossenheit hindurch, die sich hinter meinen Augen verbirgt und nur beim intensiven Schauen zu sehen ist.

Silver Haygilton. Noch bin ich nur eine Hülle dessen Identität. Doch ich bin bereit mein Leben zu ergreifen. Es aufnehmen. Mich selbst zu finden.  

Eilig entledige ich mich meiner Klamotten und springe unter die Dusche. Der warme Wasserstrahl lässt mich entspannen. Ich genieße es einen Moment und schließe meine Augen, ehe ich das Shampoo ausspüle und mich abtrockne.

 

Als ich in meinem Bekleidungsraum stehe, schnappe ich mir schnell ein weißes Top und suche verzweifelt nach einer Hose. Schließlich finde ich ganz hinten einen kurzen Jeansrock, der ziemlich knapp ist, da er ja schon alt ist, doch er passt mir und bedeckt gerade so noch meinen Po.

Das Top habe ich auch schon an, jedoch muss ich wohl oder übel einen BH von meiner Mutter leihen, denn ich finde hier keins und im Krankenhaus hatte ich auch keinen an. Eilig kämme ich mir meine nassen Haare und föhne sie mir nur so kurz, sodass gerade noch so kein Wasser mehr von ihnen tropft.

Dann setze ich mich an den Schminktisch und ziehe eine Wimpertusche aus einen der aufgestellten Schminkbehälter. Etwas rosa Lippenstift und Rouge und ich schaue zufrieden in den Spiegel. Man sieht überhaupt nicht mehr, dass ich aus dem Krankenhaus komme und auch die Narbe von der Operation an meinem Kopf kann ich gut durch meine dichten Haare verdecken. Ein letztes Mal drehe ich mich um und verlasse mit meinem Handy das Schlafzimmer. Ich lehne mich über das Treppengelände hinaus, hoffe dabei, dass sie mich hören kann, während ich schreie: „Mum, ich brauche einen BH von dir! Kommst du hoch?“

„Gleich, Schatz.“

Während ich an der Wand lehnend auf sie warte, schaue ich auf meine Brüste. Ich habe nicht die geringste Ahnung, welche Größe ich habe, jedoch sind sie sichtlich größer geworden, als der kleine Hubbel damals, den ich mit 13 Jahren hatte. Neugierig ergreife sie mit den Händen. Fühlt sich gar nicht so schlecht an. Meine Gene hat ziemlich gute Arbeit getan.

Bei dem Gedanken kann ich mir das Grinsen nicht verkneifen. Schon höre ich die Schritte meiner Mutter.

Sie lächelt mich an während sie an mir vorbeigeht und bleibt schließlich vor der ersten Tür in dem Flur stehen.

Ich blicke neugierig über ihre Schulter, als sie diese öffnet und schaue in das Schlafzimmer meiner Eltern. Während meine Mutter sich an den Kleiderschrank hermacht, gehe ich um das Doppelbett herum, das in der Mitte des Zimmers steht und betrachte das Regal mit den Bildern.

Auf den meisten sind wir als Familie zu sehen. Ich erblicke meine Großeltern und kenne die meisten Bilder davon. Plötzlich sehe ich eins, wo Cindy, Tyler und ich drauf sind. Ich kenne das Bild nicht und nehme es vorsichtig vom Regal, um es näher zu betrachten. Beide sehen darauf deutlich älter aus, als ich sie in Erinnerung habe und auch mich erkenne ich kaum wieder. Ich sah… hübsch aus, denke ich mir. Und glücklich. Ja, wir drei sahen wirklich glücklich aus, als wären wir die drei Musketiere.

Ich stehe in der Mitte und mein Kopf ist leicht zu Cindy geneigt, während ein Lächeln mein Gesicht verziert. Cindy und ich halten Hände während Tyler einen Arm um meine Taille gelegt hat. Ich streiche mit meinem Zeigefinger über sein Profil. Seine dunkelbraunen fast schwarzen Haare sind etwas länger geworden und sehen verstrubbelt aus. Doch seine Augen blieben dieselben. Ozeanblaue Augen, die mich immer an unseren ersten Urlaub am Strand erinnern. Ein freches Grinsen liegt auf seinen Lippen und ich muss ebenfalls in dem Moment grinsen. Sein Grinsen habe ich schon immer geliebt.  

Cindy hatte sich mit mir verändert. Wir beide haben auf dem Bild deutliche Kurven und auch ihr Haar ist nun bis zur Hüfte lang. Doch ihr Lächeln blieb.

Wir stehen alle in Sommerklamotten und im Hintergrund ist ein hoher Busch zu sehen. Sonst kann ich nichts mehr aus dem Bild entnehmen.

„So Schatz. Ich habe für dich drei zur Auswahl, die ich letztens gekauft habe, aber noch nicht angezogen habe. Du müsstest C haben so wie ich. Ein Glück, aber auch.“ Mit den Worten hält sie mir einen schwarzen, gelben und roten BH hin.

„Oh Gott, Mum. Ich habe ein weißes Top an. Das schaut doch durch.“ Ich verzerre mein Mundwinkel etwas.

„Ja stimmt. Moment, ich hätte da noch einen weißen. Der ist aber mit viel Spitze besetzt.“, sie zwinkert mir zu während sie nochmal zum Schrank läuft.

Als sie mit diesem wiederkommt, halte ich ihr das Bild an die Nase. „Wann war das?“

Sofort lächelt meine Mutter. „Das war bei eurer eigenen Einweihungsfeier, als Cindys Eltern ein Strandhaus in Amrum gekauft haben. Ihr habt dort die Sommerferien verbracht. Das war vor 3 Jahren, Silver.“

Etwas verträumt und versunken ruht ihr Blick auf das Bild, doch sie fasst sich kurz danach wieder und hält mir den BH hin.

Ich lege das Bild zurück und ziehe mir den BH an, der mir überraschenderweise wirklich passt. Aber sie hat Recht, die Konturen der Spitze, kann man etwas durch das Top erkennen, doch es ist minimal und deswegen kümmert es mich nicht.

„So, jetzt fahren wir aber los. Nehme die anderen drei in dein Zimmer und komm dann runter.“ Mit den Worten verlässt sie das Zimmer und ich tue, was sie sagt.

Als ich nach unten laufe, steht sie bereits an der Eingangstür.

„So, dein Vater hat vergessen dir den Code zu sagen. Komm mal her.“ Brav stelle ich mich neben meiner Mutter, die auf einen schwarzen Knopf an der Wand direkt neben der Tür drückt, woraufhin uns dann ein Elektroschloss mit Zahlentasten entgegenspringt.

„So also erstmal drückst du auf das *. Dann gibst du den Code 4-5-0-2-4 ein. Dann schwingt die Tür auf. Wenn du ihn verschließen willst, tippst du dasselbe noch einmal, aber am Ende fügst du noch das # ein.“

Ich nicke heftig und mustere das Elektroschloss dabei. Wirklich ungewohnt, dass meine Eltern so auf ein Technikzeug umgesprungen sind.

 

Nach 10 Minuten sitzen wir im Auto und ich richte meinen Blick stur aus dem Fenster, während die Landschaft an uns vorbeizieht.

Meine Gedanken huschen zu Tyler. Vorhin habe ich ganz vergessen ihn anzurufen. Und Cindy. Aber das würde ich spätestens machen, nachdem ich mir eine neue SIM-Karte gekauft  und wieder Zugriff auf mein eigenes Handy habe.

Doch irgendwie finde ich es komisch, dass sich keiner bei mir gemeldet hat oder überhaupt aufgetaucht ist. Immerhin bin ich seit 5 Tagen wach.

„So wir fahren erstmal zum Supermarkt. Ich möchte uns heute etwas Leckeres kochen.“ Während meine Mutter spricht, hält sie den Blick nach vorne.

„Dann gehen wir ins Einkaufszentrum. Dort kannst du dich dann austoben.“ Sie runzelt die Stirn. „Ich bräuchte dann auch vielleicht ein paar Sachen“, wiegelt sie schließlich ab.

Seufzend lehne ich meinen Kopf an die kalte Fensterscheibe und schließe meine Augen.

Das wird ein langer Tag werden.

 

 

 

Ich helfe meiner Mutter beim Aussuchen von verschieden Gemüsesorten und merke, dass sie ziemlich wählerisch ist. Immer wieder halte ich ihr sorgfältig ausgewähltes Gemüse unter die Nase, welches sie meistens mit einem Kopfschütteln kommentiert. Einige bekommen doch ein Nicken und dürfen schließlich im Einkaufswagen landen. Bei dem Obststand gebe ich schließlich auf, lasse sie alleine und schlendere ziellos an den Regalen entlang. In der Süßwarenabteilung greife ich nach einer Packung Oreokekse, die ich zufrieden an die Brust drücke während ich wieder weiterschlendere.

Als ich bei den Gefriertruhen ankomme, schießen meine Augenbrauen in die Höhe. Die haben offensichtlich ausgebaut, denn damals gab es nicht so viele Reihen mit Gefriertruhen. Mindestens 20 riesige Truhen sind aneinander gereiht und bilden fünf lange Reihen. 

Bei der Reihe mit dem Eis bleibe ich stehen und suche konzentriert nach meinem Lieblingseis. Magnum Gold. Tyler und ich hatten es geliebt und uns immer eine Packung geteilt. Naja, oft dann auch deswegen bekriegt. Ich schmunzle bei dem Gedanken. Schließlich fängt mein Blick bei der nächsten Gefriertruhe die Packung auf, obwohl sie mindestens noch einen Meter weiter weg liegt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass jemand davor steht, doch mein Blick gilt nur noch dem Eis. Als ich dann vor der Gefriertruhe und neben der Person stehe, will ich ohne nach dem Griff zu schauen, den Glasdeckel aufklappen, als ich merke, dass es nicht geht. Verwirrt blicke ich schließlich von der Eispackung auf und schaue zu meiner Hand, als die Person neben mir sie auch schon unsanft wegschiebt und mithilfe eines kleinen Griffs den Glasdeckel zur Seite schiebt.

Oh, so macht man das. Sofort merke ich, wie leichte Röte in mein Gesicht aufsteigt und schaue auf.

Ich blicke blaue Augen entgegen, die mich eher nicht erblicken, sondern mehr versuchen, mit dem Blick auseinander zu nehmen. In dem Moment verengen sie sich zu Schlitzen und trotzdem kann ich diesen Stich nicht ignorieren. Blaue Stiche, die meine Augen durchstechen.

Fast schon eisblau sind sie.

„Noch nie eine Gefriertruhe aufgemacht?“ Die kalte unfreundliche Stimme unterbricht meine Gedanken und holt mich ins Hier und Jetzt zurück.

„Was?“, gebe ich perplex zurück. Verdammt, in diesen Augen wäre ich beinahe versunken.

Mein Gegenüber ist ein Kerl. Erst jetzt wende ich mich von diesen intensiven Augen ab und schaue auf den Rest seines Seins. Mir steht ein gut gebauter Typ gegenüber, der einen Kopf größer ist als ich. Dabei bin ich etwa so groß wie meine Mutter und das wären stolze 1,72 Meter.

Er hat dunkelbraune Haare, die etwas unordentlich in alle möglichen Richtungen stehen. Seine Haut ist ebenmäßig gebräunt im Gegensatz zu mir. Ich mustere sein markantes Gesicht. Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Ich erstarre, als ich noch einmal auf die Haare blicke. Tyler?

Dummerweise verwirrt mich vor allem seine Ausstrahlung. Das bringt mich ganz durcheinander. 

Er schaut mich immer noch böse an, und ich kann durch diese Miene schlecht sein Alter einschätzen. Vielleicht 22? Oder 25? So wie sich in dem Moment so viele Falten an seiner Stirn bilden, sieht er viel älter aus als ich. Aber Tyler müsste 19 sein.

„Kommst du aus der Klappsmühle oder warum bist du zu unfähig so etwas-“ Er zeigt auf die Truhe. „aufzumachen?“

Jetzt erst schaltet sich mein Gehirn ein. Dieser Typ macht mich dumm an. Aber vielleicht ist es Tyler? Aber sonst hätte er mich erkannt oder nicht? Ich bin immerhin diejenige mit der Gehirnwäsche. Trotzdem, dumm anmachen darf er mich so oder so nicht.

„Jetzt mach mal halb lang, Eisklotz. Ich war lange nicht mehr einkaufen. Das war’s!“ Ich funkele ihn wütend an. Ja, und wie wütend ich bin.

„Eisklotz?“ Seine Augenbrauen schießen in die Höhe. Dann verzieht sich sein schöner Mund zu einer Art Grinsen. Halt was?

„So hat mich bisher nur eine Person genannt.“ Das Grinsen weicht nicht von seinem Gesicht. Auch das kommt mir so bekannt vor.

Ich lasse schließlich tatsächlich zwischen meiner Wut die Neugier zu. „Achja und wer?“

 

 

Einen Moment bleibt sein Gesichtsausdruck unverändert. Doch das Grinsen weicht schließlich von seinem Gesicht stattdessen setzt er nach einem Wimpernschlag eine emotionslose Maske auf.

„Niemand.“ Wortlos nimmt er die Eispackung aus der Gefriertruhe. Magnum Gold. Ein Blick in die Truhe verrät mir, dass es die letzte Packung ist.

Reflexartig greife ich nach seinem Handgelenk, mit dem er die Packung hält und zucke leicht zusammen, als ich merke wie hart seine Muskeln alleine dort sind. Wortlos schiebt er daraufhin den Gefrierdeckel zu und dreht sich zu mir um während seine Augen auf mir ruhen.

Ein Schauer läuft mir über den Rücken, doch ich ignoriere es.

„Ich wollte das Eis.“ Ich klinge klagend, doch das ist mir in dem Moment egal. Mein größeres Problem ist es seinen Blick standzuhalten. Er mustert mich mit seinen eisblauen Augen so intensiv, dass es so vorkommt, als würden gleich Eiszapfen aus ihnen rausschießen und mich damit erdolchen.

„Pech, ich war zuerst da.“ Seine Mundwinkel verziehen sich leicht nach oben, als er weiterspricht. „Außerdem hättest du ohne mich nicht mal die Truhe aufgekriegt.“

Bevor ich etwas erwidern kann, entwindet er sich aus meinem Griff, dreht sich um und geht.

 

Irre ich mich oder habe ich eben ein kleines Lächeln auf seinen Lippen gesehen?

 

„Man Silver, ich habe dich schon überall gesucht.“ Ich zucke bei der Stimme meiner Mutter zusammen, doch meine Augen liegen immer noch auf den unbekannten Kerl, der mittlerweile fünf Meter weiter ist. Er lässt sich wirklich Zeit mit seinem Schlendern. Das Eis habe ich komischerweise längst vergessen.

Als mich meine Mutter erreicht, starre ich ihn immer noch nach. Meine Mutter folgt meinen Blick und dann muss sie ihn auch gesehen haben. Schließlich verschwindet er um die Ecke und ich sehe meine Mutter an.

Zu meiner Verwunderung starrt sie immer noch in die Richtung.

„Mum?“ Keine Reaktion.

„Hallo?“ Ich fuchtele mit meinen Händen vor ihrem Gesicht herum. Endlich schaut sie mich an.

„Ja?“, ist ihre prompe Antwort.

Ich lächele sie belustigt an. „Du hast eben so dahin gestarrt.“ Ich deute mit dem Zeigefinger in die Richtung, in der der Fremde eben verschwunden ist.

Sie schüttelt lächelnd den Kopf. „Keine Ahnung, ich habe wahrscheinlich zu wenig geschlafen.“

Dann schiebt sie den Einkaufswagen vor sich hin und ich folge ihr.

Bei dem Regal mit den Drogerieartikeln nimmt sie eine Zahnbürste, Gesichtscreme und Haarshampoo für mich mit.

Wir gehen zur Kasse und ich helfe ihr beim Aufstellen der Artikel auf das Laufband.

„Silver?“, ertönt es von meiner Mutter nach einer Weile.

„Mh?“

„Hast du dich eben mit einem Jungen unterhalten?“

Ich sehe sie an. „Bei den Gefriertruhen, meine ich“, setzt sie nach.

„Was wäre, wenn?“, kommt es von mir.

Kurz sagt sie nichts, doch dann lächelt sie. „Nein, ich finde es schön.“

Dann sagt keiner mehr etwas während wir zum Auto laufen.

 

Und ich denke mir die ganze Zeit: Das Lächeln hat ihre Augen nicht erreicht.

Kapitel 5

 

Das ist mittlerweile die 7. Jeans, die ich anprobiere. Es ist ja klar, dass ich meine jetzige Größe nicht weiß, aber dass die Verkäuferin auch so schlecht meine Größe schätzen konnte, ist wirklich unglaublich.

Sogar meine Mutter hat dadurch soviel Zeit, dass sie sich selbst eine Bluse in dem Klamottengeschäft rausgefischt hat und in der Kabine neben mir soviel Krach macht, dass es mir fast schon peinlich ist.

„Silver, komm mal rüber. Ich bin mir unsicher, ob bei dieser Bluse meine Standardgröße am besten sitzt. Ah! Komm schnell, meine Haare haben sich am Knopf verfangen.“

Seufzend steige ich von der Jeans Nr. 7, von der ich mich mit großer Mühe befreien kann. Dann ziehe ich den Vorhang zur Seite und laufe in Unterhose und Top zur Kabine daneben. Dabei entgeht mir nicht, wie ein kleiner Junge - schätze 6 Jahre alt - auf einem Hocker sitzt und mich anstarrt, während das Eisstiel gefährlich schief in seiner Hand gehalten wird.

Der Anblick meiner Mutter ist wirklich zum Schreien. Verzweifelnd steht sie in einer komischen gebückten Haltung und versucht vergeblich die Haarsträhnen aus einem Blusenknopf zu trennen.

„Mum, lass mich mal ran.“ Vorsichtig trenne ich die Strähnen einzeln aus dem Knopf, während ich ihn drehe.

Als sich meine Mutter aufrichtet, schaut sie mich erwartungsvoll an. „Und?“ Sie dreht sich um ihre eigene Achse.

Die azurblaue Bluse schmiegt sich wirklich gut an ihrem Körper. Besonders passt sie zu ihren kastanienbraunen schulterlangen Haaren. Ja, sie ist wirklich hübsch.

„Es steht dir super“, gebe ich schließlich von mir und meine es auch so.

Mit einem zufriedenen Lächeln wirft sie einen Blick in den Spiegel. Doch dann weicht es augenblicklich von ihrem Gesicht und sie dreht sich erschrocken um. „Du bist doch nicht SO rumgelaufen!“ Ihr erschrockener Blick streift mich von unten herauf. Ich kann ein Grinsen nicht verkneifen. Doch sofort bereue ich es, denn ihre Augen verwandeln sich zu Schlitzen.

„Silver Haygilton, du bist nicht mehr 13! Du kannst nicht ohne Bedenken so rumlaufen! Du bist eine erwachsene Frau und demnach sieht dein Körper auch so aus!“

„Mum… es sind doch nur 1 Meter von meiner zu deiner Kabine“, versuche ich mich zu rechtfertigen.

„Das ist mir egal. Das hier ist eine gemischte Anprobe!“ Sie greift zu ihrem Blumenschal, den sie heute anhatte und wirft ihn mir zu. „Bind dir das um. Und sag mir Bescheid, wenn du deine Jeansgröße weiß. Wir müssen dir alle möglichen kaufen. Blau, Schwarz, weiß….“

„Ja ja schon gut, Mum“, unterbreche ich sie und binde mir den Schal um, sodass es wie ein Rock aussieht. Mit einem aufgesetzten Grinsen husche ich aus der Kabine.

Der Junge auf dem Hocker weint gerade während sein Blick auf die Pfütze auf dem Boden gerichtet ist. Ohne zu zögern schreite ich zu ihm herüber und gehe in die Hocke.

Er bemerkt mich gar nicht, deswegen lege ich vorsichtig eine Hand auf seinen Oberschenkel. Langsam hebt er seinen Blick und schaut mir schließlich in die Augen. Ich lächele ihn aufmunternd an.

„Hey, weinst du um das Eis?“ Er nickte leicht, während weiterhin Tränen über seine roten Wangen laufen. „Hey, das musst du nicht. Wir kaufen dir ein Neues.“

Ich streiche ihm die schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht und betrachte ihn lächelnd. Endlich hören die Tränen auf und plötzlich passiert mir eine Art Déjà-Vu. Wieder schauen mich blaue Augen an. Sie ähneln dem Jungen im Supermarkt. Doch ich schüttele den Gedanken ab. Nein, die von dem Kerl waren eisblau. Diese hier strahlen Wärme aus und wecken in mir sogar eine Art Mutterinstinkt.

„Aber nur Magnum Gold“, kommt es entschlossen von dem Kleinen. Verwirrt blicke ich auf die Pfütze neben ihm und erkenne, dass es wirklich die Sorte ist. Beziehungsweise war.

Was hatten heute alle mit dem Eis?

„Kein Problem. Ich hole schnell Geld und gebe dem Personal über den kleinen Unfall hier Bescheid, okay?“ Dabei deute ich auf die Pfütze und der Kleine nickt wieder.

Schnell springe ich auf und laufe in meine Kabine. Als ich in den Spiegel blicke, betrachte ich meinen „Rock“. Eigentlich sieht er nicht so schlecht aus. Und es ist Sommer. Also warum nicht?

Ich schnappe mir meinen Geldbeutel. Beim Vorbeigehen sage ich meiner Mutter schnell Bescheid und sie ist sofort einverstanden, da sie sich anscheinend auch noch an die Kategorie Hosen rangemacht hat.

Bedacht suche ich mir den am nettesten aussehenden Verkäufer aus und berichte ihn von der Pfütze. Er nickt freundlich, doch mir entgeht sein Augenverdrehen nicht. Trotzdem ignoriere ich es und ziehe den Kleinen mit nach draußen. Nun stehen wir vor einem Eiscafe des Einkaufszentrums, das nur einen Stockwerk über dem Klamottengeschäft liegt.

Als wir an der Schlange stehen, zupft der Junge an meinem Rock. Ich blicke ihn fragend an. „Magnum Gold“, murmelt dieser.

Verdammt, das hatte ich ganz vergessen. Der Kleine ist wirklich hartnäckig.

„Tschuldige, mein Fehler.“ Ich ziehe ihn weiter. Es fühlt sich so fremd an, seine kleinen Wurstfinger in meinen verschränkt zu haben, aber es ist ein gutes Gefühl. Der Kleine lässt mir - wenn auch unbewusst - mehr Wärme in mein Herz fließen, als ich seit meinem Aufwachen gespürt habe. Nicht einmal mal, als mich meine Mutter umarmt hat.

Da ich das Einkaufszentrum nicht kenne, weil es neu für mich ist, schlendern wir ziellos durch die Gegend. Ich suche vergeblich nach Plänen, die die Geschäfte in diesem Gebäude zeigen sollen, doch finde bis jetzt keinen.

Plötzlich fängt das Handy des Kleinen zu klingeln.

„Du hast schon ein Handy?“, frage ich verwundert während er es rauszieht.

„Ich bin 8“, sagt dieser stolz und drückt tatsächlich auf die grüne Taste. Der Kleine wusste schon, wie man mit einem Handy umgeht. Mit 8 habe ich gerade mal mit Tyler auf dem Spielplatz gespielt und noch nie von elektronischen Sachen wie Gameboy gehört.

Obwohl der Junge das Handy an seinem Ohr hält, kann ich die Stimme aus dem Handy deutlich hören. Freundlich klingt sie nicht gerade.

Ich merke, wie die Hand des Jungen in meiner Hand kaum bemerkbar anfängt zu zittern. Was zum..?

„...Ja“, höre ich den Kleinen sagen.

„Ich bin…“ Er bleibt abrupt stehen, sodass ich zurückgezogen werde, und schaut sich um. „… vor Zara“, beendet er schließlich den Satz.

„Ja, Jason. Ein nettes Mädchen ist bei mir. Sie ist so alt wie du, denke ich.“ Wieder diese gruselige Stimme. „Nein, sie will mich nicht entführen, sondern ein Magnum Gold kaufen.“

Ich muss bei dem Satz grinsen. Zu gerne würde ich wissen, mit wem er da gerade redet.

„Beeil dich. Vielleicht kauft sie dir auch einen.“ Dann legt der Kleine auf. Er lächelt mich strahlend an während ich wieder grinsen muss.

„Wer war das?“, frage ich.

„Mein Bruder.“ Seine Augen strahlen förmlich bei dem Wort Bruder.

„War er vorhin bei dir?“

„Ja, aber dann meint er, ich soll auf ihn warten und dort sitzen. Ich habe ihn versprochen nicht wegzugehen.“ Bedrückt schaut er auf den Boden, als würde er bereuen, dass er mit mir gegangen ist.

„Das war nicht deine Schuld. Ich will dir doch ein Eis kaufen. Wenn er da ist, können wir weiter suchen gehen.“ Ich fahre mir durch die Haare. „Allerdings weiß ich nicht genau, wo man hier einen Magnum Gold kriegt. Gibt es hier sowas wie einen Rewe oder so?“

„Ja ganz unten. Bist du zum 1. Mal hier?“ Neugierig schaut mich der Junge an.

„Kann man so sagen“, antworte ich und lächele. Ich habe eindeutig den Kleinen bereits in mein Herz geschlossen.

„Bist du hierher gezogen?“ Wow, der kann gut Smalltalk führen.

„Nein. Ich wohne schon immer in Hudson. Aber naja, sagen wir so, ich habe die letzten 5 Jahre meines Lebens vergessen.“

Der Kleine bringt mich echt dazu, meine Lebensgeschichte zu erzählen.

Seine süßen blauen Augen weiten sich. „Wie?“

Ich neige meinen Kopf verlegen zur Seite und überlege fieberhaft, wie ich es einem 8-jährigen Jungen möglichst schonend beibringen kann. Er soll ja nicht den Schock seines Lebens kriegen oder so.

„Naja… Ich hatte einen kleinen Unfall und mein Kopf angeschlagen. Dadurch verlor ich diese Erinnerungen.“

„Möchtest du sie wieder haben?“, fragt er, als wären die Erinnerungen wie das Eis, das man mal schnell bei Rewe wieder kaufen kann.

Ich überlege. Gute Frage. Will ich sie wirklich zurück? Will ich wissen, wie ich so war? Und überhaupt: Wie will ich es herausfinden?

Ich habe definitiv eine gewisse Angst davor. Davor zu wissen, was ich alles erlebt habe. Denn ich bin mir nicht sicher, ob alles ausschließlich gute Ereignisse waren.

„Jason!“ Die Stimme des Kleinen reißt mich aus meinen Gedanken. Mit einem Ruck werde ich von dem Kleinen gezogen, sodass ich beinahe umfalle. Mein Blick ist sicherheitshalber nach unten gerichtet, da ich Angst habe, über etwas zu stolpern. Der Kleine reißt mich solange mit sich bis wir schließlich vor jemanden stehen. Ich schaue von unten herauf. Verwaschene Jeans, weißes T-shirt, markantes Kinn, Nase… halt!

„Scheiße“, kommt es unbeabsichtigt über meine Lippen.

Mein Gegenüber sieht auch nicht gerade begeistert aus, als er mich sieht. Wieder läuft mir ein eiskalter Schauer über den Rücken, als mich wieder diese eisblauen Augen anblicken.

„Was ist los?“, kommt es von dem Kleinen, der fragend zwischen uns hin und her blickt.

Ich schlucke. „Nichts. Lass uns dein Eis kaufen.“

„Nichts da“, unterbricht mich mein Gegenüber.

„Jason, ich will mein Eis!“ Der Kleine ergreift plötzlich die Hand seines Bruders und so zieht er uns durch das Einkaufszentrum. Sowohl ich als auch der Eisklotz sind etwas verblüfft, doch wir sagen nichts und lassen uns mitschleifen. Als wir die Rolltreppe nehmen, schreitet der Kleine so hektisch nach vorne, dass Eisklotz und ich mitgezogen werden und aneinander prallen, da die Rolltreppe nur für zwei Personen breit ist.

Mir läuft wieder ein Schauer über den Rücken, als mein nackter Arm seinen berührt, obwohl ich spüre, wie warm dieser ist.

„Hey“, spricht Eisklotz plötzlich zu mir.

„Warum kaufst du Nate ein Eis?“ Während er spricht, durchbohren mich seine Augen. Ich wende den Blick von diesen intensiven Augen ab und schaue den Rücken des Kleinen an. Nate heißt er also. Wahrscheinlich kommt es von Nathan. Ich muss unwillkürlich lächeln, denn wieder schleicht sich das warme Gefühl in mein Herz. Genau wie in dem Moment, wo ich die Hand des Kleinen in meine genommen habe.

Schnell blicke ich wieder Eisklotz an, dessen Blick immer noch auf mir ruht. Doch sein Blick ist nicht mehr kalt und distanziert, sondern ich erkenne… Wärme darin?! Schnell schüttele ich den letzten Gedanken ab.

„Sagen wir so, ich bin der Grund, warum er sein erstes Eis nicht essen konnte“, beantworte ich Eisklotz die Frage.

Nate dreht sich daraufhin zu uns um. „Sie lief in Unterwäsche rum!“

Automatisch klappt meine Kinnlade herunter. Musste er das jetzt sagen?

Ich höre, wie Eisklotz neben mir anfängt zu lachen. Wütend schaue ich ihn an. Jetzt lacht er mich auch noch aus. Na toll.

„Du hast schöne lange Beine“, kommt es wieder von Nate und sofort verstummt das Lachen von Eisklotz. Auch meine Augenbrauen schießen in die Höhe und ich werde prompt rot. Wegen einem 8-Jährigen!!!

Ich merke, wie Eisklotz mich wieder ansieht, doch ignoriere es.

Nur das dadurch auslösende Gefühl in mir kann ich nicht ignorieren.

Endlich kommen wir unten an und diesmal bin ich diejenige, die die kleine Bande mitzieht. Ich suche und suche… und da! Das rot-weiße-Schild mit der Aufschrift REWE strahlt mir förmlich entgegen und in dem Moment ist es wie das Licht am Ende des Tunnels für mich. Die Situation ist mir deutlich zu peinlich geworden.

Wir laufen zu den Gefriertruhen und Nate greift sich zwei Eisstiele mit dem Geschmack Magnum Gold heraus. Dann blickt er mich an.

„Jason und ich lieben Magnum Gold. Möchtest du auch?“

„Ja, tut sie“, antwortet Eisklotz plötzlich für mich.

Etwas verwirrt schaut Nate genau wie ich ihn an, doch greift gleich danach ein drittes heraus. Zufrieden läuft er in Richtung Kasse und wir laufen ihm schweigend nach. Als ich meinen Geldbeutel rauszucke, hält mich Eisklotz auf.

„Ich zahle“, meint er kühl.

„Nein, ich zahle Nates. Das bin ich ihm schuldig“, erwidere ich entschlossen, sodass dieser nur die Augen verdreht.

„Bitte. Dann zahl ich deins“, gibt er zurück und wirft einen 5 Euroschein auf das Kassenband.

„Bitte“, gebe ich genauso mürrisch zurück. Himmel, wie bezahlt der denn bitte?

Die Frage stellt sich anscheinend auch die blonde Kassiererin. Nichts desto trotz nimmt sie schweigend den Geldschein während sie Eisklotz nicht aus den Augen lässt und mit ihren Wimpern ein paar Mal zu viel klimpert. Der hingegen geht erst nicht auf sie ein, sondern reißt seine Eispackung auf und fängt mit seiner Zunge an die Schokolade zu lecken. Er wirft der Kassiererin einen zweideutigen Blick zu während seine Zunge ein kleines perverses Spiel mit der Schokolade treibt und sofort wird diese rot. Daraufhin dreht Eisklotz sich grinsend um und zieht Nate mit sich. Bevor ich allein gelassen werde, greift Nate nach meiner Hand und ich werde mitgezogen.

Na das kann ja heiter werden.

 

 

Schweigend beiße ich von meinem Eis ab während wir wieder wie eine verkettete Bande durch die Gegend laufen. Dabei schauen uns viele Leute an während sie an uns vorbei laufen und ich bemerke auch, dass uns ein paar Mädchen sehnsüchtig anschauen.

Als wir an einer Clique aus drei Mädchen vorbeilaufen, fange ich einen Satz einer Blonden auf: „Seit wann hat Jason bitte schön eine Freundin?“

Verwirrt schaue ich zu Eisklotz, der es aber anscheinend nicht mitbekommt oder es gekonnt ignoriert.

War der eine Art Player oder Mädchenhasser oder warum ist es so absurd, dass er eine Freundin haben könnte?

Irgendwann landen wir auf dem obersten Stockwerk des Einkaufszentrums. Ich erhasche das Schild: Skydeck, ehe wir ins Freie treten. Mein Blick gleitet an Gras, Blumen, Bänke, Bäume und sogar einen wunderschönen Brunnen vorbei. Es sieht aus wie ein Park, nur dass es auf dem Dach eines Shoppingcenters liegt.

Augenblicklich bekomme ich so etwas wie ein Schlag ins Gesicht.

Plötzlich erscheinen so viele Bilder in meinem Kopf, doch ich kann nichts erkennen, denn es sind so viele und so ungeordnet. Mir läuft ein eisiger Schauer über den Rücken und mein Herz fängt plötzlich an heftig zu schlagen, sodass ich das Gefühl bekomme, keine Luft mehr zu bekommen.

„Nein!“, entfährt es mir vor Schmerzen. Ich merke, dass meine Knie den Boden berühren, doch ich kann es nicht verhindern, so zusammenzusacken.

Plötzlich spüre ich, wie mich starke Arme hochheben, doch ich sacke wieder zusammen, jedoch stoße ich diesmal gegen eine Brust. Trotz meines Durcheinanders von Bildern und Gefühlen in meinem Kopf vernehme ich ein kleines Seufzen, als dann aufeinmal zwei Arme mich hochheben. Ich zittere am ganzen Körper und kralle mich an der Brust meines Retters ab. Ein leises Wimmern entfährt mir und mein Herz krampft sich zusammen.

Ich spüre, wie er mich auf seinen Schoß absetzt, jedoch die Arme immer noch um mich schlägt. Mein Atem wird langsamer ruhiger. Irgendwann nehme ich die Stimme von Nate wahr.

„Was ist mit ihr?“, fragt dieser besorgt.

„Sssschh“, ertönt eine beruhigende Stimme, die ich sofort erkenne. Jason.

„Sie macht mir Angst“, kommt es wieder leise von Nate.

Ich versuche mich zu beruhigen. Dann spüre ich, wie ich sanft am Rücken gestreichelt werde. Mein Herzschlag findet langsam seinen normalen Rhythmus und ich öffne meine Augen.

Mir blicken eisblaue Augen entgegen. Doch nur die Farbe ist eisblau. Ich glaube es in dem Moment selbst nicht. Er schaut mich wirklich liebevoll und auch etwas besorgt an.

Ich vergesse für einen Moment, was noch eben passiert ist. War das ein Schockzustand? Was waren diese Wellen von Bildern? Und warum kamen diese genau hier und jetzt?

Vorsichtig löse ich mich so weit wie möglich aus Jasons Umarmung. Nichts desto trotz sitze ich immer noch auf seinem Schoß und meine Beine liegen auf der Bank, auf der wir sitzen. Als ich sehe, wie Nate mich verzweifelt anschaut, versuche ich ein Lächeln.

„Tut mir leid“, sage ich in die Richtung des Kleinen.

„Ich wollte dir keine Angst machen.“

Nates Augen sehen darauf erleichtert aus. Ich blicke den Eisklotz wieder an.

„Danke“, hauche ich zu ihm. Himmel, ich bin so verlegen und es ist mir so peinlich.

„Schon okay“, erwidert dieser, doch sein Gesicht verzieht keine Miene. Nur zu gerne würde ich wissen, was er gerade denkt.

Dann senkt Eisklotz seinen Blick auf seine Brust. Als ich seinen Blick folge, sehe ich die roten Kratzer unter seinem Hals. Da sie noch rot und frisch aussehen, weiß ich genau, dass sie von mir stammen.

„Entschuldigung.“, setze ich an. „Ich … Keine Ahnung, was das eben war.“ Verlegen schaue ich zur Seite.

Eisklotz blickt wieder auf. Einen Moment spüre ich seinen Blick auf mir. Irgendwann räuspert er sich und hält mir mein Eis hin.

„Hier, das hast du… beinahe fallen gelassen.“ Seine Stimme klingt nicht mehr so kühl wie er sonst mit mir spricht.

Wortlos nehme ich das Eis entgegen. Nate isst noch immer seins. Der linke Arm von Eisklotz liegt immer noch auf meinem Rücken und den anderen hat er auf meine Beine gelegt, sodass sie nicht wegrutschen. 

„Wo ist dein Eis?“, frage ich Eisklotz.

Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch wird von Nate unterbrochen.

„Der hat seins fallen gelassen, als du so naja… du weißt schon.“

Verwundert schaue ich Eisklotz an, der jedoch meinen Blick ausweicht.

„Danke“, sage ich. Mal wieder.

Irgendwann fühle ich mich doch unangenehm und mache Anstalten aufzustehen. Eisklotz löst sich langsam von mir und ich setze mich neben Nate. Der Körperkontakt mit ihm ist mir so unangenehm geworden, dass ich mich so weit wie möglich von ihm wegsetzen muss. Silver, du hast einfach vergessen wie es ist, von einem Kerl angefasst zu werden! Sonst nichts!

Seufzend esse ich weiter mein Eis.

„Was war denn eben mit dir?“ Nate scheint das brennend zu interessieren. Doch ich weiß die Antwort selbst nichts. Und überhaupt weiß ich so gut wie nichts von mir.

„Nathan“, kommt es mahnend von Eisklotz. „Frag nicht immer soviel.“

Daraufhin senkt der Kleine seinen Blick zu Boden. Kurze Zeit später schaut er wieder auf und sieht mich an.

„Wie heißt du eigentlich?“

„Silver. Heiße ich. Silver Haygilton“, antworte ich und blicke nach vorne.

Keine Antwort.

„Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor“, meint Nate schließlich. Ich schaue ihn verblüfft an.

„Wirklich?“

„Ja, ey Jason…“ „Wir sollten gehen“, unterbricht Eisklotz seinen Bruder auf einmal.

Seine Haltung hat sich etwas versteift und seinen Blick hat er stur nach vorne gerichtet. Was hat er denn schon wieder?

Plötzlich fällt mir meine Mutter ein. Sie macht sich bestimmt schon Sorgen.

Ich springe wie vom Blitz getroffen auf. Währenddessen schleift Eisklotz seinen Bruder mit sich und wir kehren schweigend zum ersten Stockwerk zurück. Ich entdecke den Klamottenladen und drehe mich zu den beiden um, um mich zu verabschieden, als der kleine Nate an meinem Rock zupft. Lächelnd gehe ich in die Hocke, woraufhin dieser mir seine kleinen Arme um den Hals schlingt.

Sofort erwidere ich diese kleine warmherzige Umarmung und muss dabei lächeln.

Eisklotz steht immer noch schweigend hinter Nate und beobachtet uns. Mir wird sein Blick unangenehm und ich löse mich vorsichtig von Nate.

„Wir sehen uns bestimmt noch“, sage ich ihm lächelnd.

„Bestimmt! Ich brauche deine Nummer nicht. Wir werden dich so oder so finden!“, ruft dieser als Antwort etwas zu laut, sodass sich manche Leute zu uns umdrehen.

Von seiner entschlossenen Antwort, dass wir uns wiedersehen werden, gerührt, gebe ich ihm einen kurzen Wangenkuss. Dann stelle ich mich direkt vor dem Eisklotz, sodass dieser mich anblicken muss.

„Vielen Dank für…“ Ich suche nach Worten. „das Eis.“

Für seine Umarmung habe ich mich ja bereits bedankt.

Verwundert stelle ich fest, dass mein Gegenüber auch nach Worten sucht. Dabei sieht er leicht verzweifelt aus so als würde er mit sich selbst ringen und ich denke mir für einen Moment, dass er vielleicht doch nicht so kalt ist, wie er vorgibt.

Von meinem letzten Gedanken geleitet, gebe ich ihm einen kürzeren als Nates, aber sanften Wangenkuss, ehe ich mich abrupt umdrehe und in den Klamottenladen laufe.

Seine Reaktion will ich erst gar nicht abwarten. Am Ende schießt er mir wieder ein Haufen Eiszapfen ins Gesicht. 

Kapitel 6

 

Zu meiner Erleichterung befindet sich meine Mutter immer noch in ihrer Kabine. Ich stecke meinen Kopf durch den Vorhang herein und kassiere einen nachdenklichen Blick von ihr.

„Wo warst du denn solange?“, fragt sie mich während sie langsam in ihre Klamotten schlüpft.

„Eis essen. Habe ich dir doch schon gesagt, Mum.“

„War der Junge denn alleine?“, hakt sie schließlich nach.

Einen Moment überlege ich ihr von Mr. Eisklotz zu erzählen. Dass er der große Bruder von Nate ist, doch irgendwas hält mich davon ab.

„Ja, wir waren nur zu zweit.“, lüge ich. Damit ich glaubwürdiger rüberkomme, setze ich noch an. „Er ist so süß, der Kleine. Er hat mir Geschichten über sich erzählt und ich habe ihm zugehört.“

Ich merke, dass sich meine Mutter mit der Antwort zufrieden gibt.

„So, dann kümmern wir uns jetzt um deine Klamotten. Ich werde mir die beiden Blusen und die Hose da kaufen.“ Sie hält mir die aufgezählten Teile hin. Ihr Kleidungsstil hat sich sichtlich verändert. Früher ist er nicht so… gewagt gewesen.

Als Antwort nicke ich nur und schlendere zu meiner Kabine. Den Geldbeutel stecke ich wieder in meine Tasche und probiere Jeans Nr.8 an. Zum Glück passt sie mir. Daraufhin kommandiert meine Mutter die vorherige Verkäuferin - auch wenn ich sie nicht will, weil sie anscheinend keine Ahnung von Kleidungsgrößen hat - mir alle Jeans in dieser Größe rauszusuchen. Nach einer Weile steht diese mit einem Dutzend Röhrenjeans in der Hand und schaut leicht verzweifelt zu mir. Ich entscheide mich schließlich für eine helle und dunkel blaue Jeans. Einfach was schlichtes. Meine Mutter nimmt jedoch auch noch die weiße und schwarze Jeans für mich mit. Bevor wir die Kasse erreichen, sehe ich eine Highwaist Hotpant, die aus verwaschener Jeans und Nieten besteht. Ein paar Löcher hat sie auch, doch sie gefällt mir.

„Etwas zu frech, findest du nicht?“, kommentiert meine Mutter meine letzte Beute. Ich schüttele nur den Kopf, woraufhin sie nichts mehr sagt.

Sie zieht mich noch in drei anderen Klamottenläden, wo wir verschiedene Oberteile kaufen und am Ende auch noch Unterwäsche. Hunkemöller. Den Namen muss ich mir merken. Die Unterwäsche dort gefällt mir ganz gut.

Mit sechs Tüten bepackt, schlendern wir zum Auto.

„Mum, ich brauche noch eine neue SIM-Karte.“

„Wieso das? Du hast doch noch dein altes, nicht?“

„Ja, aber ich weiß mein Pin nicht mehr.“

„Achso.“ Sie überlegt kurz. „Das kriegen wir schon hin. Wir haben noch den PUK-Code.“

Dass mir das nicht eingefallen ist.

„Danke, Mum.“, sage ich schließlich, als ich auf dem Beifahrersitz hocke.

„Ich bin immer für dich da, Silver. Es ist klar, dass die nächste Zeit nicht leicht für dich ist. Doch wenn du Fragen hast, komm einfach zu mir, okay? Ich erzähle dir alles Stück für Stück“, sagt sie mir während sie mich anlächelt.

„Mache ich“, erwidere ich. Ich denke an heute. Immer noch macht mich das auf dem Skydeck zu schaffen, auch wenn ich es beim Shoppen versucht habe zu ignorieren.

Waren diese Bilder Erinnerungen?

Ich erinnere mich, wie der Arzt gesagt hat, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass ich sie zurück erlange. Nein, nicht unwahrscheinlich. Bei ihm klang es so, als wäre es genauso wahrscheinlich wie, dass ich irgendwann Superkräfte erlangen würde.

Während wir mit dem Auto durch die Stadt fahren, schaue ich neugierig die Leute auf dem Bürgersteig an.

Jeder von ihnen kann jemand sein, mit dem ich mal gesprochen habe. Oder sogar mehr. Nur schön, dass ich keine Ahnung habe. Sie schon.

„Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.“

Mir fallen Nates Worte ein.

Wie kann das sein? Wann ist mein Name denn gefallen und vor allem von wem? Vielleicht hat er sich auch nur geirrt. Nein. Ich kann nicht immer bezweifeln, dass alles Zufall ist. Jeden noch so kleinen Hinweis muss ich nachgehen. Sonst würde ich nie an mein Ziel kommen. Ich muss ihn unbedingt darauf ansprechen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.

Als wir zuhause ankommen, trage ich die sechs Tüten mit den Klamotten, auch wenn meine Mutter protestieren will, dass sie vielleichtzu schwer sind und ich mich nicht überanstrengen soll. Jedoch finde ich, dass die Einkaufstüten vom Supermarkt, die meine Mutter tragen muss, viel schwerer sind, sodass meine zusammen ein Klacks sind.

An der Haustür angekommen, gebe ich den Code ein. Mit einem Klick öffnet sich die Tür und ich trete ein.

Ich muss mich echt noch an diesen Hightech gewöhnen.

Die Tüten schleppe ich hoch auf mein Zimmer und die Tüte meiner Mutter lege ich auf das Bett in ihrem Schlafzimmer. Ich schlüpfe aus meinem „Rock“ und ziehe mir stattdessen eine Jogginghose und ein T-shirt an, welche zu den Sachen gehören, die ich heute ergattert habe.

Als ich runterlaufe, um mir ein Glas Wasser zu holen, sehe ich meinen Vater am Küchentisch sitzen. Meine Mutter sitzt mit einem Kaffee neben ihm.

„Hey, Dad“, begrüße ich ihn.

„Wie war das Einkaufen?“, fragt dieser mich.

„Ganz gut. Wir haben ziemlich viel gekauft.“ Ich zwinkere dabei meiner Mutter zu, die es mit einem Lächeln erwidert.

„Wie war deine Arbeit? Du arbeitest noch in der Firma oder?“

Mit der Firma meine ich die Siemens AG. Seit dem ich geboren wurde, arbeitet er schon da und hat auch eine angesehene Stelle als Wirtschaftsingenieur. Doch ich bin mir nicht sicher, ob er damit so gut verdient, sodass wir uns dieses Hightechhaus leisten können.

 „Ich habe eine bessere Stelle bekommen. Vor 2 Jahren. Jetzt arbeite ich als Projektleiter für ausländische Aufträge von Siemens.“

„Heißt das auch, dass du immer reisen musst?“

„Ja, leider. Ich reise alle 3 Wochen“, beantwortet dieser meine Frage und schaut mich vorsichtig an.

„WAS?! Dann bist du ja fast nie da!“

„Es sind immer nur ein paar Tage. Manchmal eine Woche.“

Okay, er will mich anscheinend beruhigen, aber es klappt nicht. Zu krass ist es für mich, dass mein Vater, der eigentlich immer da ist und täglich mit uns zu Morgen und Abend isst, plötzlich alle 3 Wochen irgendwo im Ausland ist.

„Trotzdem“, gebe ich patzig zurück und lasse mich auf dem Hocker fallen. „Ist es… ist es deswegen, dass du so ein Haus gekauft hast?“ Während ich rede, betrachte ich skeptisch die Wände der Küche. Dieses Haus hat einfach null Ähnlichkeit mit unserem alten. Das alte war gemütlich, warm und es hatte immer schön nach Holz gerochen. Auch einen Kamin hatten wir. Die Farben unserer Möbel waren auch warme Farben. Größtenteils beige, dunkelrot und karamellbraun. Doch DIESE Einrichtung hier ist ausschließlich weiß oder metallfarben. Ich hasse diese Sterilität.

 „Das Haus war zu dem Zeitpunkt billig verkauft worden. Mein Kollege von der Firma hatte hier gewohnt. Es ist sicher.“

„Ich finde unser altes schöner“, murmele ich. „Wohnt da jetzt jemand?“

„Ich denke schon.“

Meine Mutter, die die ganze Zeit nichts gesagt hat, und nur an ihrem Kaffee geschlürft hat, steht auf und beginnt die Einkaufstüten auszupacken.

„Ich werde heute Gulasch heute machen. Das magst du doch so gerne, Silver“, sagt sie während sie anfängt das Gemüse zu waschen.

„Warte ich helfe dir.“

 

 

Nachdem wir fertig gekocht haben und uns alle drei den Magen satt gegessen haben, stehe ich auf und räume den Tisch ab.

„Mum, gibst du mir den PUK?“, frage ich an sie gewandt.

„Klar doch. Es müsste unter meinem Schreibtisch sein. In die Verpackung deines Handys habe ich es getan.“

„Alles klar.“ Mit den Worten schlendere ich nach oben. An die Treppe habe ich mich so langsam gewöhnt, doch dieses kleine mulmige Gefühl lässt mich trotzdem nicht los. Warum auch immer.

Im Schlafzimmer meiner Eltern angekommen, laufe ich zum Schreibtisch. Dieser ist deutlich größer als meins und es liegen viele Mappen und Unterlagen auf dem Tisch. Wahrscheinlich von meinem Vater. Ich beuge mich runter und sehe viele kleine Verpackungen. Die meisten sind von elektronischen Geräten. Nicht lange und ich entdecke das von meinem Handy und hole es vorsichtig raus. Es sind einige Kabeln und die Anleitung drin. Ganz unten sehe ich den PUK Code. Ich merke ihn mir und verstaue die Sachen wieder zurück. Dann laufe ich in mein Zimmer und tippe es in mein Handy ein. Ich bete dafür, dass ich keinen Sperrungscode habe, sonst wäre dies wieder ein Hindernis gewesen. Doch soweit ich weiß, habe ich bis jetzt nie einen eingestellt.

Und tatsächlich. Das Menü springt mir entgegen, nachdem ich den PIN-Code eingegeben habe. Glücklich wie ein kleines Kind hüpfe ich samt Handy in der Hand auf mein Bett und tippe mich schnell durch mein Handy.

Okay, Whatsapp, Facebook und Skype sind meine einzigen Social Apps und ich sehe neue Spiele. Auch wenn ich mich daran erinnern kann, dass ich noch nie so etwas benutzt habe, wusste ich mit 13 Jahren dennoch was Apps sind, doch wie gesagt: Meine Eltern waren keine Fans von der neuesten Technologie. Und mir war es nicht so wichtig.

Sogar eine Fitnessapp entdecke ich und muss dabei grinsen. Ich habe also doch Sport gemacht.

„Mmmh“, kommt es nachdenklich über meine Lippen. Ich springe vom Bett auf und schließe das Zimmer ab. Dann laufe ich zum Fenster und lasse die Rollladen herunter, sodass nur noch die Lampe an der Decke das Zimmer beleuchtet. Ich ziehe das Top und die Jogginghose aus. Wieder trete ich - wie heute morgen - an den Spiegel und mustere mich. Ich trage immer noch den weißen Spitzen-BH meiner Mum und eine rosa Unterhose. Skeptisch schaue ich mir jeden Winkel meines Körpers an. Ich habe mich eindeutig viel verändert in den Jahren.

Auf meinem Bauch zeichnen sich deutliche Muskeln ab, wenn nicht sogar einen kleinen Ansatz von einem Sixpack. Ich frage mich, was für eine Sportart ich wohl gemacht habe. Generell muss ich meine Eltern fragen. Über alles. Ich möchte, dass sie mir alles, was sie wissen erzählen.

Dann gleitet mein Blick auf meine Beine.

Ich erinnere mich an, was der kleine Nate gesagt hat und werde sofort rot. Doch ich habe wirklich lange Beine. Sie gefallen mir.

Eigentlich sehe ich im Großen und Ganzen gut aus, wenn nicht sogar wirklich gut aus. Mir gefallen meine Proportionen. Wenigstens etwas hat sich so verändert, dass es mir gefällt.

Der Rest - das Haus, die Umstellung mit meinem Dad, meine Freunde, die sich nicht melden - alles ist so verdammt komisch. Und neu.

Seufzend ziehe ich mich wieder an und mache mich wieder an mein Handy heran. Es gibt keine einzige Nachricht und als ich auf Einstellungen gehe, sehe ich, dass alle 30 Tage alle Nachrichten, die nicht archiviert werden, gelöscht werden. Ich sehe 12 unbeantwortete Anrufe und davon 2 Mailboxnachrichten. 5 sind von einer Liz. 3 von einem Chris. 2 von David. Neugierig höre ich die Mailboxnachrichten ab.

„Hey, Silver wo zum Teufel bist du?“ Eine raue dunkle Stimme spricht. Es stammt definitiv von einem Jungen. „Ich muss mit dir reden. Ja, ich weiß, dass das scheiße von mir war, aber ich hatte keine Wahl! Und du hast mir nicht die ganze Wahrheit gesagt. Man Silver, ich komme mir richtig dumm vor. Deine Mutter weiß auch nicht wo du bist. Ruf verdammt nochmal zurück!“ Dann kommt ein Piepen und eine automatische Stimme sagt mir zum Schluss das Datum und die Uhrzeit von der die Nachricht stammt.

20:35 Uhr. 14.Mai. Sofort weiten sich meine Augen. Der Tag, an dem ich meinen Unfall hatte.

14.Mai. - Der Tag, der mein Leben verändert hat.

Mittlerweile ist es der 03.Juni. Ich höre die nächste Nachricht ab.

„Ich weiß, du hast nichts mehr mit Cindy zu tun, aber ich habe Angst, dass sie sich etwas antut! Du bist die einzige, die sie vielleicht aufhalten kann! Bitte komm schnell, ich bin gerade bei ihr in der Wohnung!“ Das Mädchen scheint aufgeregt zu sein. Auch ihre Stimme erkenne ich nicht wieder.

Mein Körper spannt sich an. Was soll das heißen, ich habe nichts mehr mit Cindy zu tun? Hatten wir Streit oder sind wir nicht mehr miteinander befreundet? Und was meinte sie, dass Cindy sich etwas antun will?!

Ich muss es unbedingt erfahren. Auch die Nachricht war vom 14. Mai. Kurz nach der Nachricht von dem Jungen.

Erst atme ich tief ein, ehe ich zurückrufe. Ein Piepen ertönt. Dann zwei… dann drei…

„Hallo?“ Es ist die Stimme des Mädchens.

„Hey… ich bin.. Silver“, stottere ich ins Handy. Mein Herz klopft dabei schneller und ich versuche nicht so nervös zu sein.

„Silver“ Es klingt wie eine Feststellung.

„Ja“, krächze ich zurück. Gott, ich muss mich wirklich beruhigen.

Eine Weile sagt sie nichts. Ich habe schon Angst, dass sie auflegt, doch dann fängt sie wieder an zu reden.

„Wie geht es dir?“

Ich zögere. „Gut. Ich bin vor 6 Tagen aufgewacht und bin wieder zuhause.“

„Schön. Das freut mich.“ Sie klingt selber etwas nervös. „Ehm… hör zu. Es tut mir leid, dass ich dich angerufen habe. Ich hatte nur so Panik an dem Abend.“

Scheiße, was meint sie?  Plötzlich fällt mir ein, dass sie vielleicht gar nichts von meinem Gedächtnisverlust weißt.

„Also, ich muss dir was sagen.“, setze ich an. „Ich habe dich angerufen, weil ich deine Mailboxnachricht eben abgehört habe. Hör zu, ich hatte an dem Tag einen Unfall und lag 2 Wochen im Komma. Und jetzt habe ich eine Art Gedächtnisverlust. Ich habe keine Erinnerungen von den letzten 5 Jahren meines Lebens. Ich… ich weiß sogar ehrlich gesagt nicht, wer du bist.“

Nervös beiße ich mir auf die Unterlippe. War das etwa zu viel aufeinmal?

Ich höre durch das Handy, dass sie tief Luft holt.

„Von dem Unfall weiß ich. Weiß jeder. Dass du diesen Gedächtnisverlust hast, weiß ich nicht. Ich habe dich einmal besucht, aber…“ Weiter spricht sie nicht.

„Aber was?“, hake ich schnell nach.

„Ich weiß nicht. Ehm… also deine Mutter hat mir gesagt, ich soll nicht mehr wiederkommen“

„Was?“, entfährt es mir plötzlich.

„Ich bin übrigens Linda. Die Stiefschwester von Cindy.“

Bei den Worten fällt mir die Kinnlade runter. Cindy hat eine Stiefschwester?

„Stiefschwester?“

„Ja… Vor etwa zwei Jahren haben sich ihre Eltern getrennt und ihr Vater hat meine Mutter geheiratet. Daher bin ich ihre Stiefschwester. Hör zu, ich arbeite gerade, aber wenn du willst, können wir uns treffen. Ich kann dir alle Fragen beantworten, soweit ich kann.“

„Okay. Hast du morgen Zeit?“ Am liebsten würde ich jetzt schon mit ihr reden, aber es ist mittlerweile spät abends.

„Ja, um 16 Uhr bin ich fertig mit der Arbeit. Du kannst mich von dort abholen. Ich simse dir die Adresse.“

„Gut, bis morgen, Linda. Und danke.“

„Bis morgen.“ Dann legt sie auf.

Ich atme tief durch. Warum wollte meine Mutter nicht, dass sie mich sieht? Hat sie auch andere weggescheucht, die mich besuchen wollten?

Wieder schaue ich auf mein Handy. Dabei überlege ich, ob ich den Jungen mit der rauen Stimme anrufen soll.

Kurze Zeit später gleiten meine Finger auch schon auf dem Display.

Ich lege das Handy an mein Ohr. Ein Piepen… zwei… drei…vier…fünf…

Ich höre, wie jemand abhebt. Doch es kommt keine Begrüßung. Verwirrt schaue ich auf das Display und sehe auf die Anrufzeit, die normal weiter läuft.

Stirnrunzelnd halte ich das Handy wieder an mein Ohr.

„Hallo?“, frage ich.

Keine Antwort.

„Sprichst du nicht mit mir?“, setze ich wieder an.

Langsam wurde ich wütend. Was soll das?

Als ich ein Atmen am anderen Ende höre, wurde ich richtig wütend.

„Also hör mal, ich habe dich angerufen, weil du mir eine Mailboxnachricht am 14.05. hinterlassen hast. Doch ich habe keine Ahnung, wer du bist. Ich lag bis gestern noch im Krankenhaus. Außerdem habe ich keine Ahnung, wer du bist, weil ich keine Erinnerungen von den letzten 5 Jahren meines Lebens habe, okay? Und jetzt wäre eine Antwort von dir ganz angebracht.“ Meine Stimme bebt richtig und ich atme tief aus während ich auf eine Antwort warte.

Dann kommt endlich eine. Doch die Antwort ist so prompt und die Stimme so kalt, dass ich fast Angst bekomme.

 

„Ich kenne dich nicht.“

 

Dann wurde aufgelegt.

Kapitel 7

 

Genervt taste ich mit immer noch geschlossenen Augen nach dem Wecker. Als meine Hand diese in Besitz nimmt, pfeffere ich es voller Wucht gegen die gegenüberliegende Wand.

„Blödes Ding“, murmele ich verschlafen gegen mein Kissen. Ich habe die letzte Nacht gerade mal zwei Stunden geschlafen. Oder eher heute Morgen, als die Sonne aufging. Und das alles wegen ihr.

Langsam schlage ich meine Augen auf und fahre mir durch meine Haare.

Ich starre dabei an die Decke. Meine Gedanken schweifen wieder zurück. Natürlich. Ich habe ja nur die ganze Nacht über sie nachgedacht. Als wäre das nicht schon genug, tue ich es jetzt wieder.

 

Als sie ihren Namen sagte, habe ich förmlich gespürt, wie sich mein Herz verkrampfte. Natürlich habe ich sie schon im ersten Moment erkannt. Zuerst war ich so in Gedanken während ich die Eispackung anstarrte, sodass ich sofort wütend war, als jemand meine Gedanken durchbrach, nur weil derjenige an das Eis wollte. Doch in dem Moment, kurz nachdem ich dessen Hand weggeschlagen habe, habe ich den Duft sofort wieder erkannt. Diesen rosige Duft mit einem Hauch von Kokos, der mich schon abermals um den Verstand gebracht hat.

Als ich sie von der Seite ansah, erkannte ich sie sofort, auch wenn ihr Blick noch nach unten gesenkt war. Sie aufeinmal so vor mir zu haben hatte mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Doch sie hatte meinen erschrockenen Blick nicht mitbekommen. Zum Glück.

 

Müde schwinge ich meine Beine zur Bettkante und schaue auf mein Handy. Zwei unbeantwortete Anrufe von Chris. Ich beschließe ihn später anzurufen und mache mich im Bad schnell fertig.

 Als ich zurück in das Schlafzimmer komme, erblicke ich den Haufen, was man vor Kurzem noch als Wecker bezeichnen konnte. Mittlerweile ist dieser bestimmt schon der 22., der Bekanntschaft mit meiner Wand gemacht hat.

Jeden Tag einen.

Wie selbstverständlich hole ich einen Neuen aus dem Karton in der Ecke und lege ihn auf den Nachtisch neben dem Bett.

„Ob du es morgen überlebst?“, spreche ich wie ein kranker Schizophren mit dem Wecker Nr. 23.

Von meinem Verhalten selbst schüttele ich ungläubig meinen Kopf.  Auch das würde nicht helfen.

Ich bereite mir in der Küche einen Kaffee vor während ich Chris anrufe. Durch den Lautsprecher ertönt seine Stimme.

„Alter, wo bleibst du?“ Im Hintergrund höre ich Autos hupen.

„Noch zuhause“, antworte ich ihm und nehme ein Schluck vom Kaffee.

„Was ist los? Sonst kommst du doch auch immer pünktlich. Du weißt, John mag es nicht, wenn wir zu spät kommen.“

Kurz überlege ich.

„Ich komme heute nicht ins Training. Komm heute Abend in die Bar. Heute soll es eine Showeinlage geben“, ist schließlich meine Antwort.

„Bist du krank?“, fragt Chris mich besorgt.

„Nein… Lange Geschichte. Erzähle ich dir heute Abend.“

„Klar, man. Sag mal… hast du seitdem mit ihr geredet?“ Scheiße, ich will nicht am Handy über sie reden. Musst der immer so nachfragen?

„Nein, nicht wirklich“, brumme ich. „Ich lege jetzt auf.“

Ohne auf seine Antwort zu warten, beende ich das Gespräch. Ich spüre wie die Luft hier drinnen stickig wird, obwohl das Apartment 150m² groß ist. Dabei bin ich sogar alleine.

Schnell schnappe ich mir die Lederjacke und verlasse das Apartment. Ich schlendere ziellos durch die Gegend bis ich schließlich im Park lande. Mal wieder. Es ist aber auch nicht weit von dem Apartment entfernt.

Erschöpft lasse ich mich auf eine Bank fallen. Ich blicke auf den kleinen See, der sich durch die Sonnenstrahlen glitzernd in der Mitte des Parks erstreckt. Widerwillig denke ich an die damalige Nacht.

Es war kurz nach dem der Frühling begann. Das Wasser war ziemlich kalt, doch das schien kein Problem zu sein. Die Dunkelheit breitete sich überall aus und wir waren, soweit wir nachgeschaut haben, die Einzigen im Park. Immerhin war es auch um 2 Uhr nachts.

Ohne zu zögern zog sie sich kichernd aus und rannte zum See. Ich hingegen zögerte etwas, ehe ich ihr hinterher kam. Sie tauchte unter und für einen Moment fühlte ich mich so alleine und verlassen, ehe sie wiederauftauchte. In dem Moment war es mir klar. Sie war mehr als nur eine gute Freundin.

Ich merke nicht, dass sich ein kleines Lächeln auf mein Gesicht geschlichen hat. Sofort verhärtet sich meine Miene wieder.

 

Nein, ich konnte es nicht. Nicht sie. Nicht Silver. Nicht dem Mädchen, das mein Leben komplett verändert hatte.

 

 

Das Klingeln meines Handys reißt mich aus den Gedanken.

„Ja?“

„Jason, komm sofort hierher. Nate hat sich erkältet. Was habt ihr gestern schon wieder getrieben?“, kommt es aufgebracht von meiner Tante.

Reflexartig springe ich auf. „Bin gleich da.“

Ich merke, wie mich die Frauen im Eiscafe anstarren. Oder eher mein Auto. Doch es ist mir egal. Das war es mir schon immer. Ich schlage die Autotür meines Ultimate Aeros zu und laufe in das Haus, welches gleich neben dem Eiscafe liegt. Zu ungeduldig für den Aufzug nehme ich die Treppe bis ich vor der Wohnung meiner Tante stehe. Sie macht mir schnell auf und ich laufe schnurstracks in das Schlafzimmer, wo ich Nate, im Bett in einer dicken Wolldecke eingepackt, auffinde.

„Ach mein Kleiner.“ Seufzend setze ich mich auf das Bett und fühle an seiner Stirn.

Verdammt ist der warm! 

Meine Tante kommt mit einem nassen Tuch in das Zimmer und legt es auf die Stirn meines Bruders während dessen Augen langsam aufschlagen.

„Jay“, flüstert der Kleine.

Ich beuge mich leicht zu ihm runter.

„Wie geht es dir?“, frage ich ihn besorgt.

„Mmmm“, brummt dieser. „Kopfschmerzen.“

Stirnrunzelnd schaue ich ihn an.

„Das lag am Eis. Ich sage doch, dass du nicht immer soviel davon essen sollst.“

„Es waren doch nur 2.“ Krank und immer noch fähig, mir zu widersprechen. Typisch Nate. „Du hast doch noch die Packung vom Metro oder?“

„Ja, aber davon kriegst du diese Woche nichts mehr“, entgegne ich schroff zurück.

Beim Wort Metro muss ich unwillkürlich wieder an unsere Begegnung denken. Unsere Erste nach dem Unfall.

„Du kannst so eiskalt sein“, meckert Nate seufzend.

Eiskalt. Eisklotz. So hat sie mich nach nicht mal einer Minute wieder genannt. Dabei kennt sie mich doch gar nicht mehr. Warum nannte sie mich dann wieder so?

Ich war so kurz davor ihr zu sagen, dass sie es ist, die mich immer so nennt, doch konnte mich noch beherrschen.  

Verdammt, muss ich bei jeder Kleinigkeit an sie denken?

„Ich mache dir was Warmes. Willst du Suppe?“

„Ich werde ihm Hühnersuppe machen“, kommt es von meiner Tante. Dankbar nicke ich ihr zu und lege mich zu Nate ins Bett. Ich ziehe ihn zu mir. Kurz danach krallen sich auch schon seine kleinen Finger in mein T-shirt.

„Warte bis ich eingeschlafen bin, okay?“, ertönt die Stimme des Kleinen neben mir.

„Na klar. Das mache ich doch immer.“ Ich küsse ihn noch schnell auf dem Kopf.

Nicht lange und wir wandern beide in das Land der Träume.

 

Ich weiß zwar nicht, von was mein kleiner Bruder geträumt hat, aber mein Traum handelt von einem zarten flüchtigen Kuss, das ein Mädchen einem Jungen auf seine Wange gegeben hat - ohne zu wissen, was sie damit in ihm ausgelöst hat.

Kapitel 8

 

Den ganzen Morgen verbringe ich schon damit, meinen „Kleiderschrank“ neu zu ordnen.

Ich glaube es immer noch nicht, dass man mit einem Einkauf von sechs großen Tüten gut die Hälfte eines begehbaren Kleiderschrankes füllen kann. Zufrieden mit meinem kleinen Werk gehe ich nach unten, da mein Magen anfängt zu knurren.

Lustlos mache ich mir Spiegelei und etwas Toast. Mit einer Tasse Kakao setze ich mich an den Küchentisch. Mein Vater hat sich schon längst in die Firma verschanzt während meiner Mutter auch auf der Arbeit ist. Heute Morgen bin ich zu spät aufgewacht, um einen von ihnen zu begegnen.

Ich denke an meine Mutter. Sie ist Managerin in der Musikbranche und hat ständig mit irgendwelchen Produzenten und Sängern zu tun. Als kleines Kind habe ich sie immer gefragt, wann sie mal mit Bruno Mars arbeiten würde und sie sagte immer: bald.

Sie war schon immer top organisiert gewesen und war die Beste in ihrem Job. Sie sagte, wenn ich groß sein würde, würde sie mich auf die Events mitnehmen. Ich frage mich, ob es auch dann so war. Wirklich, meine Mutter kann ziemlich dominant auftreten, wenn sie will.

Gestern Abend hingen meine Gedanken noch lange an dem letzten Anruf. Es macht mich einfach verrückt. Und ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass die Stimme von der Mailbox dieselbe ist, die mir auch diese kurzen kalten Worte gesagt haben.

„Ich kenne dich nicht.“  Dabei klang sie überhaupt nicht neutral. Die Stimme war dunkel. Es hat sich einfach nicht normal angehört, wie wenn man jemanden sagt, dass man ihn nicht kennt. Nein, er hat es so abfällig gesagt.

Mittlerweile ist es 12:13 Uhr. Und Samstag. Meine Eltern haben gesagt, dass ich mich ruhig noch ausruhen kann bevor ich auf die Privatschule gehen muss. Die nächste Woche möchten sie mir noch geben, aber ich will schon am Montag hin.

Warum ich so ungeduldig bin?

Wie sollte ich das am besten erklären? Kennt ihr das Gefühl, wenn man 5 Jahre seines Lebens einfach nicht mehr kennt? Als hätten sie nie existiert. Man weiß nicht, was man gemacht hat.

Nein. Keiner weiß, wie es sich anfühlt. Nur, wenn man es am eigenen Leib erfahren muss.

Jeder kann einem irgendwas sagen, doch darüber sicher sein, kann ich nicht. Entweder ich nehme es so hin oder ich belasse es.

Gedanken verloren leere ich meine Tasse und räume den Küchentisch auf. Ich beschließe etwas Fern zu gucken. Auf dem Sofa mache ich es mir gemütlich. Trotz meiner kurzen Shorts und Top ist mir tierisch heiß. Ich würde nicht wissen wollen, wie warm es heute draußen ist.

Als ich den Fernseher anmache, überlege ich, was ich anschauen soll. Damals hatte ich kaum Fern geschaut. Immer war ich in meinem Zimmer oder machte draußen etwas mit Tyler und Cindy. Meine Eltern waren sowieso streng gewesen in Bezug auf elektronische Geräte.

Schließlich entscheide ich mich für The Big Bang Theory. Die Serie scheint ziemlich unterhaltsam zu sein.

Als ich auf die Nachrichten umschalte, sehe ich ein Bild von einem Hotelgebäude, während die Reporterin berichtet. Ihre Stimme klingt traurig und ein Hauch von Mitleid ist dabei.

„Die Polizei hat bis jetzt die Sperrzone soweit bereinigt. Bis jetzt gibt es noch keine handfesten Hinweise, ob es sich hierbei um Brandstiftung oder ein Unfall handelte. Jedoch, da es sich um eine Party handelte, ist Zweiteres ziemlich wahrscheinlich. So ein Ereignis in Hamburg wird nicht schnell vergessen sein. Auf der Straße trauern viele Menschen immer noch um die 67 verstorbenen Jugendlichen. Es stehen genau 67 Kerzen vor dem Unfallort. Wenigstens eine konnte sich retten.“

Dann fängt sie an über das Wetter zu reden.

67… 67 Jugendliche sind gestorben! Und ich nicht!

Ich lege meine Hand erschrocken auf den Mund. Klar hat mir der Arzt erzählt, was passiert war. Dass ich wahrscheinlich als Flucht aus dem Fenster gesprungen bin, weil es keine andere Möglichkeit gab. Aber niemals war die Rede davon, dass es so viele waren. Und warum ist mir eigentlich keiner hinterher gesprungen? Ich meine, immerhin sitze ich - fast heile, mal abgesehen von der Narbe und leichten inneren Verletzungen - auf dem Sofa während sie alle…

Bei dem Gedanken bemerke ich wie die Tränen sich in meinen Augen sammeln.

Wie vom Blitz getroffen schnelle ich hoch und renne in mein Zimmer. Dabei stolpere ich fast auf der Treppe. Ich musste raus. Oben angekommen ziehe ich mir schnell ein schlichtes weißes Kleid an, greife nach meiner Tasche und renne nach unten. Vor der Haustür ziehe ich weiße Ballerinas an und tippe den Code ein. Ich schließe vorsichtig ab und renne so schnell wie ich kann auf die Straße.

Da ich mich in der Gegend nicht auskenne, frage ich nach dem Weg. Eine nette Dame mit Kinderwagen hilft mir.

Ich hätte nicht gedacht, dass wir so weit weg von der Stadtmitte wohnen würden, dass ich es unmöglich zu Fuß schaffe ohne mir einen Sonnenbrand einzufangen. Obwohl es meiner Blässe nicht schaden würde. An der Bushaltestelle angekommen suche ich schnell nach Geld. Doch ich finde in der Tasche eine Monatskarte,  woraufhin ich mit diesem in den Bus steige. Erschöpft lasse ich mich auf die letzte Bank nieder.

Ich richte meinen Blick geradewegs nach draußen.

Ich habe nur ein Ziel.

 

 

Der kühle Wind bläst mir entgegen, als ich ausstiege. Er tut gut, so im Gegensatz zu der unerträglichen Hitze heute. Ich kenne diese Straße nur allzu gut. Sie ist nicht weit von der Stadt entfernt.

Meine Beine tragen mich zum Ziel während ich mich umschaue. Heute sind besonders viele Leute unterwegs. Die meisten laufen in T-shirt oder Tanktop herum während ich mit dem weißen Kleid bestimmt aus der Menge steche. Meine Haare habe ich sicherheitshalber zu einem Zopf gebunden.

Ich merke schon, dass ich etwas träge werde. Diese Hitze tut bestimmt nicht meinem Körper gut, aber das ist mir im Moment egal.

Endlich komme ich an. Ich denke sofort an früher. Tyler, Cindy und ich haben hier oft Eis gegessen während unsere Mütter mit Shoppen beschäftigt waren. Das Eiscafe hat sich in den Jahren deutlich verändert. Ich hoffe, dass der Besitzer immer noch der liebe David ist. Er hatte uns oft Eis spendiert, wenn wir mal einen schlechten Tag hatten.

Früher gab es nur die innere Einrichtung. Anscheinend wurde  nun nach außen hin ausgebaut. Ich betrachte den Schirm, der  über den Eingang des Eingangs aufgespannt war.

Darauf muss ich gelandet sein.

Das Hotelgebäude daneben kenne ich nicht. Empire Riverside lese ich.

Mein Blick schweift nach oben zum Fenster, welches im 3. Stockwerk sein muss. Ich sehe noch die übrigen Reste einer Absperrung, obwohl es mittlerweile 3 Wochen her ist. Ein mulmiges Gefühl breitet sich in meinen Magen aus während ich kurz die Augen schließe. Irgendwann werde ich bereit sein mich dahin zu begeben.

Schließlich stehe ich vor dem Eiscafe. Es sitzen viele Leute draußen und ich merke, wie manche aus ihren Gesprächen aufschauen und mich angucken.

Habe ich irgendetwas im Gesicht?

Als ich eintrete, ertönt ein kurzes Glockenspiel. Es sitzt nur ein Pärchen hier. Sie sind an einem Tisch, das ziemlich weit hinten liegt und sind gerade mit sich selbst beschäftigt. Sofort wende ich den Blick von ihnen ab und laufe zum Tresen. Die Kuchenvitrine, in der verschiedene dekorierte Tortenstücke aufgereiht wurden, gewinnt meine volle Aufmerksamkeit. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen und ich verspüre die Lust auf etwas Süßes.

Völlig mit dem Blick auf die Leckereien geheftet, bemerke ich gar nicht, dass sich jemanden hinter den Tresen stellt und etwas in die Kasse tippt.

„Guten Tag, Miss. Was darf’s bei Ihnen sein?“ Vor mir steht ein etwas älterer und dickerer Mann, der mich freundlich durch seine Brille mustert.

„Hallo, ehm… eigentlich wollte ich fragen, ob David noch hier arbeitet?“

„Ja, das tut er. Er hat gerade Pause. Wenn du zu ihm willst, er sitzt hinten auf der Terrasse.“

Die Antwort, dass etwas beim Alten geblieben ist, erleichtert mich so sehr, dass mir klar wird, wieviel Angst ich eigentlich vor Veränderungen habe.

„Vielen Dank. Und sonst… würde ich noch ein Stück von der Torte haben.“ Ich deute mit dem Finger auf eine Schwarzwäldertorte. Der ältere Mann nickt und kurz danach übergibt er mir einen Teller mit der Köstlichkeit. Ich laufe nach hinten. Auch wenn alles noch so fremd wirkt, finde ich mich hier immer noch gut zurecht.

David sitzt auf der Bank und zieht an der Zigarre. Obwohl er jetzt Mitte 40 sein muss, sieht er immer noch aus wie vor fünf Jahren. Er bemerkt mich gar nicht.

„Hallo David.“ Ich hoffe wirklich, dass ich in den letzten Jahren regelmäßig hier war. Und falls nicht: Ob er mich noch erkennt?

Meine Frage löst sich von selbst auf, als ich seinen erfreuten Blick sehe.

„Silver, Darling.“ Sofort erhebt er sich und drückt mich ohne Vorwarnung an sich.

„Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht. Wie geht es dir?“ Er zieht mich zu sich auf die Bank und mustert mich eingehend.

„Danke, mir geht es gut“, murmele ich noch etwas verlegen.

„Du hast dich aber ziemlich schnell erholt. Das freut mich so. Außerdem siehst du heute aus wie ein kleiner Engel“, zwinkert er mir zu. Doch dann verhärtet sich seine Miene.

„Es war…“ Er schaut mich mitfühlend an. „… ziemlich heftig gewesen dich so zu sehen.“

„Was meinst du?“ Ich bin mir nicht sicher, ob er mich im Krankenhaus gesehen hat oder noch vor Ort.

„Na wie du da gelegen hast. Auf meinem Wagen“, ist eine zögerliche Antwort. Dann lächelt er mich an.

„Du weißt gar nicht was für ein Chaos hier geherrscht hat. Ach Silver.“ Ein Seufzen folgt.

„David?“

„Ja? Was liegt dir auf dem Herzen?“

Ich zögere etwas. Doch ich brenne zu sehr auf Informationen.

„Also es ist so. Ich weiß nicht, ob du das weißt, aber ich hatte eine heftige Verletzung am Kopf. Die letzten fünf Jahre meiner Erinnerungen habe ich nicht mehr.“ Als ob die Luft ausgeht, hole ich tief Luft. „Ich habe einfach keine Ahnung mehr. Ich fühle mich wie im falschen Film. Vor einer Minute weiß ich nicht mal, ob du mich noch kennst.“

Ich sehe, wie Davids Mund etwas benommen aufklappt. Dann legt er mir plötzlich einen Arm um die Schulter.

„Ach Schätzchen, natürlich kenne ich dich noch. Du bist für mich immer noch die kleine Silver. Ich kenne dich schon so lange. Es tut mir leid, dass du das durchmachen musst. Aber das Wichtigste ist, dass du gesund bist. Ich war täglich bei dir im Krankenhaus und sie haben gesagt, dass sie noch nie so etwas bei dir erlebt haben. Erst so einen Aufprall zu überleben und dann eben noch mit relativ leichten inneren Verletzungen. Ach und zu dem hier.“ Ich spüre wie er einen Finger auf meinem Kopf leicht tippt. „Das wird schon. Das Wichtigste ist, dass das hier funktioniert.“ Er deutet mit dem Finger auf eine Stelle meiner Brust. Wo mein Herz liegt.

Ich lächele bei seinen Worten und für einen Moment fühle ich nicht mehr diese unerträgliche Leere in mir, die ich seit dem Tag, an dem ich aufgewacht bin, spüre. Es ist, als wäre es gestern gewesen, dass ich in seinem Eiscafe gesessen habe.

„Danke David.“ Ich schaue ihm aufrichtig in die Augen und zeige ihm mein Lächeln. „Kannst du mir trotzdem alles über mich erzählen? Etwas von den letzten Jahren?“

„Klar doch Schatz. Heute habe ich zum Glück viel Zeit. Ach und möchtest du nicht deine Torte nicht essen?“

Ups, den Teller auf meinem Schoß habe ich völlig ausgeblendet.

 

Ich esse genüsslich die Schwarzwäldertorte während David mich zutextet.

„Also… fünf Jahre sagst du? Lass mich nicht irren. Also du, Tyler und Cindy wart ja immer hier gewesen. Ich weiß gar nicht mehr wie lange wir uns kennen. Du warst glaube ich 8 Jahre alt, als ich dich hier zum ersten Mal sah. Auch als ihr in die 5. Klasse kamt, also du wo 11 warst, wart ihr immer zu dritt. Das ging so bis ihr um die 16 wart. Ihr kamt dann immer unregelmäßiger. Also nicht mehr zu dritt. Doch du warst immer jede Woche zweimal da. Das hat sich nie geändert. Bis… zu dem Unfall eben.“

„Was meinst du, dass wir unregelmäßiger kamen?“, frage ich misstrauisch.

„Naja, nicht mehr zu dritt eben. Wie ihr sonst kamt. Ich habe Cindy und Tyler kaum noch zusammen gesehen. Immer warst nur du mit einer von den beiden da.“

„Weißt du auch wieso?“

„Wie soll ich sagen, Schätzchen. Am Anfang wusste ich es nicht. Ich habe darauf getippt, dass ihr kaum noch Zeit habt, weil ihr ja in die Oberstufe kommt und vielleicht viel lernen müsst. Mir habt ihr auf jeden Fall nichts gesagt. Aber…“ David macht eine Pause, die für mich unerträglich ist, weil in dem Moment so viele Fragen in meinem Kopf schießen.

„Aber?“, hake ich ungeduldig nach.

„Ungeduldig, wie eh und je, Silver.“ Wieder lächelt er mich an. „Später als ihr dann in der Oberstufe wart. An einem Tag waren Tyler und du da. Ich habe mit euch gegessen. Dann hat dich jemand irgendwann angerufen und du bist kurz auf die Terrasse gegangen. Als ich mit Tyler alleine saß, merkte ich, wie betrübt er plötzlich schaute. Ich fragte ihn vorsichtig und er sagte irgendwas, dass er es nicht glauben kann, dass eine lebenslange Freundschaft weniger Wert ist als eine dahergelaufene Person, die auch noch kurz angebunden ist.“ David runzelt neben mir die Stirn.

„Ich habe keine Ahnung, was oder wen er damit meinte, aber er hat nichts mehr dazu gesagt. Dann habe ich nach Cindy gefragt und er hatte nur geseufzt. Wirklich, Silver, ich hätte damals zu gerne gewusst, was in eurer kleinen Clique vorgefallen ist. Die Jugend von heute…“ Ich merke, wie David etwas abschweift und Gedanken nachhängt, die vielleicht gar nicht mehr um das drehen, was ich wissen will.

„Wann war das ungefähr?“

„Lass mich überlegen. Ihr wart in der 11. Klasse.“

11. Klasse. Ich rechne schnell aus und komme darauf, dass ich damals 16 Jahre alt war. Tyler müsste 17 sein und Cindy ist so alt wie ich. Was war damals?

Ich esse das letzte Stück von der Torte und schaue auf die Uhr.

14:40 Uhr. In etwa einer Stunde soll ich bei Linda sein. Das Restaurant, in dem sie arbeitet, ist nicht weit weg von hier.

„Danke, David. Du weißt gar nicht, wie du mir geholfen hast. Auch, wenn ich jetzt selber gerne wissen will, was zwischen uns dreien vorgefallen ist.“

„Hast du denn noch nicht mit Tyler und Cindy gesprochen?“

Ich schüttele den Kopf.

„Ach und Silver… Ich war noch nicht fertig.“, setzt David plötzlich wieder an. „Nach diesem komischen Vorfall kam Cindy gar nicht mehr. Es waren immer nur du und Tyler hier oder eben du alleine. Du hast mir erzählt, dass sie Probleme bei sich zuhause und keine Zeit für dich hat, aber ich sah, dass es dich mehr mitgenommen hat, als es sein sollte. Tyler hatte mal wieder geschwiegen. Man, der Junge kann so ein Sturkopf sein. So ging es halt bis naja du weißt schon. Und jetzt zu dem Tag. Es war ein Samstagabend und du hast mir erzählt, dass du auf eine Party gehst, die über dem Eiscafe im Hotel stattfindet. Ein junger Mann hatte dich begleitet. Ich habe dich nicht gefragt, ob es dein Freund ist, weil naja irgendwie wollte ich dich unter vier Augen fragen.“

„Warum das? Wer war er?“

„Oh Schätzchen. Das sage ich dir gleich. Auf jeden Fall seid ihr dann spät abends hoch gegangen. Ich habe die Gäste draußen bedient. Eine halbe Stunde später sehe ich, dass dieser junge Mann, der dich begleitet hat, nach unten geht und er verschwand in der Gasse hier.“ Seine Hand deutet er nach rechts. Ich weiß genau welche Gasse er meint.

„Ich war nicht dabei?“, frage ich sicherheitshalber nach.

„Nein. Ich dachte, dass er dich vielleicht hier nur abgesetzt hat. Aber sein Auto hat er hier vorne geparkt und dann verschwand er zu Fuß in eine Gasse. Das fand ich etwas merkwürdig, ehrlich gesagt. Aber ich konnte kaum meinen Gedankengang zu Ende führen, als plötzlich Schreie von oben ertönten. Dann passierte alles so schnell. Die Fußgänger hier unten schrien alle, dass oben ein Feuer entfacht ist. Und dann passierte es. Ich stand in dem Moment unter dem Schirm, als ich plötzlich den Aufprall über mir hörte und kurz danach lagst du auf meinem Auto. Ich glaube, mein Herz ist in dem Moment stehen geblieben.“ Er zieht mich fester in eine Umarmung und ich sehe, wie sich Tränen in seinen Augen bilden.

„Oh Darling, das war…“ Er bricht ab und ich nehme ihn in meinen Armen. „Schon gut. Du musst nicht weiter erzählen, wenn es zu viel ist.“

Ich weiß nicht wie lange wir in der Umarmung so sitzen, doch irgendwann löse ich mich von ihm.

„Ich muss jetzt leider weiter.“

„Eine Verabredung?“, zwinkert er mir zu.

„Mit Linda“, gebe ich ihm grinsend zurück. Daraufhin schaut er mich fragend an. „Cindys Stiefschwester.“

„Achso. Moment, ich muss dir noch von dem jungen Mann erzählen. Ich weiß seinen Namen nicht. Er stand draußen und hat auf dich gewartet während du kurz zu mir reingekommen bist. Als du wieder aus dem Cafe raus warst, seid ihr ins Hotel gegangen. Ihr seid nebeneinander gelaufen, aber habt nicht Händchen oder so gehalten. Also kann ich dir nicht sagen, was das zwischen dir und diesem Jungen war. Naja. Jedenfalls nach dem die Feuerwehr und die Krankenwagen kamen, sah ich ihn wieder. Er stand regungslos vor meinem Auto. Nach meiner eigenen Schockstarre habe ich versucht mit ihm zu reden, aber er war nicht ansprechbar. Dann kam deine Mutter und ich fuhr mit ihr in dem Krankenwagen. Sie hatte mit ihm kurz geredet, aber ich bekam nichts mit, weil ich bei dir war. Als wir einstiegen, stand er immer noch an derselben Stelle.“

„David. Wie sieht er aus?“

„Groß, ich glaube er hat schwarze Haare. Gut gebaut, nicht zu breit, aber auch nicht zu schmal.“ Er zwinkert mir zu. „Gutaussehend mit blauen Augen.“

Die Beschreibung fällt sowas von auf eine Person zu.

Nein, du kennst ihn erst seit gestern, Silver. Außerdem fallen schwarze Haare und blaue Augen eher auf Tyler zu. Und wer wusste schon, mit welchen Kerlen ich sonst zu tun habe außer ihm?

Ich verabschiede mich schließlich von David und laufe zurück. An dem Tresen angekommen gebe ich dem Verkäufer den Teller zurück und bezahle. Draußen angekommen mache ich mein Navigation vom Handy an, sodass ich damit zu Linda komme. Während ich gehe, merke ich, wie durcheinander ich bin. David hatte mir so viel erzählt, doch wirft damit noch viel mehr Fragen auf als Antworten.

Irgendwann - es sollen laut dem Navi nur noch 200 m übrig sein - gelange ich zu einem Park. Ich kenne ihn. Er gibt ihn schon lange, jedoch war ich nie als kleines Kind hier gewesen. Meine Eltern haben mir auch generell verboten in Parks zu gehen, weil sie meinten, dass da mehr Verbrecher lauern als Käfer.

Aber ich bin mittlerweile 18 Jahre. Erwachsen. Wenn auch nicht wirklich im Kopf. Doch das werde ich nachholen.

Ich muss nur meine Gedanken ordnen und alles eins zu eins zusammen zählen. Das muss doch zu schaffen sein, oder?

Ich schlendere direkt in den Park und ziehe die frische Luft ein. Sie tut so gut.

Als ich in die Mitte des Parks komme, sehe ich das Zentrum. Es ist ein wunderschöner gigantischer Teich - nein, man kann ihn schon fast als See bezeichnen, so groß ist er, obwohl es in mitten eines Parks ist. Von oben höre ich die Vögel zwitschern und ich komme mir vor wie in einem richtigen Wald. Ein Wald in mitten Hamburg.

Weil ich mittlerweile eine halbe Stunde durch die Gegend geschlendert bin, steuern mich meine Beine zu einer Bank, auf der ich mich nieder lasse. Ich schließe meine Augen und versuche jegliche Gedanken aus dem Kopf zu vertreiben, weil ich merke, dass ich langsam Kopfschmerzen bekomme. Sie machen mich noch fertig.

Noch eine Viertelstunde und ich muss zu Linda.

 

Was sie mir wohl erzählen mag?

 

 

Ich schaue auf mein Handy. Diese Liz und diesen Chris habe ich noch nicht zurückgerufen. Sie hatten mich angerufen während ich im Komma lag. Ist Liz eine Freundin von mir? Und Chris vielleicht sogar mein Freund?

Bei dem Gedanken runzle ich die Stirn. Wenn Chris mein Freund wäre, hätte er sich doch längst gemeldet. Keiner hatte sich gemeldet seitdem ich aufgewacht bin. Hatte ich denn  mit niemanden was zu tun gehabt?  War ich ein schlechter Menschen, sodass sich alle von mir abgewendet haben?

Plötzlich läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Was, wenn ich wirklich alle schlecht behandelt habe? Es ist einfach unerträglich. Wieder spüre ich diese Leere in mir. Wird sie denn nie vergehen? Vielleicht… ist dieser Unfall und der Gedächtnisverlust eine Chance, die mir Gott gegeben hat, um neu anzufangen. Aber dazu muss ich wissen, was die Vergangenheit ist. Auch, wenn ich mächtig davor Angst habe. Allein, was ich von David gehört habe, macht mich traurig. Ich dachte immer die Freundschaft von Tyler, Cindy und mir hält ewig.

Was mich aber noch mehr beschäftigt, ist diese Person, die mich angeblich nicht kennt. Seine Stimme… sie verfolgt mich sogar im Traum.

Und wer war dieser Typ, der mich an dem Abend begleitet hat?

Plötzlich klingelt mein Handy.

„Hallo?“

„Hey Silver, ich bin früher fertig geworden. Wo bist du?“

„In der Nähe. Ich sitze gerade im Park.“

„Ach? Okay, ich komme zu dir. Wo bist du denn genau?“

„Beim großen Teich auf einer Bank.“

„Gut bis gleich.“ Sie legt auf.

Ist es eine gute Idee mit Linda zu reden? Immerhin ist sie Cindys Stiefschwester. Ob sie sich beide verstehen? Und wenn ich nichts mehr mit Cindy zu tun habe, dann bin ich bestimmt nicht Lindas Freundin. Nein, so hat sie nicht mit mir geredet. Wir haben uns bestimmt nur gekannt, mehr nicht.

Kapitel 9

 

Jedes Mal, wenn ein Mädchen oder Frau vorbeiläuft, blicke ich auf und versuche vergeblich zu schauen, ob ich sie kenne. Vergeblich.

Doch dann stellt sich eine schlanke brünette Schönheit vor mir.

„Hey, ich bin’s Linda.“ Sie lächelt mich dabei an, doch ich bin zu damit beschäftigt, sie ausgiebig anzuschauen. Ihre Haare trägt sie in einem Bobschnitt und man erkennt durch den vollen Glanz, dass sie sehr gut gepflegt sind. Sie ist größer als ich, denn sie trägt auch hohe Schuhe. Ohne sie wären wir wahrscheinlich gleich groß. Ihre Kleidungen sind bei diesem Wetter ein schlichtes blaues T-shirt und eine schwarze Hose, weshalb ich tippe, dass es ihre Arbeitskleidung ist. Trotzdem entgeht mir ihre schöne schlanke und auch kurvige Figur nicht.

„Hallo Linda. Setz dich doch.“ Ich bin sofort aufgestanden, als sie ihren Namen ausgesprochen hat. Wir setzen uns beide hin.

„Silver. Du erkennst mich wirklich nicht wieder?“, fragt sie nach.

„Nein“, erwidere ich. In meinem Magen breitet sich ein nicht definierbares Gefühl aus. Ich kenne sie nicht, sie mich aber. Bitte sei niemand, der das ausnutzt. Dieser Gedächtnisverlust ist wirklich zum Kotzen. Ich möchte Aphrodite wirklich nicht zum Feind haben.

Linda atmet tief und bläst dabei ihre makellosen Backen auf.

„Wirklich krass. Ich habe sowas bis jetzt nur in Filmen gesehen.“

Als sie meinen fragenden Blick sieht, lächelt sie.

„Deinen Gedächtnisverlust, meine Liebe.“

„Achso“, sage ich nur.

„Also Silver, was möchtest du wissen?“

„Alles. Wirklich alles. Ich kenne dich ja nicht mehr, also kannst du bei dir anfangen. Aber dann möchte ich auch wissen, was du meintest, dass Cindy und ich nichts mehr miteinander zu tun haben.“

„Alles klar.“ Sie schlägt ihre Beine übereinander. „Ich bin die Tochter von Elena. Die jetzige Frau von Cindys Dad.“

„Cindys Eltern haben sich getrennt?“, kommt es plompt von mir.

„Ja. Vor 2 Jahren. Deswegen sind Cindy und ich Stiefschwester.“ Sie lächelt während sie redet. Ein gutes Zeichen oder?

„Am Anfang haben wir uns so gar nicht verstanden. Ganz und gar nicht. Sie war sehr distanziert zu mir, obwohl ich schon immer eine kleine Schwester wollte.“

„Wie alt bist du denn?“

„22.“ Sie schaut mir dabei in die Augen, doch richtet kurz darauf wieder ihre Augen in Richtung Teich.

„Jedenfalls ging das so ein volles Jahr lang. Sie hatte sogar versucht sich an meinem damaligen Freund ranzumachen. Doch ich wusste, dass es nur war, weil sie das mit der neuen Frau nicht verkraften konnte. Meiner Mum zeigte sie immer die kalte Schulter. Ihr Dad hat ziemlich darunter gelitten. Doch er ist sowieso fast immer unterwegs. Geschäftsmann eben. Aber du müsstest doch noch Cindys Eltern kennen, oder?“ Dabei blickt sie mich fragend an.

„Ja. Sie waren ein glückliches Paar, soweit ich mich erinnern kann“, sage ich.

„Ja das dachte ich auch bei meinen Eltern. Bis mein Dad sie betrogen hat. Aber das ist eine andere Geschichte… Zurück zu Cindy. Obwohl sie sich so unmöglich benommen hat, habe ich irgendwann gemerkt, dass es nicht nur wegen unseren Eltern so ist. Es war noch etwas anderes.“ Plötzlich runzelt Linda ihre Stirn.

„Ich glaube, es ging noch um einen Jungen.“

„Wusstest du wer das war?“

„Nein. Aber so von Frau zu Frau. Ich merke, wenn eine Liebeskummer hat.“ Aufeinmal lächelt sie.

„Das war schließlich der Grund, warum wir uns dann näher gekommen sind. Sie hatte sich etwas geöffnet. Das war so Anfang dieses Jahres. Über ein Jahr waren wir wie Feindinnen und dann fast wie Freundinnen. Aber sie erwähnte niemals einen Namen oder so. Eines Tages…“ Linda schluckt.

„… das darfst du niemanden sagen.“ Dabei schaut sie mir fest in die Augen. Als sie meinen Blick auffängt, scheint sie etwas erleichtert zu sein und schaut wieder nach vorne.

„Mache ich nicht.“

Daraufhin blickt mir Linda tief in die Augen. Ich sehe Trauer und Schmerz darin und muss schlucken.

„In ihrem Badezimmer. Ich habe eine Menge Schlaftabletten in ihrem Wandschrank gefunden. Und eins kann ich dir sagen. Ich wusste, dass die nicht wegen Schlafmangel da waren.“

„Oh mein Gott. Warum?“ Meine Hände fangen an zu zittern. „Warum tut Cindy sowas?“

„Keine Sorge. Sie hatte es nicht geschafft. Ich war rechtzeitig da. Das war an dem Abend, wo ich dich angerufen habe. Ich hatte so Angst um sie.“

„Das meintest du also.“

„Ja.“ Plötzlich nimmt Linda meine Hand. „Es tut mir leid, ich weiß wirklich nicht, warum ihr nicht mehr befreundet sein. Auf der Hochzeit unserer Eltern habe ich dich zum ersten Mal gesehen. Du standest bei Cindy und einem Jungen. Ich habe keine Ahnung, wer er ist, aber er war heiß.“ Bei dem Satz grinst sie mich an und ich tue es auch.

„Jedenfalls warst du nett zu mir. Ich habe dich sofort gemocht, besonders, weil ich dachte, da du ihre Freundin bist, dass du mich auch hasst, wie sie mich am Anfang.“

„Ich war nett zu dir?“ Vielleicht bin ich doch kein schlechter Mensch. Oder… ich war einfach hinterhältig.

„Ja, das warst du. Hey, was denkst du eigentlich von dir? Ich meine, was du für eine warst?“ Ihre Augen blicken mich dabei herausfordernd und auch etwas belustigt an.

„Ich weiß nicht. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich war. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich ein schlechter Mensch war, ist genauso groß wie andersrum.“

Plötzlich lacht Linda los. Ihr Lachen klingt befreiend. Und ehrlich.

„Silver, eins kann ich dir sagen. Du bist einer der Guten. Es tut mir wirklich leid, dass du das durchmachen musst. Ich kann mir nicht vorstellen, wenn mir so etwas passieren würde. Ich würde meinen eigenen Freund nicht mehr erkennen.“ Sie schüttelt dabei ihren Kopf.

„Ist schon okay. Wer ist denn dein Freund?“

Ihre Augen funkeln förmlich während sie seinen Namen ausspricht.

„Chris heißt er.“

Sofort schießen meine Augenbrauen in die Höhe.

„Chris?“, frage ich ungläubig. Ich habe erwartet, dass ich den Namen ihres Freundes noch nie gehört habe. Aber dem ist nicht so.

„Ja Chris. Was ist? Erinnerst du dich etwa an ihn?“ Ich stoße ein Seufzen aus.

 „Nein, aber er hat mich angerufen. Also während ich im Komma lag.“

„Ja ich weiß.“

„Du weißt?“

„Ja, ich bin immerhin seine Freundin, vergessen?“ Sie grinst mich verschmitzt an. „Er erzählt mir alles.“

„Kannst du mir etwas von ihm erzählen? Ich meine, warum hat er mich angerufen?“

„Naja.“ Wieder schaut sie nach vorne. Bilde ich es mir ein oder ist eben meinem Blick ausgewichen?

„Ihr kanntet euch. Er wollte wissen, wie es dir geht.“, antwortet sie langsam.

„Woher kennen wir uns?“

„Das weiß ich nicht mehr. Als ich kennen gelernt habe, kannte er dich bereits.“

„Vielleicht sollte ich ihn das selbst fragen.“ Habe ich gerade meine Gedanken laut ausgesprochen?

„Ja, das ist wohl besser so“, sagt sie eine Weile später. Ihre Miene sieht plötzlich nachdenklich aus. Als würde sie mit sich selbst ringen.

„Hast du mich eigentlich besucht? Oder Chris?“, frage ich sie plötzlich, weil es mich interessiert.

Sie lächelt gequält. „Nein, Chris meint, es ist besser so.“

„Warum?“

„Er wollte es mir nicht sagen“, ist ihre knappe Antwort. 

„Silver, ich muss dann auch mal los. Ich hoffe, ich konnte dir helfen.“

„Das konntest du.“ Dabei lächele ich sie an. „Könnte ich dich anrufen, wenn ich …“

„Klar kannst du das. Jederzeit. Meine Nummer hast du ja.“ Mit den Worten umarmt sie mich und ihr Parfüm kommt mir dabei in die Nase. Sie riecht gut.

„Machs gut, Silver. Und pass auf dich auf.“ Dann dreht sie sich zögernd um und geht.

Seufzend lasse ich mich wieder auf die Bank fallen.

Cindy wollte sich umbringen, schießt es mir immer wieder durch den Kopf.

Verdammt, was ist nur alles passiert?

Ich merke wie mir Tränen über die Wange laufen und muss schluchzen. Die vorbeilaufenden Menschen schauen mich dabei an, doch keiner spricht mich an. Sie laufen alle mit mitfühlenden Blicken weiter. Warum sollten sie auch? Es muss komisch aussehen, dass ein Mädchen alleine auf der Bank sitzt und weint während heute auch noch so ein schönes Wetter herrscht. 

Warum hat Cindy das gemacht? War es wegen mir? Cindy ist in meinen Augen immer die Starke gewesen. Dass sie Liebeskummer hatte, scheint mir fast wie unmöglich. Schon als wir klein waren, haben die Jungs immer um ihre Aufmerksamkeit gekämpft. Ja, sie war auch eine blonde Schönheit gewesen. Jetzt musste sie bestimmt noch besser aussehen.

Meine Gedanken schweifen zu den beiden mysteriösen Kerlen. Einmal gibt es den einen, der mich in der Nacht zur Party begleitet hat. Dann der auf der Hochzeit. War der auf der Hochzeit Tyler gewesen? Bestimmt. Linda hat ihn als heiß bezeichnet. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er jetzt wohl aussieht. Warte, da gibt es noch zwei weitere. Der Typ mit der kalten Stimme und dann den angeblichen Freund, bei dem ich das ganze Jahr über gewohnt habe. Sind das 4 verschiedene Typen? Oder sogar alles ein und derselbe?

Ich wische mir müde die Tränen weg und hole mein Handy hervor. 17:23 Uhr. Ich soll lieber nachhause bevor meine Eltern von der Arbeit kommen.

Während ich aufstehe, löse ich meinen Zopf auf, sodass meine glatten dunkelbraunen Haare ins Gesicht fallen. Ich will nicht, dass jemand sieht, dass ich geweint habe. 

 

 

 

Als ich dabei bin den Code einzutippen, wird die Haustür schwungvoll von innen geöffnet. Vor mir steht meine Mutter. Sie ist sauer.

„Was glaubst du einfach so zu verschwinden?“, schreit sie mir aufgebracht entgegen. Ihre Hand, die an der Türschwelle gestützt ist, zittert.

„Tut mir leid. Ich… ich war nur kurz draußen.“ Ich versuche möglichst eine überzeugende Stimme hervorzubringen.

Meine Mutter atmet tief durch und lässt mich rein.

Wortlos schließt sie die Tür und läuft in die Küche. Ich tue es ihr brav nach.

„Ich hätte schon fast die Polizei geholt.“ Während sie spricht, rührt sie im Topf herum, dass auf dem Herd steht. Doch sie lässt mich nicht eine Sekunde lang aus den Augen.

„Mum, ich wollte dir nicht umsonst Sorgen machen. Wirklich, ich habe mir nur kurz die Füße vertreten.“ Ich habe mich an die Kücheninsel gelehnt, sodass ich gegenüber ihr stehe. Irgendwie habe ich das Verlangen sie zu überzeugen, dass ich nichts bedeutendes heute gemacht habe, und sie sich umsonst einen Kopf macht. Obwohl dem nicht so ist.

„Es war nur ein Sparziergang. Heute ist doch so schönes Wetter“, setze ich noch einen drauf.

Nach einer Weile merke ich, dass meine Mutter sich sichtlich entspannt. Schließlich dreht sie sich zum Topf um und entfernt ihn vom Herd.

„Setz dich, das Essen ist fertig“, murmelt sie.

„Soll ich den Tisch decken?“ Ihre Antwort besteht nur aus einem stummen Nicken.

Kurz danach sitzen wir beide am Küchentisch und essen Spaghetti. Es schmeckt himmlisch und ich habe gar nicht gemerkt, wie Hunger ich doch habe. Der Tag hat mich echt viele Nerven gekostet.

„Wie lief die Arbeit?“, frage ich, um diese Stille zu durchbrechen.

Meine Mutter blickt auf und sieht mich an. „Es läuft gut. Wir haben zurzeit wenige Projekte, jedoch wichtige, am Laufen. So habe ich alles im Überblick“, erklärt sie mir mit einem Lächeln.

„Freut mich zu hören“, sage ich und will gerade den nächsten Bissen nehmen, als mir etwas einfällt. „Du hättest mich doch anrufen können. Ich hatte mein Handy dabei.“

Dabei blicke ich meine Mutter an. Zu meiner Verwunderung lächelt sie gequält. „Ich habe deine Nummer gar nicht.“

„Warum das denn?“ Ich lasse die Gabel auf den Teller sinken.

„Du hast sie mir nicht gegeben“, erwidert sie mir schulterzuckend.

Jetzt ist es mir deutlich zu bunt. Was soll das schon wieder heißen?

„Mum, hatten wir so ein schlechtes Verhältnis?“ Ich versuche dabei ihr fest in die Augen zu schauen.

„Ja. Du wolltest deine Freiheit. Aber… wir hatten bestimmte Zeiten ausgemacht und daran hast du dich gehalten.“ Jetzt lächelt sie mich wieder an. „Ich konnte dir immer vertrauen. Deswegen, Silver, möchte ich es jetzt auch tun können.“

Wow, das ist mir neu. Sonst ist sie doch immer so gerne jemand, der über alles die Kontrolle hat. Ich sage nur elektronische Geräte, Park und Schule.

„Das kannst du“, kommt es von mir. „Ich hab dich lieb, Mum.“

„Ich dich auch, meine Süße.“ Wir lächeln uns an.

Etwas liegt mir noch auf dem Herzen. „Warum war ich das letzte Jahr nicht zuhause und habe stattdessen bei einem angeblichen Freund gewohnt?“

Meine Mutter stößt ein tiefes Seufzen aus. „Wir hatten Streit. Dein Vater und ich hatten Streit. Du konntest es nicht mehr aushalten und bist dann sozusagen ausgezogen. Ich kann dir das nicht verübeln. Wir haben immer nachts gestritten.“

„War es denn so schlimm? Ich meine, ihr seid doch noch zusammen… oder?“, frage ich vorsichtshalber nach, obwohl ich mir schon relativ sicher bin.

„Ja, das sind wir, Schatz. Dein Unfall hat uns geholfen wieder zueinander zu finden. Auch wenn ich darauf verzichtet hätte.“

Darauf antworte ich nichts mehr. Gedankenverloren schaufele ich in meinen Nudeln herum.

„Aber zu gestern. Dieser Junge, mit dem du gestern in Metro geredet hast. Wer ist das?“, fragt sie mich plötzlich nach einer Weile.

Verwundert blicke ich sie. Was will sie denn aufeinmal mit Eisklotz?

„Ehm… ich kenne ihn doch nicht. Er hat mir nur eine Eispackung vor der Nase weggeschnappt.“ Das entspricht sogar der Wahrheit. 

Bei dem Gedanken schnaube ich beleidigt. Dieser Typ macht mich noch wahnsinnig.

„Habt ihr miteinander gesprochen?“, hakt sie weiter nach. Wieder lässt sie mich nicht aus den Augen.

„Nein“, lüge ich. „Er ist sofort abgehauen.“ Man kann deutlich an meiner Stimme erkennen, dass ich beleidigt bin.

„Ja, so sind solche Typen eben. Du solltest dich von denen fernhalten“, sagt sie plötzlich.

„Was meinst du, Mum? Er hat doch nur eine Eispackung genommen, die eh nicht mir war.“

„Ich sage es nur. Wenn er so etwas schon bei eurer ersten Begegnung tut, dann kannst du nicht viel von solchen Kerlen erwarten. Ich möchte dir nur meine Erfahrung aus meiner Jugend teilen, mein Schatz.“ Mir entgeht nicht, dass sie mir tief in die Augen schaut. Sehr tief.

„Ich habe verstanden, was du meinst.“ Mit den Worten stehe ich auf und räume meinen Teller ab. Ich habe aufeinmal keine Lust mehr mit ihr zu reden. Von Reden habe ich heute schon genug.

„Gut. Es ist besser so für dich“, höre ich noch von ihr während ich die Küche verlasse.

Kapitel 10

 

Noch einmal trete ich auf das Gaspedal, obwohl ich schon an der Geschwindigkeitsgrenze bin. Ich spüre förmlich wie Chris sich neben mir anspannt. Seinen Blick heftet er nach vorne. Dabei herrscht noch nicht mal viel Verkehr.

„Schalt mal nen Gang runter“, brummt er neben mir. Ich winke ab.

„Wir kommen sonst zu spät zur Arbeit“, erwidere ich ohne ihn anzuschauen.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er mich anblickt. Ich kann mit geschlossenen Augen sagen, dass er gerade versucht mich scharf zu mustern.

„Es ist wegen gestern, oder?“, kommt es von ihm.

Ich knirsche mit meinen Zähnen. Hoffentlich sieht er das nicht.

„Ach was. Wir werden heute viel arbeiten müssen, deswegen sollten wir rechtzeitig da sein. Schon die Show vergessen?“ Dabei schaue ich ihm flüchtig in die Augen.

„Mach mir nichts vor, Alter. Das ist nicht das Problem.“

Manchmal kann er wirklich nervig sein.

Als wir in dem Riverside Hotel ankommen, fahren wir direkt mit dem Aufzug zu der Bar.

Mein Chef - Ben - begrüßt uns kurz, gibt uns Anweisungen, die wir eigentlich schon kennen und verschwindet wieder, da bald die Leute von der Show kommen würden.

In der Umkleide ziehen Chris und ich unsere Arbeitskleidung an. Diese sind typisch für einen Barkeeper. Schwarze Hose, weißes Hemd, schwarze lockere Weste und einen schwarzen Flieger. Als wir fertig sind, laufe ich hinter die Theke, um alle Getränke zu überprüfen.

Nach einer Weile bemerke ich Felicitas, eine Kollegin, die sich an die Bar gesetzt hat.

„Jason“, säuselt sie. Mir entgeht nicht, dass sie sich weiter nach vorne lehnt als nötig.

„Heute wird ganz schön was los sein.“

Ich nicke ihr nur zur Bestätigung.

„Hast du danach etwas vor?“ Man, die lässt aber auch nichts unversucht.

„Ja, ich muss zu meinem Bruder. Der ist krank“, antworte ich ihr und mache mir selbst einen Drink. Den werde ich nötig haben.

„Soll ich mitkommen? Ich kann Krankenschwester spielen.“ Bei den Worten zucken meine Mundwinkel. Krankenschwester für Nate oder eher für mich?

„Schon in Ordnung. Spar dir deine Kraft für heute. Es ist ein wichtiger Abend“, lenke ich ein.

Und das ist auch die Wahrheit. Seit dem Vorfall vor drei Wochen versucht Ben alles Mögliche, um die Leute wieder in die Bar zu bringen. Es ist klar, dass sie sich alle noch scheuen. Nur unsere Stammgäste lassen sich blicken. Die Idee mit der Showeinlage umzusetzen, war ziemlich harte Arbeit für mich. Aber sie würde etwas bringen und ich will Ben helfen. Ich würde damit auch mir helfen, indem ich nicht mehr an diese Nacht denken muss.

Was mich nur nervt ist, dass ich jetzt meinem Großvater etwas schuldig bin. Er hat seine Kontakte wieder laufen lassen.

„Du hast Recht. Ein andermal aber.“ Mit einem unübersehbaren Zwinkern wendet sie sich ihrer Arbeit zu. Endlich.

 

Nicht mal eine Stunde später und die Bar ist wirklich randvoll. Wir haben etwas umgeräumt, sodass die Leute von der Show Platz für ihren Auftritt haben. Immer noch traue ich meinen eigenen Augen nicht. Nicht wenige Meter weiter entfernt steht die britische Band Bastille und spielt für uns. Mein Großvater hat es wirklich geschafft diese Band von London nach Deutschland und dann nach Hamburg zu verfrachten. Okay, sie sind sowieso auf Welttour, aber eigentlich sollten sie in Deutschland nur in Frankfurt auftreten. Jetzt sind sie an ihren einzigen eigentlichen freien Tag hier.

„Noch ein Hurricane bitte“, murmelt ein männlicher Gast gegenüber mir.  

„Natürlich“, antworte ich, nehme sein altes Glas und mache ihm einen Neuen.

Obwohl ich keine Barkeeperausbildung hinter mir habe sowie Chris und die anderen, arbeite ich trotzdem in einer der angesagtesten Bar Hamburgs. Aber trotzdem gehöre ich zu einer der begehrtesten Barkeeper in der Stadt. Den Drink, den der Kunde eben bestellt hat, ist von mir entstanden. Ben hat mein Potenzial gesehen und nicht nur das oberflächliche Aussehen, auf das die Frauen abfahren. Das Einzige, was ich eigentlich vorzuweisen habe, ist mein Abitur, auf welches ich eigentlich auch am liebsten verzichtet hätte. Aber eine Person hatte es mir damals unmöglich gemacht.

Vor mir rennt - ja, ich meine rennen - Felicitas von einem Tisch zum anderen. Die Männer schauen ihr hinterher, was bestimmt nicht daran liegt, dass sie die einzige Kellnerin hier ist. Nein, die Anzahl der weiblichen und männlichen Mitarbeiter sind hier ziemlich ausgeglichen. Es liegt einfach daran, dass sie wirklich gut aussieht mit ihren roten Locken und einer Bombenfigur. Nur Männer, deren Herz schon fest vergeben ist, würden sie nicht beachten. Aber wirklich nur die.

Neben mir taucht Chris auf. Den habe ich seit der Umkleide nicht mehr gesehen.

„Wir haben ein Problem, Jason“, murmelt er leise, sodass nur ich es hören kann. Ich hebe meine Augenbrauen und schaue ihn fragend an.

„Marc will hier sein Geschäft machen“, zischt er mir zähneknirschend zu. Sofort spannen sich meine Kiefer an und das Cocktailglas in meiner Hand droht zu zerbrechen.

„Keine Chance. Sag ihm das“, erwidere ich schroff zurück. Chris nickt und verschwindet wieder. Ich hoffe wirklich, dass er es hinkriegt.

Nach einer halben Stunde erblicke ich ihn immer noch nicht. Und auch keinen Marc, obwohl er meistens selbst nicht auftaucht. Daraufhin entfährt mir ein Seufzer der Erleichterung. Es ist gerade noch mal so gut gegangen.

Auf der anderen Seite sehe ich zu wie Ben sich gelassen und munter mit seinen Gästen unterhält. Sie sind alle gut gelaunt.

Gerade als ich dabei bin mir selber entspannt einen Drink zu machen, erblicke ich sie. Sie steht unschlüssig neben Linda. Die Wodkaflasche gleitet augenblicklich aus meiner Hand.

Die Leute an der Bar zucken alle zusammen und schauen mich vorwurfsvoll an. Aber das ist mir gerade sowas von egal.

Was macht sie bloß hier? Und dann auch noch mit Linda. Dabei dürfen die sich eigentlich doch gar nicht kennen.

Genervt kehre ich die Scherben in eine Ecke hinter der Theke. Ich muss Chris finden. Der Typ soll seiner Freundin sagen, dass sie sie in Ruhe lassen soll.

Ohne die beiden aus den Augen zu lassen, laufe ich vor die Bar und versuche Chris zu sehen. Und ich finde ihn. Er ist gerade dabei zu seiner Freundin zu schlendern. Und zu ihr.

Sie trägt ein weißes Kleid und ihre dunkelbraunen glatten Haare sind zur Seite geflochten worden. Silver sieht aus wie ein Engel.

Ich stehe etwa fünf Meter von den dreien entfernt. Chris umarmt Linda und die beiden küssen sich flüchtig. Dann dreht er sich zu Silver um und gibt ihr die Hand. Er flüstert ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie lächelt. Gott, habe ich dieses Lächeln vermisst.

Als sie sich von ihm los macht, treffen sich unsere Blicke. Obwohl ich wegschauen will, kann ich es nicht. Und sie tut es auch nicht.

Verdammt, was zum Teufel macht sie hier? HIER?!

 Linda hakt sich bei ihr ein und flüstert Chris etwas ins Ohr. Ich nutze den Moment und überbrücke den letzten Abstand.

Genau vor ihr bleibe ich stehen und tippe Chris auf die Schulter, woraufhin dieser mich erst bemerkt.

„Hey, Linda“, sage ich in ihre Richtung ohne Silver aus den Augen zu lassen. „Wie kommt es, dass ihr uns mit eurer Anwesenheit beehrt?“ Ich zwinkere Silver zu. Hoffentlich zieht die Masche.

Ich merke wie Silver mich daraufhin misstrauisch mustert. An ihrer Stelle würde ich auch nicht verstehen, was ich gerade abziehe.

„Ach weißt du, ich wollte mir Bastille nicht entgehen lassen“, flötet Linda gut gelaunt. Dann schaut sie kurz zu Silver und dann wieder zu mir. „Das ist übrigens Silver. Nach Chris’s Erzählungen habt ihr euch schon getroffen. Ich wollte sie heute mit her bringen.“ Sie lächelt mich dabei an, doch mir entgeht die Funken in ihrem herausfordernden Blick nicht.

„So so“, gebe ich trocken zurück. „Dann nehmt mal Platz. Chris und ich haben noch viel zu tun.“ Mit den Worten packe ich an der Schulter und ziehe ihn mit mir mit.

 

 

 

„Nenn mir einen Grund, warum ich deiner Freundin nicht den Hals umdrehen soll!“, brülle ich aufgebracht in seine Richtung. Zum Glück befinden wir uns in einem geschlossenen Raum.

„Hey man, Linda hat mir nichts erzählt. Außer, dass sie sich beide heute getroffen haben“, murmelt Chris. Er scheint selbst etwas überfordert mit der Situation zu sein.

„Scheiße, die haben sich getroffen? Was hat Linda ihr erzählt?“ Jetzt werde ich noch lauter. Meine Hände balle ich zu Fäusten zusammen und ich habe das Gefühl, dass jeder Muskel meines Körpers zum Zerreißen angespannt ist.

„Nicht viel. Nur etwas über Cindy und dass sie und ich ein Paar sind. Silver hat sie gestern angerufen wegen der Mailboxnachricht, du weißt schon. Linda musste es ihr erklären, Jason. Dann hat sie Linda gefragt, warum wir sie nicht besucht haben, aber Linda hat abgeblockt. Keine Sorge, über dich fiel kein Wort“, versucht mein bester Freund mich zu beruhigen.

Augenblicklich entspanne ich mich. Trotzdem passt es mir überhaupt nicht, dass sie hier ist.

„Hey, sie ist mit Linda hier. Es ist eine Art Mädelsabend. Was soll schon dabei sein? Linda weiß, was sie sagen darf und was nicht. Das weißt du.“ Während er spricht, tritt er auf mich zu und schaut mich fest an.

„Mir wäre lieber, wenn sie zuhause ist“, knurre ich eher zu mir selbst. Zumindest nicht in meiner Nähe.

Dieser Gedanke tut einfach zu sehr weh geschweige denn ihn auszusprechen. 

„Ich weiß. Komm, wir lassen sie nicht aus den Augen. Es wird schon nichts passieren.“

„Na schön“, murmele ich und wir gehen wieder nach draußen.

Trotzdem der Menge sticht sie hervor. Ob es an dem Kleid liegt oder weil sie es selbst ist, weiß ich nicht.

Sie sitzt neben Linda an einem Tisch nicht weit von der Band und schlürft an einem Cocktail. Von Weitem tippe ich auf einen Fruchtcocktail. Seufzend schlendere ich wieder hinter die Bar und mache mich wieder an meinen Job.

Irgendwann setzt sich Linda an die Bar. Als ich sie sehe, schaue ich sofort zu Silver rüber, die jetzt alleine sitzt, jedoch anscheinend die Musik genießt.

„Deinen berühmten Drink bitte. Für mich und für sie“, flötet Linda. Eigentlich mag ich Chris’s Freundin, doch heute will ich sie am liebsten erwürgen.

„Warum hast du sie mit hierher genommen?“ Während ich sie frage, bereite ich die Drinks vor. Ich mache absichtlich so gut wie keinen Alkohol rein.

„Sie hat mich angerufen. Es ergab sich irgendwie so. Ich habe es nicht aus Absicht gemacht.“ Sie blickt mich entschuldigend an. „Sie hat Probleme zuhause, Jason.“

„Du bist aber nicht ihre Freundin.“, erinnere ich sie. Daraufhin zuckt sie mit den Schultern.

„Was nicht ist, kann ja noch werden.“ Sofort schaue ich böse an.

„Das ist kein Spiel, Linda. Du weißt nicht mit was für einem Feuer du spielst. Wenn du es also nicht weißt, dann lass die Finger davon.“ Beherrscht lege ich die beiden Drinks vor ihrer Nase ohne sie aus den Augen zu lassen. Sie muss endlich kapieren, dass ich es ernst meine.

„Jason“, setzt sie vorsichtig an. „Du weißt, was ich von dem Ganzen hier halte. Meine Meinung wird sich nicht ändern. Aber aus meinem Mund wird sie nichts erfahren.“ Mit den Worten rauscht sie schließlich ab.

Ich seufze tief. Das alles läuft überhaupt nicht wie geplant.

Während ich weitere Drinks serviere, habe ich endlich einen Plan.

Lässig wie eh und je schlendere ich zu ihrem Tisch. Linda und sie unterhalten sich gerade. Es ist immer noch genau soviel los wie vor einer Stunde.

„Hey Ladies.“ Ich setze dabei mein schönstes Playboylächeln auf, das ich habe.

Die zwei blicken von ihrem Gespräch auf und beide scheinen gleich erstaunt zu sein.

„Jason“, kommt es trocken von Linda. Doch ich ignoriere sie.

„Silver, richtig?“

Das Mädchen nickt langsam. Dabei bohren mich förmlich ihre smaragdgrünen Augen. Sie versucht mich zu durchschauen, das kann ich deutlich spüren.

„Erlaubst du mir einen Tanz, meine Schöne?“ Aus dem Augenwinkel sehe ich wie Lindas Mund aufklappt. Ja, das alles tue ich wegen dir, Linda. Deinetwegen.

Sie scheint etwas zu überlegen. Ich erwarte schon, dass sie ablehnt und mich für einen aufgeblasenen, widersprüchlichen Arsch hält, doch sie steht zu meiner Verwunderung auf und hält mir ihre Hand hin. Reflexartig greife ich nach dieser, als würde ich auf dieser Welt nichts anderes tun können, und ziehe sie auf die Tanzfläche. Dort stehen einige Paare herum, die eng umschlungen miteinander tanzen. In dem Moment spielt die Band „No Angels“. Ohne Ella hört es sich noch melodramatischer an. Können die nicht etwas Fröhlicheres spielen?  

Als wir in der Mitte ankommen, drehe ich mich zu ihr um und ziehe sie fest an mich. Sofort steigt mir ihr Duft in die Nase und ich versteife mich etwas. Doch ich finde schnell meine Beherrschung wieder und wir bewegen uns im Rhythmus.

Ich weiß nicht, ob sie noch weiß, wie es ist zu tanzen.

Mit mir zu tanzen.

Aber sie bewegt sich gut. Auch wenn ich dabei führe.

Ihren weichen Körper dicht an meinem zu spüren fühlt sich so lebendig an und gleichzeitig bringt es mich um. 

Während wir eng geschmiegt tanzen, höre ich den Worten des Songs zu.

 

No, I don’t want your number

No, I don’t want to give you mine and

No, I don’t want to meet you nowhere

No, don’t want none of your time.

 

Ja, genau das möchte ich ihr zeigen. Meine rechte Hand ist mit ihrer linken fest verschränkt, während die andere auf ihrer Hüfte liegt. Sie dagegen hat ihre andere Hand an meinen Nacken gelegt. Bei dem Tanz berühren sich unsere Hüften manchmal flüchtig. Obwohl mich diese Berührung ziemlich zu schaffen macht, zeige ich es nicht.

 

If you don’t have a car and you’re walking.

If you live at home with your momma.

We're all in our private traps.

If you have a shawty but you don’t show love.

Clamped in them, and none of us can ever get out.

Wanna get me with no money. Oh no, I don’t want no…

 

 Ich erschaudere, weil diese Worte mehr in mir berühren, als sie dürfen. Bastille hat ja keine Ahnung, dass die gerade meine Geschichte erzählen.

Silver scheint sich wohl in meinen Armen zu fühlen, denn sie geht überhaupt nicht auf Abstand, sondern lehnt auch noch eben ihren Kopf an meine Brust. Ich muss mich aber an den Plan halten.

Meine linke Hand rutscht langsam weiter runter. Sie scheint nicht zu reagieren, doch als ich ihren Hintern umfasse, stößt sie mich heftig von sich weg.

„Was soll das?“ Ihre smaragdgrünen Augen funkeln mich dabei wütend an. Genau das, was ich will.

„Nicht? Ich dachte es gefällt dir“, säusele ich und setze ein arrogantes Grinsen auf. Ich trete näher an sie ran, doch sie weicht weiter zurück.

„Also noch nie hat sich eine Frau wegen sowas bei mir beschwert“, setze ich noch einen drauf. Meine zitternde rechte Hand, das noch am plötzlichen Berührungsverlust leidet, verstecke ich gut.

Ihre Augen weiten sich etwas. „Du arrogantes Arschloch“, murmelt sie schließlich und dreht sich abrupt um.

Ja, genau das wollte ich erreichen.

 

 

 

„Hey, der Tisch da hinten möchte 12 Mal deinen Hurricane“, flötet Ben fröhlich zu mir während er sich es gemütlich auf dem Hocker macht.

„Alles klar.“ Ich schaue nicht auf, da neben ihm eine ältere Lady sitzt, die mich nicht aus den Augen lässt.

Nach etwa fünf Minuten stehen 12 Drinks vor Ben, die er mit einer flüchtigen Bewegung auf zwei Tabletten platziert und damit weghuscht.

Zwei Stunden habe ich schon durchgearbeitet ohne irgendetwas anderes zu machen. Nicht mal auf der Toilette war ich.

Da es sich jetzt etwas gelegt hat, eile ich schnell zu der Männertoilette. Vor dem Waschbecken haue ich mir eine Portion Wasser ins Gesicht und schaue in den Spiegel. Das Wasser tropft von meinem markanten Kinn herunter während ich zum ersten Mal erkenne, dass ich Augenringe habe. Ich muss mal wieder richtig schlafen. Ob mir das jemals gelingen wird?

Müde schlendere ich wieder zurück in Richtung Bar. Die ganze Zeit habe ich Silver nicht gesehen. Auch Linda und Chris sind wie vom Erdboden verschluckt worden. Doch bevor ich die Bar erreiche, stellt sich plötzlich jemand vor mich.

Es ist die Lady, die mich an der Bar ununterbrochen beobachtet hat.

„Hey, mein Hübscher“, flüstert sie mir lüstern ins Ohr während sie ihre Hüfte an meine presst. Ich stehe mit dem Rücken zur Wand und schaue an ihr vorbei.

„Lust auf eine kleine Privatstunde?“, ertönt es weiter von ihr.

Ich verziehe meine Miene nicht ein bisschen während ich sie sanft von mir wegschiebe. Im Gegensatz zu ihrem erwartungsvollen und lüsternen Blick schenke ich ihr einen Eiskalten zurück. Diesen kalten und ausdruckslosen Blick trage ich schon lange als Maske mit mir rum. Zu lange. Und diese Maske ist immer griffbereit. Auch jetzt hilft sie mir, dass die Frau mich stirnrunzelnd anschaut. Sie hat wohl eine andere Reaktion erwartet.

„Ich mag es nicht, wenn man mich ablehnt. Nur ich bestimme, wen ich wo und wann fallen lasse“, zischt sie mir mit scharfer Stimme zu.

„Du verwechselst mich mit deinen üblichen Callboys“, gebe ich matt zurück. Mein Blick bleibt dabei unverändert.

Dann fängt sie plötzlich auf höhnisch zu lachen.

„Süßer, du bist wie die anderen. Wenn nicht jetzt, dann auch später. Es gibt genug Leute, die wissen, was du treibst.“ Dabei schenkt sie mir ein dreckiges Grinsen. „Das kann man leicht gegen dich verwenden.“

Daher weht also der Wind. Sie gehört also zu seinen Leuten.

„Sag deinem Boss, dass ich ihn früher oder später kalt mache.“ Ich bücke mich weit zu ihr nach vorne, sodass meine Lippen leicht ihre Ohrläppchen berühren und merke, wie sie leicht zusammenzuckt. „Für das, was er getan hat, wird er mit seinem Leben zahlen.“

Dann ziehe ich mich ruckartig zurück und dränge mich an ihr vorbei.

Ich schaue mich mal wieder in der Bar um. Dann entdecke ich Chris, der bei Linda steht. Wo ist sie?

Automatisch steuern meine Beine mich zu den beiden. Die beiden scheinen gerade anderweitig miteinander beschäftigt zu sein.

Bevor ich etwas sage, räuspere ich mich, woraufhin sie sich voneinander lösen.

„Jason“, sagt Chris nur.

„Wo ist Silver?“, frage ich sofort. Dabei schaue ich Linda an, die ihre Augen verdreht.

„Das fragst du noch, nachdem du…“, sprudelt es aus ihr raus, doch ich lasse sie nicht zu Ende sprechen.

„Wo ist SIE?“ Diesmal brülle ich fast.

„Hey, man“, kommt es von Chris. Schützend stellt er sich vor seiner Freundin, doch ich ignoriere ihn.

„Sie ist draußen auf dem Balkon. Etwas Luft schnappen“, antwortet Linda schließlich ohne mich anzusehen.

Ohne noch etwas zu sagen, rausche ich an ihnen vorbei. Der Balkon liegt etwas abgelegen, aber es gehört noch zu der Bar. Noch gerade so nehme ich das Lied von Bastille wahr. Welch eine Ironie. Es ist „The Things we lost in the fire”.

Die Worte dröhnen unverweigerlich in meine Ohren.

 

These are the things, the things we lost

The things we lost in the fire fire fire

Do you understand that we will never be the same again?

 

„Ja ja, ich euch auch“, murmele ich genervt während ich der Tür zusteuere, die zum Balkon führt. In dem Moment beschließe ich alle Lieder von dieser Band von meinem Handy zu löschen.

Die Tür ist schmal - da passen nicht mal zwei von mir durch - im Gegensatz zu dem Balkon, der sich dahinter verbirgt. Ich erkenne sofort ihren Rücken. Und das Kleid.

Sofort steuere ich direkt zu ihr zu und bin nur noch wenige Meter von ihr entfernt, als ich plötzlich bemerke, dass jemand neben ihr steht. Er ist groß und mindestens genauso kräftig gebaut wie ich. Die Lederjacke, die sich im Dunkeln an seinem Körper schmiegt, kommt mir irgendwie bekannt vor. Beide stehen am Gelände gelehnt und sind nach vorne gewandt. Sein Kopf hat er leicht zu ihr gedreht während sie nach vorne schaut. Als ich näher komme, merke ich, dass sie gerade spricht.

„Silver.“ Ich will die beiden so schnell wie möglich unterbrechen. Sofort dreht sich ihr Kopf um und ich fange ihren verwunderten - aber auch einen verletzten Blick - von ihr auf. Gerade als ich noch näher an sie herantreten will - wir sind nur noch einen Meter voneinander entfernt - dreht sich die andere Person um.

Sofort stehen alle meine Nackenhaare oben und ich balle meine Hände in Fäuste. Ich unterdrücke vor Silver einen erschrockenen Blick. Nein, den göhne ich ihm nicht.

„Hey“, wagt er es auch noch mit mir zu reden. Sein selbstgefälliger Blick streift mich, ehe er sich zu Silver wendet. „Kennst du ihn?“

Dieser…

Ich sehe, wie sie mit der Stirn runzelt. „Ja“, murmelt sie schließlich.

„Dann stell uns bitte doch vor.“ Während er die Worte ausspricht, neigt er sich etwas näher zu ihr herunter, sodass ich mich beherrschen muss, ihm nicht gleich hier eine zu verpassen.

„Ehm. Also das ist Jason. Jason, das ist…“ Fragend blickt sie ihn an.

Daraufhin lächelt er. Gekünstelt natürlich.

„Marc heiße ich… meine Liebe.“

„Will ich nicht wissen“, gebe ich schroff zurück und packe Silver am Arm. Ohne ihm einen Blick zu würdigen, ziehe ich sie zurück in die Bar. Als wir an Chris und Linda vorbeigehen, bemerke ich deren fragende Blicke, doch ich ignoriere sie. Ich will nur noch raus hier. Raus aus dieser Menschenmenge. Diesem Lärm. Diese Musik. Ihm.

Als wir endlich vor dem Aufzug stehen, bemerke ich erst jetzt, dass ich ihren Arm zu fest gepackt habe und löse den Griff etwas.

„Entschuldigung“, murmele ich nur ohne sie anzuschauen.

„ENTSCHULDIGUNG?“, ertönt es aufgebracht neben mir. Klar, sie ist sauer. „Was sollte das eben? Lass mich gefälligst los, Eisklotz!“

Jetzt schaue ich sie doch an, als ich meinen Kosenamen wieder höre.

„Du solltest nicht mit jedem Fremden reden“, sage ich gelassen zu ihr und schaue sie dabei mit meinem berühmten Pokerface an.

„Das ist meine Sache! Nicht deine!“, kontert sie zurück. Wieder funkeln mich smaragdgrüne Augen böse an.

„Komm, ich fahre dich nach Hause“, versuche ich es eine Spur sanfter - aber nur mit der Stimme, nicht mit dem Blick - und vor uns ertönt das Pling, woraufhin sich die Tür zum Aufzug öffnet.

Tatsächlich tritt sie mit mir in den Aufzug rein, ohne jeglichen Widerspruch. Ich schaue auf meine Armbanduhr. 23:32 Uhr.

Sie muss wohl müde sein. Ob sie noch Verletzungen hat, die noch nicht geheilt sind?

„Wie geht es dir?“, frage ich ohne sie dabei anzuschauen. Wir stehen beide nebeneinander. Ich will sie nicht anschauen und wenn ich es tue, dann immer mit demselben Blick. Meinen Griff habe ich längst gelockert und er liegt mittlerweile um ihr Handgelenk.

„Gut“, murmelt sie nur. Als ob.

In mir brodeln so viele Gefühle und Gedanken, dass ich schon Angst habe, gleich wie eine Bombe hochzugehen.

Hoffentlich bemerkt sie es nicht.

 

Kapitel 11

 

Während der Fahrt sagt keiner von uns etwas. Das ist mir auch lieber so. Zu viele Gedanken schwirren in meinem Kopf. Außerdem rutsche ich andauernd nervös auf diesem modernen Ledersitz herum. Die Situation ist so komisch. Als ich vorhin seinen Wagen erblickt habe, staunte ich nicht schlecht. Wo hat er bloß das Geld für so einen Wagen her? Als Barkeeper kann man wohl kaum soviel verdienen.

Kurz schiele ich zu ihm rüber. Doch sein Blick ist streng nach vorne gerichtet. Er verzieht keine Miene. Ein richtiger Eisklotz eben.

Ich seufze leise vor mich hin. Hoffentlich hat der Lärm vom Verkehr es eben übertönt. Wir fahren mit offenen Fenstern und ich beobachte die bunten Lichter, die die Stadt in der Nacht wie einen Sternenhimmel aussehen lassen. Hudson sieht in der Nacht wirklich schön aus.

Ein Blick auf meinen Arm verrät mir, dass es noch etwas gerötet ist von seinem Griff. Eigentlich bin ich sauer auf ihn, als er mich so plötzlich grundlos weggezogen hat, aber ich bin auch froh darüber. Irgendwie wurde mir der Kerl namens Marc etwas unheimlich. Zwar ist er ziemlich ruhig und aufmerksam gewesen während ich ihm meine Sorgen geschildert habe, doch… Irgendetwas hat er ausgestrahlt, was mich verunsichert hat, sodass ich ihm am Ende sagen wollte, dass meine Mutter - obwohl dem nicht so ist - mich gleich abholt, weil er vorgeschlagen hat, dass er mich nach Hause fahren würde. Zum Glück wurden wir dann gestört. Ich bin nämlich eine schlechte Lügnerin.

Ich werfe Eisklotz einen fragenden Blick zu. Seit dem Aufzug haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Ich frage mich, wie er mich nach Hause fahren will, wenn er meine Adresse nicht weiß. Vielleicht will er gar nicht…?

Nein, Silver, du denkst mal wieder zu viel. So ein Typ wie er kriegt doch jede, die er will. Warum soll er ausgerechnet mich dann bitte entführen oder ähnliches?

Also unterdrücke ich die Frage und warte gespannt auf das Ziel.

Ich zucke dafür mein Handy raus und schreibe Linda, dass Eisklotz mich nach Hause fährt und ich sie anrufe, wenn ich ankomme. Sie kennt ihn ja. Wenn ich also nicht zu Hause ankomme, dann weiß sie wem ich das zu verdanken habe.

Irgendwann biegt das Auto um und ich erkenne, auch wenn es dunkel ist, die Straße, die mein Vater gestern gefahren ist. Noch einmal um die Ecke und wir müssten da sein.

Doch plötzlich fährt er das Auto rechts ran. Ohne Erklärung steigt er aus und läuft um das Auto. Ich schnalle mich sofort los, da schwankt auch schon die Autotür auf meiner Seite auf.

Doch ein Gentleman.

„Wir sind noch nicht da. Mein Haus liegt um die Ecke“, versuche ich ihm zu erklären während ich aussteige. Er schließt die Autotür und drückt auf den Knopf seines Autoschlüssels. Dann setzt er sich in Bewegung und läuft einfach an mir vorbei.

„Hallo?“ Ich versuche nicht zu laut zu rufen, obwohl er schon einige Meter hinter sich gelegt hat, da ich die Nachbarn nicht wecken will.

Endlich dreht sich Eisklotz zu mir um.  

„Ich begleite dich bis zu deinem Haus. Auf“, meint er nur und dreht sich wieder um. Ich werde aus dem Typen einfach nicht schlau.

Genervt laufe ich hinter ihm her und hole ihn schließlich ein.

Normalerweise wäre ich jetzt auf 180 und würde ihm seine Ohren grün und blau zutexten, was für ein komischer und aufgeblasener Kerl er doch ist, doch ich bin jetzt einfach viel zu müde dafür.

Stattdessen ertönt ein leises „Danke“ von mir während wir nebeneinander laufen.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sich sein Kopf sich leicht zu mir dreht. Wahrscheinlich muss er jetzt verwundert gucken. Oder auch nicht. Hauptsache ich habe es ihm gesagt und bin ihm nichts mehr schuldig. Denn das will ich definitiv nicht.

Wir biegen um die Ecke und ich sehe das Haus schon von Weitem.

Ich verlangsame meine Schritte etwas, sodass er kurze Zeit alleine weiterläuft, doch er bleibt nach dem ersten Meter stehen.

„Was ist?“, kommt es von ihm.

„Ehm… woher weißt du eigentlich, wo ich wohne?“, stelle ich endlich meine unterdrückte Frage. Ich versuche dabei in seinen Augen irgendetwas abzulesen, doch es ist so verdammt schwer. Diese eiskalten blauen Augen sind wie eine Mauer, durch die man nicht einfach dringen kann.

Er schaut mich einige Sekunden so an, bevor endlich die Antwort kommt.

„Durch Linda.“

Okay das klingt plausibel.

Zwischen uns liegt nur knapp 1 Meter Abstand und doch habe ich das Gefühl, dass Welten zwischen uns liegen.

„Kommst du jetzt?“, kommt es von ihm und er setzt wieder zum Laufen an. Ich verdrehe genervt meine Augen und tue es ihm nach.

„Du bist echt komisch“, sage ich zu ihm, als wir vor dem Tor stehen.

Er zuckt nur mit den Schultern und schaut dabei das Haus an.

„Nicht schlecht“, murmelt er. Aber ich habe das Gefühl, dass er eher mit sich redet als mit mir.

Dann senkt er seinen Blick und seine Augen treffen auf meine.

„Dann eine gute Nacht, Shawty.“ Mit den Worten dreht er sich um, verharrt jedoch eine Sekunde bevor er geht.

Shawty?

Kopfschüttelnd öffne ich das Tor und laufe zur Haustür. Bevor ich den Code eintippe drehe ich mich nochmal zur Straße um. Und da - er ist stehen geblieben und unsere Blicke treffen sich. Eine Weile - mir kommt es wie eine kleine Ewigkeit vor - verharren sich unsere Blicke ineinander, doch plötzlich dreht er sich um und läuft mit schnellen Schritten weg.

Als ich eintrete, ist das ganze Erdgeschoss dunkel. Ich tippe darauf, dass meine Eltern schon schlafen gegangen sind. Nachdem ich in meinem Zimmer angekommen bin, ziehe ich mir schnell ein Nachthemd an und schminke mich ab.

Dann setze ich mich auf das Bett und rufe Linda an.

„Hey“, ertönt es auf der anderen Seite.

„Ich wollte dir nur sagen, dass ich gut angekommen bin.“

Ich höre sie aufatmen. Im Hintergrund scheint keine Musik zu spielen.

„Gut. Ich wollte dich schon anrufen. War Jason artig zu dir?“ Das Grinsen ist kaum in ihren Worten zu überhören.

„Mehr oder weniger“, kichere ich. „Aber Linda… Jason ist.. naja ist er immer so?“

Auf der anderen Seite lacht Linda aufeinmal auf.

„Silver, er kann naja.. eigen wie heute sein. Aber im Grunde ist er ein wirklich guter Kerl. Nimm dir nichts von ihm zu Herzen“, erwidert sie mir kichernd. Ich atme auf.

„Alles klar, danke Linda.“

„Na schön. Ich bin jetzt auch gleich zu Hause. Hast du Lust dich wieder mit mir zu treffen?“  

„Klar gerne“, sage ich und meine es so.

„Schön, eine Shoppingtour? Wie wäre es mit Montag. Ich bin da schon um 2 mit der Arbeit fertig.“

„Ja, das müsste klappen“, antworte ich.

„Dann gute Nacht, Silver. Ruh dich aus. Und mach dir bitte nicht so viele Gedanken meine Liebe“

„Gute Nacht, Linda“, erwidere ich lächelnd und lege auf.

Schnell räume ich die Sachen aus meiner Tasche aus, die ich heute mit mir getragen habe, und steige in mein Bett. Ich lege mein Handy auf die Nachtkommode als plötzlich die Zimmertür aufgeht.

„Silver“, begrüßt mich mein Vater. Er steht in einer dunkelblauen Schlafhose und grauen T-shirt vor mir. Sein verschlafener Blick ist nicht zu übersehen. Sofort muss ich grinsen.

„Daddy, tut mir Leid, dass es so spät wurde.“, sage ich zu ihm während er sich an die Bettkante setzt.

„Ist schon okay. Du hast ja gesagt, dass es vielleicht bis Mitternacht gehen kann.“ Beruhigend streichelt meinen Unterarm und lächelt mich liebevoll an.

„Danke, Dad. Es tut mir Leid, was vorhin passiert ist“, murmele ich und senke meinen Blick. Meine Mutter ist bestimmt noch sauer.

„Das ist nicht deine Schuld. Deine Mutter möchte dich nur am liebsten im Haus haben, weil du doch erst seit gestern entlassen wurdest“, erwidert mein Vater mit ruhiger Stimme.

„Ja, aber ich habe mich ja schon lange erholt. Auch im Krankenhaus. Es ist kaum noch was von den Verletzungen da. Nur diese Narbe eben.“

„Das freut mich“, sagt er und lächelt mich an. „Ich wollte dir eigentlich sagen, dass du morgen Besuch erwarten wirst.“

„Von wem?“, schießt es sofort aus mir heraus.

„Na deinen Großeltern. Sie wollen dich schon lange sehen. Wir essen zu Mittag zusammen. Und Tyler wird kommen.“

„Tyler?“ Sofort fängt mein Herz an schneller zu schlagen. Heute Nacht habe ich gar nicht mehr an ihn gedacht. Zum ersten Mal seit dem Unfall. „Kommt er selber oder habt ihr ihn gerufen?“

Kurz senkt mein Vater den Blick, doch nur kurz, ehe er mich wieder anschaut. „Wir haben ihn angerufen.“

Bei den Worten spüre ich, wie mein Herz sich zusammen zieht. Warum hat er sich nicht selbst gemeldet?

„Hör zu. Eigentlich weiß keiner, dass du aus dem Krankenhaus entlassen bist. Und auch von deinem Gedächtnisverlust. Außer eben deine Familie und jetzt eben Tyler.“

„Und was ist mit meinen anderen Freunden? Oder hatte ich außer Tyler und Cindy keine?“, frage ich sofort.

Daraufhin schüttelt mein Vater traurig den Kopf. „Das wissen wir nicht genau. Immerhin hast du das letzte Jahr nicht bei uns gewohnt.“

„Das stimmt, aber trotzdem… ich finde einfach…“ Verzweifelt suche ich nach Worten, die meinen jetzigen Zustand am besten äußern können. Ich löse meinen Arm aus seiner Hand und umfasse mit meinen Händen das Gesicht. Nicht lange und die ersten Tränen laufen über meine Wangen.

Zärtlich nimmt mich mein Vater in seine Arme während ich leise vor mir hinschluchze.

„Ach Schatz. Es tut mir so alles Leid. Wir möchten nur, dass du erstmal gesund wirst. Mach dir bitte nicht so viele Gedanken um diese letzten Jahre. Das alles kommt noch. Dein Kopf muss sich auch erstmal erholen, Silver.“

Tatsächlich helfen seine Worte mich wieder zu beruhigen. Er deutet mir an mich hinzulegen und knipst das Licht aus.

„Schlaf gut, meine Kleine. Wir sehen uns morgen“, flüstert er mir zu und verlässt dann das Zimmer.

Ich starre noch etwas an die Decke während immer noch tausend Gedanken in meinem Kopf herum schwirren, doch irgendwann schlafe ich doch ein. 

 

 

 

In der Nacht träume ich von verschiedenen Dingen. Erst sehe ich Tyler und Cindy. Die beiden sehen genauso aus wie früher nur eben größer und älter. Beide kommen lächelnd zu mir und nehmen mich an die Hand. So laufen wir durch den Park und ich erblicke den großen Teich. Alles fühlt sich richtig an. Wir zu dritt. Hand in Hand. Die Vögel zwitschern uns zu. Ich betrachte den Teich genauer. Er ist so groß und das glitzernde Wasser lädt einen gerade zu ein da hinein zu tauchen.

Gerade als ich mich zu den beiden umdrehen möchte, um sie überreden mit mir ins Wasser zu gehen, verschwinden sie.

Ich möchte schreien, doch kein einziges Wort kommt über meine Lippen. Dann verschwimmt alles und ich habe das Gefühl, dass ich zusammen gedrückt werde. Überall an meinem Körper wird ein Druck ausgeübt und ich erkenne nichts. Nur Dunkelheit. Verzweifelt versuche ich wie eine Irre mit meinen Armen herumzufuchteln, als ich den Widerstand an meinen Armen spüre. Wasser. Aus dem Nichts tauchen plötzlich zwei Arme, die nach mir greifen und an mir ziehen. Sofort verschwindet der ganze Druck und auch das verschwommene Bild wird langsam schärfer. Es ist, als wäre ich wieder an die normale Luft geholt worden. Aus dem Wasser. Ich versuche die Person vor mir zu erkennen. Es ist zwar immer noch dunkel, aber langsam wird es heller, als würde die Sonne aufgehen. Langsam kann ich alles schärfer sehen, doch erkenne immer noch nichts. Gerade als ich dabei bin, das Gesicht meines Gegenübers zu erkennen, wache ich auf.

 

„Silver, komm runter, es gibt Frühstück!“, dröhnt die Stimme meines Vater erbarmunglos durch meinen Kopf. Dann erst merke ich, dass ich im Bett liege.

Verschlafen taste ich mit meiner Hand nach meinem Handy ab. 09:20 Uhr.

„Es war ein Traum“, murmele ich zu mir selbst, nur um mich nochmal zu vergewissern, dass es wahr ist.

„Ich komme!“, rufe ich aus der Tür bevor ich in das Badezimmer gehe und mich fertig mache. Ich hoffe, dass meine Großeltern und Tyler noch nicht da sind, und schlüpfe in eine einfache Jogginghose. Meine zersausten Haare binde ich zu einem Dutt zusammen. Im Spiegel betrachte ich mein Gesicht. Meine Augen sehen noch vom Schlafen etwas geschwollen aus und auch meine Lippen sehen aus, als hätte ich die ganze Nacht darauf gebissen. Zum Glück bin ich von der Sonne etwas dunkler geworden und habe somit mehr Farbe bekommen. Eilig laufe ich die Treppe runter, doch schaue trotzdem konzentriert auf jede Stufe, die ich überfliege, weil ich dieses komische Gefühl immer noch nicht los bekomme.

In der Küche steht mein Vater mit dem Rücken zu mir zum Herd. Er scheint gerade Spiegeleier zu machen.

„Setz dich doch. Deine Mutter kommt später. Sie fährt zu deinen Großeltern und holt sie ab. So gegen 12 müssen sie da sein.“

„Soll ich wegen dem Mittagessen helfen?“, frage ich während ich mich an den Tisch setze.

„Ach, nein. Deine Großeltern nehmen etwas von ihrem berühmten Apfelkuchen mit, den du doch immer so magst, und deine Mutter hat schon alles vorbereitet.“

„Den Tisch decke ich aber“, murmele ich, damit ich mir wenigstens ein bisschen nützlich vorkomme. Als Antwort schenkt er mir ein Lachen während er sich zu mir setzt.

„Du hast dich nicht verändert, mein Schatz“ Während er das sagt, zwinkert er mir zu und fängt dann an zu essen.

„Warum auch? Sind ja nur meine Erinnerungen, die weg sind, nicht meine Persönlichkeit“, erwidere ich langsam. Dabei klinge ich sicherer, als ich es eigentlich bin.

„Ja das stimmt.“

„Dad?“, frage ich ihn nach einer Weile.

„Was ist?“

„Wegen der Privatschule. Darüber haben wir noch gar nicht geredet.“

Daraufhin lässt mein Vater seine Gabel auf den Teller sinken und blickt mir in die Augen.

„Ja, das stimmt. Darüber wollte ich mich eigentlich gestern mit dir unterhalten, aber du warst ja aus.“ Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück ohne seinen Blick abzuwenden.

„Ich möchte dir selber die Entscheidung überlassen, was du möchtest“, fährt er fort. Dabei betonte er das „du“ besonders.

„Möchtest du auf eine Privatschule, wo dir die Lehrer den Lernstoff der letzten 5 Jahre in innerhalb 2 Jahren beibringen? Der Unterschied zur öffentlichen Schule weißt du ja. Darüber haben wir uns auch damals unterhalten bevor du auf das Gymnasium kamst. Es sind kleinere Klassen und wir werden dir auch einen Nachhilfelehrer engagieren, der nochmal alleine mit dir alles intensiv durchgeht, dann wirst du es ohne größere Probleme schaffen können. Oder es gibt die andere Option. Du gehst wieder auf deine alte Schule, wirst aber ein Jahr zurückversetzt, sodass du dein Abitur ein Jahr später machst. Wir werden natürlich hier nicht nur einen Nachhilfelehrer engagieren, sondern auch einen Lehrer an deiner Schule, der dir hilft, weil diese Option viel mehr von dir in einer kürzeren Zeit abverlangt.“

Beim letzten Satz lasse auch ich meine Gabel los.

„Eh…“, kommt es nur perplex von mir.

„Du musst dich nicht gleich entscheiden. Ruh dich noch die nächste ganze Woche aus und dann entscheidest du dich.“

„Danke Papa.“

„Wofür?“, fragt er mich sichtlich verwirrt.

„Na dafür, dass du mich selbst entscheiden lässt. Mama will die Privatschule, das weiß ich.“ Auch er scheint es zu wissen, denn er seufzt bei den Worten vor sich hin.

„Das stimmt. So ist sie nun mal.“, sagt er nur.

Bis wir fertig mit dem Frühstück sind, sagt keiner von uns mehr etwas. Ich helfe ihm noch beim Aufräumen, bevor ich wieder in mein Zimmer hochgehe. 10:05 Uhr. Noch 2 Stunden.

Ich entscheide mich dafür ein Outfit für den bevorstehenden Brunch auszusuchen. Also gehe ich in meinen - mittlerweile geliebten - Kleiderschrank und schaue mich um. Skeptisch lasse ich meinen Blick über die Kleider schweifen. Es soll etwas schlichtes sein, also hänge ich alle einfarbigen Kleider ab, die ich anschließend auf mein Bett schmeiße. Das Oberste auf dem Stapel ist ein Schwarzes mit Trägern, dass ab der Hüfte etwas weiter aufgeht und die Figur gut betont. Doch mit meinen dunklen Haaren und leuchtend grünen Augen sieht das in Kombination zueinander zu sexy aus, also werfe ich es zur Seite. Das Nächste ist ein Pinkes, was ich gleich weglege, ohne es anzuziehen. Mein Blick fällt auf ein champagnerfarbenes Kleid, welches trägerlos ist und einen Gürtel an der Hüfte hat. Der Stoff ist zart und leicht durchsichtig, doch mit der weißen Unterwäsche erkennt man nichts, also entscheide ich mich dafür. Zufrieden blicke ich in den Spiegel und komme mir vor wie ein Mädchen. Ja, ein richtiges Mädchen, das sich Gedanken über ihre Kleidung macht. Das habe ich nämlich nie getan, bis Cindy aufgetaucht ist.

Ich seufze bei den Gedanken an sie. Gestern hat mir Linda erzählt, dass sie nach ihrem Selbstmordversuch freiwillig in eine Therapie geht und dort 2 Monate bleiben muss, ohne jeglichen Kontakt zur Familie und Freunden. Das heißt, ich würde sie frühestens in 5 Wochen wiedersehen.

Nachdem ich die restlichen Kleider weggeräumt habe, nehme ich wieder mein Handy, da mir noch gut eine Stunde übrig bleibt.

Ich schaue mir meine Kontaktliste an und muss eingestehen, dass mir einige davon neu sind.

Arthur, Chris, Jason, Linda, Liz, Tobias, Vanessa, Yvonne sind alle, die ich vor meinem 13. Lebensjahr nicht auf der Kontaktliste hatte.

Ich stocke. Warte… Warum habe ich Jasons Nummer? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er sie mir vorgestern oder gestern gegeben hat.

Aufeinmal fängt mein Herz an wie wild zu pochen. Ich verhärte den Griff an meinem Handy, sodass ich schon Angst habe, dass es gleich kaputt geht.

„Warum?“, spreche ich laut meinen Gedanken aus.

Seit unserem ersten Treffen hat er mir bereits ein fettes Fragezeichen in meinen Kopf hinterlassen, weil ich sein Verhalten nicht verstehen kann. Er ist wie eine Warm-kalt-Dusche. Mal ist er total gefühlslos und distanziert, dann ist er der totale Macho, aber im nächsten Moment rettet er mich vor einem Fremden und fährt mich auch noch nach Hause, obwohl Linda es getan hätte. Oder wie er sich auf dem Parkdeck des Einkaufscenters um mich gekümmert hatte.

Allmählich wird es mir bewusst. Es ist eigentlich schon die ganze Zeit in meinen Kopf gewesen. Diese Vermutung, die ich aber nie nachgegangen bin, indem ich es laut ausgesprochen oder ihn selbst gefragt habe. Doch jetzt, da der Beweis in meinem Handy liegt, weiß ich es nun. Wir kennen uns schon vorher. Das zufällige Treffen im Supermarkt kann nicht unser Erstes gewesen sein. Irgendetwas habe ich mit diesem Kerl erlebt, sodass ich seine Nummer mit mir rumtrage. Nur blöd, dass ich nicht sehen kann, wen ich vor dem Unfall angerufen und gesimst habe, da ich mein Handy so eingestellt habe, dass es alle 31 Tage alles löscht, wenn ich es nicht manuell speichere. Verdammt.

Ich lasse mich mit dem Rücken auf das Bett fallen und starre geradewegs zur Decke hoch.

„Jason, du Idiot“, murmele ich vor mich hin. „Wer bist du?“

Ich beschließe ihn das nächste Mal auszuquetschen. Soll er doch auf Eisklotz, Pokerface oder sonst was machen. Solange ich keine vernünftige Antwort von ihm kriege, werde ich ihn nicht in Ruhe lassen.   

Und wer ist Arthur, Liz, Tobias, Vanessa und Yvonne?

Ich bekomme das Gefühl nicht los, den Namen Yvonne  und Vanessa irgendwo mal gelesen zu haben. Aber ich weiß nicht mehr wo.

Am besten ich rufe alle von ihnen an. Hoffentlich bekomme ich nicht wieder so eine eiskalte Antwort wie von dem Typen gestern.

„Warum zum Teufel habe ich nicht Tagebuch geführt?“, frage ich laut zur Decke, als würde sie die Antwort darauf haben.

Ich beschließe Liz zuerst anzurufen, da sie mich auch angerufen hat während ich im Komma lag. Wenigstens eine, die an mich gedacht hat. Außer Chris und David. Der hatte ja auch angerufen.

Geduldig lausche ich die Wartetöne ab. Düt, Düt,….

„SILVER?!?!?“, kommt es hysterisch von der anderen Seite, sodass ich mein Handy reflexartig etwas weiter weg von meinem Ohr halte, weil es fast schon schmerzt.

„Eh ja…“, antworte ich und erwarte schon das nächste Gebrülle, doch stattdessen höre ich, wie das Mädchen auf der anderen Seite nach Luft schnappt.

„Wie kommt es? Bist du wieder wach?“, fragt sie und es scheint, als würde sie diesmal mit ihrer normalen Stimme sprechen.

„Ja. Seit knapp einer Woche.“

„Oh Gott. Und du hälst es nicht für nötig, deine beste Freundin zu informieren?“, kommt es aufgebracht von ihr.

Beste Freundin?

„Liz, hör zu. Ich lag im Komma und das 2 Wochen lang. Dann war ich noch 5 weitere Tage im Krankenhaus bis ich vorgestern entlassen wurde. Jetzt bin ich bei meinen Eltern.“ Ich hole tief Luft, weil es mir wieder schwer fällt, die nächste Information preiszugeben. „Also… der Arzt hat gemeint, ich habe eine schwere Kopfverletzung erlitten. Irgendetwas mit dem Erinnerungszentrum. Dadurch habe ich jetzt die letzten 5 Jahren vergessen.“ Ich beiße mir auf die Lippen während ich  nervös auf ihre Antwort warte.

„Oh… mein … Gott.“, ist ihre Antwort.

„Ja, du sagst es. Scheiße ne?“, presse ich hervor.

„Ja… und wie! Heißt das, dass du dich nicht mehr an mich erinnern kannst?“ Mir entgeht nicht, dass ihre Stimme nun bebt.

„Alles, was ich bis zu meinem 13. Lebensjahr erlebt habe, weiß ich nur noch. Du hast mich angerufen, deswegen habe ich dich jetzt angerufen. Wir müssen uns also danach erst kennen gelernt haben?“, sprudelt es aus mir raus während ich mich mit dem Gedanken anfreunde, dass ich außer Cindy noch eine Freundin habe.

„Ja. Wir haben uns vor knapp 2 Jahren kennen gelernt.“

„Und wie?“, frage ich vorsichtig.  

„Ich habe seit ich 5 bin den Selbstverteidigungskurs besucht. Irgendwann kamst du dazu.“

„Selbstverteidigung?“, platzt es aus mir heraus. Daher stammen also die Bauchmuskeln?

„Ja. Bei John’s Verein. Ach du weißt ja gar nichts mehr“, meckert sie aufeinmal rum. „Können wir uns bitte treffen? Ich möchte nicht am Handy mit dir reden. Ich möchte dich schon sehen.“

Sie klingt aufeinmal wie ein kleines Mädchen, dessen Spielzeug man weggenommen hat und sie kurz davor ist in Tränen auszubrechen. Egal, wer sie für mich war oder ist, ich habe sie - wie Nate - jetzt schon in mein Herz geschlossen.

„Ich weiß nicht mehr, ob es heute geht. Meine Großeltern kommen. Aber vielleicht morgen? Ich werde in der Stadt sein.“

„Ja morgen habe ich Zeit. Wollen wir uns vor dem Einkaufszentrum treffen? Wir gehen etwas trinken und unterhalten uns ausgiebig! Das Ganze geht ja mal gar nicht!“

Ich muss daraufhin leise kichern.  „Alles klar, Liz. Um 5?“ Bis dahin müssen Linda und ich fertig sein.

„Okay, dann bis morgen, ja? Und damit du mich erkennst. Ich werde eine pinke Cappy tragen!“, kommt es von der anderen Seite.  

„Mach das. Bis morgen“, sage ich mit einem Lächeln und lege auf.

Ich hänge meinen Gedanken nach und merke gar nicht wieviel Zeit vergangen ist, doch plötzlich höre ich, wie das Tor geöffnet wird und sofort höre ich den Motor eines Autos.

Wie von einer Tarantel gestochen schnelle ich vom Bett hoch.

Er ist da!

Ich schmeiße mein Handy auf das Bett und renne nach unten. Mein Herz klopft mir bis zum Hals während ich versuche nicht die Treppe runter zu stolpern. Bei der letzten Stufe bleibe ich jedoch abrupt stehen, weil mich plötzlich ein unsicheres Gefühl überfällt.

Wie er jetzt wohl aussehen mag? Wird er mich normal in den Armen nehmen wie er es sonst auch immer tut? Wir sind doch noch Freunde, oder?

Als wäre das Treppengelände mein Rettungsanker, klammere ich meine Hand um das eiskalte Metall und bewege mich keinen Millimeter. Ich horche den Stimmen, die immer näher kommen und schließlich sehe ich, wie mein Vater um die Ecke kommt und die Haustür aufschließt. Das Erste, was ich sehe, ist ein großer Picknickkorb. Dann erkenne ich, dass meine Mutter ihn trägt während sie eintritt. Mein Vater und sie fallen sofort in ein Gespräch, doch mein Blick bleibt wie gebannt am Türrahmen hängen. Ich sehe einen Arm, der an der Wand draußen angelehnt ist. Der Stoff deutet an, dass es eine Lederjacke ist. Diese Person lehnt sich also neben der Tür, ohne reinzukommen. Dann treten meine Großeltern ein. Sie umarmen ihren Schwiegersohn und kurz darauf verschwinden alle in Richtung Küche ohne mich gesehen zu haben. Ich stehe zu weit abseits.

Dann verschwindet dieser Arm aus meinem Blickfeld und ich blicke einer offenen Tür entgegen. Doch dies ändert sich im nächsten Moment, als eine Person durch den Türrahmen tritt.

Ich brauche keine weitere Sekunde, um zu erkennen, dass er es ist. Mein bester Freund.

Sofort schnellen meine Beine in seine Richtung und endlich fängt sein Blick meinen auf.

Ozeanblaue Augen, die mich eingehend mustern, bis ich schließlich ein Lächeln auf seinem Gesicht erblicke.

„Tyler“, kommt es gerade noch von mir, als ich auch schon in seinen Armen liege. Ich atme seinen Duft ein, der wie immer nach frischem Gras riecht, und ich erkenne noch einen Hauch von einem Aftershave, was mir auch sofort gefällt.

„Hey du“, höre ich ihn sagen. Seine Stimme klingt viel tiefer und rauer, als ich es in Erinnerung habe. Sie hat sich wirklich verändert und kurz muss ich an eine Person denken, doch ich werfe den Gedanken schnell weg, denn das kann nicht ein und dieselbe Person sein. Aber Tyler muss ja auch schon im Stimmbruch gewesen sein.

Langsam lösen wir uns voneinander und ich blicke ihm in die Augen. Unsere Umarmung gibt mir das Gefühl wieder den Boden unter den Füßen zu bekommen. Ich fühle mich geborgen. Die letzten Tage wurde ich ständig mit neuen Dingen konfrontiert.

„Ich habe dich so vermisst“, krächze ich mühsam hervor und ich kann nicht verhindern, dass Tränen nach draußen finden. Tyler schaut mich liebevoll an während er mir beruhigend den Rücken streichelt.

„Ssschh“, spricht er immer wieder zu mir.

Und in dem Moment denke ich mir: Wenigstens das bleibt beim Alten.

Kapitel 12

 

Obwohl es einige Minuten her ist, dass mich mein Großvater umarmt hat, spüre ich immer noch den Druck an meinen Armen. Als wir vorhin die Küche betraten, hatte er mich lediglich an sich gedrückt, als wäre ich sein verschollenes Kuscheltier. Auch wenn er mittlerweile um die Mitte 60 ist, hat er noch relativ viel Kraft, das habe ich gemerkt. Und es freut mich.

Meine Großeltern sehen kaum verändert aus. Ein warmes Gefühl überkommt mich während ich feststelle, dass sie sich auch nicht anders verhalten.

Meine Mutter ist mal wieder ganz in ihrem Element und kommandiert meinen Vater von der einen Ecke zur anderen. Dagegen bleibt der Rest gelassen und ich bin dabei mit Tyler den Tisch im Wohnzimmer zu decken. Wir haben zwar einen Tisch in der Küche, doch da wir zu sechst sind, eignet sich das Große im Wohnzimmer mehr.

„Das Messer musst du auf die rechte Seite legen“, belehrt mich mein bester Freund lächelnd, als er mein erstes Gedeck betrachtet.

„Oh tut mir Leid, Sir“, murmele ich gespielt genervt zurück.

In meiner Hand halte ich ein Tablett mit Besteck und Servietten während die Teller und Gläser schon auf dem Tisch stehen. Obwohl ich brav Tylers Anweisungen befolge, weiß ich nicht so recht wieso man es eigentlich so hinlegen muss. Grübelnd stehe ich vor dem Tisch und muss bestimmt total überfordert geguckt haben, denn ich merke, dass Tyler aufhört zu decken und mich plötzlich anblickt.

„Was ist?“, kommt es von Gegenüber.

„Ehm…ich… also mir ist nicht ganz klar, warum…“, druckse ich etwas betreten vor mich hin, weil es mir etwas peinlich ist.

„Warum was?“, wundert sich Tyler. Wir blicken uns beide an. „Du meinst das mit dem Messer?“, spricht er meine unausgesprochene Frage aus.

Ich zögere etwas bevor ich langsam nicke. Dabei merke ich wie meine Wangen aufeinmal anfangen zu glühen, als würde gerade starker Strom durch meinen Körper fließen und mein Kopf sich dabei aufladen.

Plötzlich fängt er an laut zu lachen. Es klingt befreiend und erstaunt zugleich. Ich vergesse für einen Moment die peinliche Situation und schaue stattdessen lächelnd, wie mein alter Freund sich den Bauch hält während sein Lachen den ganzen Raum erfüllt.

„Oh Gott…Silver. Das - das hat mir gerade den Tag versüßt“, presst er zwischen dem Lachen hervor und ein Grinsen ziert sein Gesicht.

„Achja?“ Ich blase demonstrativ meine Backen auf, lege das Tablett ab und verschränke meine Arme vor die Brust sowie ich es immer machte, wenn ich wollte, dass er mich ernst nahm. „Mach dich ruhig über mich lustig. Aber wir wissen beide, dass ich es wahrscheinlich vergessen habe.“

Sofort verstummt sein Lachen und Tyler blickt mich entschuldigend an.

„So meinte ich das nicht. Du darfst es nicht falsch verstehen“, bittet er mich. Er hat überhaupt nicht gemerkt, dass ich es gar nicht ernst meinte.

Zufrieden lasse ich meine Arme sinken und fange an zu kichern. Dabei schaue ich nicht in seine Richtung und decke weiter den Tisch.

„Du hast es schon wieder gemacht“, stellt er nach einer Weile leicht empört fest.

„Ich musste es. Und es klappt auch immer wieder“, erwidere ich grinsend. Ich bin fertig mit meiner Seite und warte geduldig bis auch er den letzten Platz gedeckt hat. Plötzlich legt er seinen Arm um meine Schulter, zieht mich an sich und zersaust mir meine Haare, die ich zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden habe.

„Hey!“, meckere ich und versuche mich aus seinem Griff zu befreien. Vergeblich. Erst jetzt sehe ich, dass sein Körper sich stark verändert hat. Er ist definitiv größer geworden. Etwa ein Kopf größer, aber das, was mir am meisten auffällt, dass er sehr trainiert aussieht. Bei seinen Bewegungen erhasche ich die vielen Muskeln, die sich auf seiner Brust bis zu seinen Armen abzeichnen.

„Also man tut es, weil man mit der rechten Hand das Messer nimmt und mit der Linken die Gabel. Das gehört zu den Tischmanieren. Es ist auch einfacher so zum Beispiel sein Steak zu schneiden“, erklärt er mir geduldig.

Endlich lässt er mich los und ich versuche vergeblich meine Frisur zu retten, doch es bleibt hoffnungslos. Also löse ich den Haargummi und meine Haare fallen locker auf meine Schultern. Als ich aufblicke, sehe ich, dass Tyler mich dabei mit ernster Miene mustert.

„Habe ich etwas im Gesicht?“, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Nein, ich habe dich nur vermisst“, erklärt er mit einem Lächeln. Dabei wirken seine Augen etwas verträumt.

Sofort erwidere ich es und stoße ihn leicht an die Seite.

„Wie lange hast du mich denn vermisst?“, necke ich.

Bei der Frage wirken seine Augen etwas verloren trotz des Lächelns. „Ich habe dich im Krankenhaus zwar besucht, aber du warst ja nicht wach.“ Es ist fast nur noch ein Flüstern. So leise wurde er.

„Es geht mir gut“, versichere ich ihm, weil er mit jeder weiteren Sekunde trauriger schaut. „Wirklich.“

„Ich weiß“, murmelt er und zieht mich in eine Umarmung. „Jetzt bist du hier. Bei mir.“ Während er die Worte ausspricht, merke ich, wie mein Herz anfängt schneller zu schlagen. Ich bin mir nicht sicher, ob es an den Worten lag oder an dieser innigen Umarmung. Diese ist ganz anders als die von vorhin.

Doch bevor ich etwas erwidern kann, erklingen die Stimmen meiner Eltern, die sich dem Wohnzimmer nähern. Langsam lösen wir uns beide voneinander und setzen uns stattdessen hin. Traurig stelle ich fest, dass er sich gegenüber mich gesetzt hat statt neben mir.

„So meine Lieben. Ich habe schon ganz großen Hunger“, murmelt mein Großvater, der als Letzter das Zimmer betritt.

Wir fangen an zu essen und es ist köstlich. Meine Mutter hat sich wieder selbst übertroffen. Immer wieder spüre ich Blicke auf mir, obgleich von meinen Großeltern oder Tyler.

Meine Großeltern erzählen mir von den letzten Jahren. Es hat sich nicht viel verändert bei ihnen. Sie wohnen immer noch am Rande der Stadt, dort wo sie ihre Ruhe haben. Das Einzige, was mich beunruhigt hat, ist, dass meine Oma vor einem Jahr einen Herzinfakt hatte. Zwar versichert sie mir, dass sie sich längst davon erholt hat, doch ich bekomme trotzdem Angst um sie, sodass ich ihre Hand drücke. Sie ist schon immer eine starke Frau gewesen, die ich bewundert habe. Denn sie verkörpert das Ideal von Stärke und Eleganz zugleich.

Als wir auch den leckeren Apfelkuchen meiner Oma verdrückt haben, entschuldigen Tyler und ich uns für einen Spaziergang.

 

Wir schlendern nebeneinander die Straße entlang während ich die Wärme der Abendsonne auf meiner Haut genieße.

„Ich bin pappsatt“, stößt mein bester Freund neben mir aus und hält sich demonstrativ den Bauch.

„Ja, pass auf, dass du dich fett wirst“, entgegne ich ohne ihn anzuschauen. Mein Blick hat sich voll und ganz in den verschiedenen Gärten auf dieser Straße verfangen.

„Als ob. Dafür trainiere ich viel zu viel“, kontert er siegessicher und ich sehe aus dem Augenwinkel, dass er mir zuzwinkert. Ich habe keine Ahnung wohin wir laufen, doch als ich eine Sitzbank an der nächsten Straße erblicke, ziehe ich ihn am Handgelenk mit mir dahin.

Während wir zur Bank laufen, merke ich, wie er sich von meinem Griff befreit und stattdessen meine Hand ganz nimmt. Etwas verwundert schaue ich auf unsere verschränkten Finger, bevor ich ihn in seine Augen schaue.

„Ich lasse mich nicht gerne führen“, rechtfertigt er die kleine Geste. Doch er weicht meinem Blick aus, sodass ich nicht von seinen Augen ablesen kann, ob es wahr ist. Schließlich setzen wir uns hin und ich strecke glücklich meine Beine aus. Zum Glück habe ich ein Kleid an.

„Erzähl mir bitte etwas“, fordere ich ihn auf, um die Stille zwischen uns zu durchbrechen.

Er schaut mich kurz an bevor er seinen Blick wieder nach vorne richtet. Vor uns befindet sich eine Bushaltestelle auf der anderen Seite und ein paar Jugendliche machen es sich dort gemütlich.  

„Wo soll ich anfangen?“, murmelt er, aber ich habe das Gefühl, dass die Frage eher an ihn selbst gerichtet ist.

„Du weißt, dass ich nichts mehr von den letzten 5 Jahren weiß. Setz doch da an. Ich weiß nur noch, dass Cindy, du und ich jeden Tag normal in die Schule gegangen sind und der normale Alltag eben“, eröffne ich ihm.

„Okay“, seufzt mein bester Freund bevor er anfängt zu erzählen. Ich weiß nicht wie lange ich da saß und ihm zugehört habe. Fast eine Stunde oder vielleicht auch mehrere, aber es kam mir lange vor. Er erzählte mir erstmal von der Schule. Die üblichen Dinge, die wir zu dritt gemacht haben und wie er immer die Lehrer geärgert hat und Cindy und ich uns dann darüber aufgeregt haben. Trotz allem mochten die Lehrer ihn, was er nicht verstand, aber er schiebt es auf seine Mutter, die im Elternbeirat sitzt. Wir waren anscheinend beide gut in der Schule, nur Cindy hing etwas hinterher. Ich hörte ihm genau zu, wie er kleine Vorfälle beschreibt und warte schon darauf, dass er von dem angeblichen Streit unserer Clique erzählt.

Als er von der 11. Klasse spricht, merke ich, wie sein Körper sich etwas anspannt, da ich ihn die ganze Zeit von der Seite aus beobachte. Tyler erzählt mir, dass Cindys Eltern jeden Tag anfingen zu streiten und Cindy sich immer komischer benahm: Wir waren kaum noch zu dritt unterwegs. Irgendwann hatte er und Cindy kaum noch etwas miteinander zu tun gehabt. Er wüsste aber nicht, wie es zwischen mir und ihr war, denn wir haben einfach nicht mehr über sie geredet. Dann erzählte er mir von einem Freund von ihm - Tobias heißt er - mit dem er sich angefreundet hat und mit ihm trainieren geht. Damit erklärte er mir auch die Frage, warum ich Tobias in meinen Kontakten habe. Klar, wenn er Tylers Freund ist, ist er auch meiner. Tyler rudert leidenschaftlich. Das habe ich nicht von ihm erwartet, doch ich freue mich für ihn. Dann erzählt er, dass er nun viel zu tun hat, da zurzeit die Abiturprüfungen anstehen. Er hatte zwar die schriftlichen hinter sich, doch die mündlichen wären in 2 Wochen. Das war auch der Grund, warum er mich nicht täglich besuchen konnte, doch er meinte, dass meine Mutter ihn immer angerufen hat, um ihn über mich zu informieren.

„Wow“, murmele ich nach einer Weile, als er fertig ist.

„Du sagst es. Es ist richtig komisch dir das alles erzählen zu müssen. Als hätte ich das alles ohne dich erlebt“, meint er etwas betreten während sein Blick auf dem Boden gerichtet ist. Vorsichtig lege ich meine Hand in seine und schenke ihm ein aufmunterndes Lächeln.

„Jetzt bin ich hier. Das ist, was zählt“, sage ich mit fester Stimme als wäre er derjenige, der getröstet werden muss. Aber eigentlich hat hier auch keiner gewonnen.

Mein bester Freund zwingt sich zu einem halbwegs vernünftigen Lächeln während er mich mit seinem Arm an sich zieht, sodass ich wieder seinen Duft einatme.

„Du hast Recht. Ich lasse dich nicht mehr so einfach gehen“, murmelt er gefährlich leise, dass ich es fast gar nicht mehr mitbekomme.

„Wie meinst du das?“, frage ich verwirrt. Er schweigt einen kurzen Augenblick, bevor er mir antwortet.

„Ich will einfach nie wieder Angst um dich haben“ Dabei zieht er mich fester an sich ran und ich spüre wieder, wie mein Herz anfängt schneller zu schlagen. Sofort verfalle ich in alte Erinnerungen.

 

Es war an einem Sonntagnachmittag im Sommer. Tyler und ich waren 11 Jahre alt. Er hat mich - wie üblich - von zu Hause abgeholt und wir sind zum Spielplatz gelaufen, das nicht weit von meinem alten Zuhause war. Der Spielplatz war groß und gehörte zu einem Park. Es war schon fast Tradition von uns beiden geworden, dass wir sonntags immer hierher kamen und Stunts übten. Ja, obwohl es sich lächerlich anhört haben wir, seitdem wir an einem Tag ein paar Jugendlichen dabei beobachtet haben wie sie Parkour liefen und gleichzeitig ein paar Stunts machten, auch angefangen uns selbst ein paar Übungen bei zu bringen. Es machte viel Spaß und ich liebte es. Tyler war natürlich viel stärker als ich und so gelangen ihm weitaus mehrere Übungen schneller als mir, doch er half mir immer geduldig und bewahrte mich so oft vor dem Runterfallen. Einmal habe ich mich an einem Gerüst getraut, um einen Salto zu probieren, bei dem man anschließend mit viel Schwung sich abdrückt und auf der zwei Meter entfernten Rutsche landet. Tyler stand auf der Rutsche und machte sich bereit mich abzufangen. Ich biss also meine Zähne zusammen und versuchte mein Glück. Der Salto gelang mir leicht, sodass ich schnell in die Position kam, in der ich nun meinen kompletten Körper mit den Händen abdrücken musste. Doch ich verschätzte mich und mein Handgelenk lag noch etwas schief um das Metall, als ich mich auch schon abdrückte. Mit einem schmerzverzerrten Schrei landete ich gegen Tyler, der so schockiert war, sodass wir beide die Rutsche herunterkullerten, weil er es nicht geschafft hatte mich aufzufangen. Auf dem Boden angelangt, landete ich komplett auf Tyler, der mit dem Rücken auf dem Boden lag. Hätte ich mich nicht rechtzeitig mit meiner - nicht verletzten Hand - abgedrückt, wären unsere Gesichter zusammen geknallt. Stattdessen trennten sich unsere Gesichter einige Zentimeter voneinander. So schockiert war ich, dass ich den Schmerz in meinem Handgelenk vergaß. Ich senkte meinen Blick auf seine geschwungenen Lippen während sein warmer Atem mein Gesicht streifte. In dem Moment schlug mein Herz so heftig, dass ich schon Angst habe, dass er es spürt, da ich Brust an Brust auf ihm lag. Mir kam es so vor, als würde sich sein Gesicht nähern, doch es könnte auch genau so gut andersrum sein. Es trennte uns nur noch wenige Millimeter. Doch bevor sich unsere Lippen trafen, rief jemand von der Rutsche oben, dass wir von der Landebahn abhauen sollen. Das war einer der Momente, wo ich meine Gefühle für meinen besten Freund in Frage gestellt hatte.

 

Glücklich lehne ich mich an seine Brust. Ich höre seinen Herzschlag, der genauso schnell schlug wie meiner damals auf dem Spielplatz. Ob ich damals in ihn verliebt war? Wie war es in den nächsten Jahren? Und was ist mit jetzt?

„Wir sollten zurück“, höre ich ihn aufeinmal sagen. Ich löse mich langsam von ihm und nehme kurz danach seine Hand, die er mir entgegenstreckt.

So laufen wir zurück. Hand in Hand.

Kapitel 13

 

Der ganze Weg bis zu unserem Haus kommt mir viel kürzer vor als wir zurückgehen. Als wir eintreten, ertönen die Stimmen aus dem Wohnzimmer. Ich folge ihnen und ziehe Tyler mit mir, da er immer noch meine Hand hält.

„Ach das wird sich schon bald zeigen. Erst kommt das Abitur und dann das Studium. Ich hoffe, sie wird wenigstens Jura wählen“, höre ich meine Mutter sagen und sofort versteift sich mein Körper.

Jura?

Bevor ich den Türrahmen erreiche, spüre ich einen Widerstand, woraufhin ich zurückgezogen werde.

„Was?“, zische ich leise Tyler zu, weil er plötzlich stehen geblieben ist.

Er schüttelt bestimmend seinen Kopf und nickt zur Haustür. Ich schaue ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und verstehe nicht, warum er nicht ins Wohnzimmer will. Tyler beugt sich kurz danach seufzend zu mir herunter.

„Ich glaube nicht, dass wir sie bei dem Gespräch stören sollen“, flüstert er mir zu.

„Das sehe ich nicht ein“, gebe ich prompt zurück und ziehe ihn mit einem Ruck in das Zimmer. Etwas verwundert lässt er sich ohne Widerstand mitziehen.

„Ah da seid ihr ja!“, begrüßt uns meine Mutter mit einem strahlenden Lächeln. Ihr Blick sinkt auf unsere Hände, woraufhin ihr Lächeln noch größer wird. Auch meine Großeltern blicken uns neugierig an während Tyler und ich immer noch stehen.

„Habt ihr uns etwas zu sagen?“, hakt meine Mutter nach.

„Nein“, erwidere ich. „Was meinst du, dass ich Jura wählen soll?“, komme ich sofort auf den Punkt.

„Ach Schatz, das habe ich gesagt, weil ich mir für dich das Beste vorstelle“, antwortet sie mir lächelnd.

„Habt ihr noch Kuchen da?“, wirft Tyler plötzlich in die Runde, als ich gerade den Mund öffne, um etwas zu sagen. „Der war so lecker.“

Daraufhin steht meine Großmutter auf und Tyler folgt ihr in die Küche. Auch die anderen stehen daraufhin auf.

„Ihr seht süß zusammen aus“, flüstert mir meine Mutter beim Vorbeigehen zu. Stirnrunzelnd schaue ich ihr nach, bevor ich meinem Vater mit dem Tisch aufräumen helfe.

Ich umarme meine Großmutter zum Abschied, da meine Mutter sie nun nach Hause fährt. Mein Großvater steht komischerweise abseits, sodass ich etwas mit dem Laufen brauche, bis ich vor ihm stehe und er mich in eine Umarmung zieht.

„Lass dir nicht soviel einreden, Silver. Hör auf dein Bauchgefühl. Und dein Herz“, flüstert er mir leise zu. Etwas verwirrt löse ich mich schließlich von ihm und will etwas darauf antworten, doch er winkt zwinkernd ab und setzt sich in Bewegung zur Haustür.

Sag mal, wollen hier alle mir das Wort abschneiden?

„So Ty, du kannst solange bleiben wie du willst. Du bist ja mit dem Auto da“, wendet sich meine Mutter zu ihm und verschwindet schließlich aus der Haustür. Mein Vater ist nicht mehr zu sehen.

„Du bist mit dem Auto hier?“, frage ich ihn während wir beide die Treppe zu meinem Zimmer hoch laufen.

„Ja klar“, erwidert er grinsend. „Hast du gedacht, ich habe keins? Ich bin 19 und nicht mehr 14.“

„Ne, das meine ich nicht. Ich dachte nur, dass meine Mutter dich zusammen mit meinen Großeltern abgeholt hat“, gebe ich nachdenklich zurück und öffne die Zimmertür.

Als ich mich auf das Bett setze, sehe ich, dass Tyler sich am Türrahmen gelehnt hat.

„Sie ist zuerst zu mir gefahren und dann zu deinen Großeltern. Ich bin denen nachgefahren“, antwortet er langsam.

„Du hättest auch direkt hierher fahren können?“

„Sie wollte vorher mit mir reden“, ist seine Antwort und schlendert zu mir.

„Ach und worüber?“, hake ich immer noch nachdenklich nach.

„Was wohl? Nur so belangloses Zeug, dass ich dich nicht überfordern soll, indem ich zu viel rede oder so. Sie macht sich eben nur Sorgen um dich. Sie ist deine Mutter“, erwidert er mit einem Augenzwinkern und schmeißt sich mit vollem Schwung auf das Bett.

Ich überlege kurz, doch belasse das Thema dabei, bevor ich mich dem nächsten Problem zuwende.

„Hey! Geh da mit deinen Straßenklamotten runter!“, rufe ich aufgebracht und zerre an seinen Beinen, weil sein Oberkörper schon auf der anderen Seite des Bettes liegt. Man ist der groß geworden. Früher wäre es ein Kinderspiel gewesen ihn runter zu zerren.

„Gib doch einfach auf“, murmelt dieser grinsend und schmeißt genüsslich seine Arme zur Seite.

„Na warte“, murre ich gefährlich leise und nehme Anlauf. Im nächsten Moment werfe ich mich mit voller Wucht auf ihn. Unter mir keucht Tyler vor Schrecken auf und fängt an zu husten. Ich grinse siegessicher und fange an ihn zu kitzeln.

„Lass das“, presst er mühselig unter mir hervor, doch ich ignoriere ihn. Ich merke, wie er sich verkrampft und versucht nach meinen Händen zu greifen, doch ohne Erfolg.

Plötzlich schmeißt er mich um und dreht mich auf dem Rücken.

„Mach das nie wieder", sagt er völlig außer Atem und ich muss kichern.

„Okay okay.“ Ich hebe zur Bestätigung meine Arme seitlich hoch.

„Gut“, kommt es leise von Tyler, als er sich neben mir fallen lässt.

Ich drehe meinen Kopf zu ihm und stütze ihn mit meinem Arm.

„Tyler?“

„Mhmm?“, brummt er mit geschlossenen Augen.

„Warst du damals mit mir auf der Hochzeit von Cindy?“, frage ich ihn.

Sofort schlägt er seine Augen auf und blickt mich fragend an.

Also nein.

Doch im nächsten Moment fasst er sich an Stirn und murmelt: „Doch ja, der war ich. Ich hab’s völlig ausgeblendet.“

„Wegen Cindy?“, frage ich neugierig weiter.

„Mhmm unter Anderem. War eben für keinen eine gute Zeit, als sich ihre Eltern aufeinmal trennten und ihr Vater neu geheiratet hat.“

„Aber Linda scheint nett zu sein“, sage ich langsam.

„Kann sein. Ich kenne sie nicht“, murmelt er und schließt wieder seine Augen während ich ihn tief einatmen höre.

„Aber du warst doch auf der Hochzeit. Du hättest auch mal nachgucken können, wie Cindys Stiefschwester so ist“, werfe ich ihm vor.

Daraufhin setzt sich Tyler auf und positioniert sich in einem Schneidersitz vor mir auf dem Bett.

„Cindy und ich haben uns da nicht mehr so verstanden. Ich war nur wegen dir da“, beantwortet er langsam meine Frage.

Ich sehe ihm in die Augen und versuche darin etwas zu sehen, doch ich erkenne nichts. Sie sind einfach nur ozeanblau.

Früher wusste ich immer, was in meinem Freund vorging, doch jetzt schaffe ich es nicht.

Eine Weile schweigen wir uns an, doch ich durchbreche die Stille mit einer überlegten Frage:

„Linda sieht mit ihren blonden Locken fast so aus wie Cindy, findest du nicht?“

„Ja, und wenn schon. Ist doch egal wie sie aussieht. Sie sind trotzdem keine richtigen Schwestern“, schnaubt er nur, zieht seine Lederjacke und T-shirt aus und legt sich wie selbstverständlich auf das Bett.

Ich schaue ihn eine Weile verwundert an, obgleich wegen seiner Antwort, die mich zum Nachdenken bringt, und seiner darauffolgenden Ich-schlafe-jetzt-auf-deinem-Bett-Reaktion. Da er anscheinend keine weiteren Anstalten macht und stattdessen fast schon so aussieht, als würde er schlafen, lege ich mich zu ihm und decke uns zu.

 

Nach einer halben Ewigkeit kann ich immer noch kein Auge zu kriegen. 17:23 Uhr lese ich von der Wanduhr ab.

Zu sehr hat mich die Frage beschäftigt, warum Tyler mich angelogen hat. Ich habe zur Absicht die Frage mit Lindas Frisur gestellt und es bricht mir das Herz zu wissen, dass mein bester Freund mir ins Gesicht log. Vorsichtig befreie ich mich aus dem Arm, den er um mich gelegt hat und schlüpfe aus dem Bett.

Ich fühle mich verraten. Wenn mein bester Freund mich anlügt, warum sollen das auch nicht alle anderen tun?

Zitternd greife ich nach meinem Handy und schmeiße es in die Tasche. Ich blicke in den Spiegel und sehe, dass ich kurz davor bin in Tränen auszubrechen. Doch ich habe keine wasserfeste Mascara an, sodass ich schnell meine Wimpern mit einer wasserfesten übertusche.

Lieber zu viel als zu wenig, denke ich mir, weil ich nicht will, dass man später sieht, dass ich geweint habe. Leise schleiche ich mich runter und bin kurze Zeit später aus der Haustür raus. Ich schlendere ziellos durch die Gegend und grübele darüber nach wohin ich laufen soll. Die Frage, wer mit mir auf der Hochzeit nun war, beschäftigt mich so sehr und ich will es unbedingt wissen.

Meine Gedanken schweifen zu Lindas Beschreibung zu der Person, die mich auf der Hochzeit begleitet hat. Da ich Tyler nun ausschließen kann, kommt für mich nur noch eine Person in Frage. Von diesem Gedanken geleitet wähle ich Jasons Nummer. Ich hätte auch Linda anrufen können, doch sie meinte doch, dass sie die Person nicht kannte.

„Hey“, ertönt plötzlich eine junge Stimme.

„Nate“, stelle ich mit einem Lächeln fest.

„Silver!“, kommt es von der anderen Seite und ich merke an seiner Stimme, dass er sich freut von mir zu hören.

„Ja. Sag mal, kannst du mir Jason geben?“

„Der ist gerade unter der Dusche.“ Mist.

„Oh okay.“ Ich will schon auflegen, als Nate nochmal das Wort ergreift.

„Komm doch hierher. Ich simse dir unsere Adresse. Es ist sooo langweilig hier in der Wohnung! Krank sein ist doof!“, meckert er plötzlich.

„Du bist krank? Was hast du?“

„Erkältung. Wegen dem Eis, sagt Jason.“ Ich kann mir schon vorstellen, wie er auf der anderen Seite schmollt.

„Ich denke, ich sollte euch nicht stören“, gebe ich nachdenklich zurück und meine es so.

„Nein! Bitte! Jason hat auch die ganze Zeit schlechte Laune. Er…“

„Hallo?“ Ich zucke zusammen, als ich plötzlich Jasons tiefe Stimme höre.  

„Ehm - eh…“ Vergeblich suche ich nach Worten und mein Herz, das plötzlich anfängt schneller zu schlagen, hilft mir auch nicht gerade groß dabei.

„Was ist los, Silver?“, höre ich ihn fragen.

Es ist ungewohnt, dass er mich so direkt anspricht und doch breitet sich ein angenehmes Gefühl in mir aus.

Ach, ich bin so durcheinander.

Ich seufze leise und hoffe, dass er es nicht hört.

„Ich… keine Ahnung, warum ich angerufen habe“, erwidere ich langsam. Es entspricht eigentlich auch der Wahrheit.

„Ist etwas passiert?“, fragt er aufeinmal. „Wo bist du gerade?“

In dem Moment merke ich, dass ich eine Straße entlang laufe, die ich nicht kenne. Ich lese ein Schild ab.

„In der Kurfürstenstraße.“

„Was machst du da?“

„Keine Ahnung“, gebe ich kleinlaut zurück und fühle mich verloren.

Ich höre wie auf der anderen Seite laut seufzt, ehe er mir antwortet.

„Gut, ich hole dich ab. Bleib wo du bist.“ Damit legt er auf. Verwirrt schaue ich mein Handy an.

Was habe ich eigentlich eben gemacht? Er ist doch ein Fremder für mich und wer weiß, ob er mir überhaupt helfen wird oder überhaupt kann oder gar vielleicht alles nur noch schlimmer macht. 

Aber.. ich muss es einfach wissen.

Nicht 10 Minuten später und ich sehe seinen Wagen. Es ist ja auch nicht so, dass jeder einen Ultimate Aero fährt.

Er hält so an, dass sich die Beifahrertür direkt vor mir befindet und fährt dabei das Fenster herunter. Ich mache die Beifahrertür auf und setze mich vorsichtig hin während wir uns gegenseitig ansehen.

„Ich…“, setze ich an, doch er winkt ab.

„Schon gut. Nate will dich sehen“, murmelt er nur und gibt Gas.

Ich nehme mir seufzend vor auf der Fahrt nicht mit meinen Fragen anzufangen, sondern erst, wenn wir ankommen.

Jason parkt in einer Straße, die ich nicht kenne. Wir laufen auf ein Hochhaus zu und nehmen den Aufzug. Ich beobachte ihn dabei, wie er auf die 13 drückt und etwas ungeduldig mit seinen Füßen wippt. Er führt mich durch einen großen Flur, bis er an einer Tür stehen bleibt und mich in ein großes Apartment führt.

Wortlos zieht er seine Schuhe aus und stellt sie an die Wand. Also mache ich es ihm nach und folge ihm anschließend. Wir laufen durch einen langen Flur und in der Küche höre ich, wie jemand dabei ist zu kochen. Kurze Zeit später treten wir in einen Schlafzimmer ein und ich sehe Nate auf dem Bett. Als er mich sieht, setzt er sich auf und will schon zu mir krabbeln, doch ich deute ihm an liegen zu bleiben.

„Mach es dir gemütlich“, sagt Jason nur und verlässt daraufhin das Zimmer.

Ich nicke ihm zu, doch bin mir sicher, dass er es nicht mehr gesehen hat, da er sich so schnell weggedreht hat.

„Silver!“, sagt Nate mit einem Strahlen. Ich drücke ihn an mich und wünsche mir in dem Moment auch einen Bruder zu haben.

Doch leider bin ich ein Einzelkind. Der einzige, den ich immer als Bruder ansah, war Tyler, doch jetzt…

Ich merke frustriert, dass sich Tränen aus meinen Augen bahnen wollen und löse mich schnell aus der Umarmung, um sie wegzuwischen.

„Was ist los?“, fragt mich Nate und er klingt besorgt.

„Nichts. Ich freue mich nur dich wieder zu sehen“, erwidere ich und zwinge mir einen halbwegs vernünftiges Lächeln.

„Du lügst! Freudentränen sind etwas anderes“, kommt es prompt vom Kleinen und ich merke, dass es sinnlos ist, ihm was vorzumachen. Er ist so altklug.

„Na gut. Mir geht es heute nicht so gut“, versuche ich bei ihm mit der halben Wahrheit.

Er scheint sich damit zufrieden zu geben, denn statt einer Antwort streichelt er mir über den Arm. Eigentlich will ich mich um ihn kümmern, denn er ist immerhin der Kranke von uns beiden, doch nun passiert das Gegenteil.

„Hast du Kopfschmerzen?“, frage ich ihn und lege meine Hand auf seine Stirn. Sie ist warm, jedoch nicht allzu sehr.

„Nein, ich bin schon fast gesund, aber Jason lässt mich nicht aus dem Haus“, murmelt der Kleine neben mir genervt.

„Er sorgt sich eben um dich. Immerhin ist er dein großer Bruder.“

„Er will nur das ganze Eis für sich haben“, murrte Nate weiter und ich muss anfangen zu lachen.

„Was gibt es da so zu lachen?“, ertönt es plötzlich von der anderen Seite.

Jason steht - mit einem Tablett voller Essen gewappnet - lässig an der Wand gelehnt und scheint uns beobachtet zu haben.

„Essen!“, höre ich Nate begeistert neben mir rufen. Grinsend schlendert Jason zu uns und stellt das Tablett auf dem Schreibtisch neben dem Bett. Vorsichtig überreicht er Nate ein noch kleineres Tablett mit einer Suppe und mir reicht er einen Burger.

Etwas verwirrt über die verschiedenen Mahlzeiten nehme ich es trotzdem dankend entgegen während ich beobachte, wie Jason einen Stuhl zu sich zieht und sich gegenüber uns hinsetzt.

„Das ist die letzte Suppe“, sagt Jason an Nate gerichtet, der anscheinend seine Mahlzeit angeekelt betrachtet.

„Komm ich helfe dir“, höre ich mich selber sagen und ich fange an Nate mütterlich zu füttern.

Ich denke dabei an meine Mutter, wie sie es immer getan hat als ich noch ein kleines Kind war. Erst vorsichtig den Löffel anpusten, bevor man den Kranken damit füttert.

Nachdem Nate den ersten Löffel runtergeschluckt hat, lächelt er mich wie ein kleines Kind an. Er ist zwar auch eins, doch benimmt sich dafür viel zu altklug meiner Meinung nach.

„Und schon etwas besser?“, vergewissere ich mich.

„Auf jeden Fall. So ist Kranksein viel besser.“ Mir entgeht nicht, dass er das „viel“ dabei lang zieht.

Vor uns höre ich Jason leise schnauben. „Du solltest ihn nicht so verwöhnen.“

„Einer muss es ja tun“, erwidere ich leichtfertig.

„Er ist mein kleiner Bruder nicht deiner.“

Das hat gesessen.

Sofort schnelle ich auf und meine Beine tragen mich aus der Tür.

Jetzt kann ich wirklich nicht mehr die Tränen zurückhalten.

„Hey!“, höre ich ihn hinter mir rufen, doch ignoriere ihn. Ich bin schon bei meinen Schuhen angekommen, als er meine Hand ergreift.

„Ich habe es nicht so gemeint“, entschuldigt sich Eisklotz, und ich glaube mich verhört zu haben, daher versuche ich mich automatisch aus seinem Griff zu befreien. Er soll meine Tränen zudem nicht sehen. Wenigstens stehe ich mit dem Rücken zu ihm. Ich komme mir heute so verdammt sensibel vor.

„Hey“, versucht er es diesmal eine Spur sanfter und ich schaffe es schließlich mich von seiner Hand zu befreien. Doch wenige Meter weiter holt er mich wieder ein und wirbelt mich diesmal um, sodass ich ihn unverweigerlich ins Gesicht schauen muss. Jason blickt mich - zum ersten Mal - erschrocken an.

„Lass mich los“, murmele ich und weiche seinem Blick aus.

„Es tut mir leid. Du brauchst doch nicht deswegen zu weinen“, sagt er daraufhin etwas betreten.

„Ich weine doch nicht wegen dir du Idiot!“ Diesmal brülle ich ihn an.

Seine Augen weiten sich noch mehr während seine Griffe um meine Arme fester werden.

„Hat dir jemand etwas angetan?“, fragt er mich plötzlich und ich sehe wie er mit den Zähnen knirscht.

Warum reagiert er so?

Gott, er verwirrt mich so.

„Nein“, lüge ich, doch in dem Moment merke ich selbst, dass man es mir anhört.

Seinen Blick richtet er plötzlich konzentriert auf meinen rechten Arm und er lockert seinen Griff an der Stelle.

„Komm“, sagt er und zieht mich wieder in die andere Richtung. Ich lasse es zu meiner eigenen Verwunderung zu. Er führt mich nicht mehr in das Schlafzimmer zurück, sondern stattdessen in ein Badezimmer.

Sanft drückt er mich auf den Rand der Badewanne und fängt an im Wandschrank herumzuwühlen. Dann holt er plötzlich eine Tube raus und setzt sich auf einem Hocker gegenüber mir.

Ich beobachte ihn misstrauisch während er einen Klecks aus der Tube auf seine Hand ausdrückt und mir das Zeug auf meinem Arm schmiert. Dann erkenne ich plötzlich, dass es die Stelle ist, an der er mich in der Bar gezogen hat. Sie ist noch leicht gerötet und etwas angeschwollen. Ich habe es heute den ganzen Tag gar nicht bemerkt und er tut es in wenigen Minuten.

„Ist doch nur etwas rot geworden“, murmele ich vor mich hin.

„Trotzdem. Es ist meine Schuld und ich will dir nichts schuldig sein“, erwidert er mit geduldiger Stimme. Unter seinen Fingern fängt meine Haut an der Stelle an aufzuglühen und ich bin mir nicht sicher, ob es an der Creme liegt. Verlegen schaue ich zur Seite.

„Warum bist du aufeinmal so nett?“, sage ich leise ohne ihn anzuschauen.

Ich höre wie er vor mir tief ein und aus atmet. „Ich bin nicht immer ein Eisklotz.“

„Achja?“

„Ja.“

„Doch eigentlich schon.“

„Und wieso denkst du das?“

„Deine Augen sind eisblau“, schießt es nur so aus mir heraus.

„Ach, ich höre immer von den Ladies, das ihnen meine Augen gefallen“, höre ich ihn mit überzeugter und belustigter Stimme sagen und er erinnert mich an den Jason in der Bar zurück.

„Die schleimen nur“, kontere ich zurück.

„Gefallen sie dir denn nicht?“ Dabei deutet er auf seine zwei Eismurmeln.

Ich merke wie ich rot werde und schaue schnell zur Seite.

„Nein.“

„Oh, da glaube ich aber etwas anderes“, kommt es selbstsicher von ihm.

„Keine Chance“, sage ich diesmal lauter und grinse ihn an.

„Ich stehe eher auf grüne Augen.“

„Auf deine eigenen?“, fragt er mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Verdammt, ich schaue ihn schon wieder an.

„Gefallen sie dir denn nicht?“, wiederhole ich seine Frage von vorhin und ahme seine Stimme dabei nach.

„Du hast dich echt nicht verändert“, antwortet er plötzlich grinsend. Sofort kneife ich meine Augen zusammen und sehe ihn fest an. Sein Grinsen verschwindet augenblicklich aus seinem Gesicht, denn er muss wohl seinen eigenen Fehler gemerkt haben.

„Also doch“, stelle ich fest. „Du kennst mich!“

Jason fährt sich durch sein dunkles Haar während er meinem Röntgenblick ausweicht. Er steht so plötzlich auf, sodass sein Hocker leicht ins Wanken kommt, und legt die Tube in den Wandschrank. Bevor er die Badezimmertür erreicht, baue ich mich vor ihm auf.

„Du. Kennst. Mich.“, wiederhole ich meine Worte und stemme die Hände gegen meine Hüfte. Es klingt definitiv mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage.

„Nein. Das. Tue. Ich. Nicht.“, kommt es von ihm und er sieht mich dabei fest an. Kurz wollen schon meine Augenbrauen hochzucken, doch da fällt mir etwas ein.

„Du bist in meinen Kontakten, Jason. Und das vor dem Unfall!“, werfe ich ihm vor.

Er runzelt vor mir die Stirn. „Und? Du hast meine Nummer wahrscheinlich von jemand anderem. Vielleicht, weil du in deinem Leben vor dem Unfall heimlich auf mich standest?“, schlußfolgert Jason und er klingt dabei ziemlich selbstsicher, sodass ich anfange an meinen Beweisen zu zweifeln.

„Passiert mir andauernd“, fügt er grinsend hinzu.

Ich lasse meine Arme sinken, doch sehe ihm immer noch in die Augen. Irgendetwas lässt mich immer noch daran glauben, dass es nicht der Grund ist.

„Ich bin aber nicht so eine, die so etwas macht“, gebe ich zurück. Daraufhin grinst er noch breiter.

„Du scheinst ja ziemlich überzeugt von dir zu sein, dass du nicht so bist. Aber glaub mir, vor MIR waren viele Frauen anders.“

Genervt verdrehe ich die Augen. „Mach nicht immer auf unwiderstehlich, denn das bist du nicht.“

„Wie auch immer.“ Mit den Worten schiebt er mich zur Seite und bahnte sich den Weg nach draußen.

So hatte ich es mir ganz und gar nicht vorgestellt.

Ich folge ihm in das Schlafzimmer, wo Nate immer noch auf dem Bett liegt.

„Wo wart ihr solange?“, sagt Nate vorwurfsvoll in unsere Richtung während ich mich auf das Bett zu ihm setze und Jason sich wieder an seinen Burger ranmacht.

„Dein Bruder ist ein Idiot“, antworte ich Nate, der daraufhin kichert.

„Er ist oft so, aber eigentlich ist er ein ganz Lieber.“

„Nate“, murmelt Jason mit bösem Blick und vollem Mund.

Ich muss bei dem Anblick grinsen und kriege aufeinmal selber Hunger. Also greife ich zu meinem Burger und fange an zu essen. So sagen wir alle drei eine Weile nichts. Doch ich merke von der Seite, wie Jason mich beobachtet. Ich habe mich aber komplett zu Nate gewandt und konzentriere mich schön auf das Essen.

„Warum hast du uns eigentlich angerufen?“, fragt Nate plötzlich in die Stille hinein. Mir entgeht nicht, dass er „uns“ gesagt hat.

Doch dann muss ich an Tyler denken und das, was er getan hat und ich senke meinen Blick.

„Ich wollte von Zuhause weg“, gebe ich leise zu.

Ich merke wie Nate mich nachdenklich anschaut. Jason ignoriere ich.

 „Wieso?“, hakt er nach.

„Weil ich es nicht mag, wenn man mir nicht die Wahrheit sagt.“ Mit dem Satz möchte ich auch Jason ansprechen und ich hoffe inständig, dass er sich angesprochen fühlt.

Als ich fertig bin, frage ich Nate, wo die Küche ist. Mit seiner Beschreibung nehme ich sein Tablett und laufe dahin. In der Küche sehe ich zu meiner Verwunderung, dass eine etwas ältere Frau da steht und kocht.

„Hallo Frau…“ In meinem Kopf suche ich Jasons Nachnamen ab, doch ich merke, dass ich es nicht weiß.

Die Frau dreht sich zu mir um und lächelt mich freundlich an.

„Hallo. Du musst Silver sein, richtig?“, sagt sie plötzlich.

„Ja… woher wissen sie das?“

Bevor mir die Frau antworten kann, tretet Jason in die Küche rein.

„Ich sehe du hast meine Tante getroffen“, sagt er zu mir während er das Tablett in seiner Hand abräumt.

Ich erwidere nichts, sondern beobachte dabei, wie die Frau nach einem Blick von Jason, den ich nicht sehen konnte, da er mit dem Rücken zu mir steht, aus der Küche geht. Sie lächelt mir vorher aber aufmunternd zu.

„Wo ist deine Mutter?“, frage ich nach einer Weile. Jason hält bei seiner Abräumbewegung kurz inne.

„Sie wohnt hier nicht“, erwidert er schließlich.

„Warum nicht?“, hake ich rücksichtlos nach. Meine Neugier ist einfach größer.

„Weil ich sie nicht hier haben will“, murmelt er nur und ich belasse es dabei, denn ich merke, dass es nicht sein Lieblingsthema ist.

„Was meintest du eigentlich vorhin damit?“, fragt Jason mich aufeinmal nach einer Weile.

„Mit was?“

„Dass es dir nicht gefällt, wenn man dir nicht die Wahrheit sagt. Hat dich jemand angelogen?“

Kurz überlege ich, ob ich es ihm überhaupt erzählen soll, doch irgendein Gefühl sagt mir, dass ich das kann.

„Ja. Vielleicht auch nicht nur ein Jemand. Du zum Beispiel bist auch nicht ganz ehrlich zu mir“, antworte ich mit fester Stimme.

„Warum denkst du das?“, fragt er mich mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Weil ich es den Menschen ansehe“, murmele ich leicht beleidigt. „Jedes Mal, wenn ich es merke, komme ich mir dumm vor, weil man mich für DUMM hält.“

Warum erzähle ich ihm das?

„Vielleicht bist du auch nur zu sensibel. Ohne Beweise kannst du nicht wissen, ob man dich wirklich angelogen hat.“

Mittlerweile hat sich Jason ein paar Meter von mir weiter weg an den Kühlschrank gelehnt während ich in der Mitte des Raumes stehe.

„Ja, da hast du Recht. Aber, wie du es bestimmt schon mitbekommen hast, habe ich meine Erinnerungen der letzten Jahre verloren. Mein Bauchgefühl ist das Einzige, worauf ich mich verlassen kann während ich nach Antworten suche.“

„Antworten auf was?“

„Meine Vergangenheit“, beantworte ich seine Frage.

Eine Weile sagt Jason nichts, sondern schaut an mir vorbei. Doch dann blickt er mich wieder an.

„Vielleicht solltest du deine Vergangenheit einfach ruhen lassen“, sagt er plötzlich.

„Nein.“ Ich hole tief Luft. „Es kann sein - ja, dass sie nicht 100% aus schönen Ereignissen besteht, doch das ist mir egal. Es hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich jetzt bin, mit oder ohne den Erinnerungen, und ich lasse das nicht einfach an mir vorbeiziehen.“

Erwartungsvoll sehe ich Jason an, als würde er mir eine gute Antwort darauf geben. Stattdessen seufzt er, schreitet zu mir rüber und zieht mich mit sich aus der Küche. 

 

 

„Du solltest dich von Nate verabschieden. Ich fahre dich danach nach Hause“, befiehlt Eisklotz mir während er mich durch den Flur zieht.

„Ich möchte nicht, dass deine Mutter sich Sorgen um dich machen muss“, fügt er hinzu und schiebt mich durch die Tür hindurch zu Nate.

„Ihr wart aber lange abräumen.“ Nate sitzt immer noch auf dem Bett und sieht mich mit vorwurfsvollem und skeptischem Blick an.

„Du solltest dich ausruhen.“ Mein Blick fällt auf das verschwitzte T-shirt des Kleinen. „Komm, ich helfe dir beim Umziehen.“

„Warte, ich hole ihm was“, mischt sich Eisklotz ein. Ich beobachte ihn dabei wie er in dem Kleiderschrank wühlt und einen dunkelblauen Pyjama rausholt. Danach nehme ich es ihm wortlos ab und helfe Nate beim Umziehen.

„Vielleicht sollte er duschen“, ertönt es nachdenklich von Eisklotz.

„Später vielleicht. Jetzt ist er noch krank. Da sollte man nicht so oft eine Dusche riskieren.“

Nun steht der kleine Nate fertig umgezogen vor mir. Auf dem dunklen Pyjama sind kleine Sterne aufgenäht und ich sehe, dass seine blauen Augen von der Farbe unterstrichen werden.

„Du siehst aus wie ein kleiner Sternenhimmel“, gebe ich schmunzelnd zu. Dann blicke ich ihn in die Augen. „Ich muss jetzt leider nach Hause.“

Bei dem Kompliment strahlt mich der Junge an und nimmt plötzlich meine Hand. „Du kommst doch wieder, oder?“

Wieder durchströmt mich ein warmes Gefühl. Und das nur weil der Kleine meine Hand genommen hat.

„Ja, das werde ich bestimmt“, verspreche ich, obwohl  ich mir nicht so sicher bin. Immerhin kenne ich sie alle eigentlich nicht. Aber die Vorstellung den kleinen süßen smarten Nate nicht mehr zu sehen, versetzt mir einen Stich ins Herz.

„Versprochen?“ Warme blaue Augen blicken dabei erwartungsvoll an.

„Versprochen“, antworte ich und lächle ihn an.

„Wir sollten los“, kommt es plötzlich von Eisklotz und wieder zieht er mich mit sich. Ich komme mir wie ein Hund vor, der andauernd durch die Gegend gezogen wird.

Vielleicht sollte ich mal Eisklotz einen Hund schenken, den er statt mir überall hin schleifen kann. Zum Geburtstag zum Beispiel? Naja… falls wir uns jemals anfreunden werden.

Da ich keine Jacke, sondern nur das dünne Kleid anhabe, brauche ich nur in meine Schuhe zu schlüpfen. Meine Tasche habe ich die ganze Zeit bei mir getragen.

„Warte vor dem Eingang auf mich. Ich fahre den Wagen vor“, befiehlt Eisklotz mir im Aufzug ohne mich anzuschauen.

„Okay.“

 

Wie er mir befohlen hat, stehe ich geduldig vor dem Hochhaus, aus dem wir gerade gekommen sind. Er hat etwas abseits geparkt, sodass er erstmal dahin laufen muss.

Draußen ist es schon dunkel und ein Blick auf dem Handy verrät mir, dass es sieben Uhr abends ist. Hoffentlich ist meine Mutter noch nicht zuhause. Wir hatten nach der heftigen Diskussion gestern Nacht nicht mehr richtig miteinander geredet. Obwohl sie heute ziemlich gute Laune hatte.

Ich schaue die Leute an, die sich meistens ungeduldig an mir vorbei drängeln, da der Bürgersteig nicht so groß ist. Als eine Gruppe aus Jugendlichen vorbei läuft, pfeift mir der Größte von ihnen zu, ehe sie an mir vorbeiziehen. Ich runzle dabei nur die Stirn und frage mich, ob ich etwas im Gesicht habe. Sicherheitshalber suche ich an meinem Kleid nach Flecken ab, doch finde keine. Als ich meinen Blick hebe, sehe ich, dass zwei von denen sich umgedreht haben und kurz zu mir zwinkern, bevor sie sich wieder umdrehen und ganz aus meinem Blickfeld verschwinden.

Eine doofe Anmache nur. Bei den Gedanken muss ich leicht schnauben, weil ich mich darüber ärgere, dass ich es selbst nicht gleich gecheckt habe.

Ich muss noch einiges über den Umgang mit den Menschen lernen. Dieser ganze Gedächtnisverlust lässt mich sonst noch andauernd wie eine Dumme dastehen.

 Als ich meinen Blick wieder durch die Leute schweife, sehe ich plötzlich eine Gestalt, die sich etwas weiter weg an einen Wagen gelehnt hat. Es ist ein Mann, der eine Sonnenbrille und ein Cappy trägt. Doch ich sehe, dass er direkt in meine Richtung schaut und auch die Lederjacke kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich überlege woher ich sie kenne, als ich plötzlich das Hupen eines Autos vor mir höre. Es ist Jason.

Kurz werfe ich dem Unbekannten einen Blick zu, bevor ich in den Wagen steige.

„Tut mir Leid, dass es etwas gedauert hat. Es stand eine Gruppe vor meinem Auto“, erklärt Eisklotz mir und fährt los.

„Vor deinem Auto?“, frage ich ungläubig,

„Ja, passiert mir oft bei dem Wagen“, gibt er zurück und schenkt mir ein kurzes Grinsen. Klar, bei dem Wagen.

Ich überlege, ob ich ihm von dem Unbekannten erzählen soll, von dem ich sicher bin, dass er mich beobachtet hat, doch Eisklotz muss mich bestimmt dann für paranoid halten.

„Warum hast du auch einen Ultimate Aero?“, frage ich ihn stattdessen neugierig.

„Weil er der Schnellste ist. Und ich es mir leisten kann“, ist seine Antwort. Seinen Blick hat er konzentriert auf die Straße gerichtet. Ich merke, dass er genauso vorsichtig fährt wie mein Vater, obwohl er einen Sportwagen fährt.

„Aber du arbeitest als Barkeeper“, stelle ich fest.

„Und? Wer sagt, dass es meine einzige Einnahmequelle ist?“

„Ist es nicht?“

„Ich arbeite da zum Spaß“, gesteht er und wirft mir einen kurzen Blick zu.

„Zum Spaß“, wiederhole ich seine Worte und versuche die Bedeutung dahinter zu verstehen.

„Jo“, kommt es kurz angebunden von ihm.

„Was möchtest du denn eigentlich werden?“ Irgendwie bin ich heute total in meinem Element, was das Ausfragen betrifft, stelle ich gedanklich fest.

„Keine Ahnung. Ich habe es nicht nötig zu studieren falls du das meinst“, antwortet er mir nach einer Weile mit ernster Miene.

„Solltest du vielleicht aber. Dann kannst du dir einen anständigen Job suchen“, belehre ich ihn.

„Brauche ich nicht.“ Er wirft mir wieder einen kurzen Blick zu und ich muss bei seiner Dickköpfigkeit seufzen.

Wir schweigen daraufhin eine Weile und stattdessen beobachte ich wieder die Leute draußen, die plötzlich total interessant erscheinen.

„Ich fahre kurz zum Bäcker. Wir haben kein Brot mehr zuhause“, meldet Eisklotz plötzlich neben mir.

„Kannst du das nicht auf dem Rückweg machen?“

„Nein“, ist seine knappe Antwort und ich gebe mich mit einem innerlichen Stöhnen geschlagen.

Er fährt daraufhin den Wagen an die Seite und ich entdecke auf der gegenüberliegenden Straßenseite den Park. Augenblicklich muss ich an den Traum denken.

Eisklotz steigt aus und macht plötzlich kurz darauf die Beifahrertür auf. Verwirrt blicke ich ihn an.

„Komm mit.“

„Ich kann im Wagen warten“, gebe ich trotzig zurück. Dann hebe ich meine Augenbrauen. „Oder kannst du nicht selbst das Brot aussuchen?“

Als Antwort schnaubt er nur und zieht mich aus dem Wagen. Wieder werde ich wie ein Hund durch die Gegend geschleift.

In der Bäckerei begrüßt uns ein älterer Mann, der daraufhin Jason bedient. Der Eisklotz zählt zu meiner Verwunderung 5 Brotsorten auf, die ich nicht mal kenne. Oder kannte. Eigentlich habe ich erwartet, dass er so etwas Schlichtes wie Brötchen holt. Voll bepackt laufen wir wieder zum Wagen zurück. Als ich Anstalten mache wieder einzusteigen, ergreift er meine Hand.

„Lass uns kurz in den Park gehen“, sagt er.

„Wieso?“, frage ich ihn misstrauisch.

Er seufzt. „Komm einfach. Ich bringe dich auch gleich nach Hause.“

Ich vergewissere mich noch mit einem Laserblick, den ich von unten herauf auf seinem ganzen Körper strahle bevor ich ihm seufzend folge.

Es ist zwar dunkel geworden, jedoch sehe ich dadurch erst wie viele Laternen in dem Park stehen, die uns Licht schenken.

Bevor ich ihn sehe, weiß ich schon, dass wir in die Richtung laufen und nicht viel später stehen wir tatsächlich vor dem großen Teich.

Eisklotz lässt sich auf eine Sitzbank fallen und breitet seine Arme aus.

Ich stehe noch etwas unschlüssig herum, doch schließlich entschließe ich mich neben ihm hinzusetzen.

„Warum sind wir hier?“, frage ich in die Stille hinein. Wir sind anscheinend alleine.

„Hatte Lust auf etwas Natur“, erwidert er nur. Dann lehnt er sich nach vorne und schaut mich von der Seite an.

„Du warst mit Linda hier, habe ich gehört.“

„Ja, das waren wir. Wieso?“

„Warum warst du in diesem Park?“ Während er mich fragt, verzieht er keine Miene, doch ich sehe, dass er mich ernst anschaut.

„Keine Ahnung. Ich bin hier einfach gelandet. Linda kam dann dazu. Mir gefällt es hier“, antworte ich ehrlich und hoffe es genügt ihm.

„Aus Zufall also?“

„Ja aus Zufall. Das Restaurant, in dem sie arbeitet, liegt hier gleich um die Ecke. Es war also eine Art Abstecher.“

Himmel, warum fragt er mich so ein unwichtiges Zeug? Mir ist es völlig neu, dass der Eisklotz sich unterhalten will. Mit mir.

„Zufall“, murmelt er, aber ganz leise, und löst den Augenkontakt.  

„Hat der Park irgendeine Bedeutung für dich? Ich meine außer das bisschen Natur“, frage ich ihn stattdessen.

„Es ist nur ein Park“, murmelt er nur. Irgendwie wirkt er aufeinmal abwesend und das verwirrt mich noch mehr. Ich blicke auf das Wasser und muss unwillkürlich an den Traum denken.

„Ich glaube für mich hat er aber eine.“ Es ist nur noch ein Flüstern.

„Was meinst du?“, ertönt es neben mir.

„Ich weiß es nicht. Aber ich…“ Nervös streiche ich mir eine Strähne hinters Ohr und fange an mit meinen Händen zu spielen.

„Ich hatte einen Traum“, murmele ich leise.

Es kommt keine Antwort von ihm deswegen blicke ich ihn an und sehe, dass er mich nachdenklich ansieht.

„Erzähl mir davon“, fordert er mich auf.

Ich wende mich von seinem Blick ab und schaue wieder auf das Wasser. Dann erzähle ich ihm von meinem Traum. Von Cindy und Tyler, dessen Namen ich nicht nannte, aber sage, dass sie zwei meine besten Freunde sind, und dass sie aufeinmal vor mir verschwanden. Dass ich dann plötzlich den Druck von allen Seiten gespürt habe, als wäre ich am Ertrinken. Und dann schließlich von meinem unbekannten Retter, dessen Gesicht ich nicht erkannt habe.

Jason hört mir geduldig zu und ich habe das Gefühl, dass er zum ersten Mal wirklich voll und ganz auf mich aufmerksam ist. Bisher hatte ich immer das Gefühl gehabt, er würde mich nicht ernst nehmen.

Als ich fertig bin, schaue ich ihn erwartungsvoll an und bete, dass er mich nicht auslacht. Stattdessen sitzt er mit ernster Miene neben mir und starrt auf das Wasser.

„Und du hast ihn nicht erkennen können?“, fragt er mit den Augen immer noch auf das Wasser gerichtet.

 „Nein.“

„Wahrscheinlich hast du einen Horrorfilm zu viel geschaut“, sagt er plötzlich und sieht mich mit einer hochgezogenen Augenbraue von der Seite an.

„Nein, das habe ich nicht. Ich habe seit dem Krankenhaus nichts an Filmen geschaut um genau zu sein“, entgegne ich und merke, wie ich wieder leicht wütend werde, weil er mich schon wieder nicht ernst nimmt. Dabei habe ich mich auch noch überwunden ihm das zu erzählen.

„Muss ziemlich langweilig sein im Krankenhaus zu liegen“, sagt er und blickt mich immer noch an.

„Es geht. Ich habe dafür viel gelesen“, gebe ich zurück und muss an die verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen, die ich gelesen habe, denken.

„Wir sollten zurück“, kommt es plötzlich von Eisklotz und ich merke an seiner Stimme, dass er keine Widersprüche duldet.

Also folge ich ihm schweigend bis wir in das Auto steigen.

Während er fährt und sich voll und ganz auf den Verkehr konzentriert, bereue ich meine Tat von vorhin.

Ich hätte es ihm nicht erzählen sollen.

 

 

Meine Gedanken wollen einfach nicht ruhen während wir immer noch fahren.

Seit dem Unfall trage ich diese unerträgliche Leere mit mir herum und meine Versuche diese Leere mit Antworten zu füllen scheitern kläglich. Andauernd habe ich das Gefühl, dass man mir nie die ganze Wahrheit sagt und immer etwas verschweigt. Jeder.

Vor meiner eigenen Mutter habe ich immer das Gefühl ihr nicht die ganze Wahrheit sagen zu sollen, doch ich kann mir nicht im Geringsten erklären wieso. Sie ist meine Mutter. Ihr sollte ich doch alles sagen können. Doch ich habe sie schon ein paar Mal nach dem Unfall belogen. Und am meisten, wenn es den Eisklotz betrifft.

Vorsichtig schiele ich zu ihm rüber und unsere Blicke treffen sich. Doch er schaut wieder weg.

Ich denke an Tyler, der noch bei mir zuhause sein müsste. Sofort spüre ich einen Stich im Herzen. Warum belog mich mein bester Freund? War er es denn wirklich nicht, der mit mir auf der Hochzeit war?

Er war immer derjenige, dem ich alles erzählen konnte. Ja, wirklich alles. Was ist in den letzten Jahren passiert, dass wir anfingen uns zu belügen? Hatte ich ihn etwa auch angelogen?

Mühselig schlucke ich den Kloß runter, der sich in meinem Hals gebildet hat und meine Hände verkrampfen sich auf meinem Schoß.

Ich spüre die Sehnsucht in mir aufsteigen wieder in Tylers Armen zu liegen und seinen Duft einzuatmen.

Plötzlich spüre ich durch einen Ruck, dass wir stehen bleiben. Ich habe überhaupt nicht gemerkt, dass er den Wagen an die Seite gefahren hat. Es steht genau auf der Stelle wie von gestern.

„Hey“, höre ich ihn neben mir sagen. Seine Stimme klingt - zu meiner Verwunderung - sanft und wenn ich mich nicht täusche auch etwas besorgt.

Zögerlich hebt er seine Hand und wischt mir die Tränen, die sich aus meinem Augenwinkel geirrt haben, weg und ich realisiere dadurch erst, dass ich weine.

„Silver. Du…“, seine Stimme bricht abrupt ab. Jason fährt sich mit der anderen Hand durch das volle Haar während ich ihn einfach weiter stumm anschaue.

„Was du auch immer denkst. Und das tust du auf jeden Fall viel“, setzt er nachdenklich an. „Du solltest nicht vergessen, dass Familie das Wichtigste ist.“

Warum sagt er das?

Ich merke, dass sich die Tränen endlich langsam eingestellt haben und spüre immer noch seine Hand auf meiner Wange. Die Stelle, an der er mich berührt, fängt an heftig zu glühen, doch ich mache keine Anstalten mich seiner Hand zu entziehen. Stattdessen schaue ich jetzt an ihm vorbei und starre in die Leere.

Ich spüre wie seine Hand von meiner Wange runtergleitet und stattdessen mein Kinn umfasst. Vorsichtig dreht er mein Gesicht wieder zu sich um, sodass ich ihn anschauen muss. In seinem Blick liegt so vieles, was ich nicht deuten kann. Ich spüre wieder die blauen Stiche auf mir, doch sie sind so intensiv wie noch nie zuvor.

„Kann ich dich jetzt nach Hause bringen?“, fragt er mich.

Ich nicke daraufhin stumm und er verlässt den Wagen. Als er die Beifahrertür aufmacht, steige ich von selbst aus. Wir laufen genau dieselbe Strecke entlang, die wir gestern Nacht auch hinterlegt haben.

Ich frage mich immer noch, warum er nicht direkt vor meinem Haus parkt, aber irgendwie vergeht mir die Lust überhaupt irgendetwas zu sagen.

Also schweige ich während wir laufen.

Kurz vor unserem Haus erblicke ich den silbernen Wagen meiner Mutter. Ich seufze innerlich und möchte schon gar nicht mehr reingehen.

Einige Meter vor unserem Haus bleibt Jason stehen. Es ist so plötzlich gewesen, dass ich unverweigerlich gegen ihn laufe.

„Was -?“, platzt es aus mir raus und ich schaue verwirrt zu ihm hoch.

Er fährt sich durch seine dunklen Haare und lächelt mich halbherzig an.

„Pass auf dich auf, Silver.“

Dann nimmt er mich plötzlich in seine Arme. Ich versteife mich augenblicklich, weil es einfach aus dem Nichts kam, aber lasse die Umarmung schließlich zu.

Es ist nicht die Erste seit ich aufgewacht bin, und doch fühlt sich diese am realsten an.

Und das obwohl sie von Eisklotz kommt.

Während seine Arme um mich geschlungen sind, atme ich seinen Duft unwillkürlich ein. Sein herber Duft gemischt mit Zimt steigt mir so heftig in die Nase, dass ich das Gefühl habe, davon schwindlig zu werden. Es ist so intensiv und ich verstehe nicht, warum ich es im Auto nicht wahrgenommen habe. Irgendwie hat es dieser Duft in sich.

Und jetzt, wo wir so stehen und ich meinen Kopf an seine Brust gelehnt habe, fühle ich mich zum ersten Mal sicher. Ja, ich fühle mich sogar irgendwie geborgen.

Ich bin ihm dankbar für diese Geste. Vielleicht ist er wirklich nicht immer ein Eisklotz.

Meine Gedanken schweifen zu dem Vorfall auf dem Skydeck. Er hat mich dort auch in seine Arme genommen, doch ich stand wohl noch zu stark unter Schock, sodass ich es überhaupt nicht wirklich wahrnehmen konnte.

„Danke“, hauche ich leise und ich merke, dass er sich daraufhin anspannt. War es ihm so unangenehm mich zu umarmen?

Vorsichtig löse ich mich von ihm und blicke ihn an. Er erwidert meinen Blick einen Augenblick nicht und wirkt stattdessen etwas verloren.

 „Du bist manchmal doch nicht so schlimm“, sage ich ehrlich gerade aus. Jason lächelt daraufhin etwas verlegen und rauft seine - mittlerweile ziemlich zersausten - Haare. Er schiebt seine Hände in seine Hosentaschen während wir uns einfach nur anschauen.

„Dann… tschüss“, sagt er langsam und fängt an sich in Bewegung zu setzen. Als er schon einige Meter weiter weg ist, bin ich schon dabei mich zum Tor zu drehen, als ich aus dem Augenwinkel mitbekomme, dass er sich nochmal zu mir gedreht hat. Während meine Hände das Tor öffnen, blicke ich zu ihm auf.

„Ich habe dir gesagt, dass ich kein Eisklotz bin.“

Während er mir diese Worte zuruft, läuft er rückwärts.

„Nur manchmal“, fügt er zwinkernd hinzu und dreht sich schließlich um.

 Ein Lächeln stiehlt sich auf meinem Gesicht während ich nun vor der Haustür stehe und reingehe. Bei dem Gedanken, dass ich wieder zuhause bin, erlöscht das Lächeln auf meinem Gesicht. Ich achte darauf, dass das Schloss nicht laut zufällt. Dann höre ich, dass jemand in der Küche kocht. Es ist meine Mutter.

„Hallo Mum“, sage ich während ich zu ihr schlendere.

Sie dreht sich um und blickt mich - zu meinem Erstaunen - fröhlich an. „Hey Schatz. Warst du wieder deine Beine vertreten?“

„Ja. Tyler ist eingeschlafen, aber ich konnte es nicht“, erkläre ich ihr und mir entgeht nicht, wie gute Laune sie hat.

„Achja, als ich in dein Zimmer gekommen bin, lag er noch auf deinem Bett. Er ist bestimmt ganz müde“, flötet sie und macht sich an einem Topf heran.

„Kann sein. Machst du das Abendessen?“, frage ich und setze mich in Bewegung, um aus der Küche zu gehen.

„Ja, ihr könnt runterkommen, wenn ihr Hunger habt. Dein Vater und ich haben schon gegessen.“

„Okay, danke Mum“, murmele ich und laufe nach oben. Ich bin froh, dass sie den Streit gestern nicht erwähnt hat.

Als ich in mein Zimmer eintrete, entdecke ich Tyler, der immer noch am Schlafen ist. Ich setze mich vorsichtig auf das Bett und beobachte ihn. Sein Gesicht sieht beim Schlafen entspannt aus und ihm ist anscheinend warm geworden, denn die Decke, mit dem ich ihn zugedeckt habe, ist halb auf dem Boden.

Mein Blick gleitet auf seinem freien Oberkörper, das sich in den letzten Jahren stark verändert hat. Genau wie seine Arme und Brust ist sein Bauch völlig durchtrainiert und ich bemerke, dass er einen ähnlichen ebenmäßigen braunen Teint hat wie Jason.

Als ich merke wie lange mein Blick auf ihn ruht, schaue ich verlegen weg und gehe stattdessen in meinen Kleiderschrank, um mich umzuziehen. Ich ziehe mein Kleid aus und nehme mir eine kurze Hose und T-shirt mit einem V-Ausschnitt mit. Dann laufe ich in das Badezimmer nebenan und dusche mich ausgiebig.

Während dem Duschen schaue ich auf die Stelle, die Jason heute verarztet hat. Die Schwellung ist zurückgegangen und nur noch leicht gerötet.

Jason war so sauer, als er mich durch die Bar gezogen hat. Lag das daran, weil ich mich mit jemand anderen unterhalten habe, nachdem ich ihm beim Tanz so stehen gelassen habe?

 Plötzlich durchzuckt mich ein stechender Schmerz, als ich etwas zu viel Druck auf meinem Bauch ausgeübt habe. Meine inneren Verletzungen sind wohl noch am Verheilen. Ich hole tief Luft und versuche mich zu entspannen bis der Schmerz endlich nicht mehr zu spüren ist.

Schnell trockne ich mich ab und ziehe die neuen Klamotten an. Als ich mein Zimmer betrete, ist Tyler immer noch am Schlafen.

Ich binde meine nassen Haare zu einem Dutt zusammen und lege mich daraufhin zu ihm. Doch statt auf seiner Brust platziere ich meinen Kopf auf dem Kissen neben ihm.

Morgen ist wieder Schule für ihn. Er muss ziemlich fertig sein. Am besten lasse ich ihn einfach weiterschlafen.

Kurze Zeit später falle auch ich in einen ruhigen Schlaf.  

Kapitel 14

 

Noch völlig aufgewühlt realisiere ich, dass ich immer noch in dem Wagen sitze, ohne ihn gestartet haben. Meine Uhr verrät mir, dass ich schon knappe 2 Stunden hier bin.

Zu viele Gedanken bahnen sich in meinen Kopf und jedes Mal, wenn sich einer davon um Silver handelt, zieht sich mein Herz schmerzvoll zusammen. Und das sind nicht gerade wenige gewesen bis jetzt.

Zum hundertsten Mal fahre ich mir durch die Haare und lehne erschöpft meine Stirn auf das Lenkrad.

Das war heute so ziemlich alles überhaupt nicht geplant gewesen. Erst ruft sie mich aus heiterem Himmel auf meinem Handy an. Ich hätte bestimmt nicht abgehoben, aber der Nate musste es ja tun. Es ist kein Wunder, dass er und sie sich so gut verstehen.

Bei dem Anblick der beiden verspüre ich jedes Mal ein warmes Gefühl und muss verbittert feststellen, dass es mich einige Überwindungen mehr kostet, mich an den Plan zu halten, als ich es mir jemals vorgestellt hatte.

Sie hatte heute so verloren ausgesehen. Es hat mir das Herz gebrochen. Immer mehr fiel es mir schwer, meine Maske vor ihr aufrecht zu halten. Deswegen habe ich mir die Umarmung am Ende erlaubt. In der Hoffnung, dass sie sich besser fühlt und, was sie auch immer Zuhause erwartet, dem sicherer entgegen treten zu können.

Wer, denkt sie, hat sie belogen? War es ihre Mutter? Oder Tyler? Immerhin habe ich seinen R8 Spyder neben dem Wagen ihrer Mutter entdeckt. Ich weiß, dass ich es schon lange akzeptiert habe, doch meine Gefühle sagen mir ständig etwas anderes.

„Scheiße man“, murmele ich zähneknirschend vor mich hin. Ich löse meine Hände von dem Lenkrad, die sich an diesem krampfhaft verklemmt haben und starte den Motor.

Der volle Verkehr hilft mir mich von nervigen Gedanken zu befreien. Nach einer halben Stunde komme ich beim Hochhaus mit dem Apartment meiner Tante an. Ich drängele mich an die vorbeilaufenden Menschen auf dem engen Bürgersteig vorbei und trete in die Eingangshalle ein. Seufzend muss ich feststellen, dass mich Chris ein paar Mal vorhin angerufen hat, aber ich hatte das Handy noch aus.

Ich schlendere zu den Aufzügen als sich plötzlich eine Gestalt, die sich an der Wand angelehnt hat, vor mir aufbaut.

„Marc“ Ich spucke seinen Namen lediglich aus.

„Nicht so aggressiv, mein Freund. Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn man so mit mir redet“, säuselt dieser mit gespielten Lächeln.

„Was willst du?“, frage ich ihn mit kühler Stimme und verziehe keine Miene.

 Er hat sich vor mir aufgebaut. Trotzdem bin ich noch ein halben Kopf größer als er.

„Reden.“

„Es gibt nichts zu reden. Du hattest dein Geschäft gemacht, obwohl wir dir gesagt haben, dass du es nicht solltest“, presse ich wütend zwischen meinen Zähnen hervor und mein Körper ist zum Zerreißen angespannt.

„Ich wollte wirklich nicht. Es gab kein Geschäft“ Er macht eine abwedelnde Handbewegung. „Doch dann kam mir zu Ohren, dass sie auch da ist. Da wollte ich selbst nachschauen.“

„Du -“, setze ich an, doch werde sofort von ihm unterbrochen.

„Na na, ich habe mich doch nur mit ihr unterhalten. Ich wollte selbst nachsehen, ob es stimmt, was man sagt.“ Ich hole hörbar Luft und muss angeekelt feststellen, dass ich den Geruch von Rauch und Leder, der von ihm ausgeht, einatme.

„Natürlich stimmt das. Du warst da als der Arzt es uns gesagt hat. Also lass sie in Ruhe“, zische ich dem Mistkerl zu.

„Wer weiß? Vielleicht hast du ihn ja bestochen. Ich muss sicher gehen, ob ich dir wieder voll und ganz vertrauen kann“, setzt er an während er mich hochgezogenen Augenbrauen mustert und seinen Zeigefinger auf meine Brust platziert hat. „Das möchte ich nämlich wirklich. Immerhin bist du mein bester Mann.“

Nochmals hole ich tief Luft und schiebe unsanft seinen Finger weg, ehe ich ihm genervt antworte.

„Jetzt hör mir mal zu. Wir haben einen Deal. Daran werde ich mich sowohl auch du halten, verstanden? Und der Deal schließt Silver aus. Also lass sie in Ruhe.“     

Aufeinmal fängt er an vor mir aufzulachen. Doch nur kurz, denn er setzt gleich darauf eine ernste Miene auf.

„Verkauf mich nicht für dumm. Ich habe euch heute zusammen gesehen. Dafür, dass du sie angeblich nicht kennst, steigt sie einfach so in deinen Wagen? Ich habe dir gesagt, dass du mich nicht hintergehen sollst“, haucht er mir mit gefährlich leiser Stimme zu und ich balle meine Hände zu Fäuste, um nicht die Beherrschung hier zu verlieren.

Verdammt.

„Das war Zufall. Sie…“ Auf die Schnelle kann ich den Satz nicht beenden.

„Ist schon gut, Jay. Ich weiß, wie es ist seine Muse zu verlieren. Von daher verzeihe ich dir dieses EINE Mal. Aber du weißt, dass ich keinem eine zweite Chance gebe. Du bist eine Ausnahme und ich will das nicht bereuen. Denn dann wirst DU es bereuen und es wird vieeel schmerzvoller sein, als dass dich deine Shawty vergessen hat.“  

Während er spricht, schaut er geradewegs an meiner Schulter vorbei, als würde er beobachtet werden, doch auch ohne den Kontakt mit seinen gefährlich aschschwarzen Augen stellen sich meine Nackenhaare auf und ich spüre, wie sich alles in mir zusammenzieht.

„Haben wir uns verstanden?“, zischt er mir noch einmal zu.

„Ja“, gebe ich geschlagen von mir und wir schauen uns einen Moment in die Augen. Wie ich ihm so gerne diese Augen auskratzen würde.

„Gut“, sagt er mit einem zufriedenen Lächeln. „Falls du Gesellschaft brauchst, stelle ich dir Samantha gerne zur Verfügung.“

„Samantha?“, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Du hast sie gestern abgelehnt. Sie war ganz schön wütend deswegen gewesen. Sowas solltest du nicht tun. Wir sind doch Gentlemen, nicht?“

Ach die alte Lady.

„Wie auch immer.“ Mit den Worten schreite ich in den Aufzug, der sich so eben geöffnet hat. Kurz bevor sich die Türen schließen, dreht sich Marc noch mit einem gehässigen Grinsen zu mir um.

„Triffst du dich auch nur einmal mit ihr, dann gibt es keinen Deal mehr. Du hörst von mir.“

 

 

 

 

Die Türen schließen sich und ich atme auf. Meine Finger, die sich unter der Faust fest in das Fleisch gebohrt haben, lösen sich wieder und ich lehne mich an die Wand des Aufzugs.

Es gibt keine Wahl. Ich muss mich an den Plan halten. 

Ein lautes Pling holt mich ruckartig ins Hier und Jetzt zurück. Während ich zur Tür zum Apartment schlendere, krame ich in der Hosentasche nach dem Schlüssel. Schon beim Aufschließen höre ich Nates Gebrülle und ich frage mich, was meine Tante gerade mit ihm anstellt. Das passt gar nicht zu ihr mit ihrem Enkel rumzualbern, besonders wenn er noch dazu erkältet ist.

„Nein! Hilfe! Hör auf…. SPYDERMAN BEFREIE MICH!!!“, höre ich Nate kichernd schreien.

Spyderman?

Mit hochgezogenen Augenbrauen ziehe ich meine Sportschuhe aus und bin schon gespannt auf die Szenerie, als ich die Tür zum Schlafzimmer öffne und statt Nate einen - mit schwarzem Umhang bekleideten - Rücken auf dem Bett entdecke, der zu einer viel zu großen Person gehört und nicht mein kleiner 8-jähriger Bruder sein kann.

„Bist DU es Spyderman?!“, ertönt es verzweifelt unter der Gestalt.

Nate.

„Ne, nur dein Bruder.“, gestehe ich halbscherzend. Das schwarze große Etwas, das meinen Bruder verdeckt, dreht sich um und mir blickt… Batman entgegen.

Was zur Hölle…

Ich brauche einen Moment, um zu realisieren, was hier los ist.

„Komm mir nicht zu nah, Erdling“, kommt es drohend von Batman und ich erkenne erleichtert an der trotz tief verstellen Stimme, dass es mein bester Freund ist.

„Du bist selber einer“, gebe ich unbeeindruckt zurück und stehe mittlerweile vor dem Bett.

„Hilf mir“, bettelt Nate unter Batman während er versucht die Hände von diesem, die ihn anscheinend kitzeln, wegzuschieben.

„Batman ist kein… Mensch!“, widerspricht mir mein bester Freund und merkt nicht, dass er schon viel zu hoch für einen Superhelden redet.

„Und was dann? Ein Alien?“, kommt es augenverdrehend von mir.

Auch mit der Maske kann ich mir schon vorstellen, wie er dahinter nachdenklich die Stirn runzelt. Typisch Chris.

„Ein Superheld“, höre ich ihn schließlich sagen.

Mein kleiner schlauer Bruder nutzt den Moment seiner Verwirrung aus und befreit sich aus den großen, schweren Stahlarmen von Batman. Mit einem hilfesuchenden Blick an mich, rollt er sich demonstrativ in meine Richtung. Kurz bevor er über die Bettkante rollt, fange ich ihn auf.

Als ich ihn absetze, dreht er sich sofort zu Batman um.

„Du bist nicht Batman! Er würde nie sagen, dass er ein Superheld ist!“, ruft mein kleiner Bruder und deutet dabei mit seinem kleinen Finger auf meinen - ertappten - Freund.

„Natürlich bin ich das“, versucht dieser mit seiner verstellten tiefen Stimme den Kleinen zu überzeugen und breitet seine Arme drohend in der Luft aus, sodass sich sein schwarzer Umhang weitet.

„NEIN!“, brüllt Nate, diesmal selbstsicherer.

„DOCH!“

Böser Batman mit herumfuchtelnden schwarzen Gardinen vs. kleiner Bruder im Sternenhimmel-Pyjama.

Ich seufze.

„Nein!“

„Do-och.“

„Neiiin.“

„Achja?“, kommt es wieder von Batman, doch es riecht schon stark nach verzweifelter Kapitulation.

„Ja, Superhelden sagen nämlich nicht, dass sie Superhelden sind“, stellt mein kleiner Bruder besserwisserisch fest.

„Natürlich! Woher soll man denn sonst wissen, dass ich ein Superheld bin?“, versucht sich die Gestalt vor uns selbst zu verteidigen.

„Das entscheiden wir, wenn du z.B. Menschen rettest.“

Der Kleine hat mittlerweile drollig seine Hände an den Hüften gestemmt. „… und sie nicht kitzelst.“, fügt er noch vorwurfsvoll hinzu.

„Vergiss es, Alter. Was machst du überhaupt in dem Aufzug?“, mische ich mich jetzt ein während ich mich an der Wand anlehne.

Mein bester Freund sieht in dem Kostüm eigentlich wirklich zum Schreien aus. Kurz überlege ich, ob ich Linda ein Foto schicken soll.

„Er hat mich angerufen und meinte, du hättest ihn allein gelassen. Da bin ich nach der Arbeit sofort zu ihm gekommen. Mit dem hier wollte ich den Kleinen aufheitern“, erklärt er und setzt seine Kostümmaske ab.

Scheiße, habe ich ihn wirklich so lange alleine gelassen?

„Es war sooo langweilig. Tante Liv ist schlafen gegangen“, murmelt mein kleiner Bruder beleidigt.

Sofort löse ich mich von der Wand und hebe stattdessen Nate hoch, der mich immer noch vorwurfsvoll anschaut.

„Tut mir Leid, Kleiner“, entschuldige ich mich reuevoll und gebe ihn einen kurzen Kuss auf die Stirn. „Ich habe die Zeit völlig vergessen.“ Sofort hellt sich seine Miene auf. Zum Glück kann mein kleiner Bruder einem schnell verzeihen. Nicht sowie ich.

„Wo warst du überhaupt solange?“, kommt es von meinem besten Freund, der dabei ist aus seinem Kostüm zu schlüpfen.

Innerlich stöhne ich schon, bevor ich ihm die Frage beantworte.

„Hab sie nach Hause gebracht.“

„Sie?“

„Ja, sie.“ Vorsichtig stelle ich meinen Bruder auf den Boden ab.

„Wer ist SIE?“, kommt es sichtlich verwirrt von meinem Kumpel, der - mal wieder - auf dem Schlauch steht.

„Silver.“

„SIILLLVVVEEER?!“ Geht es noch lauter? Meine arme Tante….

„Nein Gold.“, witzele ich mit einem genervten Augenrollen.

„Ich dachte -“, fängt er an, doch ich hebe die Hand.

„Sie hat mich angerufen und wollte Nate besuchen, dann habe ich sie nachhause gefahren, okay?“

„Aber du -“

„Ich werde sie nicht mehr treffen“, falle ich ihm wieder ins Wort. Ich schaue meinen Freund abwartend an während dieser verwirrt die Augenbrauen zusammen zieht.

„Was?“, frage ich ungeduldig, als dieser immer noch nichts sagt und mich nur stumm anstarrt.

Mit einem Seufzen erhebt sich Chris und deutet mir mit einem Kopfnicken in Richtung Tür, dass ich ihm folgen soll.

„Ich komme gleich, Nate. Dann schauen wir uns einen Film an“, sage ich noch zu meinem Bruder.

„Batman?“, schlägt Nate vor und wirft den mittlerweile ausgezogenen Batman alias Chris einen feindseligen Blick zu.

Dann deutet er mit zusammengekniffenen Augen seinen Zeigefinger auf Chris, der schon fast an der Tür ist, und bringt mich mit seinem nächsten Satz zum Lachen: „Du hast es nötig ihn mitzuschauen, du Nicht-Batman.“

„Alles klar, Boss“, erwidert Chris nur mit einem schiefen Grinsen und wir verlassen das Zimmer. Im Wohnzimmer mache ich mich auf dem Sofa breit während Chris nachdenklich an der Wand lehnt.

„Ich verstehe dich nicht“, murmelt er plötzlich.

„Was meinst du?“ Ich ziehe meine Augenbrauen dabei hoch.

„Na das mit Silver. Ich dachte, du willst nichts mehr mit ihr zu tun haben.“ Mein bester Freund blickt mich dabei vorwurfsvoll an.

„Will ich auch nicht. Ich habe es dir doch schon hundert Mal gesagt. Wenn’s nach mir ginge, würde ich sie seit dem Unfall gar nicht mehr sehen, aber das war alles Zufall. Erst das im Metro, dann Nate, dann…“

„Ja ja“, unterbricht mich Chris. „Aber diesmal hättest du abblocken können. Aber du hast es nicht.“ Ich will schon widersprechen, doch ich weiß, dass er Recht hat.

„Wie gesagt, es ist das letzte Mal“, ich beiße die Zähne zusammen. „Sie war so… aufgewühlt“, füge ich leise hinzu, doch bereue gleich darauf, es ausgesprochen zu haben.

„Man, klar ist sie aufgewühlt! Scheiße, du weißt, dass ich das alles nicht für eine gute Idee halte! Wir regeln das mit Marc und -“

„Das kannst du dir abschminken“, kommt es prompt von mir. Der mitschwingende drohende Ton meiner Stimme erlaubte keine Widersprüche.

Darauf stöhnt Chris laut auf und setzt sich zu mir auf das Sofa.

Ich greife nach der Fernbedienung, um das Gespräch ein Ende zu bereiten, doch er nimmt es mir weg.

„Was?“, gebe ich launisch von mir.

„Irgendwie glaube ich, dass dahinter noch mehr steckt, als du mir erzählt hast“, meint Chris plötzlich und ich wundere mich innerlich, wie mein bester Freund so Recht haben kann. Denn meistens braucht man es ihm immer zu erklären.

„Du übertreibst mal wieder“, winke ich ab und greife nach der Wasserflasche auf dem Tisch vor uns. Doch dann fällt mir etwas ein, was ich wohl oder übel meinem besten Freund erzählen muss.

„Marc war vorhin unten in der Lobby.“

„Was? Was will der schon wieder?“, kommt es sofort aufgebracht von ihm.

„Er hat mich heute mit ihr gesehen. Dieser Pisser spioniert mir nach“, knurre ich launisch und stemme die Ellenbogen auf meinen Knien ab.

„Klar, vertraut er dir noch nicht. Er war ja auch bei der Show, obwohl er mir versichert hat, dass er seine Geschäfte nicht abzieht.“

„Hat er auch nicht. Er wollte Silver sehen“, erkläre ich ihm zähneknirschend. Mit jedem weiteren Wort über ihn spannt sich mein Körper immer mehr an.

„Dann hast du ihm doch wohl klar gemacht, dass ihr nichts mehr miteinander zu tun habt?“ Ich versichere ihm es, indem ich nicke. „Gut. Dann machen wir wie bisher weiter. Aber Linda trifft sich morgen wieder mit ihr.“

Sofort springe ich wie ein wild gewordenes Tier auf. „Dein. Ernst?!“

„Komm schon.“ Mein bester Freund hebt abwehrend die Hände, als befürchte er, dass ich gleich auf ihn einprügele.

„Sieh es doch mal so. So haben wir jemanden, der ein Auge auf sie wirft.“ Zu meiner Verwunderung finde ich die Idee gar nicht schlecht. Trotzdem lehne ich mich erschöpft an die Wand und möchte am liebsten einen Boxsack vor mir haben. Ich sollte morgen wieder trainieren gehen…

„Also?“, kommt es nochmal fragend von Chris.

„Mhhmmm“, brumme ich nur als Zustimmung.

„Was ist mit Liz?“, fragt er plötzlich. Ruckartig hebe ich den Kopf von der Wand und merke, dass ich sie ganz vergessen habe.

„Scheiße.“, murmele ich mit finsterer Miene während ich mir überlege, wie wir dieses Problem lösen sollen.

„Ruf Linda an“, befehle ich nach einer Weile.

„Wozu?“, fragt mich Chris mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Ich habe ihre Nummer nicht. Sie soll mit Liz herkommen und ich rede mit ihr. Nicht, dass sie sich mit Silver schon getroffen hat. Verdammt, daran habe ich gar nicht gedacht!“

 

Ich beobachte Chris dabei, wie er mit Linda telefoniert, während ich mir im Kopf ausmale, mit welcher Methode ich dieses Mädchen überreden soll mitzumachen.

Sie ist Silvers beste Freundin und dazu noch eine Taffe. Es wird nicht leicht sein, sie zu überzeugen ohne ihr alles zu erzählen.

Wie konnte ich sie bloß vergessen?! Sogar John, meinen Trainer, habe ich in den Plan eingeweiht, für den Fall, dass Silver bei ihm auftaucht. Denn ohne die Unterstützung von den Anderen würde Silver die Wahrheit früher oder später von alleine herausfinden. Dafür kenne ich sie zu gut…           

„Moment, sie ruft Liz gleich an und fragt sie selbst“, informiert mich Chris nach dem Telefonat und ich blicke zu ihm auf. Erst jetzt merke ich, dass ich bei den Gedanken an sie wieder gelächelt habe.

 

Während wir auf die Antwort warten, fülle ich uns drei Teller mit Spaghetti voll, die meine Tante heute gemacht hat.

Kurze Zeit später klingelt sein Handy.

„Ja?  -  Okay.  -  Genau.  -  Morgen schon?!  -  Ja, dann vorher.  -  Gut danke bis dann, Babe.“

„Und?“, frage ich ihn ungeduldig.

„Silver trifft sich schon morgen mit Liz. Um 5. Davor ist sie mit Linda shoppen. Das heißt, wir werden sie in der Uni abfangen müssen.“

„Alles klar.“ Innerlich seufze ich, als mir klar wird, was für ein Aufwand das alles wird. Aber für sie würde ich alles tun.

„Komm gib schon her, man. Ich sterbe gleich vor Hunger“, reißt mich Chris prompt aus meinen Gedanken. Als er gierig nach dem Teller greifen will, drehe ich mich abwehrend um und eile mit großen Schritten und beiden Tellern in den Händen den Flur entlang während ich hinter mir sein Aufstöhnen vernehme. Mit einem siegreichen Grinsen husche ich durch das Schlafzimmer.

„Du willst mich wohl verarschen!“, kommt es aufgebracht von meinem hungrigen Kumpel, dessen Elefantenschritte näher kommen.

„Superhelden brauchen nichts zu essen.“, ärgere ich ihn, als er an der Tür steht, und strecke ihm meine Zunge raus. Als ich demonstrativ die Gabel voller Nudeln und Bolognese Sauce in den Mund schiebe, schnaubt Chris verächtlich auf und haut die Tür zu, ehe er sich mit uns auf das Bett setzt.

„Du bist manchmal echt zum Kotzen, Jay.“

 

 

Während der erste Teil von „Batman“ läuft, bedienen wir uns alle am Popcorn, das meine Tante uns, die zu meinem Bedauern aus dem Schlaf geweckt wurde, gebracht hat.

Olivia ist schon immer eine fürsorgliche und liebevolle Person gewesen. Auch nach dem Verlust ihres Bruders - meines Vaters - ist sie nicht zusammengebrochen und hat sich selbst verloren... Was man von einer bestimmten Frau nicht sagen kann… Nein, sie ist stark geblieben und ist schon wie eine Mutter für Nate - und auch für mich - geworden. Deswegen mache ich mir keine Sorgen, wenn Nate bei ihr ist. Dass ich heute selbst hier schlafen werde, ist nur eine Ausnahme. Zu sehr hat mir unsere Wiederbegegnung zugesetzt… Der Anblick meines eigenen Apartments würde es mir noch schwerer machen…

Außerdem ist mein kleiner Bruder krank, da muss ich doch bei ihm sein.

Als ich zur Seite schaue, stelle ich mit einem zufriedenen Lächeln fest, dass Nate nun um einiges besser gelaunt ist, als vorher. Fast schon so gut gelaunt wie als sie hier war.

Während beide völlig konzentriert den Film verfolgen, bin ich bereits nach der ersten Szene gedanklich abgesprungen. Chris musste bei einer Szene feststellen, dass Batman wirklich nur ein Mensch ist, woraufhin Nate vor Freude anfängt herum zu strampeln, was nicht angenehm für Chris und mich war, da er - eingequetscht - in der Mitte zwischen uns liegt.

Es ist manchmal echt zum Schreien, dass mein 22-jähriger Kumpel mit seinem Wissen manchmal meinen 8-jährigen Bruder unterlegen ist.

  

Während ich den Plasmafernseher anstarre, denke ich wieder an heute.

Ich muss zugeben, dass ich absichtlich zufällig zum Bäcker musste, um sie anschließend in den Park zu dirigieren. Als Linda mir erzählt hat, dass Silver dort war, musste ich es einfach wissen. Wissen, ob sie sich an DAS erinnert.

Mein Herz ist fast stehen geblieben, als sie mir von ihrem Traum erzählt hat. Hatten die Ärzte mir nicht gesagt, dass sie in ihrem Kopf eine Art Blockade hat, die unüberwindbar sei? Ich war doch nicht umsonst jeden Tag im Krankenhaus gewesen, um mich über ihren Zustand zu vergewissern. Jeden Tag mussten sich die Ärzte mit meinen nervigen Fragen rumschlagen und wenn ich zurückdenke, taten sie mir schon fast Leid. Vielleicht funktionieren die Medikamente doch nicht so, wie vermutet?! Ihr Oberarzt mit diesem übergalaktischen Lächeln, mit dem er sicherlich erfolgreich Werbung hätte machen können, hat mich als Einziger gefragt, warum ich nie ihr Zimmer betreten habe. Wenn der wüsste…

Plötzlich höre ich mein Handy vibrieren. Es ist eine Sms. Von ihm.

 

Ich erwarte dich morgen um 6 in der alten Gasse.

- M

 

Ich seufze.

„Was ist?“, kommt es neugierig von Nate und auch Chris blickt vom Bildschirm auf.

„Nichts“, murmele ich und frage mich, mit was ich es morgen wieder zu tun habe.

Müde schließe ich meine Augen und möchte nur noch diesen kurzen Abend mit meinem Bruder und Chris genießen, weil ich weiß, dass so etwas ab morgen so gut wie gar nicht mehr vorkommen wird.

Und in dem Moment wusste ich auch nicht, dass diese SMS nicht „Nichts“ ist.

Mir war nur klar, dass ich gehorchen musste, nichtwissend, dass diese kleine Nachricht alles verändern wird.

Und das nicht zum Guten…

Kapitel 15

 

Ganz in der Zeit verloren, werde ich von etwas aus dem Schlaf gerissen. Ich schaue mich heftig blinzelnd in dem dunklen Zimmer um. Kurz danach spüre ich einen warmen Atem an meiner Wange, sodass ich reflexartig zurückzucke. Erst jetzt spüre ich, dass eine Stelle an meiner Wange förmlich glüht. Durch den dämmrigen Mondschein, der sich durch die Fenster schleicht, erblicke ich die Gestalt neben mir.

„Tyler“, hauche ich durch die Stille hinein.

„Hey… ich wollte dich nicht wecken“, flüstert er genauso leise zurück.

Hatte er mich auf die Wange…?

„Macht nichts“, versichere ich ihm und reibe mir müde die Augen.

„Wie viel Uhr ist es?“

„5 Uhr morgens“, kommt es von ihm.

„Kannst du nicht schlafen? Du hast doch heute Schule.“ Langsam setze ich mich auf und lehne meinen Rücken an das Bettgerüst.

„Ja eigentlich schon“, brummt mein bester Freund.

„Aber ich wollte dir beim Schlafen zu schauen“, fügt er grinsend hinzu und knipst die Nachttischlampe an.

Ich blicke Tyler an, dessen Haaren ungeordnet an allen Stellen abstehen, was ziemlich süß aussieht, und auf seinen Oberkörper, der immer noch nackt ist.

Eine Weile sagen wir nichts während wir uns einfach nur ansehen. Doch dann spreche ich den kleinen Wunsch aus, den ich seit Tagen mit mir trage.

„Ich möchte auch wieder zur Schule.“ Es ist nur noch ein Flüstern.

Kurz blickt er mich nachdenklich an, ehe er antwortet.

„Dann komm heute mit.“

„Was?“, kommt es überrascht von mir. Ich sehe ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an während ich seine Worte immer wieder im Kopf abspiele.

„Ja, wieso nicht? Zwar bist du nicht mehr im gleichen Jahrgang wie ich, aber wir können uns in den Pausen sehen. Die Schule ist immer noch die Gleiche“, versichert er mir während er einen Arm um mich legt. „Du und ich wieder zusammen in der Schule. Das ist doch was, oder?“

„Naja ich weiß nicht… Kommt das nicht komisch rüber?“, kommt es unsicher von mir.

„Naja eigentlich nicht. Das letzte Mal, wo du in der Schule warst, ist ein Monat her. Alle wissen warum.“

„Denkst du? Ich habe Angst davor, wie die mich alle behandeln werden. Außerdem weiß keiner von meinem…“, druckse ich unsicher vor mir herum und spiele nervös mit meinen Händen.

War es eigentlich ein Nach- oder Vorteil, dass keiner in der Schule von meinem Gedächtnisverlust weiß? Ich weiß, dass meine Eltern es geheim halten wollen. Aber zumindest die Lehrer müssten informiert werden…

„Ach, keine Sorge. Du hattest eh nicht soviel mit ihnen alle zu tun. Keiner kann dir was anhaben. Ich bin doch da. Wenn etwas ist, ruf mich an und ich jumpe dir zur Stelle“, schlägt mein bester Freund zuversichtlich vor und zieht mich näher an sich.

Ich hatte nicht viel mit den Anderen zu tun? War ich etwa eine Außenseiterin?

Zu peinlich ist mir diese Vermutung, sodass ich mich nicht traue ihn zu fragen.

„Deine Mutter wird sicherlich zustimmen. Ich kann dir helfen, sie zu überreden“, fügt er hinzu, als er meinen immer noch unsicheren Blick bemerkt.

Dass meine Mutter Tyler fast wie ihren eigenen Sohn liebt, war nicht zu übersehen. Das war auch schon damals so.

Einen Moment lang überlege ich noch, ob diese spontane Idee gut ist, doch mein Drang, wieder in mein altes Leben zurück zu kommen, überwiegt schließlich. Soll meine Mutter doch selbst auf ihre Privatschule gehen…

Warum ist sie eigentlich so versessen darauf, dass ich mich für die Privatschule nehme? Wenn es nach mir ginge, will ich schon von Anfang an auf meine alte Schule. Wie soll ich sonst in mein altes Leben zurückfinden? Warum habe ich das Gefühl, dass sie mich davon abhalten will?

„Okay“, gebe ich schließlich von mir, sehr bewusst, dass ich mich gegen den Wunsch meiner Mutter entscheide, und werde gleich daraufhin mit einem spitzen Jubelschrei von Tyler zerdrückt.

„Ich bekomme keine Luft“, krächze ich eine Weile später, als dieser immer noch nicht loslässt. „Und du hast meine Eltern bestimmt eben mit deinem Mädchengeschrei geweckt.“

„Lass mich“, lacht dieser an meinen Nacken und lässt endlich los.

„Das wird der Hammer. Endlich habe ich wieder einen Grund in die Schule zu gehen“, freut sich mein bester Freund und ich muss daraufhin grinsen. Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, dass es zwischen mir und ihm alles wieder beim Alten ist.

„Bist du etwa ein fleißiger Schwänzer?“, necke ich ihn mit einem seitlichen Stoß.

„Ich doch nicht. Du warst nie zu sehen“, murmelt dieser stattdessen.

„Was?“, kommt es erschrocken von mir und ich platziere mich in einem Schneidersitz vor ihm hin. „Ich war eine Schwänzerin?“

„Nein…“, brummt er abwehrend. „Aber du warst nur im Unterricht zu sehen. In den Pausen und sonst wann warst du immer wie vom Erdboden verschluckt worden.“

Was?

„Und weißt du auch wieso?“, kommt es von mir während ich versuche die Bedeutung dahinter zu verstehen.

„Nein, das wusste niemand“, antwortet er mir und betrachtet mich stirnrunzelnd. „Vielleicht warst du auch immer in der Mädchentoilette… was weiß ich… um dich zu schminken vielleicht? Obwohl nötig hast du es ja nicht…“

Ich merke selbst, dass er seinen eigenen Worten nicht glaubt, und denke plötzlich an Cindy.

„Was ist mit Cindy? Weiß sie es vielleicht?“, hake ich nach während ich merke, dass Tyler langsam genervt von diesem Frage-Antwort-Spiel ist. Doch es ist mir im Moment egal.

„Ne, das begann erst nachdem Cindy sich so komisch wegen ihren Eltern benommen hat. Ich habe dir doch gesagt, dass Cindy und ich uns nicht mehr verstehen.“ Mit den Worten steht er auf und zieht sich sein T-shirt über.

Also seit einem Jahr bin ich zu einer Art Phantom in der Schule geworden?  Mal abgesehen vom Unterricht. Was bitte schön hatte ich ständig getrieben?

„Warum eigentlich? Wir drei waren doch unzertrennlich.“

Kurz hält Tyler bei seiner Bewegung inne und wirft mir einen Blick zu, den ich nicht deuten kann.

„Wir haben uns eben auseinander gelebt. Ich gehe mir mal das Gesicht waschen.“ Mit den Worten verzieht er sich schließlich aus meinem Zimmer.

Während ich Tyler neben mir im Bad höre, bleibe ich auf dem Bett sitzen und grübele über unser Gespräch nach.

Als mein bester Freund wieder in das Zimmer kommt, stelle ich ihm eine überlegte Frage.

„Tyler, hatte ich in den letzten Jahren einen Freund gehabt?“

Sichtlich verwundert über diese Frage schaut er mich an und setzt sich daraufhin zu mir.

„Nicht soweit ich weiß. Hin und wieder kleine Romanzen ja, aber…“ Ich sehe an seinem Gesichtsausdruck, dass er nach den richtigen Worten sucht.

Dann fährt er sich durch das Haar und blickt mich aufeinmal so intensiv an, dass mir ein kleiner Schauer über den Rücken läuft.

„Wir waren vor dem Unfall kurz davor zusammen zu kommen, Silver.“

WAS?!

Augenblicklich fällt mir meine Kinnlade runter. Zu schockiert bin ich. Jetzt habe ich erst Recht das Gefühl im falschen Film zu sein.

„Also… du meinst… hätte es nicht diesen…“

„Ja“, beantwortet mir mein bester Freund die nicht vollendete Frage und es fällt mir immer schwerer seinen Blick zu erwidern. Ich senke den Blick.

„Oh mein Gott“, bringe ich schweratmend über die Lippen und fahre mir durch die Haare, die sich aus dem Dutt gelöst haben. Das war definitiv zu viel.

„Ich verstehe, dass es jetzt so plötzlich kommt, aber… lassen wir es einfach, wie es ist. Silver, wir sind Freunde. Das ist mir am wichtigsten.“

Während er spricht, sieht er mich immer noch mit seinen ozeanblauen Augen intensiv an.

„Aber… du fühlst doch dann mehr für mich. Ich meine mehr als… Freundschaft“, bringe ich nervös über die Lippen und warte gespannt auf die Antwort.

Kurz wendet er seinen Blick ab, ehe er mich wieder ansieht.

„Ja, das stimmt, Silver. Ich liebe dich nämlich.“

 

 

 

 

Ich weiß nicht, was für eine Art Zauber Tyler auf meine Mutter ausübt, aber es gelang ihm wirklich nach einer Viertelstunde sie zu überreden mich wieder in meine alte Schule gehen zu lassen.

Und zwar gleich jetzt.

Daraufhin höre ich, wie sie den Schuldirektor am Telefon über meine Entscheidung informiert.

Nervös wippe ich mit meinen Beinen unter dem Tisch während wir alle zusammen frühstücken. Mein Dad hat versprochen mir heute Abend das ganze Haus zu zeigen, weil er morgen auf eine Geschäftsreise nach Singapur muss. Es macht mich unheimlich traurig, dass dies zu einer Routine in unserem Familienleben gehören soll, doch ich ließ es mir nicht anmerken. Zu glücklich schien er, als er hörte, dass ich mich für meine alte Schule entschieden habe. In dem Moment merkte ich, dass meine Eltern in dieser Sache verschiedene Meinungen haben.

„Vielen Dank für das leckere Frühstück“, bedankt sich Tyler höflich bei meiner Mutter, die sich eben hingesetzt hat.

„Ach, das ist doch selbstverständlich. Freut mich, dass es dir schmeckt“, flötet diese.

„Silver, mein Müsli kippt gleich um, wenn du nicht gleich mit diesem Gewippe aufhörst“, wendet sich Tyler gespielt verärgert zu mir. Als er meinen unsicheren Blick sieht, legt er beruhigend seine Hand auf meine.

„Hey“, haucht er leise zu mir, sodass meine Eltern, die gegenüber uns sitzen, nichts mitkriegen. Meine Mutter ist zum Glück zu beschäftigt meinen Vater auszufragen, was er alles so an den einzelnen Tagen während seiner Geschäftsreise vorhat.

Meine Güte, seid wann ist sie so an seinem Job interessiert? Früher wollte sie gerade mal wissen, ob er an einem Projekt dran war oder nicht.

„Silver.“

Ich stelle fest, dass ihre ziemlich enge Bluse einen viel tieferen Ausschnitt hat als meine, und denke daran, was für gewagte Sachen sie im Klamottenladen ausgesucht hat. Neben ihr komme ich mir mit einer weißen langärmligen Bluse und einem dunkelblauen Schottenrock, welches meine halben Oberschenkel bedeckt, ziemlich brav vor.

„Hey“, drängt sich die Stimme von Tyler in mein Ohr, der anscheinend gerade versucht meine Aufmerksamkeit zu bekommen.

„Ja?“, frage ich etwas noch in meinen Gedanken versunken und drehe meinen Kopf zu ihm um. Seine warme Hand ruhte immer noch auf meiner.

„Du brauchst nicht so nervös zu sein. Alles wird gut. Ich stelle dir Tobias vor. Du wirst ihn sicher mögen. Also das hast du auch… vor dem Unfall meine ich.“

Ich nicke nur kurz als Zustimmung und entziehe mich seiner Hand. Nach seinem Geständnis von vorhin hat keiner von uns mehr etwas dazu gesagt. Das ist mir auch recht so.

Einerseits realisiere ich, dass das, was er mir gestanden hat, doch das ist, was ich schon immer hören wollte. Seit Ewigkeiten. Tyler ist meine erste Liebe.

Doch im Moment bin ich mir über gar nichts mehr sicher.

Und ich habe nicht vergessen, dass er mich in Bezug auf Linda angelogen hat, aber ich wollte ihn nicht darauf ansprechen. Noch nicht.

Irgendwie bekomme ich das Gefühl nicht los, dass mich dieser Tag noch mehr Nerven kosten wird.

 

Nach dem Frühstück hole ich mir noch meine Schultasche, in der ich einen Schreibblock und Mäppchen verstaue, und schnappe mir noch mein Handy bevor ich runtergehe.

Wieder muss ich staunen, als ich Tylers Wagen sehe. Auch wenn dieses nicht annähernd so teuer aussieht wie das von Eisklotz, weiß ich, dass es kein billiges ist. Wie ein Gentleman hält er mir die Beifahrertür auf und ich steige in den schwarzen Wagen ein.

Während der Fahrt hat Tyler das Radio aufgedreht, um Musik zu hören, worüber ich erleichtert bin. Denn ich hatte keine Lust zu reden.

Zu sehr beschäftigen mich die Ereignisse der letzten Tage. Ich habe das Gefühl nicht mal durch meine eigene Familie blicken zu können.

Als ich meine Eltern vorhin beobachtet habe, fiel mir die Szene im Krankenhaus vor einer Woche ein, wo meine Mutter meinem Vater so viel vorgeworfen hat.

Von wegen mein Vater sei nie da und platze nur manchmal mit seiner Meinung rein. Aber sie sagte mir, dass die beiden die Art Ehekrise überwunden haben. Trotzdem entgeht mir nicht, dass sich zwischen den beiden etwas verändert hat. Nur was?

„Cause I don't wanna lose you now! I'm lookin' right at the other half of me!“

“Gott, Tyler!”, brülle ich entsetzt seinem Gesang entgegen. Lachend dreht er das Radio etwas runter.

„Was?“, kommt es grinsend von ihm.

„Du kannst nicht singen“, stelle ich nüchtern fest.

„Ach, ich habe doch erst eben angefangen", verteidigt er sich immer noch grinsend.

„Der Anfang hat schon für sich gesprochen, mein Lieber“, gebe ich ihm zurück und schaue auf die Radioanzeige. Es ist „Mirrors“ von Justin Timberlake.

„Ist das dein Lieblingssong?“

„Ne, aber ich finde den Refrain gut. Er erinnert mich an dich“, gesteht er mir mit einem Augenzwinkern.

„Falls du als Sänger durchstarten willst, vergiss es“, ärgere ich ihn und kassiere gleich darauf seinen beleidigten Blick.

„Dann sing du doch“, schmollt er stattdessen.

„Werde ich vielleicht auch. Wenn ich wenigstens einen Songtext könnte“, gebe ich patzig zurück und blicke aus dem Fenster.

Ich spüre, wie er meine Hand vom Schoß nimmt und diese drückt.

„Tut mir Leid. Ich trete immer wieder auf das Fettnäpfchen“, entschuldigt er sich und ich sehe ihm an, dass er es ernst meint.

Zum ersten Mal mustere ich intensiv das Gesicht meines besten Freundes. Er hat zwar noch dieselben Gesichtszüge wie früher, jedoch sieht er nun deutlich männlicher aus. Sein dichtes Haar ist auch nicht mehr dunkelbraun wie früher, sondern jetzt schwarz. Von der Seite betrachte ich das markante Gesicht von ihm und muss gestehen, dass er noch besser aussieht als damals. Aber auch als wir klein waren, fand ich ihn schon immer gutaussehend. Seine ozeanblauen Augen stehen ganz in Kontrast zu seinen Haaren.

Er hat zwar wie Jason blaue Augen, aber diese blauen Stiche sind einfach…

Ertappt blinzele ich, als ich merke, dass ich gedanklich abgeschweift bin. Wie komme ich dazu Tyler mit Eisklotz zu vergleichen? 

„Ist schon gut“, erwidere ich schließlich mit einem kurzen Lächeln und ich entdecke kurz darauf die Schule vor uns. Augenblicklich fängt mein Herz an schneller zu schlagen und ich hoffe, dass ich den ersten Schultag ohne umzukippen überstehen werde.

Manche würden alles geben, um nicht in die Schule gehen zu müssen und ich bekomme stattdessen erhöhtes Herzklopfen. Welch eine Ironie.

 

 

Als wir durch den Hof laufen, bemerke ich bereits die ersten Blicke auf mir. Oder auf uns?

Tyler scheint ziemlich beliebt zu sein, denn ihn begrüßen ziemlich viele beim Vorbeigehen. Die Jungs mit einem Handschlag und die Mädchen mit einem zuckersüßen Lächeln.

Ich muss daran denken, dass wir früher mit Cindy immer zu dritt unter uns waren. Aber das war auch früher.

Sie werfen mir auch einen Blick zu und lächeln mich zum Glück nur an. Manche begrüßen mich sogar mit meinem Namen, womit ich annehme, dass diese mich kennen. Die meisten sind aus dem Jahrgang von Tyler, also eigentlich auch meinem. Es gibt zu meiner Erleichterung keine weiteren Gesten. Mehr hätte ich jetzt sowieso nicht ertragen. Ich wollte noch mit keinem ein Wort wechseln. Worüber auch?

Aber damit habe ich meine Theorie als Außenseiter schon mal beiseite geschoben.

Als wir beide vor der Tür des Sekretariats stehen, nimmt Tyler meine Hand und schiebt mich daraufhin in den Raum.

Eine blonde, ältere Frau sitzt am Schreibtisch. Als sie uns bemerkt, blickt sie auf und lächelt uns an.

„Guten Morgen, ihr zwei“, begrüßt sie uns lächelnd und streckt mir ihre Hand hin. Ich finde sie sofort sympathisch.

„Wie geht es Dir, Silver?“, fragt sie mich während ich ihre Hand schüttele.

Oh stimmt, sie kennt mich.

„Es geht mir gut, danke. Nur.. bin ich etwas überfordert mit dieser Situation. Eh.. ich meine.. vor 2 Stunden wusste ich noch nicht einmal, dass ich heute wieder die Schule besuchen werde“, gestehe ich ihr verlegen während ich meinen Blick durch den Raum schweifen lasse. Es ist zwar einiges umgestellt worden, doch das Sekretariat blieb an sich unverändert.

„Nur die Ruhe. Na klar ist für dich einiges neu, aber soweit ich weiß, erinnerst du dich noch an die ersten 3 Jahre hier auf der Schule. Soviel hat sich auch nun wieder nicht verändert“, redet sie seelenruhig auf mich ein. „Deinen neuen Stundenplan gebe ich dir jetzt schon mal, damit du die Klasse findest. Die Lehrer wissen alle Bescheid.“

„Komm, lass uns kurz zum Direktor gehen“, meldet Tyler sich daraufhin zu Wort und zieht mich an dem Schreibtisch vorbei bis wir vor einer weiteren Tür stehen, die ich als Tür zum Direktor in Erinnerung habe.

„Herein“, ertönt es von innen nachdem Tyler geklopft hat.

Sanft schiebt er mich rein und schließt die Tür hinter uns ab.

Das Büro sieht genauso aus wie früher und auch mein Direktor ist, wie ich sehe, noch derselbe.

„Guten Morgen, Silver“, begrüßt der ältere, große Mann im Anzug mich und schüttelt unsere Hände.

„Freut mich, dass du so schnell auf den Beinen bist“, sagt er lächelnd während er sich auf seinem Stuhl niederlässt. Ich mache es Tyler nach, als dieser sich gegenüber dem Direktor hinsetzt.

„Sie konnte es eben nicht mehr erwarten wieder in die Schule zu gehen“, witzelt mein bester Freund neben mir, woraufhin der Direktor kurz auflacht. Ich dagegen bin für Lachen viel zu nervös.

„Das höre ich selten. Aber gut, jetzt mal zu den etwas ernsteren Dingen“, fängt er an und stützt seine Arme auf dem Schreibtisch vor uns ab. „Du bist hier, das ist gut. Ich dachte erst, dass du dich für die Privatschule entscheiden würdest. So erschien es mir, als ich mit deinen Eltern geredet habe. Aber ich freue mich, dass du dich für deine alte Schule entschieden hast. Was der Arzt dir bestimmt schon bestätigt hat, ist, dass du deine Erinnerungen der letzten 5 Jahre verloren hast. Nichts desto trotz gibt es auch eine gute Neuigkeit von deinem Arzt. Es besteht die Möglichkeit, dass dadurch nicht der ganze Lernstoff der Jahre weg ist. Eher sind es lediglich Sachen, die du auswendig gelernt hast, also in deinem Langzeitgedächtnis. Da z.B. Teile deines Gehirns wie das Sprachzentrum nicht tangiert wurden, sollte dein Stand in den Sprachfächern derselbe sein wie vor dem Unfall.“ Der ältere Mann vor mir holt kurz Luft und sieht mich daraufhin abwartend an.

„Die Information ist mir neu“, gestehe ich nach einer Weile und muss an den Tag denken, an dem ich aufgewacht bin.

Die Ärzte erzählten mir zuerst von dem Unfall und dann von meinen „ausgelöschten“ Erinnerungen. Als wäre ich ein Computer, der seine Dateien verloren hat.

Danach haben sie in ihrer Alien- alias Arztsprache weitergeredet, doch ich erinnere mich wirklich daran, dass sie auch andere Teile meines Gehirns erwähnten und irgendetwas mit dem Sprachzentrum und sonst etwas war. Aber da hatte ich auch nicht mehr zugehört. Oder es mal wieder vergessen?

„Das ist auch nicht ganz nachweisbar, aber höchst wahrscheinlich. Die Menschheit weiß bis heute noch nicht, wie unser Gehirn komplett funktioniert“, winkt er lächelnd ab. „Wir werden es ja dann sehen. Du wirst in die 11. Klasse zurückgestuft, wobei das Schuljahr sowieso bald endet, und falls du das Gefühl hast, dass du den Stoff nicht bis zum Abitur nachholen kannst, dann versetzen wir dich nochmal eine Klassenstufe tiefer. Doch ich denke, dass, da für die G8 nur der Lernstoff der 12. und 13. relevant für das Abitur ist, würdest du es schaffen.“  

„Danke, Herr Schullerus“, sage ich und bin stolz darauf wenigstens noch den Namen des Schuldirektors zu kennen.

„Kein Problem. Deine Lehrer wissen Bescheid, aber sie werden kein Wort darüber verlieren. Deine Eltern wollten das so. Es wird lediglich heißen, dass du noch etwas vom Unfall traumatisierst bist und deine Mitschüler sind darum gebeten worden keine Fragen über den Unfall an dich zu stellen. Ich hoffe, das macht dir die Situation etwas angenehmer. Wenn du weitere Fragen hast, bist du jederzeit in meinem Büro willkommen“, erwidert er lächelnd, woraufhin wir alle aufstehen.

„Und alle Lehrer wissen von meinem Gedächtnisverlust?“, frage ich sicherheitshalber nach.

„Nein, nicht alle. Nur deine alten und neuen Lehrer. Keine Sorge, die haben einen Vertrag unterschrieben. Es ist zu deinem Schutz.“

Einen Vertrag?

„Ich hoffe doch, dass du nur wegen Informationen in mein Büro muss und nicht wegen anderen Angelegenheiten“, scherzt er mit einem kurzen Augenzwinkern während er uns zur Tür begleitet.

„Das hoffe ich auch“, antworte ich ehrlich und wir verabschieden uns.

Während wir den Flur zu meinem Klassenzimmer entlang laufen, erzählt Tyler mir von seinem anstehenden Ruderwettbewerb und dass er total nervös sei. Ich gebe ab und zu beruhigende Worte von mir während mein Blick die Fluren abscannt. Das meiste, was ich sehe, sind Schließfächer und Schüler, die ich nicht kenne. Manchmal vernehme ich ein kleines Getuschel von den Leuten, aber ich ignoriere diese gekonnt. Doch da der Unterricht gleich beginnt, haben sich die meisten verschanzt und die Fluren sind so gut wie leer.

Plötzlich bleibt Tyler stehen und ich drehe mich verwirrt zu ihm um.

Abwartend blicke ich in seine ozeanblauen Augen während er sich vor mir nervös die Haare rauft.

„Silver, wegen vorhin… Ich meine… Eigentlich wollte ich es dir nicht sagen… Also nicht so früh… Aber jetzt, wo du es weißt, möchte ich dir sagen, dass ich… also keine Antwort von dir erwarte. Es soll sich nichts zwischen uns ändern“, stottert er rum und blickt mich unsicher an. Irgendwie ist er wirklich süß, wenn er so nervös ist.

Ich muss tief Luft holen, ehe ich ihm antworte.

„Was soll ich sagen, Tyler? Außer, dass sich wohl trotzdem damit etwas zwischen uns verändert hat. Das Problem ist nur, dass ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll, weil ich nicht weiß, wie ich damit umgegangen WÄRE vor Du-weißt-schon-was… Gib mir bitte einfach etwas… Zeit“, sage ich ihm ehrlich ins Gesicht.

Tyler und ich hatten uns zuhause geeinigt, dass wir den Unfall inklusive Gedächtnisverlust als Du-weißt-schon-was zu bezeichnen. Eine Art Top Secret also.

„Ich weiß… Eigentlich wollte ich damit warten bis du auch wieder Gefühle für mich hast. Denn das hattest du“, gesteht mein bester Freund und blickt mir dabei tief in die Augen.

Ich weiß nicht so recht, wie ich darauf antworten soll. Kann ich denn mit der Zeit wieder diesselben Gefühle für ihn haben? Und wie sehr habe ich ihn geliebt?

Doch dann muss ich daran an all die komischen Sachen denken, die Tyler gesagt hat und auch die Lüge mit Linda.

„Ich möchte einfach, dass du ehrlich zu mir bist. Was alles betrifft. Sonst wird es mir schwer fallen dich als meinen besten Freund oder.. auch mehr zu betrachten“, erwidere ich schließlich langsam und hoffe dabei, dass er meine Message versteht. Eine Weile sehe ich, wie er innerlich mit sich zu ringen scheint. Schließlich sieht er auf und blickt mich mit fest an.

„Gut, versprochen.“

Ich atme erleichtert aus und nehme ihn daraufhin an der Hand.

„Komm, wir sind schon zu spät dran. Am Ende werfen die mich noch raus“, gebe ich ungeduldig von mir und schleife ihn durch die Fluren. Ich vernehme noch ein „Als ob“ von Tyler hinter mir, doch bin zu beschäftigt den Raum abzusuchen. 

Kapitel 16

 

Zum Glück sind unsere Unterrichtsräume nicht weit entfernt und Tyler wollte mich unbedingt erst bei meiner neuen Klasse absetzen, bevor er in seinen Unterricht geht.

An der Tür angekommen, hole ich tief Luft bevor ich die Klinke runterdrücke. Ich spüre Tylers Hand an meinem Rücken, der mich vorsichtig reinschiebt, als ich keine weiteren Anstalten mache reinzutreten.

Zu meinem Entsetzen ist der Klassenraum groß und ich gehe im Kopf durch, wie meine alten Klassenräume früher aussahen. Der hier ist bestimmt der größte von allen. Augenblicklich liegen etwa dreißig neugierige Augenpaare auf mir, von denen ich mich aber schnell abwende und stattdessen zu der Lehrerin am Pult schaue.

Ich kenne sie nicht. Sie trennt sich von dem Pult, an dem sie sich noch eben angelehnt hat und schreitet lächelnd zu uns rüber.

„Morgen. Du musst Silver Haygilton sein, richtig?“ Sie streckt mir freundlich ihre Hand entgegen, die ich zaghaft schüttele.

Tylers Hand an meinem Rücken stärkt mich in dem Moment auf irgendeiner Weise.

„Ja, genau“, erwidere ich nervös lächelnd.

„Ich bin Frau Rumber. Freut mich, dass du bei uns bist. Und du bist…?“ Sie streift meinem besten Freund mit einem fragenden Blick.

„Tyler Dreyfus ist mein Name. Ich wollte Silver zu ihrem Raum begleiten“, kommt es höflich von ihm und übergibt ihr die Hand.

Die Lehrerin lächelt daraufhin und scheint kein Problem zu haben, dass somit Tyler zu spät zu seinem eigenen Unterricht kommt.

„Das ist aber lieb von dir. Nun, ab hier übernehme ich.“ Mit den Worten wendet sie sich daraufhin zur Klasse.

„So also wir haben hier eine Neue in der Klasse. Ich habe euch ja schon kurz über sie informiert. Nun, Silver, dann stell dich doch mal der Klasse vor“, übergibt sie mir das Wort.

Na toll. Auf den Teil hätte ich so gerne verzichtet...

„Hey..ehm.. mein Name ist Silver Haygilton und ich bin, wie ihr bestimmt schon wisst, runtergestuft worden. Und sonst…“ Hilfesuchend schaue ich zur Seite zu Tyler, der zu meiner Erleichterung immer noch da steht und mich beobachtet.

Mühselig teleportiere ich ihm einen stummen Hilferuf mit meinem Blick. Er scheint verstanden zu haben, denn er schreitet mit einem Schritt neben mich und blickt in die Runde, woraufhin er die Aufmerksamkeit der Klasse vor allem aller Mädchen auf sich lenkt.

„Sie war noch vor kurzem im Krankenhaus. Davon habt ihr bestimmt schon was gehört. War ja auch das Schulthema Nr. Eins. Also seid bitte nett zu ihr, ja?“, gibt er gelassen von sich und nickt mir aufmunternd zu. Ich blicke ihn als Antwort dankbar an.

„Aber wieso bist du jetzt bei uns und nicht in deiner alten Klasse?“, kommt es plötzlich von einem braunhaarigen gutaussehenden Jungen, der ziemlich weit vorne sitzt. Er blickt mich ausdruckslos an während ich ihm in meinem Kopf einen Kinnhaken verpasse. Doch äußerlich liegt ein leichtes Lächeln auf meinen Lippen.

„Das wollte ich einfach so. Ich hatte eine heftige Verletzung am Kopf und möchte nicht gleich damit Abitur machen“, gebe ich monoton zurück. Daraufhin schweigt er, doch mustert mich skeptisch.

Wenn es nach mir ginge, läge er jetzt k.o. auf dem Boden. 

„So dann nimm doch Platz, Silver“, fordert mich Frau Rumber nun auf und deutet auf einen freien Platz in der Mitte des Raumes. Als ob ich schon nicht genug Aufmerksamkeit bekomme…

Tyler schenkt mir noch ein aufmunterndes Lächeln bevor er den Raum verlässt. Während ich brav zu meinem Platz schlendere, höre ich, wie einige anfangen zu tuscheln.

Neben mir sitzt ein zierliches Mädchen mit rotblonden Locken. Sie lächelt mich kurz an, ehe sie weiter von der Tafel abschreibt. Auf der rechten Seite sitzt ein blonder Junge mit grünen Augen, der wie eine jüngere Version von Chris aussieht. Aber er ist nicht so ein Riese wie der Freund von Eisklotz und ich finde ihn sofort sympathisch. Er stellt sich als Zen vor und fragt mich gleich nach meinen Leistungskursen.

„Eh… das habe ich noch nicht entschieden“, gebe ich ehrlich von mir und nehme vor es später gleich zu tun.

„Du hast Frau Rumber bekommen. Da hast du Glück. Sie ist die Beste.“, flüstert er mir stolz zu. Ich lächele ihn daraufhin kurz an.

„So jetzt möchte ich mit einem neuen Thema anfangen“, kommt es von vorne und ich blicke konzentriert zu Frau Rumber, während sie über die französische Revolution spricht.

Während ich fleißig mitschreibe, merke ich immer wieder Blicke von meinen Mitschülern. Innerlich stöhne ich auf und frage mich, wie lange sie mich noch wie ein Alien anschauen wollen.

Doch eigentlich ist es offensichtlich, dass ich für sie kein Alien bin, denn so wie mir ab und zu ein Kerl von der Seite zuzwinkert, komme ich mir eher wie Jungtier vor, das den hungrigen Raubtieren ausgesetzt worden ist. Der neugierige Typ von vorhin hat sich als Einziger nicht zu mir umgedreht und zu meiner Erleichterung die ganze Zeit stur nach vorne geschaut.

Ich muss feststellen, dass mir die Unterrichtsart von Frau Rumber gefällt. Sie wirkt sehr freundlich und trotzdem authentisch. Ich habe alle Fächer bei ihr außer die Leistungskurse und Sport. In der Pause kommt sie zu mir und führt ein Einzelgespräch, wo sie mir anbietet, immer ansprechbar für mich zu sein, wenn ich mal hinterher hängen sollte. Außerdem schlägt sie vor, dass ich in meinem Falle trotz meiner guten Leistungen in der Vergangenheit Nachhilfe nehmen soll.

Als es nochmal klingelt und anscheinend Mittagspause ist, hole ich mein Handy hervor. Es ist 12:30 Uhr. Ich bekam drei SMS’s.

 

8:35 Uhr:

Alles klar?

- Tyler

 

9:57 Uhr:

Ich hole dich um 2 Uhr ab. Wo wirst du sein?

- Linda

 

 11:00 Uhr:

Um 5 vor dem Starbucks neben dem Einkaufszentrum! Halt nach einer pinken Cappy Ausschau!!!

- Liz

 

Lächelnd schreibe ich Tyler, dass alles gut sei und wir uns in der Mensa treffen werden. Linda bekommt die Adresse meiner Schule. Dann schreibe ich Liz, was ich heute anhabe und dass ich mich auf sie freue.

Denn das tue ich wirklich. Auch wenn ich sie leider nicht mehr kenne.

Ich merke, dass ich fast einer der Letzten bin, die noch im Klassenraum ist.

„Was machst du jetzt?“, fragt Zen mich während er seine Sachen packt. Nach seiner Tasche zu urteilen, scheint er ziemlich ordentlich zu sein.

„Ich gehe jetzt in die Mensa“, sage ich ihm. „Komm doch mit.“

Ich merke, dass er sich über meinen Vorschlag freut, denn er lächelt sofort als Antwort, woraufhin ich mich umdrehe, um schon mal zur Tür zu laufen.

„Hey Seth, lass mal essen gehen“, ruft Zen plötzlich hinter mir zu jemanden. Dieser Jemand erhebt sich mit einem brummenden „Mhmm.“ vom Stuhl. Als ich mich an der Tür umdrehe, erkenne ich, dass dieser Jemand dieser neugierige Kerl von vorhin ist. Mr. Neugierig alias Seth schaut mich mit einem komischen Blick an während er neben Zen in meine Richtung schlendert.

Innerlich stöhne ich auf und frage mich, wie ein netter Junge wie Zen mit so einem launischen und dreistigen Kerl wie Seth befreundet sein kann.

Aber wenigstens weiß er mit wem er befreundet ist. Im Gegensatz zu mir..

Lustlos trabe ich neben den beiden durch den Flur bis zur Mensa. Zen erzählt mir von dem anstehenden Schulfest während Seth anscheinend seinen Mund zusammengeklebt hat. Metaphorisch gemeint. Auch als ihn einige Mädchen begrüßen, nickt er ihnen nur lahm zu. Ich betrachte sein Seitenprofil und muss gestehen, dass er mit seinen kurzen braunen Haaren und den dunkelbraunen Augen ziemlich gut aussieht.

Aber dieses Aussehen hat er gar nicht verdient, so launisch wie der durch die Gegend glotzt.

In der Mensa angekommen holen wir uns alle ein Tablett mit Essen, als ich auch schon Tyler entdecke. Er sitzt neben einem braunhaarigen Jungen und ansonsten ist der Tisch leer. Mit einem Kopfnicken deute ich Zen an, dass ich mich dahin setzen will, woraufhin er und - zu meinem Bedauern - auch Seth uns folgen.

„Ich sehe du hast es überlebt“, begrüßt mich Tyler gut gelaunt während ich mich vor ihm hinsetze. Zen platziert sich neben mir während Seth sich neben Tyler setzt.

„Klar wieso auch nicht“, erwidere ich lächelnd und nehme einen Schluck von meinem Saft. Er grinst als Antwort und legt daraufhin einen Arm um seinen braunhaarigen Nachbarn, der mich bereits ansieht.

„Silver, das ist Tobias. Tobias, sag Hallo zu ihr“, stellt Tyler uns vor.

„Halt die Klappe, Ty“, sagt dieser und stößt dessen Arm weg. Dann sieht er mich lächelnd an. „Hey, ich bin der Freund von diesem Idioten hier“, kommt es von ihm und ich muss daraufhin lachen.

„Anscheinend haben wir bereits etwas gemeinsam. Und zwar einen Idioten“, ärgere ich Tyler, der daraufhin meinen Riegel klaut, während die anderen am Tisch lachen. Sogar die Lippen von Mr. Ich-bin-immer-schlecht-drauf zucken kurz nach oben.

„Hey!“, protestiere ich und versuche nach dem Riegel in seiner Hand zu greifen. Tyler grinst mich nur siegessicher an während er nicht merkt, dass Tobias heimlich hinter ihm die Riegel aus seiner Hand zieht, die er in die Höhe hält.

„Ich sehe schon, dass ihr euch beiden mögt“, brummt Tyler in sein Glas nachdem er gemerkt hat, dass er verloren hat, woraufhin wir alle lachen.

 

Während die Jungs sich über alles Mögliche unterhalten, esse ich genüsslich mein Mittagsessen auf. Es ist bereits 13:20 Uhr. Nach der Mittagspause will ich kurz in die Schulbibliothek und meine Bücher holen. Außerdem muss ich mich bald für meine Leistungsfächer entscheiden. Vorher möchte ich aber schauen, was für Themen in den jeweiligen Fächern behandelt werden.

Tyler hat mir zwischendurch heimlich eine Nachricht geschrieben.

 

Tobias spielt mit, damit die anderen nicht Verdacht schöpfen.

- T

 

Nachdem ich es gelesen habe, nicke ich ihm nur kurz zu, sodass die anderen beiden nichts mitkriegen.

Zu meiner Verwunderung kennen Seth und Tyler sich bereits. Beide rudern nämlich und Tyler scheint Seth sogar für sein Talent zu bewundern. Es stellt sich heraus, dass Zen 17 ist während die anderen drei schon alle 19 sind. Seth ist wegen seinem fleißigen Schwänzen sitzen geblieben, was mich nicht wundert.

„So wir müssen jetzt zum Training. Silver, ich rufe dich an, okay?“, verabschiedet sich  mein bester Freund. Ich umarme beide zum Abschied und sehe dabei zu, wie Tobias und er abziehen.

„Zen, kannst du mir die Schulbibliothek zeigen? Anscheinend ist sie verlegt worden“, wende ich mich daraufhin dem blonden Kerl zu während wir unsere Tabletten zurückbringen.

„Tut mir Leid, mein Dad holt mich jetzt ab. Er wartet nicht gerne“, entschuldigt er sich und schaut mich dabei betreten an.

„Ist schon okay, wirklich“, versichere ich ihm, damit er aufhören soll so zu gucken, obwohl ich mir jetzt schon den Kopf zerbreche wen ich am besten fragen soll ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen, als Zen sich auch schon suchend umschaut. „Ich frage einfach irgendjemand anderen hier.“

„Seth, zeig du ihr doch die Bibliothek?“, schlägt Zen plötzlich vor und ich öffne schon meine Lippen, um es ihm abzuschlagen, als plötzlich ein „Wieso nicht“ von Pokerface kommt.

„Gut, dann sehen wir uns morgen, Silver“, verabschiedet sich Zen mit einem erleichterten Lächeln und verschwindet schließlich.

Ich blicke Zen hinterher und auch wenn ich weiß, dass es gut von ihm gemeint war, habe ich jetzt dank ihm das Paket Schlechte-Laune vor mir.

„Hast du dich in den verknallt oder warum starrst du den so nach?“, kommt es plötzlich von Mr. Schlechte Laune.

Verärgert ziehe ich meine Augenbrauen hoch. „Nein. Zeig mir einfach die Bibliothek.“

Er sagt zum Glück nichts mehr während wir dahin laufen. Die Schulbibliothek ist im hinteren Teil des Schulgebäudes und ich versuche mir den Weg in das Gedächtnis einzubrennen, damit ich das nächste Mal den Weg alleine finde.

Als wir in der Bibliothek anstehen und ich der Frau, die dort arbeitet, meinen Namen sage, bekomme ich prompt sieben verschiedene Bücher in die Hände gedrückt. Sie ist so in Eile, dass sie mir schnell den Stapel aufdrückt, woraufhin ich mit dem plötzlichen Gewicht auf meinen Händen fast zusammenklappe, wäre da nicht Seth.

„Man bist du schwach“, kommentiert er es monoton während er die Bücher selber nimmt.

Ich will ihm schon widersprechen, als mir plötzlich jegliche Kraft meines Körpers entgleitet und ich mich an einen Stuhl festklammern muss. Schnell legt Seth die Bücher auf einen Tisch ab und hilft mir auf.

„Ist dir schwindlig?“, fragt er während er mir auf den Stuhl hilft.

„Ich weiß nicht, mir… ich hatte einfach keine Kraft mehr“, hauche ich schwach und merke, dass sich mein Körper langsam wieder erholt.

Seth setzt sich schließlich gegenüber mich. Ich merke, wie er mich skeptisch mustert und stöhne innerlich auf, dass mir sowas vor ihm passieren muss.

„Hab ich was im Gesicht?“, frage ich ihn schließlich genervt.

Er verzieht seine Miene nicht und scheint nachzudenken.

„Ich habe deinen Namen in einem Zeitungsartikel gelesen“, meint dieser plötzlich.

„Und?“, hake ich nach, weil ich nicht diesen Themawechsel verstehe.   

 „Du bist ganz schön hart gelandet“, sagt er während er mich nicht aus seinen skeptischen Augen lässt. „Es stand, dass du eine heftige Kopfverletzung hast. Die meisten tippen auf ein Hirntrauma. Doch es stand nichts, was wirklich nachgewiesen ist.“

„Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst“, gebe ich ehrlich von mir.

„Warum bist du fast 2 Jahre runtergestuft worden? Du wärst jetzt eigentlich dabei Abitur zu machen“, fragt Seth mich plötzlich.

Einmal bin ich über seine Frage verwundert und andererseits, dass er auf einmal so gesprächig ist. Naja ausfragen trifft es eher.

„Hab ich dir doch vorhin schon gesagt“, gebe ich genervt von mir und verschränke meine Arme vor Brust. Mein Körper hat sich mittlerweile von dem Schwächeanfall erholt.

„Du hättest dich auskurieren können und dann das Abitur nachholen können. Bei deinem Fall wäre sowas leicht entschuldigt.“

Warum macht er auf einmal einen auf Detektiv Conan?

Ich hole hörbar Luft während ich ihn genervt zurückstarre, weil ich weiß, wie nah er an der Wahrheit ist.

„Hör mal, ich weiß, dass du mich nicht magst. Aber deswegen musst du nicht so komische Fragen stellen.“ Abwartend schaue ich ihn an und hoffe, dass er endlich aufgibt.

Er starrt eine Weile zurück, doch erhebt sich kurz darauf mit meinen Büchern und bewegt sich - zu meiner Verwunderung - zur Tür.

„Hey!“, rufe ich genervt und laufe ihm hinterher.

Dieser Kotzbrocken.

Einige Meter später hole ich ihn ein und stelle mich ihm in den Weg.

„Worauf. Wolltest. du. hinaus?“ Ich blicke ihn mit schmalen Augen an. Gelassen lässt er die Bücher in seinen Händen sinken während er meinen Blick erwidert.

„Ich bin zwar faul, aber nicht dumm. Aber eins kann ich dir versprechen. Ich werde den Anderen nichts sagen, falls du Angst davor hast mir die Wahrheit zu sagen. So einer bin ich nicht. Aber ich mag es nicht angelogen zu werden“, sagt er mit einer monotonen Stimme und seinem Pokerface.

„Welche Wahrheit bitte?“, versuche ich ihn zu verunsichern, wobei es eigentlich umgekehrt der Fall ist.

„Ich sage nur: Mein Dad ist dein Arzt.“

WAS?!

Ich kann nicht verhindern, dass mein Mund automatisch aufklappt, nach diesem Geständnis. Sofort merke ich, dass Seth mir mehr als nur schlechte Laune bereitet.

Nein, er könnte mir wirklich Probleme bereiten.

„Haben Ärzte keine Schweigepflicht?“, frage ich nach kurzem Überlegen.

„Haben Sie ja. Aber ich war kurz sein Praktikant. Rechtlich gesehen durfte ich reinschauen“, kommt es wieder monoton von ihm und er macht Anstalten an mir vorbeizukommen.

„Seth“, bitte ich ihn diesmal. „Du darfst es keinem weitersagen.“

Er hält inne und schaut mich mit etwas hochgezogenen Augenbrauen an.

„Du kapierst es immer noch nicht, oder? Es geht mir nicht darum. Ich brauche diese Aufmerksamkeit nicht. Was mich aber interessiert ist, ist Medizin. Und du bist ein interessanter Fall. Aber du hast keine Ahnung, was du wirklich hast.“

Ich dachte schon, dass er mich vorhin verwirrt hat, aber jetzt stehe ich völlig auf dem Schlauch.

„Was meinst du?“, frage ich schließlich nach. Immer noch sieht er mich ausdrucklos an und ich begreife den Gegensatz nicht.

Wie kann man so desinteressiert schauen, wenn das Ganze ihn angeblich interessiert?

„Das darf ich dir rechtlich nicht mehr sagen. Aber ich kann dir helfen es herauszufinden“, antwortet er nach kurzem Nachdenken.

„Hör zu, Silver. Du denkst, ich mag dich nicht. Das verstehe ich. Das denkt fast jeder. Ich bin auch nicht an dich interessiert, sondern eher an deinem Fall. Du wurdest nicht belogen, falls du das denkst. Aber du weißt eben nicht alles. Wenn du Interesse hast, helfe ich dir.“

„Und was springt für dich heraus? Das mit der Medizin verstehe ich nicht. Geh doch einfach ein paar Bücher mehr lesen“, hake ich misstrauisch nach während ich bemerke, dass sich sein Pokerface langsam zu einem normalen Ausdruck verändert hat. Plötzlich wirkt er nicht mehr schlecht gelaunt wie vorhin, sondern wirklich interessiert.

Interessiert an meinen Kopf… Ich hätte nie gedacht, dass er ein Medizinfanatiker ist. Und dass er der Sohn von meinem Arzt ist, schon gar nicht.    

Sollte ihm vertrauen oder nicht? Er scheint es wirklich ernst zu meinen. Seine Geschichte macht schon Sinn, wenn ich an den Vorfall auf dem Skydeck und sogar den einen Traum denke. Auch das mit meinem Sprachzentrum fand ich ehrlich gesagt etwas komisch, aber ich hatte es geglaubt. Bis jetzt.

„Glaub mir, wenn du die ganze Wahrheit kennst, weißt du wieso. Ich kann es dir jetzt nicht verraten“, kommt es matt von ihm.

„Es ist nur… ich kann dir nicht so schnell glauben“, gestehe ich ihm halbherzig.

„Ist schon gut. Lass dir Zeit. Du siehst mich ja immer in der Schule. Komm, ich will die Bücher endlich loswerden, also wohin soll ich sie bringen?“

Mit einem Blick auf die Uhr antworte ich: „Nach draußen.“

Kapitel 17

 

Nachdem Seth die Bücher zu Lindas Wagen getragen hat, verschwindet er auch gleich mit einem kurzen Nicken.

Linda sitzt währenddessen im Auto und mir entgeht nicht, dass sie ihn genauestens von Kopf bis Fuß mustert. Als ich in ihren Wagen steige, umarmt sie mich kurz und fährt auch schon los.

Ich merke, dass sie mir einen neugierigen Blick von der Seite wirft.

„Wer war das?“

„Ein Klassenkamerad“, antworte ich ihr.

„Der ist aber süß“, höre ich sie anerkennend sagen, woraufhin ich sie verwundert anschaue. Linda kichert nur kurz.

„Der ist alles andere als süß, glaub mir. Da läuft nichts, falls du das denkst.“ Ich will gar nicht erst, dass es zu diesem Missverständnis kommt. „Er ist ein Kotzbrocken“, füge ich noch hinzu, sodass sie neben mir auflacht. Ich mag ihr Lachen. Es klingt locker und ehrlich.

 „Ist gut. Ich meine nur. Also, erzähl mir von deinem ersten Schultag“, fordert sie mich lächelnd auf.

Während der Fahrt erzähle ich ihr von der Schule und meiner neuen Klasse. Linda ist einer der Wenigen, die von meinem Gedächtnisverlust weiß, was mich nicht stört, denn ich vertraue ihr bereits. Sie hat mir zwischendurch auch versichert, dass das Geheimnis bei Chris auch sicher sei, sonst würde sie ihn verlassen, was ich zwar etwas übertrieben aber auch süß von ihr fand.

Sie hört mir aufmerksam zu, als ich ihr von Zen, Tobias und Tyler erzähle. Tylers Liebesgeständnis und Seths Interesse an meinem medizinischen Fall lasse ich dabei aus. Mit den beiden muss ich mich erstmal alleine schlagen…

„Und denkst du, dass du es schaffen wirst?“, fragt sie mich, als ich fertig bin.

„Ich denke schon. Es fiel mir nicht schwer dem Unterricht zu folgen, auch wenn mir die Themen neu sind. Ich muss einfach dranbleiben“, gestehe ich ihr.

 

 

Kurz darauf kommen wir beim Einkaufszentrum an und wir steigen aus. Linda will sich neue Kleider für den Sommer holen, sodass sie mich sofort in einen Laden voller Kleider zieht. Während sie ein Kleid nach dem anderen raussucht, schlendere ich neben ihr her.

Ich muss bei dem Anblick des Geschäftes an den Tag denken, wo ich Nate in dem Klamottenladen getroffen habe. Sofort durchströmt mich ein warmes Gefühl und ich merke, dass ich den Kleinen vermisse.

Ob er jetzt wieder gesund ist? So wie Eisklotz sich um ihn gekümmert hat, bestimmt.

Bei dem Gedanken muss ich unwillkürlich lächeln.

Eigentlich ist er ja wirklich nicht immer ein Eisklotz, wenn ich daran denke, wie er sich um seinen Bruder sorgt. Außerdem ist dank seiner komischen Creme die Schwellung an meinem Arm jetzt ganz weg.

Ob er mein Geheimnis für sich behält? Bestimmt. Was soll es ihn denn bringen es weiterzuerzählen… Und wem auch? Er hatte bestimmt besseres zu tun als das.

Stirnrunzelnd muss ich feststellen, dass ich immer noch nicht durch ihn hindurch blicke. Mir fällt die Szene ein, wo er mich kurz vor unserem Haus umarmt hat. Augenblicklich kommt es mir so vor, als würde ich seinen Duft wieder riechen, doch vor mir befinden sich nur lauter Blumenkleider, die nach Textilien riechen.

Warum hat er mich auf einmal in seine Arme gezogen? Es war ein gutes Gefühl, das muss ich leider zugeben, aber ich verstehe es nicht. Ich verstehe ihn einfach nicht.

„Silver, du bist ja ganz rot.“ Linda steht plötzlich vor mir und mustert mich neugierig. „An was hast du denn gedacht? Etwa an diesen Seth?“

„Eh… Nein, nein. Nicht an ihn…“, stottere ich völlig überfordert über die Situation und richte meinen Blick konzentriert auf irgendein Kleid.

„Ach und an wen dann?“, hakt sie gnadenlos weiter.

„Nicht wichtig“, sage ich leise und hoffe sie belässt es dabei.

Keine Chance.

„Also hör mal. Wir sind Frauen, da muss man zusammenhalten. Also welcher Kerl bringt dich dazu wie eine reife Tomate auszusehen, mh?“

Vorsichtig blicke ich sie an und sehe, dass sie definitiv keine Ruhe geben wird, solange ich ihr nicht keine vernünftige Antwort gebe.

Ich hole hörbar Luft, ehe ich ihr ehrlich antworte.

„Ich habe über Jason nachgedacht.“

Sofort klappt ihre Kinnlade runter, als sie seinen Namen hört.

„Jason?!“ Mit einem Ruck zieht sie mich plötzlich in Richtung Umkleide in eine Kabine, wo wir uns dann auf einer Bank hinsetzen.

„Okay, jetzt sag mir mal, warum du an ihn gedacht hast?“, fragt sie schließlich und schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ihr Blick durchbohrt mich förmlich.

„Ich weiß nicht. Aus ihm werde ich nicht schlau. Und das beschäftigt mich eben“, gestehe ich ihr.

Vor mir holt Linda tief Luft, ehe sie mir darauf etwas erwidert.

„Silver, ich sage dir es, weil ich dich mag. Vergiss ihn. Du weißt nicht, wer er ist und es gibt unendlich andere Kerle auf dieser Welt. Du bist so ein hübsches Mädchen mit langen Beinen, da hast du genug Auswahl.“

Warum sagt sie das? Er ist doch der Kumpel von Chris?

„Ist gut“, gebe ich schließlich nach, woraufhin sie erleichtert ausatmet, doch in mir sieht es ganz anders aus.

 

 

Als Linda um etwa ein Dutzend Kleider und ich gerade mal um eins reicher sind, tragen wir die Beute zu ihrem Auto. Es ist bereits kurz vor 5 und Liz müsste gleich da sein. Meiner Mutter schreibe ich eine SMS, dass ich heute Abend nicht mehr zuhause essen werde, weil ich mit einer Freundin unterwegs bin. 

Ich will schon meine Bücher aus ihrem Auto holen, als Linda mich aufhält.

„Ist schon gut. Ich lege sie bei dir Zuhause ab, wenn du nichts dagegen hast. Sonst musst du sie die ganze Zeit mit dir schleppen“, schlägt sie vor und ich stimme ihr dankbar zu.

Ich gebe ihr meine Adresse und sie verabschiedet sich mit einer Umarmung, ehe sie losfährt. Auf dem Weg zum Starbucks gebe ich meine Mutter Bescheid, dass sie die Bücher annehmen soll und Linda eine Freundin von mir ist.

Lindas Worte von vorhin bringen mich zum Nachdenken.

Ich dachte die ganze Zeit, dass sie durch Chris mit Eisklotz befreundet ist. So kam es mir auch in der Bar so vor.

Wenn ich ehrlich zugebe, dann will erst recht nun wissen, warum mich jeder davon abhält mich mit Eisklotz abzugeben.

Sogar meine Mutter hat mich mal beim Essen indirekt vor ihm gewarnt.  

Als ich in Richtung Starbucks laufe, entdecke ich von Weitem schon die pinke Cappy. Ihre Besitzerin ist ein Mädchen, etwa so groß wie ich, mit schulterlangen kastanienbraunen Haaren. Sie trägt eine enge Jeans, das ihre schöne, schlanke Figur betont, und ein trägerloses pinkes Top, welches zur Cappy passt.

Auch sie erblickt mich, als wir nur noch wenige Meter voneinander entfernt sind. Sie schlendert grinsend zu mir rüber und umarmt mich lang und ausgiebig.

„Silver“, begrüßt sie mich und ich höre die Sehnsucht in ihrer Stimme mitschwingen.

„Hey“, antworte ich und lächele sie an. Ihre Augenfarbe entspricht genau ihrer Haarfarbe.

„Oh man, wie strange das alles doch ist. Komm, lass uns gleich etwas trinken gehen.“ Mit den Worten hakt sie sich bei mir ein und wir schlendern die Straße runter.

„Wohin willst du denn?“, frage ich sie, weil ich nicht weiß, wohin wir laufen.

„Zu unserer Lieblingsbar“, sagt sie wie selbstverständig. Als sie meinen fragenden Blick sieht, legt sie seufzend ihre Hand auf die Stirn.

„Tschuldige… hab das wieder vergessen. Ich muss mich noch daran gewöhnen, dass du gar nichts mehr weiß.“ Sie blickt mich entschuldigend an. „Ich meine die Riverside Bar.“

Sofort schießen meine Augenbrauen in die Höhe. Ist es nicht die Bar, in der ich am Samstag mit Linda da war? Und wo Eisklotz arbeitet?

„Ich brauche erstmal einen Drink. Dann erzähle ich dir alles“, sagt sie grinsend. Dabei zieht sie das letzte Wort ziemlich in die Länge.

 

 

In der Bar angekommen, bestellt sich Liz einen Hurricane während ich mich für einen Fruchtcocktail entscheide. Auf Alkohol möchte ich erstmal verzichten. Ich will nichts riskieren.

Die Bar ist im 1. Stock des Hotels, was mir ganz recht ist.

Denn ich kann mich noch nicht in den 3. Stockwerk überwinden. Davor habe ich noch zu viel Angst.

„So du bist also meine beste Freundin“, sage ich lächelnd zu ihr während ich mit der Deko vom Cocktail spiele. Ich lasse dabei meinen Blick durch die Bar schweifen und schaue jedem, der hier arbeitet ins Gesicht. Anscheinend arbeiten weder er noch Chris heute.

„Ganz recht“, gibt das hübsche Mädchen vor mir grinsend zurück und ich erwidere es.

Sie ist die erste Person, bei der es mir komplett leicht fällt über meinen Gedächtnisverlust zu sprechen.

„Dann fang mal an. Ich möchte alles erfahren. Wie wir uns kennen gelernt haben, was wir gemacht haben. Auch die unnötigsten Sachen“, fordere ich sie auf und sie kichert daraufhin.

„Ai ai, Ma‘am.“

Dann legt sie los. Sie fängt bei unserer Begegnung an. Liz war schon als sie klein war in dem Selbstverteidigungskurs bei dem Verein, das einem Mann namens John gehört. Vor knapp 2 Jahren bin ich dann irgendwann dazu gekommen. Wir haben uns überhaupt nicht gemocht, doch irgendwann fing ihr Exfreund an sie zu schlagen. An einem Abend hat er sie in eine kleine Gasse gezogen und wollte sie fertig machen, weil er dachte, dass sie was mit einem anderen hat.

 Ich merke wie Liz‘s Augen anfangen zu glitzern während sie von ihm erzählt. Vorsichtig drücke ich ihre Hand.

 

Es kam dazu, dass ich die beiden zufällig gehört haben musste, denn ich war plötzlich zur Stelle und schlug ihren Exfreund zusammen.

Ich bin so überrascht, dass ich zu so etwas fähig war, doch unterbreche sie trotzdem nicht.

Das war somit der Anfang unserer Freundschaft.

Ihr Ex ging dann ins Gefängnis und sie hat ihn bis heute nicht mehr getroffen. Wir trainierten immer zusammen und trafen uns oft in der Stadt, obgleich zum Shoppen, Feiern oder Essen. Als sie Letzteres erwähnt, fangen unsere Magen gleichzeitig an zu knurren, sodass wir beide auflachen.

„Ich glaube, das ist eindeutig das Zeichen, dass wir jetzt was essen gehen sollen“, kichert Liz, als wir uns einigermaßen vom Lachanfall beruhigen.

„Ja, das denke ich auch“, gebe ich lachend zurück und wir bezahlen. Einen kurzen Blick auf mein Handy verrät mir, dass es gerade mal 17:22 Uhr ist.

Liz hakt sich beim Rausgehen wieder bei mir ein, woraufhin sich ein Lächeln auf meinem Gesicht stiehlt.

Ich habe wirklich das Gefühl sie schon ewig zu kennen…

Sie zieht mich über die Straße in ein kleines Restaurant, was gleich gegenüber dem Hotel liegt. Als wir beide eine große Pizza bestellt haben, lehne ich mich zurück und beobachte Liz während sie weitererzählt.

 

Sie erzählt mir von ihren Beziehungen, seitdem wir uns kennen. Die meisten Kerle behandelten sie nicht gut und sie trennte sich nach kurzer Zeit von demjenigen. Ich half ihr immer dabei über sie wegzukommen, wofür ich immer wichtiger für sie war und wir schließlich beste Freundinnen wurden. Sie erzählte mir von zwei Typen, mit denen ich kurz was hatte als ich 16 war. Einer namens Damir habe ich in einem Club kennen gelernt. Sie kichert, als sie mir berichtet, dass ich nach zwei Dates keine Lust mehr auf ihn hatte, weil er zu anhänglich wurde. Kurz danach lerne ich Arthur kennen, den sie aber nie gesehen hat, aber nach meinen Erzählungen habe ich ihn gemocht, doch er musste plötzlich umziehen. Danach war erstmal nichts mit Jungs. Damit ist die Frage woher ich Arthurs Nummer habe für mich gelöst. Damirs Nummer habe ich bestimmt gelöscht, weil ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Oder ich habe sie ihm noch nicht mal gegeben?

 

Ich versuche mir beim Zuhören vorzustellen, wie wir beide waren. Wie ich war.

Liz scheint mir selbstbewusst, schlagfertig, witzig und trotz allem sensibel und verletzt zu sein. Ich mag sie immer mehr.

Auch versuche ich aus ihren Erzählungen herauszunehmen, wie ich so drauf war. Anscheinend bin ich nicht gerade zurückhaltend gewesen. Eher habe ich immer das gemacht, was mir passt und ich war wohl ziemlich stur. Doch andererseits muss ich wohl auch eine warmherzige Seite haben, mit der ich Liz immer half über die Kerle hinzukommen.

 

Als ich mit 17 Jahren in die 12. Klasse kam, fing sie mit 18 an zu studieren. Ihre Eltern haben sie auf die Bucerius Law School geschickt. Eine Privatuni in Hamburg, wo sie nun Jura studiert. Zuerst hatte ihr es dort nicht gefallen, weil sie dachte, dass Jura zu trocken für sie sei, doch mittlerweile gefällt es ihr und sie ist froh auf ihre Eltern gehört zu haben.

Liz ging nicht mehr regelmäßig zum Training, wenn sie zu sehr mit dem Studium beschäftigt war, während sie meint, dass ich immer vernarrter in den Kampfsport war. Dann erzählt sie mir von diesem Jahr. Während den Vorbereitungen für das Abi habe ich trotzdem nie das Training sausen lassen. Liz war während ihrer Semesterferien zwei Monate im Amerika. Sie war nicht auf der Party im Hotelapartment, weil sie an dem Tag gelandet ist und ihren Jet Lag ausschlafen wollte.

 

Ich merke, wie sich plötzlich Tränen in ihren Augen sammeln.

„Oh mein Gott, du weißt gar nicht als… als ich erfuhr, was passiert ist“, schluchzt sie und Tränen laufen über ihre geröteten Wangen.

Ich stehe auf und nehme sie sanft in die Arme während sie sich an meinen Schultern ausheult.

„Es… - hicks - du lagst da so…- hicks“

„Ssschh.“, beruhige ich sie und streichele über ihren Rücken. „Ich bin hier. Gesund.“

Vorsichtig löst sie sich von mir und wischt sich mit einem Taschentuch über das Gesicht.

„Ich war täglich in dem Krankenhaus, als du im Koma lagst. Doch deine Mum hat mir nach knappen 2 Wochen gesagt, dass ich mich auf meine Abschlussprüfungen konzentrieren soll und sie mich informieren wird, wenn du aufwachst. Aber…“

„…das hat sie nie getan“, vollende ich nüchtern den Satz. Ich spüre wie eine Wut sich in mir zusammenstaut und ich langsam meine Mutter nicht wieder erkenne. Seit wann ist sie denn so geworden? Warum hielt sie jeden meiner Freunde ab mich im Krankenhaus zu besuchen? Erst Linda, Chris und jetzt auch Liz. Mag meine Mutter sie alle denn nicht? Und wenn ja, wieso?

Ich warte bis Liz sich beruhigt hat, ehe ich ihr eine Frage stelle, die mir schon eine Weile auf der Zunge liegt.

„Liz, weißt du vielleicht, bei wem ich das letzte Jahr lang gewohnt habe? Und vor allem wieso?“

Das Mädchen blickt mich lange mit ihren kastanienbraunen Augen an, bevor sie mir antwortet.

„Ja, das weiß ich“, gesteht sie mit ernster Miene. „Ich bin oder war deine beste Freundin. Natürlich weiß ich alles über dich. Ich habe dir so gut wie alles erzählt, aber es gibt da noch etwas, was ich dir nicht erzählt habe. Hör zu, du hast diesen bescheuerten Gedächtnisverlust. Demnach hast du nicht nur Ereignisse vergessen, sondern auch deine Meinung zu deinen Mitmenschen. Ich…“

„Natürlich bist du meine Freundin. Auch wenn ich alles vergessen habe, heißt das nicht, dass wir nicht mehr befreundet sein können“, unterbreche ich sie, weil ich es unbedingt klarstellen will.

Ihre Miene hellt sich sofort auf und sie wirft ihre Arme um mich.

„Das -hicks- freut mich so, dass -hicks- du so denkst“, murmelt sie an meiner Schulter und lässt schließlich los. Ich lächele sie an, damit sie merken soll, dass ich es ernst meine. Sie erwidert es kurz doch verfällt dann wieder in einer ernsten Miene.

„Was ich dir sagen will ist, dass du einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben bist und ich möchte auch, dass es so bleibt. Es muss bescheuert sein alles zu vergessen. Aber du bist meine beste Freundin, demnach werde ich dich nicht anlügen, auch… auch wenn manche von mir erwarten.“ Sie holt hörbar Luft während ich versuche die Bedeutung dahinter zu verstehen.

Wer will denn, dass sie mich anlügt?

„Okay hör zu… Es gibt da einiges, was in dem letzten Jahr passiert ist, was sowohl dich, deine Familie und auch deine Freunde betrifft… Es wird dir bestimmt nicht gefallen, aber wenn du wirklich alles wissen willst, Silver, dann erzähle ich es dir auch.“

Ich kann nicht anders als sie verwirrt anzuschauen, weil ich kein Wort mehr verstehe. Sie scheint mich zu verstehen, denn sie fügt lächelnd hinzu: „Denk darüber nach, Silver. Aber wirklich gut. Es ist manchmal nicht immer gut alles zu wissen.“

Sie seufzt.

"Vor allem kannst du jetzt noch entscheiden welches Leben du willst."

Aber ich will alles wissen!

Plötzlich klingelt irgendwo ein Handy und ich sehe, dass es ihres ist.

Liz steht daraufhin mit einem entschuldigenden Blick auf während ich sitzen bleibe. Seufzend blicke ich aus dem Glasfenster auf die Straße.

Ich bin mir sicher, dass Liz mich bei keiner Sache angelogen hat. Doch es gibt noch so viele Fragen, die mich beschäftigen.

Bei ihr hatte ich nicht dieses komische Gefühl wie bei meiner Mutter oder manchmal sogar… bei Tyler. Von welcher Sache Liz auch immer gesprochen hat, was ich noch nicht weiß, ich muss es einfach wissen.  

Plötzlich erstarre ich. Mein Blick fällt auf eine Gestalt, die gerade dabei ist aus einem Wagen zu steigen. Ich würde diesen Wagen auf hundert Metern erkennen. Was macht er hier?

„Silver, das war meine Mutter. Ich habe schon für uns gezahlt und muss leider los“, höre ich Liz neben mir sagen während sie ihre Sachen packt.

„Ist gut“, gebe ich teilnahmslos von mir während ich diese Gestalt nicht aus dem Augen lasse.

„Soll ich dich nach Hause fahren?“, fragt Liz mich.

Ich schüttele nur leicht den Kopf während ich wie gebannt nach draußen schaue. Auf ihn.

„Ich habe am Mittwoch wieder Training. Komm doch mit und schau es dir an“, kommt es Liz, die mittlerweile neben mir steht und ungeduldig wirkt.

„Ja gut. Ich rufe dich an“, erwidere ich, blicke sie eine Millisekunde an ehe ich wieder zurück nach draußen schaue.

Ohne mit dem Blick abzuschweifen, umarme ich sie.

„Super, ich freue mich. Wir reden dann nochmal“, murmelt sie fröhlich an meiner Schulter und verschwindet eilig.

So schnell wie ich kann erhebe ich mich und verlasse das Restaurant während meine Augen auf ihn heften. Er trägt eine schwarze Lederjacke und verwaschene dunkelblaue Jeans, die seinen Körper ziemlich gut betonen. Vielleicht ist er als Beruf Model? Das würde erklären, warum er sich den Schlitten leisten kann.

Schnell schiebe ich meine Vermutungen zur Seite und konzentriere mich darauf mich durch die Leute zu drängen.

Ich beobachte ihn, wie er sich auch durch die Menschenmenge auf der anderen Straßenseite drängt. Dabei entgeht mir nicht, wie er sich andauernd umschaut, als würde ihn jemand beobachten. Und das tut ja auch eine.

Reflexartig streiche ich meine Haare glatt, sodass sie mir tiefer ins Gesicht fallen und zupfe etwas an meinem Rock während ich die Straße überquere.

Ich sehe, wie Jason sich nochmals umdreht. Wie eine Verrückte reiße ich den großen Typen, der - praktischerweise - neben mir die Straße überquert, vor mir, sodass dieser mich komplett verdeckt.

„Was…?“, erschreckt dieser sich, doch ich schiebe ihn gnadenlos über die Straße vor mich hin.

„Helfen Sie mir einfach über die Straße zu gehen“, murmele ich ungeduldig und schiele an seinem Arm vorbei, sodass ich Jason nicht aus den Augen verliere. Dieser hat sich mittlerweile weggedreht und läuft in eine Gasse neben dem Hotel. Was will er bloß da?

Mit einem Danke und kurzen Lächeln lasse ich meine Deckung wieder los, als wir den Bürgersteig erreichen.

Hinter mir höre ich noch, wie der Typ nach meiner Nummer fragt, doch ich ignoriere ihn. Ich komme mir vor wie in einer Verfolgungsjagd während ich dem Eisklotz durch die Gasse verfolge. Dabei halte ich etwa zehn Meter Abstand und bin unendlich froh darüber, dass ich heute Ballerinas trage, die keine Laute von sich geben.

Er durchquert alleine die Gasse und ich sehe ihm dabei zu, wie er anfängt eine Zigarette anzuzünden. Ich kenne diese Gasse zu gut, denn früher haben Tyler, Cindy und ich immer hier verstecken gespielt, weil hier überall weggeschmissene Möbel, viele große Mülleimer und ab und zu sogar ein Auto steht, welche einem förmlich zum Verstecken einladen.  

Es kommen mir gelegentlich Leute entgegen, die auch durch diese Gasse laufen, aber sie scheinen nichts mit Eisklotz zu tun zu haben.

Jason biegt nach einer Weile plötzlich vor mir in eine kleine und dunkle Abzweigung, in der ich noch nie war. Und das nicht ohne Grund.

Tyler hat mich immer weggezogen, wenn ich zu nah an dieser Abzweigung war. Er sagte mir immer, dass es dort verboten war verstecken zu spielen.

Ich lehne mich dich an der Wand gleich an der Ecke, die zu dieser Abzweigung führt. Jasons Schritte werden immer langsamer und irgendwann höre ich gar nichts mehr.

Was zum Teufel macht er bloß in so einem Ort? Und das auch noch alleine?

Neben mir stehen weggeschmissene Möbel und ich entdecke zwischen diesen einen großen offenen Schrank, dessen Öffnung zur Wand und nicht weit von mir steht. Instinktiv merke ich ihn mir als mein zukünftiges Versteck falls etwas sein sollte.

Ich traue mich nicht um die Ecke zu schauen. Stattdessen lausche ich angestrengt durch die Stille hinein während ich mich so dicht an die Wand presse wie es nur geht. Kurz darauf höre ich wie er Züge von seiner Zigarette nimmt und er sich dann heftig räuspert. Tja, das kommt von dem Rauchen, mein Lieber, denke ich mir mit einem Augenrollen. 

Daraufhin ist es wieder still. Bis…

„Na sieh mal einer an. Mein Buddy ist wieder da.“ Ich erstarre, als ich die raue und dunkle Stimme sofort erkenne.

„Komm einfach zur Sache. Was willst du?“, höre ich Jason förmlich knurren. Der scheint nicht gerade gut drauf zu sein.

„Du hast dich nicht verändert. Das finde ich gut.“ Das Grinsen war in der Stimme des Anderen nicht zu überhören.

„Die alten Regeln kennst du ja. Jetzt wollen wir die Liga mal wechseln.“

Verächtliches Schnauben von Eisklotz.

„Ist das dein Ernst? Reichen dir deine Alten nicht?“ Jason.

„Nein, ich will großes Geld machen. Und du wirst mir dabei helfen. Gehört ja immer noch zum Deal.“

Deal?

Angespannt presse ich jeden Millimeter meines Körpers an die kalte Mauer, wobei ich darauf achte, dass kein Teil über die Ecke zu sehen ist.

Was hat Jason mit diesem komischen Marc zu tun? Ich dachte die kennen sich nicht.

Ich ziehe scharf die Luft ein, als es mir klar wird.

Jason hat mich nicht weggezogen, weil er wütend auf mich war. Nein, er war wütend, weil er Marc kannte. Aber wieso?

„Und wie stellst du dir das vor?“, höre ich Jason genervt brummen.

„Oh komm schon, du weißt wie. Du hast Zugang zu den dicken Fischen durch deinen ach so tollen Großvater. Ich sag dir den Namen und du machst es, mehr ist es nicht“, kommt es gelassen von Marc, der - glaube ich - gerade auf die Schulter von Eisklotz tätschelt, womit er mir von Sekunde zu Sekunde unheimlicher wird. Wer ist es nur? Es ist bestimmt etwas illegales, was sie machen.

Nein Silver, die treffen sich nur zum Spaß in der gefährlichsten Gasse Hamburgs und unterhalten sich über das Wetter.

„Höhere Liga heißt auch höheres Risiko.“ Verdammt Eisklotz, red mal Klartext!  

„Was glaubst du warum ich meinen besten Mann dafür arrangiere? Mach es einfach, Jason. Oder willst du, dass ich deinem Shawty einen Besuch abstatte?“, kommt es von Marc und mit entgeht sein drohender Unterton nicht.

Shawty. So hat mich… nein, das kann nicht sein.

„HÖR AUF IMMER MIT IHR ZU DROHEN!“

Jasons plötzliches Brüllen und ein dumpfer Laut an der Wand lassen mich zusammenzucken. Ich male mir zögerlich im Kopf aus, was er eben mit Marc angestellt hat.

„HEY! Pass auf, wie du mit mir redest! Ich bin heute gut gelaunt, also lass ich dich damit einmal durchgehen. DU arbeitest für MICH. ICH sage, DU machst. Und wir werden uns immer HIER treffen, damit du nicht vergisst, was passieren kann, wenn du mir nicht gehorchst.“ Plötzlich fängt dieser Marc an höhnisch aufzulachen.

„Diese Gasse ist ein wahres Denkmal, nicht? Dieser Ort wird dir immer sagen, dass es für dich und deinem Shawty keine Zukunft geben wird. Vergiss das nicht.“

Dann höre ich die plötzlichen Schritte. Wie ein erschrockener Panther hüpfe ich in den Schrank und lausche den Schritten, die mittlerweile an der Ecke angekommen sind. Sekunden später entfernen diese sich in die andere Richtung. Einen Moment warte ich noch ehe ich vorsichtig aus dem Schrank heraus lunse. Er scheint weg zu sein. Aber es war nur einer. Ob…

Den Gedankengang kann ich nicht mehr ausführen, denn plötzlich kommt Eisklotz um die Ecke. Und in dem Moment sieht er wirklich aus wie ein Eisklotz.

Er starrt mich entgeistert an, als wäre ich von den Toten aufgestanden und jegliche Farbe weicht aus seinem Gesicht.

Oh oh…

 

Kapitel 18

 

Es kam mir vor wie gestern. Meine Beine trugen mich mit Lichtgeschwindigkeit durch die dunkle Gasse. Wie viele Kurven oder Abzweigungen sie hatte, war sowas von egal. Ich hätte sie alle mit geschlossenen Augen passieren können. So gut kannte ich mich hier schon aus.

Das Erste, was mir ins Auge fiel, war das plötzliche grelle Licht, das von den Straßenlaternen stammte. Dann steuerten meine Augen automatisch auf die Menschenmenge, die sich vor dem Eiscafe gebildet haben. Ohne zu Überlegen drängte ich mich durch sie alle hindurch. Ich achtete gerade noch so darauf, dass ich keinen zu Boden stieß, was mir ziemlich schwer fiel. Sie umkreisten irgendetwas. Irgendetwas war in der Mitte und ein ungutes Gefühl sagte mir, dass es etwas mit ihr zu tun hat.

Und dann kam der Todesstoß. Eigentlich war sie diejenige von uns beiden gewesen, die dem Sterben näher lag, doch, was in dem Moment durch mein Herz stach, konnte man nur einen Todesstoß nennen. Ich starrte auf ihren regungslosen Körper und spürte, wie unendliche Gedanken durch meinen Kopf gingen. WAS ZUR HÖLLE IST PASSIERT?

Das Rauschen in meinen Ohren ließ mich alles außen rum vergessen. Ich fühlte mich komplett taub. Es gab in dem Moment nur noch sie und mich. Und vielleicht noch Gott. Ja, ich, Jason Coldon - stadtbekannter Junggeselle, Arschloch Nr. 1, Hobbyschläger, Drogendealer und noch viele andere unschöne Auszeichnungen - betete zum ersten Mal in seinem verschissenen Leben zu Gott.

Ich war mir sicher: Der da oben musste ziemlich schön geschaut haben, dass jemand wie ICH anfing zu beten. Aber ich würde in dem Moment alles tun, um dieses Mädchen zu retten. Sie war der Grund, warum ich mein Leben endlich ein Leben nennen konnte und wenn sie nicht mehr ist, dann sollte ich auch nicht mehr sein. Ein gefallener Engel, wie man es immer in den Schnulzenfilmen oder Romanen nannte. Und der da oben sollte doch seine Leute retten!

 

Das Gefühl, diese verdammte Angst, die einem gnadenlos alles an Gefühl und Kraft enzieht, werde ich wohl nie vergessen. Und das Gefühl, was mir JETZT jegliche Farbe aus dem Gesicht nimmt und alle Kraft aus meinen Muskelfasern entzieht, kommt dem ziemlich nahe.

Ich trete einen Schritt nach vorne und stehe dicht vor ihr. Zwischen uns würde kein Blatt mehr passen, doch sie weicht nicht zurück. Nicht einen Millimeter.

Trotzdem spüre ich, wie sie scharf Luft holt und ihr schmaler Körper anfängt leicht zu beben. Ja, das kommt davon, wenn sie so etwas tut. Warum zur Hölle ist sie jetzt hier?!

Mit der kältesten Stimme, die ich hervorbringen kann, sage ich ihren Namen. Sie zuckt sofort etwas zusammen, das kann ich spüren. Immerhin berühren sich unsere Hüften und der einzige Abstand zwischen uns liegt zwischen unseren Gesichtern.

Ich starre ihre smaragdgrünen Augen an. Ihre Pupillen flimmern in dem Moment heftig. Es ist nicht schwer drauf zu kommen, dass sie gerade Angst verspürt. Vor mir.

„Du kommst jetzt mit mir“, befehle ich ihr. Ohne auf ihre Antwort zu warten, ziehe ich sie mit mir mit. Weg von hier. Weg von der Gasse. Von ihm.   

Zu meiner Verwunderung gibt sie keinen Laut von sich während ich sie zu meinem Wagen schleife, wobei ich mich immer wieder umschaue, ob er oder einer seiner Männer zu sehen ist. Zwar gibt es unendlich viele von ihnen, doch sie haben alle eine Gemeinsamkeit… Die auch ich leider Gottes mit mir trage.

„Zieh die an“, kommandiere ich im Wagen und halte ihr meine Sonnenbrille vor die Nase während ich selber eine anziehe. Nach einem skeptischen Blick auf mir nimmt sie diese entgegen und trägt sie auf. Ich habe keine Sekunde Zeit zu schauen, wie sie mit meiner - für sie übergroßen - Sonnenbrille aussieht, was bestimmt unglaublich süß aussieht. Nein, denn ich muss hier so schnell wie möglich weg.

Ich gebe so viel Gas wie es noch gerade so erlaubt ist, sodass mich kein Polizist aufhalten kann. In meinem Kopf gehe ich durch wohin ich sie bringen kann. Beide Apartments schließe ich sofort aus. Das wäre ein offenes Kartenspiel für seine Männer. Es gibt nur noch einen Ort, wo wir in Ruhe reden können, bevor ich sie nach Hause bringe. Am liebsten würde ich sie nur noch bei mir behalten. Selbst ein Auge auf sie werfen. Doch das war genau so wahrscheinlich, wie dass ich morgen als eine Frau aufwachen werde.

Bevor wir aussteigen ziehe ich ihr noch eine Cappy von mir über. Der Anblick, der sich mir von ihr bietet, ist zum Einbrennen in meinem Gedächtnis wert, doch ich verziehe keine Miene.

Mit einer Hand ziehe ich sie mit mir mit. Diesmal gehe ich nicht zu der offenen Seite am kleinen See. Ich führe sie auf die andere Seite, die einer dunklen Dichtung eines Waldes gleicht. Kurz darauf treten wir in den geschlossenen Pavillon ein, welches hier steht. Mir entgeht nicht, wie neugierig sie es mustert. Wortlos lasse ich ihre Hand los, wobei ich den kleinen Verlust mit einem Ziehen in meinen Herzen vernehme.

Vor mir zieht sie die Cappy und die Sonnenbrille aus, was ich ihr nachmache. Wir stehen uns gegenüber während jeder von uns in dem Moment den anderen mustert. Jeder von uns will wissen, was in dem Anderen vorgeht.

„Jetzt sag mir mal, was du bitte schön dort gemacht hast“, fordere ich sie auf, dabei entgeht mir nicht, wie kalt sich meine Stimme anhört.

„Ich bin dir gefolgt“, gibt das dunkelhaarige Mädchen unbeirrt zurück. Ich bewundere sie in dem Moment dafür, dass sie sich nicht von mir verschrecken lässt. Im Gegenteil: Sie versucht mich mit ihren smaragdgrünen Augen zu durchbohren.

„Das hättest du nicht tun sollen. Es geht dich nichts an“, entgegne ich langsam wütend und nehme einen Schritt nach vorne.

„Hab ich aber“, kommt es trotzig von ihr. „Und jetzt sag mir, was du mit diesem Marc zu tun hast.“

Und das ist der Moment, wo alle Sicherungen von mir durchbrennen. Mit einem weiteren Schritt nach vorne presse ich ihren schmalen Körper an die Wand während ich sie nicht aus den Augen lasse. Meine Fäuste ruhen beide seitlich neben ihr an der Wand.

„Jetzt hörst du mir mal zu, Kleine. Du hast mir nichts zu befehlen, ist das klar?“ Ich beuge mein Gesicht näher zu ihr, sodass sich unsere Nasenspitzen fast berühren. Dabei steigt mir ihr verdammt verführerischer blumiger Duft mit einem Hauch Kokos in die Nase, doch ich ignoriere es so gut wie möglich. „Steck deine neugierige Nase nicht in fremde Angelegenheiten und kümmere dich um deinen eigenen Scheiß.“ Sie soll es endlich kapieren, man!

Vor mir holt das Mädchen scharf Luft. Trotzdem hält sie meinem Blick stand. Sie bewegt sich keinen Millimeter.

Sie öffnet leicht ihre dunkelrosa, geschwungenen Lippen, doch über diese kommen keine Worte. Automatisch gleitet mein Blick zu ihren Lippen und ich muss mich mit aller Kraft zusammenreißen, um nicht in Versuchung zu kommen. Und das ist verdammt schwer, wenn nicht sogar unmöglich. Nicht, wenn ich oben drauf den Geschmack von ihnen bereits kenne.

Entschlossen reiße ich mich von dem Anblick und schaue ihr wieder in die Augen. Zwar besteht wieder die Gefahr, dass ich mich in diesen verliere, doch lieber das als eine verbotene Berührung.

In ihrem Blick liegt so vieles. Nur zu gerne würde ich wissen, was gerade in ihrem hübschen Kopf vorgeht.

Plötzlich schließt sie vor mir ihre Augen. Von ihr geht ein ruhiger Atem aus während ich sie verdattert anschaue. Ich kapiere in dem Moment gar nichts mehr.

Doch dann sehen mich wieder smaragdgrüne Augen an. Aber ihre Farbe hat sich geändert. Sie sind dunkler geworden.

„Ich erinnere mich wieder“, haucht das Mädchen plötzlich leise.

Wie ein kaputter Rekorder spiele ich diesen Satz immer wieder in meinem Kopf ab, weil ich es nicht verstehen kann.

Oder auch will.

„Was meinst du?“, bringe ich noch gerade so über die Lippen und versuche dabei nicht nervös zu klingen.

Sie hält meinem Blick stand während sie mir antwortet.

„An alles. Ich erinnere mich wieder.“

Automatisch gleiten meine Fäuste von der Wand und ich erlaube es mir sie verwirrt anzuschauen. Mir fehlen die Worte.

Auf diesen Moment bin ich nicht vorbereitet.

Silver lächelt mich daraufhin an.

„Ich erinnere mich… an uns“, spricht sie weiter und nimmt mir damit den Boden unter den Füßen weg.

Wir starren uns einige Minuten einfach nur an.

„Das kann nicht sein“, antworte ich schließlich und ich spüre wie mein Herz sich zusammenzieht.

Nein, das KANN nicht sein.

Das DARF nicht sein.

„Warum?“, kommt es sichtlich verwirrt von ihr. Sie soll aufhören mich mit ihrem Blick zu durchbohren.

„Weil du es vergessen hast und es sollte auch so bleiben“, knurre ich und verfluche den Arzt, der mir nicht die ganze Wahrheit gesagt hat.

„Warum möchtest du nicht, dass ich mich an dich erinnere?“, höre ich sie fragen. Ihre Stimme klingt klar, aber auch neugierig.

Erschöpft stütze ich die Hände neben ihr an der Wand und hole tief Luft, ehe ich ihr antworte.

„Ich möchte, dass du mich vergisst. Dass du UNS vergisst. Wir haben keine Zukunft miteinander und das meine ich todernst, Silver. Das darf nicht sein…“ Ich höre auf zu reden, weil meine Stimme langsam versagt. Verdammt, reiß dich zusammen Coldon!

„Ich kann nicht“, haucht sie vor mir und tretet dicht an mich heran, sodass unsere Lippen sich fast berühren. Ihr Duft vernebelt mir alle Sinne und das ist der Moment, wo ich mich einfach nicht mehr beherrschen konnte. Mit einem Ruck presse ich sie wieder zurück an die Wand und in der nächsten Sekunde liegen meine Lippen auf ihren.

Sie sind wie immer so verdammt weich und gehören verboten.

Kein einziger Widerstand kommt von ihr. Stattdessen verschmelzen sich unsere Lippen in einen Kuss, auch wenn es von ihrer Seite etwas zögerlich kommt. Vorsichtig tippe ich mit der Zunge für Einlass und als sie ihn mir gewährt, war es das auch mit meiner Vorsicht. Ich küsse sie wie ich es noch nie getan habe. Meinerseits ist dieser Kuss einer voller Verzweiflung, Angst, Sehnsucht, aber vor allem Begierde, die ich schon zu lange mit mir trage.

Sie stöhnt leise in den Kuss hinein, was mich nur verrückter macht. Ich lege meine Hände an ihre Hüften und presse sie an meine. Daraufhin spüre ich wie ihre Hände durch meine Haare fahren, was nun mich zum Stöhnen bringt. Durch meinen Körper dürfte in dem Moment tausend Watt strömen, so heftig glühe ich.

Kurz bevor ich ganz über sie herfalle, löse ich mich schweratmend von ihr. Auch sie keucht nach Luft, denn immerhin bin ich derjenige, der sie über sie hergefallen ist.

Eine Weile stehen wir so da. Meine Hände noch an ihren Hüften, doch zwischen uns liegt ein Sicherheitsabstand.

„Es geht nicht“, sage ich entschlossen und knirsche mit meinen Zähnen, wobei ich hoffe, dass sie es nicht sieht.

„Sag mir wenigstens wieso“, kommt es bestimmend von ihr während sie mich wieder mit ihrem Blick durchbohrt.

Ich habe fast vergessen wie hartnäckig Silver sein kann.

„Weil es das Ende bedeutet. Für uns. Für mich und für dich. Vor allem aber für dich. Das kann ich nicht zulassen“, erwidere ich. Ich weiche ihrem Blick aus, den ich jetzt überhaupt nicht ertragen kann.

„Hör zu“, setze ich nochmal an. „Ich freue mich für dich, dass du wieder erinnerst, aber das heißt nicht, dass wir neu anfangen können. Im Gegenteil: Lebe du dein Leben weiter und ich meins. Stell bitte keine Fragen mehr, ich kann sie dir nicht beantworten.“

Dann schaue ich sie abwartend an. Aber ich kann ihren Blick nicht deuten. Nicht mal ein bisschen. Dabei weiß ich eigentlich immer, wenn auch nur ansatzweise, was in ihr vorgeht.

Plötzlich tretet sie einen Schritt zurück und lehnt sich behutsam an der Wand hinter ihr. Ich bleibe verdattert auf meiner Stelle.

„Ich… ich habe gelogen“, murmelt sie und ich habe es fast nicht gehört, wäre es um uns nicht so still.

„Wobei?“, hake ich nach, doch in dem Moment kommt eine Vermutung, die mein Atem beschleunigt. Das kann nicht sein. Das hat sie nicht getan…

„Ich erinnere mich nicht… Es… es war gelogen“, stottert sie herum und blickt mich vorsichtig an.

 

Kapitel 19

 

Wenn Blicke töten können, naja… dann wäre ich nicht mehr.

Beschreibungen wie eiskalt, wütend oder bedrohlich zusammen kommen nicht mal ansatzweise an diesen Blick an, der jetzt aus ihm schießt.

Wenn ich mir vorhin in der neuen Klasse noch wie ein Jungtier unter den Raubtieren vorkam, dann steht jetzt wohl das Alphatier höchstpersönlich vor mir.

Doch er ist nicht mein einziges Problem: Mein Körper steht immer noch unter dem Nachbeben dieses heftigen Kusses - wenn man es noch so nennen konnte - und auch  meine Gedanken machen mich noch völlig fertig.

In dem Moment entschließe ich mich einfach auf das Wesentliche zu konzentrieren: Das Atmen.

Der Eisklotz hat sich jetzt etwa 30 Sekunden lang nicht gerührt. Er steht bloß da und starrt mich durchdringlich an. Auch mit einem Meter Abstand sehe ich wie seine Augen immer dunkler werden. Als würde ein heftiges Gewitter über die Antarktis ziehen. Genau so sehen seine Augen in dem Moment aus.

„Ich…“, setze ich vorsichtig an, doch werde sofort unterbrochen, als er mit einem Schritt wieder dicht vor mir steht. Bitte Gott steh mir bei…

Sofort steigt mir sein intensiver herber Zimtgeruch heftig in die Nase, sodass meine Gedanken zu dem, was in den letzten zwanzig Sekunden passiert ist, schweifen und ich merke, dass meine Wangen unwillkürlich anfangen zu glühen.

Zum Glück ist es um uns schon ziemlich dunkel und ich bete innerlich, dass er es nicht sieht.

Sein Atem ist so heftig, sodass ich die scharfen Luftzüge an meinem Gesicht spüre. Doch ich will nicht kapitulieren. Nein, nicht wenn ich schon so nah dran bin.

Entschlossen starre ich zurück. Ich bin auf das Schlimmste vorbereitet. Wenn ich einen Sturz aus dem 3. Stockwerk eines Luxushotels überlebe, dann wohl auch jemanden wie ihn.

Oder..?

 

Er stützt eine Hand seitlich neben meinem Kopf während seine eiskalt blauen Augen mich fixieren. Wenn ich meinen Kopf in dem Moment auch nur um einen Millimeter zur Seite drehe, würde ich sofort auf seinen Unterarm stoßen.

Mit der anderen Hand umfasst er fest mein Kinn und hebt es so hoch an, sodass ich gezwungen bin ihm direkt in die eiskalten Augen zu schauen.

Vor mir holt er scharf Luft bevor sich seine verführerischen Lippen öffnen. Halt nein! Was denke ich da?

„Haygilton, du hast echt Feuer unterm Arsch“, knurrt er dicht vor mir. Ich habe Mühe diesen intensiven Blick von ihm standzuhalten. Doch ich schaffe es.

„Das hätte ich nicht von dir gedacht.“ Jason lacht zu meiner Verwunderung kurz auf und sein Mund verzieht sich zu einem quälenden Grinsen. Doch eine Sekunde später blickt er mich wieder mit todernster Miene an.

„Ich möchte, dass du mir jetzt eins versprichst. Und Silver: Ich sorge dafür, dass du es bitter bereust, wenn du es nicht tust. HAST du mich verstanden?“

Der dunkle und drohender Unterton erinnert mich an diese eine Person, die ich mal angerufen habe, doch es sind trotz allem zwei  verschiedene Stimmen. Und die von Jason jagt mir in dem Moment tausendmal mehr Angst ein.

Ich nicke zur Antwort wie ein willenloser Roboter.

„Du wirst keine Fragen mehr über mich stellen. Nicht mir oder sonst jemand anderem. Du wirst mich nicht mehr verfolgen und falls du mich siehst, ignorierst du mich. Ich meine es ernst, Silver. Ich. bin. für. dich. gestorben, verstanden?“

Obwohl ich ihn in dem Moment am liebsten mit Fragen bombardieren will, weiß ich, dass es hoffnungslos ist. Ich würde in dem Moment nicht mal von ihm rausbekommen, was für eine Zahnpasta er benutzt.

Obwohl diese Information auch nicht ganz uninteressant ist, denn so wie der Kuss geschmeckt hat…

„Ich… verspreche es“, höre ich mich selbst sagen.

Vor mir atmet Jason kurz erleichtert aus und ich merke, wie sein Körper sich etwas entspannt. Ich hingegen fange an mit dem Mund zu atmen, weil ich seinen Geruch nicht mehr lange ertragen kann ohne an den Kuss zu denken.

Schließlich wendet er sich von mir ab, doch kommt gleich darauf mit der Cappy und Sonnenbrille, die ich vorhin abgelegt habe, wieder. Ich wage mich nicht zu bewegen, sondern lasse es einfach nur über mich ergehen. Eigentlich habe ich erwartet, dass er mir die Cappy gewaltsam auf den Kopf haut und die Brille ins Gesicht rammt so wie er immer noch schaut. Doch nichts von all dem geschieht.

Stattdessen streicht er mir vorsichtig sämtliche Haarsträhnen nach hinten bevor er mir die Cappy tief ins Gesicht zieht. Dann setzt er mir und ihm jeweils eine Sonnenbrille auf.

„Ich fahre dich jetzt nach Hause.“

 

 

Auf der Fahrt sagt - mal wieder - keiner von uns etwas. Das ist mir auch recht so. In meinem Kopf fahren nämlich sämtliche Gedanken Achterbahn. Ich kann mich noch nicht mal darauf konzentrieren, nur an eine einzige Sache zu denken.

Nach etwa einer Viertelstunde steht der Wagen wieder auf seinem Stammplatz. Ich merke, dass Eisklotz keine Anstalten macht auszusteigen, und verstehe sofort.

„Danke… für’s Fahren“, murmele ich ohne ihn anzuschauen und steige aus, denn er blickt nur stur nach vorne. Beim Aussteigen vernehme ich noch ein „Denk an dein Versprechen“ von ihm. Was ein Eisklotz. Verdammte Warm-und-Kalt-Dusche!

Ohne zurück zu schauen betrete ich den Bürgersteig und setze den Heimweg an. Ich bin in dem Moment so verdammt aufgewühlt, aber vor allem bin ich wütend. Wütend auf ihn.

Hinter mir höre ich wie er den Wagen quietschend umdreht und wegfährt. Trotz meines Stolzes drehe ich mich doch um und starre den Wagen nach. Ihm nach.

Mir ist klar, dass er mich nicht mehr sehen will. Das hat er eben mehr als deutlich gezeigt. Schon wieder habe ich diese eiskalte und auch etwas angsteinflößende Seite von ihm erlebt. Wenn ich an das letzte Mal denke, wo er mich nach Hause gebracht und am Ende in seine kräftigen Armen gezogen hat, war es diesmal das wieder komplette Gegenteil. Ich werde einfach nicht schlau aus diesem Kerl… Er ist einfach ein unlösbares Rätsel!

Es ist schon ziemlich dunkel und mit einem Blick auf dem Handy sehe ich, dass es kurz nach 8 ist. Ich fange an zu joggen, weil mir mein Vater eben eingefallen ist, der mir noch das Haus zeigen wollte bevor er morgen wegfliegt.

Als ich unsere Haustür öffne, höre ich bereits meine Mutter in der Küche.

Mit wenigen Schritten stehe ich neben ihr und mache mir ein Glas Wasser.

„Hey Schatz. Wo… was hast denn du bitte da an?“, kommt es verblüfft von meiner Mutter, die mit dem Kochen stoppt, um mich ausgiebig zu betrachten.

Jetzt erst merke ich, dass ich immer noch wie eine Mischung aus Ladendieb und Schulmädchen aussehe.

Schnell ziehe ich seine Sachen aus und verstaue sie in meiner Tasche.

„Eh… es war so sonnig heute. Da hat mir ein Mitschüler naja.. die hier gegeben“, murmele ich gerade noch so überzeugend.

„Das ist aber nett von deinem Mitschüler. Wo warst du eigentlich so lange?“, fragt meine Mutter stattdessen während sie anfängt den Tisch zu decken.

„Habe ich dir doch geschrieben, Mum. Ich war die ganze Zeit mit einer Freundin essen“, erwidere ich und nehme einen Schluck Wasser.

„Welche Freundin denn, Schatz?“, kommt es neugierig von ihr.

„Liz“, antworte ich und schiele zu ihr herüber.

„Ahja. Eine Freundin namens Linda hat, wie du sagtest, die Bücher gebracht. Sie liegen in deinem Zimmer. Wie war dein erster Schultag?“, hakt sie weiter nach während sie in einem Topf rührt. Mir ist eben bei der Erwähnung von Liz nicht entgangen, dass sie in ihrer Bewegung kurz inne hielt.

„Ja, es war gut“, erwidere ich. „Tyler hat mich zur Klasse gebracht. Mir gefällt meine Tutorin und die Klasse ist auch ganz okay.“

Bei der Antwort leuchten die  Augen meiner Mutter förmlich während sie mir antwortet: „Zwischen dir und Tyler… ist doch alles gut oder?“

„Ja ist es. Mum, ich habe keinen Hunger und habe viele Hausaufgaben. Iss du ruhig ohne mich. Ich gehe mal Dad suchen.“, murmele ich zur Antwort und erhebe mich. Eigentlich will ich mit ihr noch über die Sache mit den Besuchen meiner Freunde reden, jedoch bin ich zu erschöpft von dem heutigen Tag.

Meine Mutter blickt mich kurz stumm an, doch nickt schließlich.

„Ach Silver, vergiss nicht, dass du am Freitag zur Kontrolle in die Klinik musst“, erinnert sie mich plötzlich.

„Ist gut.“

Ohne auf ihre Antwort zu warten, stelle ich mein Glas ab und begebe mich auf die Suche nach meinem Vater. Er steht im Schlafzimmer und packt gerade seinen Koffer.

„Hey, Dad“, begrüße ich ihn und setze mich auf das große Bett.

Mein Vater küsst mich zur Begrüßung kurz auf die Stirn ehe er sich wieder den hundert Krawatten vor ihm wendet.

„Kleine, ich bin gleich fertig. Gib mir 20 Minuten.“

„Kein Ding, ich ziehe mich in der Zeit um“, antworte ich und laufe daraufhin in mein Zimmer. Müde schmeiße ich meine Klamotten von heute in den Wäschekorb und schlüpfe in eine dünne Jogginghose und ein Top bevor ich das Zimmer wieder verlasse. In dem Moment kommt mir mein Vater im Flur entgegen.

Die Haustour dauerte etwa eine halbe Stunde. Das Haus ist größer als ich es mir vorgestellt habe, aber leider auch steriler, als es mir schon sowieso lieb ist. Zuerst führt er mich zum Dachboden, der schon mit alten Möbeln und Papierkram überfüllt worden ist, sodass es für mich nicht mehr von Belangen ist. Im Obergeschoss sind insgesamt zehn Zimmer. Subtrahiert die beiden Schlafzimmer gibt es noch zwei Badezimmer, zwei Arbeitszimmer, einen Abstellraum, Fitnessraum, Minibibliothek und Gästezimmer.

Das Untergeschoss besteht aus dem großen Wohnzimmer, der Küche, ein Badezimmer und dem langen Flur.

Jedes Zimmer besitzt programmierte Rollläden und eine Alarmanlage, die sich über das ganze Haus hin zieht. Im Ober- und Untergeschoss gibt es jeweils einen Schalter, womit man ihn an und abschalten kann.

Als ich meinen Vater frage, warum wir auf einmal eine Alarmanlage haben, meint er, dass er für volle Sicherheit sorgen möchte, wenn er es sich schon mit seinem neuen Lohn leisten kann.

Dann zeigt er mir den Hauptschalter, womit man jegliche Türen und Ausgänge dieses Hauses kontrollieren kann. Ich nehme alles unkommentiert auf, doch komme mir vor wie in einem Hightechgefängnis. Was wäre wohl, wenn ich mal Hausarrest habe? Nicht mal aus dem Fenster kann ich unbemerkt aussteigen..

Aber wenn sie eben so scharf auf überdimensionale Sicherheitstechnik sind, soll es eben so sein.

Jedes Mal, wenn wir die Treppe nehmen müssen, laufe ich immer noch wie ein schleichendes Raubtier auf zwei Beinen.

Ob ich jemals dieses mulmige Gefühl los bekomme?

Nach der Tour verabschiede ich mich schon mal von meinem Dad, denn mir fallen die Augen fast vor die Füße, so müde bin ich. Er wird morgen früh zum Flughafen fahren, wo ich bestimmt noch im Land der Träume verweile.

„Silver, ich bin am Sonntag wieder da. Sei ein braves Mädchen und pass bitte auf dich auf, ja?“, murmelt mein Vater an meiner Schulter und gibt mir einen Kuss auf den Kopf.

„Mach ich, Dad. Du aber auch“, erwidere ich und unterdrücke die Tränen, die sich hochkämpfen wollen. Verdammt Silver, sei nicht immer so eine Heulsuse!

„Das mache ich immer“, grinst dieser mich an. 

 

Obwohl ich physisch am Ende bin, habe ich noch schnell die Hausaufgaben für morgen gemacht, bevor ich ins Bett gehe. Als ich mich in meine Decke eingekuschelt habe, lasse ich endlich meine Gedanken freien Lauf.

Ich habe heute Morgen nicht zu Unrecht dieses Gefühl gehabt, dass mich dieser Tag viele Nerven kosten wird.

Erst die Sache mit Tyler, dann Seth, Liz und schließlich auch noch… Eisklotz?

Naja als einen Eisklotz kam er nicht gerade rüber, als er so über mich hergefallen ist. Ich hatte wirklich alles erwartet, aber das? 

Ich hatte ihn sooo nah dran. Er hatte mir wirklich geglaubt! Das war der Moment, wo ich die Fragen stellen kann, aber nein! Ein Kuss und meine Pläne werden alle über Bord geworfen und ich wurde einfach aus der Bahn gerissen. Das war doch nicht fair! Warum muss Eisklotz gleichzeitig so furchtbar kalt und dann wieder so.. das Gegenteil sein?!

Zögernd taste ich mit den Fingern meine Lippen ab.

Wie ist es bloß zu diesem Kuss gekommen? Ich wollte doch eigentlich nur austesten, wie er reagiert, wenn er denkt, dass ich mich erinnert habe. Und es hat geklappt.

Ich kann nicht verhindern, dass mein Mund sich zu einem triumphierenden Lächeln verzieht. 

Wusst‘ ich’s doch, dass er mich schon vor dem Unfall kennt. Aber so?

Hatten wir etwa etwas miteinander? Und hatte er plötzlich wieder Lust empfunden, sodass er mich einfach küsst? 

Ich habe einfach total ins Schwarze geraten, aber dieser dunkle Blick von ihm hat ihn wirklich verraten. Außerdem hat er die ganze Zeit von „uns“ gesprochen.

Aber Eisklotz und ich…?

Als ob! 

Es fällt mir einfach so unheimlich schwer uns beide vorzustellen.

Doch falls wirklich zwischen uns etwas war. Wieso ist es denn so schlimm für ihn, dass ich es nicht wissen durfte? Was meinte er damit, dass es das Ende bedeutet?

Ein kalter Schauer läuft über meinen Rücken, als ich an diesen Marc denken muss.

Nach dem Gespräch zwischen den beiden in der Gasse zu urteilen, erledigt Jason irgendwelche krummen Dinger für Marc. Irgendwas hat dieser in der Hand, sodass Jason auf ihn hören muss, obwohl er es anscheinend nicht will. Aber was?

Diese Shawty… wer ist das? Hat er mich nicht auch mal so genannt? Vielleicht war es ja ausversehen…

Gott ist das kompliziert!

Und wenn er schon eine Freundin oder zumindest ein Mädchen hat, das ihm anscheinend so wichtig ist, warum zum Teufel hat er mich dann geküsst?

Wieder muss ich frustriert feststellen, dass meine Wangen anfangen zu glühen.

Es ist eigentlich mein erster Kuss. Theoretisch gesehen ist es mit diesem Damir gewesen, aber ich erinnere mich ja nicht mehr daran also jaaa es ist mein GOTTVERDAMMTER ERSTER KUSS!!!

Und jaaa ich habe ihn erwidert, weiß der Teufel was mich da geritten hat.

Aber er war wirklich nicht ohne. Er war anfangs noch sanft und zögerlich, doch kurz darauf so heftig und fast schon… zügellos? Küsste dieser Kerl denn jede so?!

Mit einem verächtlichen Schnauben drücke ich mein Gesicht in das weiche Kissen und stöhne frustiert rein.

Ich muss wissen, wer diese Shawty ist! Was ist das überhaupt für ein Name?

Mit noch geschlossenen Augen taste ich nach meinem Handy und suche schließlich den Namen per Facebook. Den verpassten Anruf von Tyler ignoriere ich. Ich muss frustriert feststellen, dass es in ganz Deutschland niemanden mit diesem Namen gibt.

War das vielleicht die Abkürzung von einem Namen?

Verbissen darauf die Person, die Eisklotz anscheinend so wichtig ist, herauszufinden, gebe ich ihn in Google ein. Kurz darauf springen mir sämtliche Seiten mit demselben Inhalt entgegen.

 

Definition - Shawty:

Süße [attraktiv]; sexy Frau

 

„Oh“, entkommt es mir. Genervt haue ich eine Hand auf meine Stirn. Ein Kosename. Natürlich.

Dieser Gedächtnisverlust lässt mich auch die einfachsten Sachen vergessen…

Aber wenn es ein Kosename ist und er mich einmal so genannt hat, dann…

Wie von einer Tarantel gestochen schnelle ich vom Bett hoch, doch mir wird augenblicklich so schwindlig, sodass ich mich wieder seufzend hinlege.

Seine Shawty… das bin doch nicht etwa ich? Das ergibt keinen Sinn…

„Nein“, murmele ich vor mich hin, als ich an das denke, was mir Tyler am Morgen gestanden hat.

Tyler und ich waren kurz davor zusammen zu kommen, das heißt, dass ich das mit Eisklotz ausschließen kann.

Ich muss zugeben, dass es mich nicht wundert, denn mittlerweile bin ich mir sicher, dass ich schon damals in Tyler verliebt war. Aber warum haben wir dann so lange gebraucht, um zueinander zu stehen? 

Plötzlich muss ich an den angeblichen Streit in unserer Clique denken, von dem mir David erzählt hat.

Tyler hat kein Wort darüber fallen lassen. Vielleicht sollte ich ihn fragen, immerhin hat er nun ein Versprechen gegeben…

Das Vibrieren meines Handys reißt mich prompt aus den Gedanken.

„Tyler?“, murmele ich müde gegen das Handy.

Auf der anderen Seite höre ich wie er erleichtert ausatmet. „Ich dachte schon, du bist entführt worden“, witzelt er. Seine Stimme klingt rau und fast genauso müde wie meine. Es ist ja auch kurz vor Mitternacht.

„Ich habe mein Handy liegen gelassen. Weshalb rufst du an?“ Mit Mühe unterdrücke ich ein herzhaftes Gähnen. Sollte ich ihn jetzt fragen? Nein, das mache ich lieber persönlich.

„Das habe ich dir heute in der Schule doch versprochen. Außerdem wollte ich fragen, ob alles okay bei dir ist. Ich meine die neue Klasse und so… vorhin am Tisch wollte ich nicht so nachfragen wegen Seth und Zen.“

„Was soll ich sagen, ich hab’s überlebt. Aber danke, dass du so darauf achtest, dass mein Geheimnis sicher bleibt.“ Ja, ich war ihm dafür wirklich unheimlich dankbar.

„Du bist meine beste Freundin. Ich würde weitaus mehr für dich tun“, höre ich ihn sagen und muss anfangen zu kichern.

„Achja pass auf, dass ich es nicht ausnutzen werde“, scherze ich und ziehe die Decke höher an mich heran während ich kurz gähne.

Auf der anderen Seite höre ich wie er rau lacht bevor er mir antwortet.

„Eigentlich wollte ich dich noch fragen, ob du am Freitag Zeit hast zu unserer Meisterschaft zu kommen. Tobias und Seth sind auch dabei.“

„Um Cheerleaderin für dich und die Jungs zu spielen?“, murmele ich lächelnd und schließe die Augen, weil sich meine Lider wie Zement anfühlen.

„Du hast es erraten. Also?“

„Mhhhmm.“

„Hey Silver, wie findest du Tobias und die Jungs so eigentlich? Ich meine, für Tobias ist es ja nicht euer erstes Treffen und naja…“

„Ich mag ihn, Ty. Es ist auch nett von ihm, dass er mein Geheimnis bewahrt und mitgespielt hat“, murmele ich und kann mir den  nächsten Satz nicht verkneifen. „Und ganz besonders, weil er mit mir einer Meinung war.“

Ich höre wie mein bester Freund auf der anderen Seite schnaubt. Statt darauf einzugehen, fragt er mich plötzlich: „Und Seth? Wie findest du ihn?“

Eine Weile zögere ich ehe ich ihm die Frage beantworte.

„Er ist ein Pokerface, der immer schlecht drauf ist, was soll man sonst zu ihm sagen?“

„Ja, der ist immer so. Ich habe von einigen gehört, dass er dich zur Bücherei gebracht hat“, gesteht er plötzlich.

„Ja, das hat er.“ Ich will wirklich nicht auf Seth näher eingehen. Stattdessen stelle ich ihm eine Frage, die mir so eben eingefallen ist: „Reden denn welche in der Schule über mich?“

„Alle“, ist seine knappe Antwort, woraufhin ich genervt seufzen muss.

„Ach komm, lass die doch. So ist die Schule“, versucht Tyler mich aufzumuntern.

„Mhhhmm“, murmele ich und muss wieder gähnen.

„Du bist eben interessant für die. Nicht nur wegen dem Unfall. Sondern generell, weil die nicht durch dich durchblicken. Deswegen lass sie und deren Tratsch…“

„Mmmmm. Ty ich lege jetzt auf, sonst wirst du gleich ein Monolog führen müssen“, bringe ich noch mühselig über die Lippen.

 „Na schön. Schlaf gut, Silver“, lacht er und legt auf.

 

 

In der Nacht träumte ich von den verrücktesten Dingen.

Die dunkle Gasse gehört zu den Szenerien, an die ich mich am Morgen noch erinnern kann. Doch statt einer Verfolgungsjagd waren Jason und ich alleine in der Gasse. Genau wie im Pavillon stieß er mich an die Wand und überfiel mich wieder mit einem Kuss, der verboten gehören soll. Die kleinsten Bewegungen und Berührungen haben sich so echt angefühlt.

Doch dann drang eine Stimme durch die Gasse. Sie war so laut und dröhnte pausenlos in meine Ohren, die ich versuche zu zu halten. Vor mir sah ich wie Jason irgendetwas zu mir sagte, doch ich konnte nichts hören. Ich sah nur wie sich seine Lippen auf und ab bewegen. Die grauenvolle Stimme wurde immer lauter.

„Ich kenne dich nicht.“, dröhnte es immer wieder in meine Ohren.

„Nein!“, schrie ich und drückte meine Ohren fester zu. Vergeblich. Die Stimme war genau so laut wie vorher.

Wieder sprach es zu mir: „Ich kenne dich nicht.“. Plötzlich verschwand Jason vor mir und ich geriet in völlige Panik.

Das war wohl auch der Grund, warum ich schweißgebadet aus dem Schlaf aufgeschreckt worden bin.

Als ich mich erschöpft ins Bad geschleppt habe, schaue ich in den Spiegel und muss frustriert feststellen, dass ich total fertig aussehe. Meine Haut ist zwar etwas brauner geworden, doch dafür habe ich Augenringe und ein Vogelnest auf dem Kopf.

Oben drauf muss ich mir eingestehen, dass mich nach nur wenigen Tagen seit meinem Aufwachen ein Kerl geküsst hat, für den ich noch nicht mal eine passende Bezeichnung habe.

Das Schlimmste ist: Es hatte mir oben drauf auch noch gefallen…

Stopp! Er ist doch ein Krimineller oder nicht?

Verdammt, wenn ich so weiter mache, komme ich gar nicht mehr in den Himmel!

Es ist erst 6 Uhr morgens und die Schule beginnt erst um 7:45 Uhr, doch ich weiß, dass ich nach diesem Alptraum nicht mehr einschlafen kann. Deswegen entscheide ich mich für das Duschen. Als ich wieder in mein Zimmer komme, fängt mein Handy an zu vibrieren.

 

Das Training beginnt morgen um 4. Ich hole dich ab, wenn du willst.

- Liz

 

Kurz überlege ich, wo ich morgen um die Uhrzeit sein werde. Ich beschließe, morgen etwas länger in der Schule zu bleiben und die Bücherei durch zu stöbern. Dann gebe ich Liz die Adresse meiner Schule und schmeiße das Handy in meine Schultasche.

Damit ich nicht mehr an diesen Traum denken muss, mache ich das Radio auf meinem Schreibtisch an und lasse Planet Radio laufen. Dann begebe ich mich in meinen Kleiderschrank und suche mir etwas zum Anziehen raus. Es läuft ein Lied, das ich nicht kenne. Doch es gefällt mir und nach einer Weile beginne ich mit zu summen.

Nach dem der Song zu Ende war, höre ich wie der Mann im Radio sagt, dass der Song „Chandelier“ von Sia ist. Irgendwie gefällt mir die wesentliche Aussage dieses Liedes und es berührt mich auf eine bestimmte Art und Weise.

Bevor ich in enge Jeans und ein rotes T-shirt mit V-Ausschnitt schlüpfe, lade ich das Lied auf meinem Handy. Angezogen und mit dezenter Schminke auf dem Gesicht schnappe ich meine Schultasche und laufe runter, da es mittlerweile kurz nach 7 ist. Vorher bin ich noch in das Schlafzimmer eingetreten, obwohl ich weiß, dass mein Vater längst im Flugzeug sitzt, doch ich wollte trotzdem schauen.

„Morgen, Mum“, begrüße ich sie während ich mein Frühstück bereite. Meine Mutter sitzt bereits mit einem Kaffee am Küchentisch und liest gerade Zeitung.

„Guten Morgen, Schatz. Hast du gut geschlafen?“, fragt sie mich lächelnd.

„Gut“, lüge ich. Konzentriert richte ich meine Augen auf mein Sandwich, sodass ich sie nicht anschauen muss. Ich kann ihr wohl schlecht gestehen, dass ich in meinem Traum mit einem Kriminellen rumgemacht habe und mich oben drauf eine anonyme Stimme verfolgt.

„Fährst du mich bitte zur Schule?“, frage ich stattdessen und beiße ins Brot.

„Klar, Schatz. Übrigens wir haben kaum miteinander geredet die letzten Tage. Ich werde dich jeden Morgen von der Schule fahren. Wenn du willst auch abholen“, beantwortet mein Gegenüber die Frage, woraufhin sie die Zeitung zur Seite legt.

„Danke, Mum. Aber ich denke, dass ich schon alleine nach Hause kommen kann. Ich möchte dir und deiner Arbeit nicht unnötig zur Last fallen. Wirklich.“ Ich schaue von meiner Mutter weg und mein Blick fällt auf die Zeitung neben ihr. Augenblicklich habe ich eine Art Deja-Vu und muss an die Tage nach meinem Aufwachen denke, wo ich durchgehend Zeitung gelesen habe. Die meisten handelten von dem Brand, doch ich kann mich jetzt komischerweise nicht mehr an den kompletten Inhalt erinnern.

„Stimmt, Tyler kann dich ja nach Hause fahren.“ Die Stimme meiner Mutter reißt mich aus meinen Gedanken und ich nicke nur zur Antwort.

„Silver, du musst schauen, ob du das mit der Schule schaffst oder nicht, okay? Damit wir…“

„Ich schaffe es, Mum“, unterbreche ich sie. „Wirklich. Ich bleibe bei der Entscheidung und mit der Hilfe von meiner Tutorin und einer Nachhilfe werde ich alles nachholen können. Die Themen für das Abitur nehmen wir erst nach dem Sommer durch. Solange hole ich den Rest nach.“ Eine Weile sagt meine Mutter nichts, doch dann nickt sie zu meiner Erleichterung.

 

Während der Fahrt habe ich mir Kopfhörer ins Ohr gesteckt und summe das Lied von vorhin mit. Meine Mutter dagegen telefoniert mit Lautsprecher neben mir und sie wirkt etwas angespannt.

Wahrscheinlich hat sie bei Job gerade viel um die Ohren, denke ich mir und lehne meinen Kopf an die kalte Fensterscheibe.

Als wir ankommen, gebe ich ihr zum Abschied einen Wangenkuss bevor ich aussteige. Eilig überquere ich den Parkplatz und gelange kurz darauf auf dem Hof. Die Sonne wirft bereits jetzt am Morgen glühende Strahlen auf mich, sodass ich befürchte, dass es später noch viel wärmer wird.

Meine Schritte verlangsamen sich. Wenn ich vorhin noch summend gelaufen bin, dann bin ich jetzt wieder die Unsicherheit in Person.

Es stehen einige Schüler auf dem Hof. Ich kann nicht erkennen aus welchen Jahrgängen sie jeweils sind, jedoch scheinen die meisten in meinem Alter - wenn nicht sogar älter - zu sein. Sie unterhalten sich meistens in Gruppen und beachten mich gar nicht. Doch als ich mich der Eingangstür der Schule nähere, blicken einige auf.

„Silver!“, ertönt plötzlich eine Mädchenstimme. Wie ertappt blicke ich in die Richtung aus der die Stimme kommt und erblicke ein Mädchen, das inmitten einer Gruppe steht und mir kurz zu winkt. Die Mädchen und Jungs, die bei ihr stehen, lächeln mir zu und kurz darauf habe ich das Gefühl, dass sämtliche Augenpaare auf dem Hof auf mir liegen.

Cool bleiben. Die sind wahrscheinlich aus meinem alten Jahrgang, vermute ich.

Wie selbstverständlich winke ich zurück und lächle kurz bevor ich in das Gebäude eintrete oder eher flüchte.

Unglaublich dass mich sowas verunsichert. Mir unglaubliche Angst einjagt.

Darauf bedacht mit keinem auf dem Flur in Blickkontakt zu kommen, mache ich einen kleinen Abstecher zum Sekretariat, um ein Schließfach zu bekommen. Die Sekretärin gibt mir die Nummer und den Code des Fachs und erkundet sich kurz bei mir. Nachdem ich ihr versichert habe, dass alles gut sei, steuere ich seufzend zu meinem zukünftigen Schließfach.

Ich lege mein Mathe- und Deutschbuch ab, weil ich die beiden Fächer erst zum Schluß habe. Nach dem heutigen Tag werde ich alle Fächer hinter mir haben und dann würde ich mich für die beiden Leistungskurse entscheiden müssen, die ich die nächsten zwei Jahre haben werde. Die anderen Schüler haben ihre Entscheidung längst getroffen und abgegeben. Die Frist lag auch beim 20.Mai.

Ich frage mich, was ich gewählt hätte, wenn der Unfall nicht wäre. Aber das ist einer der vielen Dinge, die ich wohl nie erfahren werde…

„Miss Haygilton, guten Morgen“, ertönt plötzlich die Stimme von Frau Rumber neben mir.

„Frau Rumber, Morgen“, begrüße ich sie und schließe das Fach vor mir ab. Da ich sie jetzt in Englisch habe, laufen wir zusammen zum Klassenraum.

„Haben Sie sich soweit eingefunden?“, erkundigt sie sich mit einem Lächeln.

„Ja, das habe ich“, gebe ich ehrlich zurück. „Ich muss mich nur noch für die beiden Leistungskurse entscheiden.“

„Das stimmt. Aber Sie haben ja die ganze Woche noch Zeit. Bei Ihrem Fall haben wir eine Ausnahme gemacht. Geht es Ihnen auch körperlich gut?“ Während wir durch die Fluren laufen, merke ich wie manche Schüler sich zu Frau Rumber und mir umdrehen. Einige begrüßen meine Tutorin und andere blicken uns einfach nur an. Wird sich das jemals legen?

„Ich bin noch am Genesen. Doch eigentlich gut, ja.“

„Gut“, erwidert sie und schließt den Raum auf. „Sie wissen, wenn etwas ist, können Sie jederzeit mit mir reden. Wie gesagt, ich würde Ihnen noch eine zusätzliche Nachhilfe empfehlen. Soll ich für Sie jemanden suchen oder möchten Sie es selbst tun?“

Ich überlege kurz, doch dann fällt mir Zen ein. Er scheint gut in der Schule zu sein. Vielleicht ist er auch bereit mir zu helfen?

„Wenn ich niemanden finde, werde ich Sie fragen“, beantworte ich ihre Frage und in dem Moment treten die Ersten in die Klasse. Meine Tutorin nickt mir zur Antwort bevor sie ihre Aktentasche auspackt.

„Guten Morgen, Silver“, begrüßt mich Zen lächelnd, als er sich hinsetzt.

„Morgen.“, erwidere ich und sein Lächeln. „Hast du Lust später mit mir essen zu gehen?“

„Klar“, gibt er lächelnd zurück und schon beginnt der Unterricht.

Ich muss zugeben, dass der Englischunterricht mir richtig gefällt. Der Direktor hat Recht gehabt. Ich habe überhaupt nicht das Gefühl, dass ich eine Wissenslücke habe. Im Gegenteil: Bei den meisten Aufgaben und Fragen weiß ich sogar die Antwort.

Als Frau Rumber eine etwas schwierige Frage stellt, weiß anscheinend keiner die Antwort, denn es meldet sich niemand. Meine Tutorin blickt seufzend in die Runde und nimmt plötzlich Seth dran, der zu meiner Verwunderung die Antwort weiß. Natürlich beantwortet er diese in einem monotonen Ton und seinem typischen Pokerface. In dem Moment frage ich mich, warum er sich dann nicht gemeldet hat oder sich überhaupt nie meldet. Brauchte man für Medizin nicht einen guten Durchschnitt?

Wie es sich rausgestellt hat, heißt das Mädchen mit den rotblonden Locken neben mir Vaia. Sie entschuldigt sich bei mir wegen gestern, dass sie mich kaum beachtet hat, weil sie etwas gestresst ist und das fand ich süß von ihr. Obwohl sie im Gegensatz zu mir eine „normale“ Schülerin ist, wirkt sie sehr schüchtern und verunsichert.

Nach dem wir Englisch, Geschichte und Biologie haben, klingelt es zur Mittagspause. Während Zen und ich zur Mensa laufen, lese ich die paar SMS, die ich bekommen habe.

 

8:10 Uhr:

Bist du gerade im Unterricht?

- Ty

 

10:20 Uhr:

Alles gut bei dir?  

- Linda

 

11:14 Uhr:

Tut mir leid, dass ich gestern so schnell weg musste. War ein Notfall wegen meiner Mum. Wir reden morgen nochmal ausgiebig!

- Liz

 

Ich beschließe ihnen alle später zurück zu schreiben, dafür habe ich jetzt einfach viel zu großen Hunger. Als Zen und ich unsere Tabletten beladen haben, setzen wir uns an einen freien Tisch. Ein Blick aus dem Fenster verrät mir, dass es viel zu warm wird, als mir lieb ist. Ich bereue es eine lange Jeans anzuhaben.

„Zen?“, frage ich mein Gegenüber, der gerade dabei ist seine Ketchuppackung auf seine Pommes zu verteilen.

„Ja?“

„Hast du.. Würdest du mir Nachhilfe geben?“

Zuerst blickt mich Zen etwas erstaunt an, doch kurz darauf verzieht sich sein Mund zu einem Lächeln. „Warum nicht. Wo brauchst du denn genau Hilfe?“

„In allem. Vielleicht nicht so in den Sprachen. Aber in den restlichen Fächern. Sagen wir: Der ganze Stoff von der 8. bis zur 11.Klasse“, gestehe ich und merke erst jetzt, nach dem ich es ausgesprochen habe, wie viel Arbeit ich auf mich genommen habe.

„Bis wann?“

„Noch bevor die 12. Klasse beginnt.“

Plötzlich fängt Zen an vor mir zu husten.

„Hey“, kommt es besorgt von mir während ich den Tisch umrunde, um ihn auf den Rücken zu klopfen.

„Du willst in innerhalb 3 Monate 4 Jahre Schulstoff in dich aufnehmen?“, bringt dieser noch halb erstickt hervor, woraufhin ich kichern muss.

„Es ist der Stoff von der Mittelstufe und keine Doktorarbeit. Also, hilfst du mir oder nicht?“, lache ich während ich mich wieder auf meinen Platz hinsetze und mein Mittagsessen aufesse.

„Klar, kein Problem. Freut mich, dass du dich an mich gewendet hast, Silver“, antwortet Zen lächelnd und mir entgeht nicht, dass er sich etwas stolz anhört.

Als ich mit meinem Essen fertig bin, schreibe ich Tyler, dass ich in der Mensa bin und frage ihn, ob er mich später nach Hause fährt. Ich antworte Linda, dass alles gut sei und bedanke mich wegen den Büchern bei ihr. Zwar mag und vertraue ich Linda bereits, doch ich hätte trotzdem nicht gedacht, dass eine Art Freundschaft zwischen uns entsteht. Aber wenn sie sich bei mir erkundigt, dann scheint es wohl der Fall zu sein.

Also hänge ich noch eine Gegenfrage mit an, in der ich mich nach ihrem Tag erkunde.

Liz schreibe ich, dass es halb so schlimm sei. Immerhin konnte ich erst dadurch unbemerkt Eisklotz verfolgen.

Außerdem frage ich sie noch, was ich für das morgige Training anziehen soll.

Nachdem ich die SMS verschickt habe, sehe ich das Zen auch fertig ist, woraufhin wir die Tabletten zurücklegen.

Da wir noch 20 Minuten haben bevor der Nachmittagsunterricht anfängt, schlendern wir auf dem Hof. Ich ziehe Zen zu meiner Lieblingsstelle mit, welche ich bereits seit dem 1. Schultag als mein Revier markiert habe.

Mit einem leichten Schwung lande ich auf der Mauer während Zen noch etwas verdattert da steht.

„Was ist?“, frage ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.

Eine Weile schaut er mich schweigend an doch dann macht er es mir nach und kurz darauf sitzt er gegenüber mir.

Die Mauer steht etwas abseits vom Schulgebäude. Zwar hat man immer noch einen Blick auf den Hof, jedoch kann man hier seine Ruhe haben.

„Bist du öfters hier?“, fragt mich Zen plötzlich.

Ich will schon sagen, dass ich es nicht weiß, doch dann fällt mir ein, dass er nicht zu den Eingeweihten gehört.

„Manchmal“, erwidere ich stattdessen und blicke zum Hof, der sich allmählich füllt. Anscheinend haben heute viele Nachmittagsunterricht.

„Naja weißt du…“, fängt Zen vor mir an zu drucksen. Er fährt sich durch seine kurzen blonden Haare und will gerade etwas sagen, als mir jemand auf die Oberschenkel klopft.  

Verwirrt blicke ich herab und vor mir steht ein großer Junge mit hellbraunen Haaren. Seine Frisur erinnert mich an diesen einen Schauspieler. Ich glaube, der heißt… David Beckham oder so.

„Hey, ich habe gehört, du bist wieder da“, fängt der Junge unter mir an zu plaudern während ein Lächeln sein Gesicht verziert.

„Ja, das stimmt“, gebe ich zurück und zwinge mich zu einem halbwegs vernünftigen Lächeln. Innerlich bete ich, dass es nicht verkrampft aussieht. Verdammt, habe ich den gekannt?

„Das freut mich. Warum bist du nicht mehr bei uns?“, hakt der Junge weiter. Er ist also in meinem alten Jahrgang.

„Ich hatte ja eine heftige Kopfverletzung. Sagen wir, etwas Schulstoff ist dabei verloren gegangen“, beantworte ich ihm die Frage und bin selbst verwundert darauf, wie überzeugt ich mich anhöre. Vielleicht bin ich doch nicht so eine schlechte Lügnerin, wie ich dachte.

Das Lächeln des Jungen verzieht sich zu einem schiefen Grinsen.

„Das tut mir echt leid. Das ist echt mies. Aber da würde ich auch nicht damit Abitur machen“, gesteht er und ich atme innerlich auf, dass er es mir abgenommen hat.

„Wie läuft das Abi bei dir?“, frage ich, weil ich Angst habe, dass er mich gleich eine Frage stellt, die ich nicht so schnell beantworten kann. Wenn er mich jetzt nach seinem Namen oder so fragt, bin ich erledigt.

„Ganz gut. Nur noch die Mündlichen dann wird gefeiert“, erwidert er und grinst erneut. Ich blicke Zen an, der bis jetzt nichts gesagt hat und entschließe mich die beiden gegenseitig vorzustellen, damit ich den Namen von dem Kerl vor mir endlich weiß.

„Das ist übrigens Zen“, verkünde ich lächelnd und mache eine Handbewegung in seine Richtung.

Der Junge vor uns gibt Zen die Hand.  „Hey, ich bin Alex“

Alex... Der Name sagt mir gerade nichts.

„So ich muss leider schon wieder in den Unterricht“, werfe ich in die Runde und springe ab. Kurz darauf muss ich mich an die Mauer lehnen, da mir augenblicklich schwindlig wird. Doch nach einigen Sekunden vergeht es wieder.

„Hey.. alles okay?“, fragt mich Alex etwas besorgt.

„Ja“, lächle ich. „Wir sehen uns.“ Ich werfe Zen einen entschuldigenden Blick bevor ich mich dann ganz verziehe.

Das ist gerade noch mal so gut gegangen. Himmel, was mache ich jedes Mal, wenn mich einer so anspricht?

Ich bin schon in der Mitte des Hofes angelangt, als ich plötzlich Seth sehe, der in der Mitte von ein Dutzend Mädchen steht. Unsere Blicke treffen sich, doch ich schaue schnell weg. Ich habe mich immer noch nicht entschieden. Der muss erstmal warten.

Als ich Flur ankomme, sehe ich Tyler, der gerade bei Tobias bei den Schließfächern steht. Tyler entdeckt mich sofort. Nicht lange und er steht vor mir.

„Silver, ich habe dich gesucht“, lächelt er während er mich umarmt.

„Ich war draußen“, erkläre ich ihm und werde dann von Tobias umarmt.

„Ich habe gehört, du beehrst uns bei der Meisterschaft mit deiner Anwesenheit“, grinst dieser mich an.

„Ja. Ich brauche nur ein Cheerleaderoutfit und diese Staubwischdinger“, scherze ich, woraufhin beide Jungs vor mir grinsen.

„Silver und Cheerleadern. Dass ich das noch erleben darf“, lacht Tobias und bekommt eine von mir gehauen.

„Bringt ihr mich zu meinem Klassenzimmer?“, frage ich die beiden stattdessen und beide nicken. Nachdem Tobias sein Schließfach abgeschlossen hat, schlendern wir zu dritt zu dem Raum. Die beiden scherzen neben mir ununterbrochen, doch ich höre ihnen nur halb zu. Vor dem Klassenraum entdecke ich die meisten meiner Klassenkameraden. Anscheinend ist Frau Rumber zu spät.

Ich entdecke Seth, der auf der anderen Seite steht und - mal wieder - von Mädchen umgeben ist, die sich aber umdrehen, als sie meine Begleiter erblicken.

„Soll ich dich am Freitag abholen?“, fragt mich Tyler während ich mich an der Wand anlehne.

„Ja, gerne“, erwidere ich und ignoriere Seths Blicke.

„Vielleicht nehme ich jemanden mit“, füge ich hinzu und denke dabei an Liz.

„Wen?“, hakt Tyler nach und auch Tobias schaut mich neugierig an.

„Werdet ihr dann sehen“, antworte ich und zwinkere. Tyler verzieht daraufhin nur fragend seine Augenbrauen.

„Die ist aber spät dran“, ertönt es neben mir von einem Mädchen, die es anscheinend kaum erwarten kann Unterricht zu haben. Als Vaia um die Ecke kommt, winke ich sie zu mir rüber. Zuerst scheint sie etwas zu zögern, doch wagt sich doch in meine Richtung. Ich merke, wie die anderen Mädchen ihr nachgucken bis sie vor mir steht.

Es ist ja klar, dass sie schüchtern ist, aber müssen die so gucken, als wäre es ein Spektakel, dass sich die Schüchternste von der Klasse mit der Neuen unterhält?

Während ich gekonnt die Blicke von den anderen Mädchen ignoriere verwickle ich Vaia in ein Gespräch, wo ich sie ausfrage, was so ihre Lieblingsfächer sind. Neben mir unterhält sich Tyler und Tobias. Kurz blicke ich Tylers braunhaarigen Freund an.

Ich muss zugeben, dass ich Tobias sympathisch finde. Er hat den gleichen Humor wie ich und scheint zudem vernünftig zu sein. Vielleicht sogar etwas mehr als Tyler, der immer noch manchmal wie ein kleines Kind wirkt...  

Als Tobias sich aufeinmal duckt, weil sein Buch aus der Hand gefallen ist, trifft mein Blick auf Seths. Sein Gesichtsausdruck ist wie immer. Himmel, stalkt der mich etwa? Wollte er mich nicht Zeit geben bis ich ihm eine Antwort zu seinem… naja Angebot mache?

Wie ich befürchtet habe, folgen die Mädchen, die den Kotzbrocken umgeben, seinen Blick und werfen mir einen missbilligenden Blick zu.

Na toll, jetzt habe ich auch noch wegen ihm ein paar Feindinnen mehr gewonnen.

„Hey“ Die Stimme von Tyler reißt mich prompt aus meinen Gedanken. Mein bester Freund stellt sich vor mich und verdeckt somit meine Sicht zu Mr. Pokerface, wofür ich ihm innerlich danke.

„Was ist?“, frage ich ihn verwundert, als ich seine ernste Miene sehe.

„Seth schaut dich die ganze Zeit an“ Ach ne.

„Der hat wahrscheinlich Langeweile“, winke ich ab und will mich zu Vaia drehen, weil ich sie so eben vernachlässigt habe, doch plötzlich umgreifen mich zwei Hände meine Arme und Tyler dreht mich zu ihm um. Etwas von dieser Reaktion überrumpelt, öffne ich leicht meine Lippen, doch sage nichts.

„Läuft etwas zwischen dir und ihm?“, kommt es prompt von meinem besten Freund.

Was?!

„Was?“, platzt es erstaunt aus mir heraus.

Vor mir holt Tyler scharf Luft bevor er mir antwortet.

„Ich…“ Anscheinend kann er den Satz nicht zu Ende bringen und knirscht stattdessen mit seinen Zähnen. Auch sehe ich, dass sich sein Kiefer angespannt hat. Was hat er bloß? Ist er etwa... eifersüchtig?

„Entschuldigen Sie meine Verspätung“, kommt es plötzlich von Frau Rumber, die eilig um die Ecke kommt.

„Tyler, wir sollen jetzt gehen. Wir haben auch noch Unterricht, schon vergessen?“, erinnert Tobias meinen Freund neben mir. Etwas widerwillig löst dieser sich von mir und ich starre ihm wortlos nach, als die beiden verschwinden.

„Komm“, ertönt Vaias Stimme neben mir und ich folge ihr nachdenklich in den Klassenraum.

Kapitel 20

 

Leider kann ich mich nicht wie am Morgen auf den Unterricht konzentrieren. Andauernd schweife ich ab. Mal denke ich an die komische Reaktion von Tyler vorhin, dann grübele ich über Alex und auch der Traum von heute Morgen schleicht sich immer wieder in meine Gedanken.

Wie gerne hätte ich jetzt jemanden mit dem ich darüber reden kann. Früher wäre ich sofort damit zu Cindy gekommen, aber jetzt?

Mein Herz zieht sich zusammen, als ich merke wie sehr ich sie vermisse. Aber sie würde erst in 5 Wochen entlassen werden…

Müde fahre ich mir durch meine dunklen Haare, die zum Glück nicht mehr wie ein Vogelnest aussehen.

Plötzlich fängt mein Handy an zu vibrieren. Vorsichtig schiele ich auf den Bildschirm, als Frau Rumber mit dem Rücken zur Klasse steht.

 

Sorry, dass ich vorhin so komisch war. Ich warte auf dem Parkplatz auf dich.

- Ty

 

Eilig tippe ich ein Okay und lasse das Handy in meiner Hosentasche verschwinden. Dann versuche ich mit aller Mühe mich auf den Matheunterricht zu konzentrieren.

 

Als es klingelt erheben sich alle, als hätten sie alle Feuer unter dem Arsch. Sogar Vaia und Zen packen eilig ihren Kram zusammen, sodass ich für einen kurzen Moment glaube, dass es Wochenende ist. Aber nein, wir haben einfach nur einen stinknormalen Dienstag.

„Tschüss, Silver“, sagt das schüchterne Mädchen neben mir und umarmt mich zu meiner Verwunderung bevor sie verschwindet.

„Silver, wegen der Nachhilfe. Wann möchtest du anfangen?“, fragt Zen mich während er seine Tasche schultert.

„Ich weiß nicht. Nach der Schule? So 2-3 Mal die Woche?“, schlage ich vor.

„Alles klar, hier meine Nummer. Ich muss jetzt los.“ Mit den Worten drückt er mir einen kleinen Zettel in die Hand und zieht schließlich mit einem kurzen Schulterklopfen ab.

Ich verstaue den Zettel mit den Schulbüchern in meine Tasche und verlasse als einer der Letzten den Raum.

Als ich den Türrahmen passiere werde ich plötzlich ruckartig zur Seite gezogen. Mein Blick fällt zuerst auf die große Hand, die meinen Arm umfasst, und dann auf den Täter.

Es ist Seth.

„Was soll das?“, zische ich genervt zu ihm. Es kommt keine Antwort von ihm. Stattdessen zieht er mich einen leeren Flur entlang und kurz darauf in einen Raum, der mit Chemikalien und anderen Zeug für die Naturwissenschaftsfächer gefüllt ist.

Er schließt die Tür hinter uns ab und lässt erst danach meinen Arm los.

Instinktiv weiche ich von ihm weg, weil ich jetzt erst realisiere, dass wir zwei alleine in einem geschlossenen Raum sind.

Scheiße.

Seth rollt vor mir seine dunkelbraunen Augen und schwingt sich lässig auf einen Tisch während er mich nicht aus den Augen lässt. Statt ihm nachzumachen bleibe ich in der Mitte des Raumes stehen und versuche mich unauffällig in Richtung Tür zu bewegen.

„Was willst du?“, beginne ich noch mal und sehe ihn durch schmale Augen hindurch an. Langsam geht mir sein Pokerface auf die Nerven.

„Hast du öfters diese Schwindelanfälle?“, fragt Seth mich plötzlich und ich bleibe stehen.

„Was meinst du?“, entgegne ich ihm und verschränke meine Arme vor die Brust. Hatte er etwa das bei der Mauer mitbekommen?

„Ich hab’s heute gesehen“, gibt er monoton zurück. „Also?“

Also doch. „Weshalb fragst du?“, stelle ich die Gegenfrage, weil er mich verunsichert.

Er scheint kurz zu überlegen. Und genau das bringt mich unverweigerlich auf eine Vermutung, die ich versucht habe zu verdrängen.

„Hat es… hängt es irgendwie mit dem… mit meinen…“

„Kann schon sein“, beantwortet er mir knapp meine unausgesprochene Frage.

So gerne ich auch in diesem Moment von seinem Pokerface, seiner verdammten monotonen Stimme, seinem ausdruckslosen Blick oder überhaupt von seinem Ich-weiß-was-du-hast-kann-es-dir-aber-nicht-verraten-Getue genervt sein will: Nichts von alle dem passiert in dem Moment.

Stattdessen beginne ich Angst zu haben. Richtige Angst.

„Was habe ich wirklich, Seth?“, bringe ich noch über die Lippen ehe sich die ersten Tränen aus meinen Augen irren.

„Das kann ich dir nicht… hey, es ist nichts lebensbedrogliches“, höre ich ihn sagen, doch ich kann ihn nicht mehr durch meinen Tränenschleier sehen. Auch dass ich anfange zu zittern, kann ich nicht verhindern. Verdammt, er soll mir einfach erklären, was hier los ist!

„Ach - hicks - ja? Sag es mir bitte“, flehe ich ihn an. Trotz meinem Geschluchze höre ich wie er sich mir nähert.

„Es geht nicht. Und nicht, weil ich es nicht will“, erklärt er monoton. An der Lautstärke kann ich vernehmen, dass er direkt vor mich steht.

„Was muss ich machen, damit ich endlich erfahre, was hier los ist?“, kommt es aufgebracht von mir. „Ich verliere ein Drittel meiner Erinnerungen, weiß nicht mehr, was für ein Leben ich geführt habe oder überhaupt wer ich war! Und dann träume ich von komischen Dingen, hatte einen Schockanfall und diese Schwindelanfälle! Also Seth, du Möchte-gern-hicks-Doktor, was zum Teufel geht hier vor sich?!“

Ich höre wie er vor mir seufzt. Kurz danach ertönt ein leises Rascheln und ehe ich mich versehe, drückt er mir etwas Weiches in die Hand. Es ist ein Taschentuch.

„Wenn du willst, dass ich dir helfe, dann musst du es sagen“, höre ich ihn sagen während ich mir mein Gesicht stumm abwische.

„Dann muss ich erstmal wieder ein Praktikant bei meinem Dad sein und kann ich dir helfen es herauszufinden.“

Endlich kann ich sein Gesicht vor mir erkennen. Sein Pokerface hat sich nicht verändert, aber seine Augen schon.

Anscheinend geht es doch nicht so ganz an ihm vorbei, dass ein Mädchen vor ihm anfängt zu weinen.

„Außerdem muss ich dir auch völlig vertrauen können. Das Ganze bleibt unter uns und keiner darf etwas davon erfahren. Ich setze nämlich damit auch etwas aufs Spiel, Silver.“

Mir entgeht nicht, dass Seth mich zum ersten Mal bei meinen Namen nennt. Anscheinend ist es für ihn sogar irgendwie eine ernste Sache als nur pures Interesse. Warum ist es ihm so wichtig, dass es keiner von unserem „Deal“ erfährt? Ich bin diejenige, die ein Geheimnis hüten muss, aber er? Was hat er denn schon zu verlieren?

Eine Weile starre ich ihn nur an. Ich überlege wirklich lange und bin auch erstaunt, dass Seth geduldig wartet. Auch er steht einfach nur da und blickt mich stumm an.

„Okay“, hauche ich tonlos und halte ihn meine Hand zum Einschlagen hin. So macht man es doch immer in den Filmen?

 „Wir haben einen Deal.“

 

 

 

 

 

Nach dem ich komplett beruhigt habe, begleitet mich Seth ein Stück nach draußen. Kurz vor dem Parkplatz muss er jedoch abbiegen.

„Ich sage dir Bescheid, wenn ich den Platz habe“, informiert er mich und verschwindet mit einem kurzen Nicken. Mal wieder.

Obwohl ich ihn immer noch nicht ganz verstehe, vor allem warum er immer so verschlossen und distanziert wirkt, habe ich beschlossen, dass es mir egal sein soll. Ich will mich nur auf den Deal konzentrieren.

Während ich auf dem großen Parkplatz nach Tylers Wagen suche, spüre ich wie die Sonne förmlich auf meiner Haut brennt. Es ist ein verdammt warmer Nachmittag, stelle ich erschöpft fest. Zu alledem stehen noch so viele Autos rum, die mir die Sicht verdecken und die Ausschau nach einem Sportwagen wie dem R8 Spyder erschweren. Ich merke deutlich, dass ich träge werde und bleibe stehen, um mein Handy zu suchen, sodass ich Tyler anrufen kann.

Frustriert muss ich feststellen, dass es auf den Boden der Tasche gerutscht ist. Also wühle ich wie eine Verrückte in meiner Tasche herum, als meine Finger aufeinmal auf ein dünnes Glas stoßen.

Als ich es vorsichtig herausnehme sehe ich, dass es die Sonnenbrille von Eisklotz ist, die ich gestern achtlos verstaut habe. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus.

Ohne groß zu überlegen ziehe sie an und in dem Moment fällt mir auch seine Cappy ein. Ich wühle so lange bis ich das zerdrückte Stück Stoff finde. Das Ding trägt den Geruch von seinem Zimtduft mit sich.

Tja, wenn Eisklotz mich nicht mehr sehen will, dann haben es die beiden Sachen nun mit einer neuen Besitzerin zu tun.

Augenblicklich muss ich wieder an gestern denken.

Wie er mir sanft mein Haar zur Seite strich, obwohl es nicht zu übersehen war, wie wütend er wegen meiner Lüge gewesen ist.

Mein Versprechen… sollte ich es einhalten? Ihn vergessen, obwohl ich so gerne wissen will, was er mir anscheinend nicht sagen will? Wer er wirklich ist? Wer vielleicht... wir waren?

Zu meinem Erstaunen fühle ich etwas, was ich nicht ganz verstehe. Es ist ein leichter Stich im Herzen. Doch es ist so leicht, dass ich es fast nicht hätte wahrnehmen können.

Aber eins ist mir klar: Ich habe keinen Schimmer wie ich mit Eisklotz umgehen soll.  

„Silver!“, höre ich plötzlich eine bekannte Stimme rufen. Als ich mich umdrehe sehe ich Alex, der mit drei anderen Typen in meine Richtung schlendert. Er winkt mir freudig zu während sein Grinsen kaum zu übersehen ist, sodass ich leicht lächeln muss.

Ich hole tief Luft, um mich auf das Unvermeidliche zu wappnen.

„Was gibt’s?“, frage ich locker, als alle vor mir stehen. Ich ziehe Eisklotzs - obwohl jetzt wohl eher meine - Sonnenbrille ab, sodass ich sie besser erkennen kann.

Vor stehen vier große Kerle, die alle so etwa gleich groß und auch gleich alt aussehen wie Alex. Natürlich erkenne ich keinen von ihnen wieder. Ich schätze, dass sie so alt sind wie Tyler, wenn sie im selben Jahrgang sind.

Alex ist mit seinen hellbraunen Haaren und wolkengrauen Augen der Hellste von ihnen. Die anderen beiden sind dunkel gebräunt und der Vierte ist sehr dunkelhäutig, sodass er mich schon fast an Schokolade erinnert. Genau wie Tyler sind alle muskulös weshalb ich denke, dass alle Sportler sind. 

„Ich habe eben entschieden am Samstag eine Party zu schmeißen. Da wollte ich dich fragen, ob du auch kommen willst“, fragt mich Alex und schiebt dabei lässig seine Hände in die Hosentaschen.

„Du schmeißt eine Party? Und zu welchem Anlass, wenn ich fragen darf?“, entgegne ich, um etwas Zeit zu gewinnen und überlegen, ob ich darauf eingehen soll.

Ich schweife mit meinem Blick durch seine Freunde und muss feststellen, dass sie alle - wenn auch protzig - sympathisch wirken. Einen kurzen Moment lang versuche ich aus deren Blicke zu entnehmen, ob sie mich kennen, doch ich kann nur sagen, dass sie mich alle ebenfalls neugierig mustern.

„Naja, ich habe mir gedacht, dass wir es ihnen zuliebe machen“, erklärt Alex und plötzlich wirkt er etwas betreten, als er meinen Blick ausweicht und nach unten schaut. Auch entgeht mir nicht, dass sein dunkelhäutiger Kumpel eine Hand auf seine Schulter legt.

„Es ist schon ein paar Wochen her, aber ich denke, das würde sie wollen.“

Wovon redet er? Okaaay… einfach mitmachen.

„Ja… du hast Recht“, höre ich mich sagen und lächele dabei halbwegs gezwungen.

Daraufhin schaut Alex mich etwas besorgt an. „Ist das okay für dich? Ich meine, du warst ja dabei und naja.. ich will wirklich nicht taktlos rüberkommen.“

Die Art wie Alex mit mir spricht unterstreicht nochmals meine These, dass wir uns kennen.

Seine Worte rattern etwa zigmal durch meinen Kopf und plötzlich wird es mir klar.

Er redet von DER Party.

Es ist wie ein Schlag ins Gesicht. Als würde mich jemand brutal in die Zeit zurückwerfen und sich alles wieder um den Brand dreht.

Genau wie die ersten Tage nach meinem Aufwachen.

Aber mir ist eins klar: Ich kann nicht von der Vergangenheit wegrennen. Zwar versuche ich schon die ganze Zeit herauszufinden, wie mein altes Leben ausgesehen hat, doch mit der Ursache des Ganzen habe ich mich nie auseinandergesetzt: Dem Unfall selbst.

„Ich werde kommen“, höre ich mich selbst sagen. Vor mir fangen alle vier fast gleichzeitig an zu lächeln, wenn auch eher erleichtert. In dem Moment merke ich erst, dass dieser Tag einiges mehr verändert hat als nur mich allein.

Vor mir stehen Menschen, die versuchen darüber hinwegzukommen.

Weiterzumachen.

Ob einer der Opfer ein Mitschüler, Freund, Freundin oder vielleicht sogar Familie war, zählt nicht. Denn das, was sie zusammenschweißt, ist der Gedanke im Gedenken dieser Verunglückten eine weitere Party zu schmeißen. Ob das taktlos ist? Nein, eher mutig.

Vor mir lächelt Alex immer noch, doch er wirkt leicht abwesend.

Der Kommentar „Starke Sache.“ von einem seiner Kumpels durchbricht das kurze peinliche Schweigen zwischen uns.

„Gib mir deine Nummer. Ich simse dir die Adresse“, fordert Alex mich schließlich auf.

Während ich meine Nummer in seinem Handy einspeichere, merke ich wie vier Augenpaare aufmerksam auf mir liegen.

„Kann ich jemanden mitnehmen?“, frage ich, als ich ihm sein Handy zurückgebe.

„Klar, nur zu“, gibt er lächelnd zurück und seine Kumpels nicken mir kurz zu bevor sie sich in Bewegung setzen. Alex bleibt jedoch noch etwas unschlüssig stehen.

„Ich freue mich wirklich, dass du kommst“, gesteht er leise und ich muss lächeln.

„Warum nicht? Das Leben geht weiter, Alex.“ Hey, ich klinge echt so, als würde ich ihn wirklich kennen.

Er lächelt etwas schwach während er sich durch seine kurzen David-Beckham-Haare fährt. „Es ist nur so: Wenn du auch da bist, dann ist es vielleicht leichter für die Anderen darüber hin weg zu kommen. Weißt du dieses ewige Getuschel und so nervt einen wirklich. Sie reden von meiner Schwester als würden sie sie wirklich kennen. Manche schieben ihr sogar die Schuld. Als hätte sie das Feuer selbst gelegt. Das macht mich jedes Mal wahnsinnig." Sein Blick verdunkelt sich vor Wut, aber ich sehe mehr darin. Trauer.

„Deine Schwester?“, platzt es unüberlegt aus mir heraus. Eine Sekunde später will ich mir am liebsten eine scheuern, weil ich mich so eben verraten könnte.

„Ja“, knurrt er nur und schaut wütend auf den Boden, als wäre dieser der Übeltäter. Anscheinend hat er immer noch nicht bemerkt, dass ich keine Ahnung habe, was er von sich gibt.

Warum schieben welche Leute die Schuld auf seine Schwester?

„Ich hoffe, wir können langsam alle weitermachen. Nicht vergessen oder verdrängen, aber weitermachen“, murmelt Alex und blickt mich wieder an.

„Ja, das hoffe ich auch. Ich… versuche es zumindest“, gestehe ich leicht verlegen. Ich traue mich einfach nicht zu fragen, wer seine Schwester ist. Das wäre zu auffällig. Aber eins ist klar: Sie gehört zu den 67 Menschen, die es nicht geschafft haben.

„Und ich bewundere dich dafür. Echt, Silver.“ Endlich lächelt Alex wieder und ich atme innerlich erleichtert auf.

„Gut, dann.. sehen wir uns. Ich muss los“, verabschiede ich mich und schenke ihm noch ein aufmunterndes Lächeln bevor ich mich weiter auf die Suche nach Tyler mache. Dabei spüre ich immer noch Blicke von Alex in meinem Rücken.

 

Kurz darauf erblicke ich ihn wirklich. Tyler steht lässig an seinem Wagen angelehnt und telefoniert. Als er mich sieht, winkt er mir lächelnd zu und legt auf.

„Man, wo warst du solange? Ich dachte du hast nur bis halb 4 Unterricht“, beschwert er sich während wir einsteigen.

„Ich habe mit Alex gesprochen. Er hat mich zu seiner Party eingeladen“, gestehe ich ihm und blicke meinen besten Freund an.

„Alex Kirlson?“, fragt Tyler mit leicht erstaunter Stimme. Der Wagen verlässt kurz daraufhin den Parkplatz. Weil es mir im Wagen etwas zu stickig wird, drehe ich das Autofenster auf meiner Seite komplett herunter und ziehe gierig die frische Luft ein, die sich in meine Richtung schlägt. Dann erst drehe ich mich zu Tyler um, der meinen vielsagenden Blick erwidert. Seine Lippen öffnen sich leicht, als er endlich versteht. Entschuldigend blickt er mich an.

„Sei mir bitte nicht böse. Ich muss mich echt noch daran gewöhnen… Dann beschreibe ihn mal. Es gibt leider einige auf unserer Schule, die Alex heißen.“ Wieder schaut er konzentriert auf die Straße.

„Er müsste in deinem Jahrgang sein. Hellbraune Haare, graue Augen, groß und eh trainiert?“ Ich blicke Tyler abwartend an.

„Ja, das ist er“, bestätigt Tyler es daraufhin. Obwohl er konzentriert fährt, habe ich das Gefühl, dass er trotzdem nebenbei anderen Gedanken nachhängt. Da der Wind meine Haare stark aufwirbelt ziehe ich die Cappy etwas tiefer runter.

„Kommst du denn auch?“, frage ich neugierig während mein Blick auf das Radio fällt, das ich gleich darauf anmache.

„Klar“, erwidert er grinsend. „Der hat fast den ganzen Jahrgang eingeladen.“

„Ach echt?“, frage ich etwas lauter, weil nun irgendein Song aus dem Radio vor uns ertönt.

„Ja, ich finde seine Idee gut. Vor allem, dass er dich eingeladen hat.“ Dabei wirft er mir einen Blick zu und lächelt mich an. „Ist das okay für dich? Ich meine.. würdest du kommen?“

Mit einem leichten Seufzen lehne ich mich auf dem Beifahrersitz zurück. „Ich habe bereits zugesagt. Denkst du, das war eine gute Idee? Oder eher ein Fehler?“, druckse ich etwas unsicher vor mir hin. 

Ich will nicht im Mittelpunkt stehen und ich befürchte, ich werde das.

Aus dem Augenwinkel sehe ich wie er leicht den Kopf schüttelt.

„Ganz und gar nicht. Vielleicht legt sich alles somit schneller", ist seine nachdenkliche Antwort während er das Radio etwas runterdreht, weil in dem Moment ein nervtötender Song folgt.

Eine Weile schweigen wir. Ich starre dabei gedankenverloren aus dem Fenster während sich die Straßen von Hamburg an uns vorbeiziehen, als mir etwas einfällt.

„Wer ist Alex’s Schwester?“ Als würde ich ahnen, dass die Antwort darauf keine Angenehme sein wird, halte ich die Luft abwartend an.

„Seine Schwester? Yvonne war das.“, ist seine Antwort. „Wieso fragst du?“

So gut wie es geht, verdecke ich  meine verkrampften Hände und schaue stur nach draußen. Ich schlucke bemüht.

Wenn du wüsstest, Tyler.

Deswegen ist sie in meinen Kontakten. Die Frage ist nur: Warum hatte ich ihre Nummer? Waren wir befreundet?

„Tyler, hast du vielleicht eine Stunde Zeit für mich?“, frage ich nachdem ich die Information endlich verdaut habe.

Kurz wirft er mir einen leicht verwirrten Blick zu ehe er mir antwortet.

„Klar, wieso?“

„Lass uns zu David fahren.“

Mit einem Ruck bleiben wir stehen, da die Ampel vor uns rot wurde.

„David?“, kommt es ungläubig von ihm.

„Ja“, erwidere ich ruhig und blicke ihn an. „Ich dachte mir, wie in den alten Zeiten eben.“

Tyler senkt kurz daraufhin seinen Blick während sich ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht bildet. Als er mich wieder anblickt, spricht er den nächsten Satz mit einer so gerührten Stimme aus, sodass es mich schon fast verwirrt. „Gerne, nichts würde ich mir mehr wünschen als unsere alten Zeiten.“

 

 

 

 

Nachdem er seinen Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Eiscafes geparkt hat, überqueren wir die Straße. Tylers komisches Verhalten in der Schule hat keiner von uns angesprochen und ich bin auch froh darüber.

Sofort erblicke ich einige Gäste, die vor dem Cafe im Freien sitzen. Eine Weile starre ich das Riverside Hotel darüber an und muss für eine Sekunde wieder an ihn denken.

Er will dich nicht wiedersehen, rede ich mir immer wieder ein.

Während wir in das Cafe eintreten, spreche ich es fast schon wie ein Mantra in meinen Gedanken auf.

Erst jetzt bemerke ich, dass ich die Sonnenbrille immer noch in der Hand halte und die Cappy auf meinem Kopf sitzt. Bevor ich aber dazu komme die beiden Dinger wieder in die Tasche zu verstauen, werde ich von einem strahlenden David umarmt.

„Silver“, flötet er und kurz darauf erblickt er meinen besten Freund neben mir.

„Tyler, du hier?“, fragt er mit einem gespielt überraschten Ton. Doch seine Mundwinkel zucken bereits.

„Ist etwas her, was? Schön dich wiederzusehen, David“, murmelt dieser und fährt sich etwas verlegen durch das schwarze Haar.

Daraufhin zieht David uns an einem Tisch gleich neben dem großen Fenster, durch den man auf die Straße blicken kann.

„Ich muss noch einiges erledigen. Macht es euch gemütlich, ihr beiden“, weist David uns zurecht und verschwindet mit einem Zwinkern.

 Kurz darauf bedient uns eine Kellnerin. Tyler bestellt sich einen Apfelkuchen, von dem ich weiß, dass es sein Lieblingskuchen ist, und einen Cappuccino. Ich entscheide mich für einen Tiramisu und einen Kamillentee.

„Wann warst du zuletzt hier?“, frage ich Tyler neugierig während ich die Cappy und die Sonnebrille auf dem Tisch zwischen uns ablege.

„Ist schon etwas her“, erwidert mein bester Freund und lacht etwas rau.

Ich kann nicht verhindern, dass ich das Gesagte von ihm mit dem von David abgleiche. Es ist, als würde ich bei einem Rätsel Tylers Antworten mit der Lösung von David vergleichen.

„Es hat sich aber kaum verändert“, stellt Tyler fest während sein Blick durch das Cafe schweift.

„Tyler?“

„Ja?“

„Was genau ist zwischen uns dreien passiert?“ Ich weiß, dass ich ihren Namen gar nicht erwähnen muss.

Tyler seufzt bei der Frage.

„Wie gesagt, wir haben uns auseinander gelebt. Naja… eigentlich ich und sie zu aller erst. Dann habe ich erfahren, dass ihr auch nicht mehr befreundet wart“, beantwortet Tyler mir die Frage.

 Sein Gesichtsausdruck gleicht in dem Moment fast die von Seths. Ich kann einfach nichts ablesen, obwohl ich es so gerne will.

„Das hast du mir bereits gesagt. Aber nie hast du genaueres gesagt. Gab es Streit?“, hake ich stirnrunzelnd nach.

„Nein, Streit gab es nicht. Nicht wirklich“, kommt es knapp von ihm.

David hat Recht. Mein bester Freund kann wirklich ein Dickkopf sein.

Seufzend stütze ich meinen Kopf auf dem Tisch ab, als auch schon die Kellnerin mit unserer Bestellung kommt.

Plötzlich vibriert mein Handy in der Tasche. Bevor ich die SMS lese, sehe ich, dass es bereits kurz vor 6 ist.

 

17:56 Uhr:

Keine Ursache. Ich komme eben von der Arbeit. Hast du Lust demnächst wieder was zu unternehmen?

- Linda

 

Liz hat mir immer noch nicht geantwortet. Vielleicht hat sie noch Uni, vermute ich.

Ich überlege kurz und tippe dann Linda eine Antwort.

 

Gerne. Hast du am Donnerstag Zeit?

- Silver

 

„Der Kuchen hier ist der Beste“, murmelt Tyler genüsslich mit vollem Mund und ich sehe, dass das große Kuchenstück von vorhin nur noch aus einem halben Apfelstück besteht. Ich kann ein Grinsen nicht verkneifen.

„Klar, ich kann gar nicht verstehen wie du ohne Davids Köstlichkeiten konntest“, ärgere ich ihn und wundere mich wirklich darüber.

Mein eigentliches Vorhaben ihn wegen Cindy auszufragen habe ich verworfen, weil ich sehe, dass keine vernünftige Antwort aus Tyler zu erwarten ist. Ich muss es auf eine andere Weise herausfinden.

„Ich musste sowieso mit den Süßigkeiten aufhören. Mein Trainer erwartet strenge Ernährung von uns“, erklärt Tyler mir lächelnd.

„Deswegen seid ihr alle so gut gebaut“, schießt es aus mir heraus.

Bei meiner Feststellung lacht mein bester Freund schallend auf.

Neben uns taucht plötzlich David auf. „Es ist schön euch beide mal wieder zusammen zu sein“, kommentiert er seinen Anblick.

„Setz dich doch zu uns, David.“ Mit den Worten steht Tyler auf und zieht einen freien Stuhl an unseren Tisch, auf dem sich der alte David dankend niedersetzt. Obwohl er mit Mitte 40 kein Senil ist, merkt man, dass er nicht mehr ganz fit ist wie früher.

„Silver, wie geht es mir meine Liebe?“, fragt er an mich gewandt. Ein besorgter Blick streift mich dabei von unten herauf.

„Es geht mir gut. Ich gehe wieder in die Schule“, erwidere ich lächelnd. Daraufhin wendet sich David zu Tyler.

„Das freut mich. Und du Tyler? Wie läuft es bei dir so? Du hast mir bestimmt viel zu erzählen.“

Das Gespräch zwischen den beiden bekomme ich nicht mehr mit, denn ich merke, dass ich für kleine Mädchen muss. Ich entschuldige mich kurz und verschwinde dann zu den Toiletten.

Als ich vor dem Spiegel stehe blicke ich smaragdgrüne Augen entgegnen. Die Augenringe sind durch den Concealer nicht mehr zu sehen und auch schwarze dichte Wimpern umranden die sonst müde aussehenden Augen. In dem Moment danke ich Gott für meine strahlende Augenfarbe, die das Einzige sind, die Farbe in mein Gesicht zaubern. Sonst käme ich mir wie eine blasse Leiche vor. Weil mir warm ist, binde ich meine Haare, die mir bis zur Brust gehen, zu einem Pferdeschwanz zusammen. Zufrieden lächele ich mein Spiegelblick an und verlasse daraufhin das Bad.

Die meisten Frauen in dem Cafe haben es in dem Moment besser als ich. Sie tragen alle ein luftiges Kleid während ich es mit einer engen Jeans zu tun habe. Ich beschließe ab sofort immer das Wetter einen Tag vorher zu checken.

Tyler und David sind immer noch in einem Gespräch vertieft. Als ich die beiden so zusammen sehe, stiehlt sich ein seliges Lächeln auf mein Gesicht. Einen Moment lang frage ich mich, ob es wirklich so einfach ist, dass alles so wird wie damals.

Doch da wurde ich auch noch nicht eines besseren belehrt.

Mein Blick wandert nach draußen. Die Straßen sind nicht mehr so gefüllt wie vor 2 Stunden. Ich bin gerade dabei mich an meinem Platz hinzusetzen, als ich etwas erblicke, was mich mitten in der Bewegung erstarren lässt.

Draußen sind zwei Gestalten, die gerade die Straße überqueren, und auch wenn beide eine Sonnenbrille tragen, erkenne ich sie beide.  

Obwohl ich meinen Blick abwenden will, kann ich es einfach nicht.

Er trägt ein graues T-shirt mit einem V-Ausschnitt, sodass seine Muskeln darunter kaum zu übersehen sind. Dazu eine schwarze Jeans, mit der er bestimmt bei dem Wetter verdampfen muss. Doch ich kann nicht leugnen, dass er trotzdem wie einer von den Promis auf den Modezeitschriften aussieht. Wenn nicht sogar tausendmal besser.

Was macht er denn schon wieder hier?

Im selben Moment, wo ich mir die Frage in meinem Kopf stelle, fällt es mir ein.

Klar doch, er geht zur Arbeit.

Einen Moment lang gehe ich alle Möglichkeiten im Kopf durch.

Soll ich mich bemerkbar machen? Aber was soll es denn bringen? Er will mich nicht sehen.

Überzeugt greife ich nach der Cappy und der Sonnenbrille vor mir. Auch wenn es in dem Moment etwas komisch aussehen muss, ist es mir egal.

Beide schauen sich zwar um, jedoch fällt keines ihrer Blicke in das Cafe.

„Silver, hallo?“, macht sich Tyler empört vor mir bemerkbar. Anscheinend hat er bereits um meine Aufmerksamkeit gerungen, doch ich habe ihn wohl nicht wahrgenommen.

Widerwillig löse ich meinen Blick von Eisklotz und seinem Freund und schaue stattdessen meinem besten Freund in die Augen. David und er scheinen mein komisches Verhalten bemerkt zu haben, denn beide mustern mich ausgiebig.

„Tschuldige, mir ist nur etwas eingefallen. Kannst du mich bitte nach Hause fahren?“, frage ich an Tyler gewandt. Ich will hier so schnell wie möglich weg.

Auch wenn ich es nicht zugeben will: Seinen Anblick kann ich einfach nicht ertragen. Dieser Typ macht mich noch völlig fertig.

„Aber klar doch“, kommt es etwas verwirrt von Tyler. Daraufhin verabschiedet er sich von David und steht auf, um zu bezahlen, die dieser vehement ablehnt. Als ich David zum Abschied umarme, zieht er mich plötzlich unauffällig zur Seite.

„Silver, weißt du noch was ich dir letzten Samstag erzählt habe?“, flüstert er mir so leise ins Ohr, sodass nur ich es hören kann. Statt einer Antwort blicke ich ihn verwirrt an.

„Der Junge, der dich begleitet hat an dem Abend“, klärt David mich mit einem ungewöhnlich vielsagenden Ton auf. Ich reiße meine Augen auf.

„Was - was ist mit ihm?“, stottere ich, weil mein Herz plötzlich anfängt heftig zu pochen. Es war unübersehbar, dass David nur darauf brennt mir etwas zu sagen.

David macht eine kurze Bewegung in Richtung Fenster. „Hast du diese beiden jungen Männer eben gesehen, die vorhin in das Hotel eingetreten sind?“

Weil ich nichts überstürzen will, fordere ich ihn dazu auf zu beschreiben, wen er meint.

„So ein blonder Riese, aber ich meine den anderen. Graues T-shirt und dunkles Haar.“

Eisklotz?

„Was ist mit ihm?“ Meine Stimme bebt, denn gleichzeitig fürchte ich mich vor der Antwort.

Was weiß David über ihn? Instinktiv halte ich die Luft an während ich über Davids Schultern hinweg zu Tyler starre, der gerade am Handy ist.

„Das ist er. Genau der hat dich damals zur Party begleitet.“

 

 

 

 

Davids Worte waren wie ein Hieb in die Magengrube, wenn man es sich bildlich vorstellen möchte.

Ich fühle mich wie gelähmt während mich meine Beine wie selbstverständlich auf die Straße tragen.

Tyler merkt zum Glück nichts, denn er ist gerade zu beschäftigt mit Tobias über irgendwelche Rudertechniken zu diskutieren.

Als wir die Straßen überqueren bekomme ich einfach aus dem Nichts das Gefühl beobachtet zu werden.

Na toll, jetzt wirst du auch noch paranoid. Hallelulia, Silver.

Ich löse meinen Pferdeschwanz und ziehe die Cappy so weit wie möglich runter. Die Abendsonne wärmt zwar die entblößten Stellen meiner Haut - oben drauf laufe ich immer noch in T-shirt und einer langen Jeans rum, doch innerlich friere ich. Meine Gedanken überschlagen sich förmlich. Immer wieder versuche ich Zusammenhänge zwischen dem Unfall und Jason herzustellen und überhaupt mit allem, was ich bisher herausgefunden habe.

Eins ist klar: David konnte ich vertrauen. Wenn er sagte, dass der Junge, der mich an dem Abend zur Party begleitet hatte, Eisklotz war, dann stimmte das auch. Er verwechselte keine Menschen. Nein, ich kenne ihn  dafür viel zu lange.

Die Frage ist nur: Warum ist Eisklotz so verbissen darauf, dass ich nicht wissen darf, dass wir uns kannten oder überhaupt was genau wir miteinander zu tun haben? Denn dass wir uns kannten, wurde jetzt oft genug bestätigt, da bin ich mir mittlerweile sicher.

David meinte, dass wir an dem Abend nicht wie ein Paar aussahen. Und dann ist da noch die Sache, dass Eisklotz danach in die Gasse verschwand während ich…

Das Hupen eines Auto reißt mich plötzlich aus meinen Gedanken. Kurz muss ich blinzeln, um die Umgebung wieder wahrnehmen zu können.

Ich stehe kurz vor Tylers Auto. Tyler selbst lehnt lässig an der Motorhaube und telefoniert. Doch jetzt blickt er mich geschockt an.

Erst jetzt realisiere ich, dass ich mitten auf der Straße stehe und den Verkehr verhindere. Links von mir stehen bereits vier Autos hintereinander, was auf einen Stau hinweist.

„Silver, was machst du? Komm her“, weist Tyler mich entsetzt auf. Als ich nicht sofort realisiere, kommt er mit eiligen Schritten auf mich zu und zieht mich von der Straße weg.

„Ich lege mal auf. Rufe dich später an“, murmelt er gehetzt in den Hörer und steckt kurz daraufhin das Handy ein.

Tyler legt beide Arme beruhigend auf meine Schultern während ich immer noch etwas verloren da stehe. Er hat mich zu der Stelle gezogen, wo er vorhin stand, jedoch lehnt er sich jetzt nicht mehr an seinen Wagen, sondern steht aufrecht vor mir.

Ich merke wie mich mein bester Freund besorgt mustert und seine Unterarme sich langsam hinter meinem Kopf kreuzen, sodass ich an seine Brust gezogen werde.

„Geht es dir gut? Hast du Kopfschmerzen oder so?“, fragt er mich und zieht die Cappy von mir ab. Kurz darauf spüre ich wie er seinen Kopf leicht auf meinen legt. Ich atme seinen Duft ein. Er riecht nach frischem Gras und Limette. Wie immer.

Sofort verfalle ich in alte Erinnerungen. Erinnerungen, die von einem kleinen Jungen und Mädchen handeln, die nichts lieber tun als sich auf Spielplätzen, Parks und am Hafen aufhielten. Spielten und Neues erkundeten.

„Ich glaube, ich habe etwas zu viel von der Sonne abgekriegt“, murmele ich gegen seine Brust. Meine Stimme klingt heiser und ich fühle mich erschöpft.

Ich spüre förmlich wie Tyler die Luft einzieht. Kurz darauf folgt ein Seufzen und er löst sich langsam von der Umarmung. Zärtlich streichelt er mir über die Wange

„Dann bringe ich dich am besten nach Hause“, verkündet er mit einem seligen Lächeln und ich nicke leicht benommen.

„Nichts lieber als das.“ 

 

Kapitel 21

 

 

 

 

 15 Minuten vorher 

 

 

„… Dann möchte ich, dass du mich am Freitag zu einem wichtigen Geschäftsessen begleitest. Am Samstag ist auch eine Benefitsveranstaltung, auf der ich erscheinen muss. Du kennst das alles ja bereits. Soll Phil dich fahren?“

Nichts lästiger als das.

„Nein, ich fahre selbst.“

Seit etwa einer halben Stunde textet mich der Alte schon voll, obwohl man das Ganze in einem Satz zusammenfassen konnte: Ich möchte, dass du mit mir zusammen den reichsten und aufgesetzten Snobs ganz Hamburgs in den Arsch kriegst.

Von mir kommt noch nicht mal ein Ja oder Nein. Solche Worte sind schon fast überflüssig. Es reicht, wenn die Anweisungen von ihm kommen. Denn ich bin nur seine rechte Hand, wenn man es so nennen kann.

Am Anfang hörte ich ihm ja noch etwas zu. Immerhin muss ich ungefähr wissen, auf welche Leute er diesmal fokussiert ist.

Damit ich es demnach an das Beuteschema dieses Mistkerls anpassen kann.

Der Wind schlägt mir förmlich ins Gesicht. Ich stehe auch total ungünstig an der Ecke gelehnt, wo sich dort zwei Windzüge aus verschiedenen Richtungen überkreuzen. Genervt schmeiße ich die Zigarette zu Boden, obwohl ich gerade mal zwei Züge davon genommen habe. Doch irgendwie vergeht mir die Lust.

Drinnen in der Bar ist kaum etwas zu hören. Es ist auch immerhin mitten in der Woche und gerade mal kurz nach 6. Da trinken höchstens jetzt die vornehmen Ladies.

Während der Alte von seinen neuen Eroberungen - und nein ich spreche nicht von irgendwelchen Bettgeschichten - prahlt, lehne ich mich an das kalte Gelände und blicke der Abendsonne entgegen.

Hudson unter der Abendsonne. Das ist einer von den Momenten, die man für immer festhalten sollte. Genau wie viele andere auch.

Mein Gesprächspartner wird von seiner Sekretärin unterbrochen. In dem Moment könnte ich sie abknutschen. Aber auch das ist bereits geschehen, wobei es eher umgekehrt der Fall war.

Er entschuldigt sich, woraufhin ich mit einem „Kein Problem“ auflege. Endlich.

Die kühle Windbrise berührt mich leider kaum, denn ich stehe leider bereits in meiner Arbeitskleidung, die für das Wetter definitiv nicht vorteilhaft ist. Aber wenigstens hat die Bar eine Klimaanlage. Trotzdem wollte ich kurz frische Luft schnappen und atme jetzt gierig die Luft vor mich ein.

Ich löse mich von dem schönen Anblicks Hudson und schaue nach unten.

Menschen, die entweder von der Arbeit kommen und sich langsam in ihre teuren Apartments verziehen möchten. Dann gibt es noch die, die einfach aus Spaß durch die Gegend laufen, weil sie Zeit haben, um diese irgendwo zu vertreiben. Ob in irgendwelchen Bars, Restaurants, Cafes oder sonst wo. In dieser Straße wimmelt es auch nur vom Besten. Auch das Nachtleben findet hier sein Zentrum.

Hinter mir vernehme ich ein Klick eines zugefallenen Schlosses. Ich kann mir schon denken, dass es Chris ist. Der kann auch nicht lange ohne mich, denke ich mir spöttisch und mein Mund verzieht sich zu einem schiefen Lächeln, als ich sein Räuspern neben mir höre.

Doch dieses Lächeln verlöscht augenblicklich, als sich mein Blick von den auf der Straße stehengebliebenen Autos bei einer Person verharrt. Ich halte den Atem an. Die Cappy ist nicht zu übersehen. Es ist auch ein Unikat.

„Hey, es wird langsam voll drinnen“, vernehme ich gerade noch so die Stimme meines Kumpels.

„Komme gleich“, gebe ich teilnahmslos von mir, damit er wenigstens eine Antwort bekommt. Scheiße, will die sich etwa umbringen? Dann auch noch mit meiner Cappy…

Verdammt, was treibt dieses Mädchen schon wieder hier? Hatte ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Dass die Gasse auch noch nicht weit von hier liegt, macht es auch nicht besser.

In dem Moment wird sie zu meiner Erleichterung von irgendeinem Typen von der Straße weggezogen.

„Danke, man“, murmele ich an den Kerl gerichtet, obwohl er es eh nicht hören kann. Wie auch? Da musste er schon hochgucken und Ohren einer Fledermaus besitzen.

„Wofür?“, kommt es plötzlich verwirrt von Chris. Ich streife ihn mit einem flüchtigen Blick bevor ich wieder nach unten schaue. Verdammt, ich dachte der wäre nach meiner Antwort längst abgezogen.

Doch ehe ich meinen Blick von ihr lösen kann, sieht mein neugieriger Kumpel auch nach unten.

„Ist das nicht Silver?“, fragt er, als dieser Kerl ihre Cappy abzieht.

Scheiße, das war nicht irgendein dahergelaufener Typ!

„Wer ist das neben ihr?“, hakt Chris nach und ich seufze auf. In dem Moment möchte ich den neugierigen Chris so schnell wie möglich von dem Anblick wegzerren. Sonst würde er mich später nur damit nerven.

Beschwichtigend lege ich meine Hand auf Chris’s Schulter und will ihn mitzerren, als er plötzlich als Reaktion meine Schultern packt und mich an das kalte Gelände drückt, sodass ich unverweigerlich nach unten schauen muss. Und der Anblick, der sich mir bietet, versetzt mir einen heftigen Stich durch mein Herz. Meine Hände ballen sich augenblicklich zu Fäusten.

Ich drehe dem seinen Hals um!

„Ja, das würde ich auch tun“, stellt Chris seelenruhig neben mir fest. Hatte ich es eben laut ausgesprochen?

Endlich löst sich dieser Schnösel von ihr und ich - naja wir - beobachten wie die beiden in den Wagen steigen. Kurz danach verschwindet dieser hässliche Schlitten in der Menge.

„Man man“, murmelt Chris vor sich hin, als wäre er derjenige, der leiden muss, nachdem er Silver mit einem Anderen gesehen hat.

Aber nein, der Glückspilz bin leider ich.

Obwohl mir der Anblick der beiden nicht neu ist, fühlt es schmerzvoller an als damals.

Viel schmerzvoller.

 

Damals, als mir noch alles egal war.

Damals, als sie mir noch egal war.

Damals, als ich es noch nicht mit Silver Haygilton zu tun hatte.

 

Bevor Chris irgendetwas sagen kann, stampfe ich los.

Zu meiner Arbeit.

Einer der wenigen Dinge, die mich von ihr ablenken kann. Zumindest ansatzweise.

Kapitel 22

 

 

Das Allererste, was ich tue, nachdem ich eben aufgewacht bin, ist tief ein und aus zu atmen. Gleich darauf stiehlt sich ein Lächeln auf meinem Gesicht.

Endlich wieder mal einen Tag ohne irgendeinen Alptraum.

Nach einigen Minuten schwinge ich meine Beine über die Bettkante und reibe mir vorsichtig meine Schläfe. Die gestrigen Kopfschmerzen sind zu meiner Erleichterung weg.

Gut gelaunt betrete ich das Bad und springe kurz unter die Dusche. Mittlerweile habe ich mich angewöhnt an bestimmte Stellen meines Körpers wie am Bauch und Kopf nur einen leichten Druck auszuüben.

Denn meine inneren Verletzungen werden wohl noch eine Weile brauchen, um gänzlich zu verheilen. 

Nach meiner Wetter-App zu urteilen - ich habe mich langsam an dieses Smartphone gewöhnt - soll es heute knappe 28 Grad sein. Das passt perfekt für das Training später. Liz riet mir beim gestrigen Telefonat mit einem Top und einer kurzen Hose zu kommen.

Nachdem ich mich für einen kurzen und grünen Jumpsuit entschieden habe, packe ich schnell die Schulsachen zusammen mit den Sportklamotten ein ehe ich mich zum Schminken begebe. Da ich mich darin noch nicht so gut auskenne, bleibt es bei der Wimpertusche und etwas Rouge, das mich etwas frischer aussehen lässt.

Mit Kopfhörer laufe ich summend die Treppe runter, wobei ich trotz guter Laune auf die jede Stufe achte. Ich frage mich immer noch, warum ich nur auf dieser Treppe dieses komische Gefühl habe gleich runterzufliegen. Die Schultreppen rase ich sonst immer unbekümmert herunter.

„Ich bin leider spät dran, daher werde ich in der Schule essen“, informiere ich meine Mutter schnell während ich zügig ein Glas Milch leere. Eilig laufe ich zur Haustür und schließe schon mal auf während meine Mutter anscheinend noch ihre Arbeitstasche packt.

Während draußen leichte Sonnenstrahlen angenehm auf meiner Haut prickeln, schlendere ich den langen Weg zu unserer Autogarage hin. Seit meiner Entlassung bin ich nicht mehr hier entlang gelaufen. Auch den Garten hinter unserem Haus habe ich vollkommen vergessen. Wenn man wüsste wie steril das Haus doch innen ist, steht der Garten schon fast im Kontrast da.

Ich erinnere mich daran, dass ich den Garten zu meinem kleinen Zufluchtsort gekrönt habe, doch jetzt, da ich den Park mit dem See entdeckt habe, bleibt der Garten für mich nur eine Dekoration zu unserem Haus.

Während ich an den Park denke, schweifen meine Gedanken wie automatisch zu ihm.

Ich habe ihn gestern nur kurz gesehen, aber er mich nicht. Ach was, das ist doch, was er will. Dieser...

„Schatz“, ertönt die Stimme meiner Mutter, die hinter mir auftaucht. „Hast du dich eigentlich schon für deine Leistungsfächer entschieden?“

Ich warte bis wir im Auto sitzen bis ich ihr daraufhin antworte: „Ja, Englisch und Biologie.“

Bei der Antwort schießen die Augenbrauen meiner Mutter in die Höhe. „Wie kommst du denn auf diese Kombination?“ Sie klingt erstaunt.

„Das sind die Fächer, die mir eben am meisten gefallen“, gestehe ich ihr. Doch ich bedauere, dass ich nun andere Lehrer als Frau Rumber in den Leistungsfächer bekommen werde.

„Aber Schatz…“ Neben mir schüttelt sie energisch den Kopf. „Da gehört mehr dazu als das. Du musst bedenken, dass es passend zu deinem Studiengang sein soll. Und letztendlich zu deinem Beruf. Diese Kombination von dir ist eigenartig.“

Ich lehne mich seufzend nach hinten während ich nach draußen auf die Straßen starre. „Aber ich weiß doch noch gar nicht, was ich werden will“, murmele ich und meine es auch so.

Gestern Abend kam ich zu der Entscheidung. Englisch habe ich einfach wegen der Sprache genommen, weil sie mir gefällt. Außerdem möchte ich später viel reisen. Da wird deutsch wohl kaum ausrechnen. Und warum ich Biologie gewählt habe: Weil ich den menschlichen Körper besser kennen lernen will.

„Dann wird das aber Zeit. Ich kann dich ein paar Leuten vorstellen. Du kannst zum Beispiel in einigen Kanzleien reinschauen. Ich kenne da eine Kollegin dessen Sohn dort zurzeit Praktikant ist.“

„Ich weiß nicht“, gebe ich skeptisch von mir und ziehe nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Ich habe mich doch erst vor Kurzem für meine Leistungsfächer entschieden und sie erwartet schon, dass ich meinen Beruf wählen soll?

„Das ist eine einmalige Chance. Nicht jeder kann da einfach reinsparzieren. Die meisten müssen ein ganzes Auswahlverfahren bestehen, um dort gerade mal ein Praktikumsplatz zu bekommen. Aber Neyla schuldet mir noch was.“

Ich scanne augenblicklich die vorbeiziehenden Straßenschilder, um zu schauen, ob wir gleich da sind. Noch 2 Hauptstraßen.

Vorsichtig schiele ich zu meiner Mutter herüber, die meinen Blick gleich darauf erwidert.

„Ich denke Politik & Wirtschaft und Englisch am besten Mathe ist eine gute Kombination“, schlägt sie mir zuversichtlich vor.

„PoWi?“, frage ich ungläubig. „Etwa… wegen Jura?“

Statt einer Antwort bekomme ich ein Lächeln und Nicken von ihr, als hätte ich eben die Ein-Millionen-Euro-Frage richtig beantwortet. Das ist nicht ihr Ernst.

„Mhmmm, vielleicht“, gebe ich nur unbeteiligt von mir. Mir wird nun in dem Moment klar, dass das, was meine Mutter angeblich beim Familienessen hingetrallert hat, ihr voller Ernst ist.

„Ich kann mir dich schon förmlich vorstellen, wie du als Anwältin aussehen wirst.“ Sie seufzt selig vor sich hin, als würde sie von ihrem Schwarm sprechen. 

Dabei redet sie von meiner Zukunft.

Ich entscheide mich schließlich für das Schweigen. Widerstand ist zwecklos sowie meine Mutter gerade schaut.

Als wir da sind, gebe ich ihr einen Wangenkuss bevor ich aussteige. Auf dem Weg ins Schulgebäude nehme ich mein Handy raus.

Tyler hat mir noch gestern Gute Nacht geschrieben, aber da bin ich wohl schon eingeschlafen. Er war gestern so fürsorglich während er mich nach Hause gebracht hat und erst nachdem er wirklich sicher gegangen ist, dass es mir gut geht, hat er erst das Haus verlassen.

Eigentlich erinnert mich das nur daran, dass Tyler früher auch immer so zu mir war. Überfürsorglich und aufmerksam. Mein bester Freund eben. Daran hat sich wohl nichts geändert. Naja außer, dass wir jetzt fast erwachsen sind und dass mein bester Freund mir seine Liebe gestanden hat.

Ich weiß immer noch nicht wie genau ich damit umgehen soll. Er scheint sich darum zu bemühen, dass zwischen uns alles beim Alten bleibt. Aber wenn ich bloß an seine gestrige Reaktion auf Seth denke, kann ich nicht anders. Es hat sich definitiv zwischen uns etwas verändert. Er hat sich verändert.

Ich lehne meinen Kopf an das kalte Metall.

Sollte ich mich nicht glücklich fühlen? War das nicht immer das, was ich mir seitdem ich elf war, erträumt habe? 

 

Ich beschließe mir wenigstens darüber nicht den Kopf zu zerbrechen und den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen. Seufzend lese ich die nächste SMS.

 

Gerne, lasst uns einen Mädchenabend machen. Was hälst du davon?

- Linda

 

Verblüfft lehne ich mich an mein Schließfach. Mädchenabend?  Nachdenklich reibe ich mir an die Schläfe. Was versteht man darunter?

„Guten Morgen“, ertönt es plötzlich vor mir. Als ich von meinem Handy aufblicke, sehe ich in Zens lächelndes Gesicht.

Es ist nicht zu übersehen, dass er gut gelaunt ist.

„Morgen“, erwidere ich lächelnd während ich die Schulbücher in das Fach lege. Zen kann ich schlecht fragen, was ein „Mädelsabend“ ist... Ich sollte sowas wohl lieber Vaia fragen.

„Heute Nachhilfe?“, fragt mich der blonde Junge mit den grünen Augen, als er sich neben mir an die Wand lehnt.

„Ja gerne. Ich habe heute keinen Nachmittagsunterricht. Wie wär’s nach der Mittagspause in der Bücherei?“, schlage ich ihm vor.

„Das passt“, erwidert mein Sitznachbar und wir schlendern zum Klassenraum.

 

 

 

Da ich heute besonders gut geschlafen habe, kann ich mich voll und ganz auf den Unterricht konzentrieren und auch beteiligen. Ich mag Frau Rumber als Lehrerin immer mehr. Hoffentlich habe ich bei den beiden LK-Lehrern auch so Glück.

Obwohl ich immer noch die Neue in der Klasse bin, scheinen die meisten sich an mir „gewöhnt“ zu haben. Statt der neugierigen Blicke wie vom Anfang bekomme ich von den meisten nun eine Begrüßung. Naja eben nur fast alle.

Es gibt anscheinend einige Mädchen in der Klasse, die immer noch keinen Gefallen an mir finden. Besonders von einer Clique aus drei Mädchen sind die giftigen Blicke unübersehbar. Nach ihrem Aussehen zu urteilen scheinen sie mehr Wert darauf zu legen, passend für einen Laufsteg auszusehen als für die Schule.

Manchmal bekomme ich Gesprächsfetzen wie „…die denkt auch, dass Tyler Dreyfus was von ihr will…“ oder „…jetzt gafft sie auch noch Seth Prinsloo an, unglaublich…“ über mich mit. In solchen Momenten rate ich ihnen in Gedanken ihre überragende Interpretationsfähigkeit mehr den Gedichten im Deutschunterricht zu widmen als mir. Aber man kann ja nicht alles haben.

Ich stelle mir vor, wie ich wohl auf sowas reagiert hätte, wäre da nicht diese Gedächtnislücke. Bestimmt hätte ich mich denen widersetzt und irgendetwas zurückgeblafft, aber mal ganz ehrlich: Ich habe zurzeit wirklich andere Probleme.

Ich blicke meine Sitznachbarin an. Im Gegensatz zu mir scheint sie bei jedem Kommentar von den anderen Mädchen sichtlich kleiner zu werden. Aber ich verstehe nicht wieso. Vaia ist wirklich eine versteckte Schönheit. Ihre rotblonden Locken sind wirklich eine Pracht und umranden ein blasses Gesicht. Trotzdem kann ich mir gut vorstellen, dass sie so ungeschminkt um tausendmal schöner aussieht als die anderen Mädchen, wenn diese ihre kiloschweren Masken von Schminke abmachen würden. Ob sie einen Freund hat?, schießt es mir durch den Kopf, doch ich will nicht zu aufdringlich sein. Ich rede sowieso schon von allen am meisten mit ihr.

„Wo ist Seth heute schon wieder? Ich hoffe, der schwänzt nur“, murmelt Zen plötzlich nachdenklich neben mir. Erst jetzt hebe ich den Kopf und schaue auf dessen Platz. Tatsächlich ist er heute nicht da.

„Was meinst du mit „nur“ schwänzen?“, zische ich leise zu ihm.

„Na er soll nicht krank oder so sein“, erklärt er mir. „Übermorgen ist die Meisterschaft, schon vergessen?“ Stimmt.  

Schließlich klingelt es zur großen Pause. In den nächsten Stunden hat jeder seine Leistungsfächer. 

Als ich nach vorne zur Tür laufe, winkt Frau Rumber mich zu sich.

„Haben Sie sich schon entschieden?“, fragt sie mich während ein höfliches Lächeln ihre Lippen ziert.

Ich nicke zur Antwort. „Englisch und Bio.“

Ähnlich wie bei meiner Mutter schießen ihre Augenbrauen in die Höhe. Nur, dass es bei ihr eine andere Reaktion ist: Aus ihren Augen lese ich Überraschung, aber auch Ehrfurcht ab. Auch ihr Lächeln unterstreicht nochmals den Unterschied.

„Dürfte ich fragen, wie Sie zu dieser Kombination gekommen sind?“, kommt es schließlich von ihr. „Denn ich bin mir sicher, Sie sind die Einzige in dem Jahrgang mit dieser Kombination.“

Ja, ich bin auch die Einzige mit einem Gedächtnisverlust.

„Ich liebe Englisch. Musik auf dieser Sprache finde ich auch schöner. Und Bio.. mich interessiert das Fach eben. Ich denke, wenn man Interesse an etwas hat, ist das doch die beste Voraussetzung, um gut darin zu sein?“, rattere ich meine Erklärung ab.

Meine Lehrerin nickt verständnisvoll. „Dann beeilen Sie sich, sodass Sie nicht beim ersten Unterricht zu spät erscheinen.“

 

Wie Frau Rumber es mir angewiesen hat, laufe ich in das Sekretariat, um meine Entscheidung schriftlich zu bestätigen und schließlich den Raum gesagt zu bekommen. Damit ist auch schon die Pause zu Ende.

Auf dem Weg zum Raum simse ich noch schnell Liz, ob sie am Freitag bei der Meisterschaft mit mir zuschauen will.

Als ich eintrete, steht der Lehrer bereits vor der Klasse. Er dreht sich um und fast wäre mein Mund aufgeklappt, doch ich kann mich noch gerade zurückhalten.

„Guten Tag. Sie sind sicherlich Silver Haygilton“, stellt er direkt fest. Seine Stimme klingt jung. Ich nicke mechanisch.

Der Lehrer hat dunkelblonde Haare, die er zurückgestrichen trägt, und trotz der dünnen Brille sieht man sein markantes Gesicht dahinter. Außerdem ist er groß und wirkt in Hemd und schwarzer Hose ziemlich souverän und gutaussehend. Zwar ist er nicht mein Typ, wobei das sowieso gar nicht in Frage kommen darf, aber ich habe mir eben einen älteren Lehrer erwartet. Denn soweit ich mich erinnern kann, sind alle Lehrer auf dieser Schule nicht jünger als 40.

„Es freut mich, dass Sie sich für meinen Kurs entschieden haben. Ich bin Herr Harves. Dann nehmen Sie doch Platz. Hier vorne sitzt eigentlich Seth, der anscheinend heute nicht da ist, aber Sie können sich auf den Platz daneben setzen“, weist er mir freundlich zu.

Daraufhin schweift mein Blick durch den Kurs und - wer hätte das gedacht - er besteht fast ausschließlich aus Mädchen. Die fünf Jungs haben sich alle an der vorderen Ecke verschanzt als wäre es die offizielle männliche Zone.

„Danke, Herr Harves“, murmele ich etwas verunsichert während ich überlege, wo ich mich am besten hinpflanzen soll. Die einzigen freien Plätze sind ganz hinten. Der Grund, warum alle möglichst weit vorne sitzen wollen, ist unübersehbar.

Ich entscheide mich schließlich neben dem nicht anwesenden Pokerface zu setzen.

Obwohl der Lehrer ziemlich jung ist - nach dem Getuschel meiner hinteren Nachbarinnen ist er gerade mal 26 - habe ich den Eindruck, als würde er seinen Job schon ewig machen. Trotz der schwärmerischen Mädchen bekommt er es hin, dass alle ernst den Unterricht folgen. Herr Harves behält die Balance zwischen Frontalunterricht und dem Abfragen. Das nächste Thema soll Mikrobiologie sein. Er verkündet, dass es eher eine Art Exkurs ist, damit man sich erstmal in der Thematik zurecht findet. Jeder soll sich mit einem Partner mit einem Thema befassen und am Ende des Monats eine Präsentation halten.

Meine Schule hat die Besonderheit, dass die Schüler bereits die für das Abitur gewählten Leistungsfächer im letzten Monat der 11. Klasse besuchen, damit man sich bis zu den Sommerferien sicher sein kann, ob man die LKs auch in der Qualifikationsphase bis zum Abitur behalten will. Die Noten in den Fächern wurden bereits von den alten Lehrern eingetragen und wie die Sekretärin es mir verraten hat, hatte ich in diesem Jahr in Biologie 8 Punkte während ich 13 Punkte in Englisch bekam. Generell liegen meine Noten im zweistelligen Bereich, von daher wundert es mich, dass ich Bio anscheinend so vernachlässigt habe.

Zwischendurch bemerke ich, dass Seths Platz ziemlich abseits von den Jungs liegt. Alle Kerle in diesem Kurs sitzen rechts von mir in der Ecke und sein Platz ist auf meiner linken Seite.

Nachdenklich stütze ich meinen Kopf mit der Hand ab. Er scheint wirklich nicht jedermanns Freund zu sein. Warum ist er immer so fürchterlich distanziert zu allen? Aber trotzdem gehört er anscheinend zu den Beliebten, was man an seiner weiblichen Gefolgschaft sehen kann. Welch Ironie.

 

 

 

Auf dem Weg zur Mensa treffe ich Vaia, woraufhin ich sie gleich zur Seite ziehe.

„Vaia, ehm also weißt du, ich habe schon lange nicht mehr eine Art „Mädelsabend“ gemacht. Was.. gehört da so dazu?“ Ich schaue sie abwartend an. Dabei habe ich meine Hände beschwörend auf ihre Schultern gelegt, damit ich ihr direkt ins Gesicht schauen kann. Insgeheim hoffe ich, dass sie meine Ahnungslosigkeit über solch banale Dinge nicht hinterfragt.

„Eh.. naja ich mache sowas auch nicht so oft, weißt du. Man ist naja nur unter Mädchen und da kann man Verschiedenes machen so wie einen Film schauen, sich gegenseitig hübsch machen, sich einfach unterhalten und eh.. sowas halt.“, beantwortet sich sichtlich verunsichert und verwirrt meine Frage.

„Mhm“, brumme ich nachdenklich von mir während wir schließlich in die Mensa laufen. Erst bei dem Anblick von Essen merke ich was für einen Hunger ich habe, da ich das Frühstück total vergas.

Mit beladenen Tabletten - wobei meins vollgepackt ist während Vaia nur eine Suppe nahm - steuern wir auf einen leeren Tisch zu.

Als ich mein Tablett auf dem Tisch ablege, stellt sich plötzlich ein Mädchen zu uns. „Hey Silver.“

Ich erkenne sie wieder. Sie ist das schwarzhaarige Mädchen, das mir letztens auf dem Hof zugewinkt hat. Möglichst gelassen versuche ich ihren leicht forschenden Blick zu erwidern und meine Nervosität zu vertuschen.

Ich lächele das Mädchen an während Vaia vor mir Platz nimmt. „Na du?“ Klingt doch überzeugend, nicht?

Sofort erwidert sie es. „Ich habe gehört, du kommst auch zur Party. Alle reden schon darüber.“

Oh Gott.

Ruhig bleiben, Silver.

„Ja“, antworte ich mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen. Dabei öffne ich meine Caprisonne und blicke Vaia an. Ob sie auch dahin geht? Wohl eher nicht. Alex ist ja eigentlich nicht in unserem Jahrgang.

„Find ich echt mutig von dir“, gibt das Mädchen anerkennend zu. Sie ist hübsch, schießt es mir durch den Kopf. „Mit wem kommst du?“

„Mit einer Freundin.“ Wieder blicke ich Vaia an. „Vielleicht auch zwei“, füge ich hinzu.

„Und ich bin ihr Chaffeur“, kommt es plötzlich von hinter. Mit einem breiten Grinsen umgeht Tyler das Mädchen und setzt sich neben mich. Neben seinem Tablett komme ich mir wie jemanden vor, der Diät macht und Vaia.. naja dann wie eine, die gerade so über die Runden kommen will.

„Hey Tyler.“ Mir entgeht nicht, dass das Mädchen bei seiner Präsenz sofort eine andere Haltung einnimmt. Aber ich kann es ihr auch nicht verübeln.

„Na?“, begrüßt er das Mädchen ohne sie anzuschauen denn seine Augen schweifen von mir auf die Caprisonne in meiner Hand, die er mir kurzerhand entreißt. Ich schnaube genervt. Statt etwas zu sagen, widme ich mich voll und ganz meinem Essen. Dabei spüre ich deutlich wie mein bester Freund mich von der Seite anschaut. Das Mädchen hat sich anscheinend verschanzt. Sie hat sich wohl ignoriert gefühlt. Dabei weiß ich immer noch nicht ihren Namen. Aber vielleicht ist das auch nicht so wichtig.

„Wie geht es dir so?“, fragt mein bester Freund mich. Ich blicke ihn an. „Gut. Das ist übrigens Vaia.“ Bei den Worten nicke ich in ihre Richtung.

„Hey ich bin Tyler.“ Tyler gibt dem zierlichen Mädchen lächelnd seine Hand, die sie zögernd schüttelt. Ich schmunzele etwas. In dem Moment setzt sich Zen neben mich.

„Wie war dein Kurs?“, fragt der blonde Junge mich.

„Ich glaube, ich habe die richtige Wahl getroffen“, gebe ich lächelnd zu während ich in meinen Nudeln rumstochere. „Der Lehrer ist gut. Ich freue mich schon auf das neue Thema.“

„Stimmt, du hast ja Herr Harves. Du bist so ein Lehrerglückspilz, Silver.“

Zu meiner Verwunderung stimmt Vaia Zen mit einem Nicken zu.

„Wer ist das?“, mischt sich Tyler ein, der schon fast fertig mit seinem Essen ist.

„Er war vor Kurzem noch Referendar“, erklärt Zen mit anerkennenden Ton. „Mit 26 schon LK-Lehrer. Das muss schon was heißen. Ach und ein Frauenschwarm ist er auch.“ 

Ach Zen...

Neben mir stockt Tyler in seiner Bewegung. „Frauenschwarm?“, nuschelt er mit vollem Mund, woraufhin ich ihn mahnend anschaue, doch er ignoriert es und starrt Zen stattdessen an.

„Ja, er ist jung und sieht gut aus“, kommt es diesmal von Vaia.

Ich beschließe mich rauszuhalten und weiter zu essen.

„Ahja? Findest du ihn auch gutaussehend?“, fragt Tyler plötzlich an mich gewandt. Ich erwidere seinen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen. Ozeanblaue Augen, die mich eingehend mustern. „Geht“, murmele ich und schlürfe an meinem Getränk.

Ich merke schon wie Tyler etwas sagen will, doch plötzlich fragt Zen laut in die Runde: „Was ist heute eigentlich mit Seth los?“

Da vermisst jemand aber das Schlecht-gelaunt-Paket.

Augenblicklich denke ich an die gestrigen Kopfschmerzen. Vergeblich wiege ich ab, ob es an der Sonne gelegen hat oder…

Verdammt, ich muss mit ihm reden!

„Man, wo steckt er nur?“, spreche ich meinen Gedanken aus.

„Keine Ahnung. Wieso? Brauchst du etwas von ihm?“, fragt Tyler neben mir. Mir entgeht sein misstrauischer Unterton nicht.

Ohne ihn anzuschauen erwidere ich: „Ne, ich wollte ihm... die Hausaufgaben in Bio sagen.“ Dabei trifft „sollte“ es eher.

Vor mir macht Vaia Anstalten aufzustehen. Eilig folge ich ihr. Auf dem Weg zum Tisch zurück frage ich sie, ob sie mit zur Party am Samstag kommen will. Daraufhin erwidert sie unsicher, dass sie sich es überlegen wird und wir verabschieden uns, da Vaia im Gegensatz zu mir noch Nachmittagsunterricht hat.

Als ich wieder zum Tisch zurückkehre, sitzen zwei Mädchen auf Vaias alten Platz und unterhalten sich mit Tyler.

Ich lehne mich an den Tischrand neben Zens Platz. „Zen, kommst du?“

„Mhmmm gleich“, erwidert dieser mit vollem Mund und ich muss grinsen. Dann warte ich geduldig auf ihn während Zen sein Tablett zurücklegt.

Tyler wendet sich plötzlich vom Gespräch mit den Mädchen ab. „Was macht ihr?“, kommt es neugierig von ihm.   

„Er gibt mir Nachhilfe.“ Möglichst gekonnt ignoriere ich die abschätzenden Blicke der Mädchen, die ich nicht kenne. Was haben die bloß? Habe ich etwas im Gesicht?

„Du hättest mich fragen können“, erwidert Tyler darauf mit einem Zwinkern, woraufhin die Augen der Mädchen zu Schlitzen werden.

„Ja, aber du hast doch soviel um die Ohren. Allein das Rudern“, wiegele ich ab.

„So wir können los“, ertönt es von Zen, der eben neben mir aufgetaucht ist.

„Trotzdem“, murmelt Tyler noch, doch da habe ich mich mit Zen schon längst umgedreht.

 

 

 

Nach etwa 2 Stunden Durchlernen kann ich nur sagen: Zen sollte Lehrer werden. Oder zumindest Nachhilfe als Nebenjob geben.

Beim Verabschieden hinterlegt er mir noch zu jedem Fach eine Liste mit den Themen seit der 8. Klasse. Dazu gibt er mir eine Art Struktur, welches Thema ich am besten mit einem anderen kombinieren soll.

Am Ende fragt Zen noch, ob sein Vater mich mitnehmen solle, doch ich will noch in der Bücherei bleiben.

Als er schließlich weg ist, verlasse ich die Lernecke und laufe zu den freien Computern, die man hier benutzen darf.

Etwa eine halbe Stunde recherchiere für die Hausaufgaben und bin schließlich mit allem fertig, sodass ich heute Abend nach dem Training nichts mehr tun muss. Es ist mittlerweile 15:20 Uhr.

Gähnend strecke ich mich aus und überlege, was ich solange tun soll bis Liz mich abholt.

Wie automatisch lege ich meine Finger auf die Tastatur und suche nach Artikeln vom 12. Mai. Die Hamburger Zeitung erscheint als Erstes. Mit zittriger Hand auf der Maus klicke ich den Bericht an.

 

 Bericht - 13. Mai.2013

Feuer im Empire Riverside Hotel    |   12. Mai. 2013

Einsatz für Wehren in Hudson - Geschätzter Schaden: 120 000 Euro

 

Als die Feuerwehr spät Abend - gegen 22:10 Uhr - beim 4-sternigen Luxushotel ankam, war es bereits zu spät. Der Anruf kam von einer der Gäste, der sich im Eiscafe unterhalb des Hotels befand.

Ausgang dieses Vorfalls ist eine private Party von Jugendlichen. Das größte Apartment im 3. Stockwerk wurde von einer Yvonne Kirlson gemietet und knapp 100 Jugendliche betraten an diesem Abend das Hotel, um zu dieser privaten Veranstaltung zu gelangen.  

Laut Augenzeugen fing das Feuer kurz vor 22 Uhr an. Aus dem Apartment ertönten Schreie und kurz darauf wurde von den Jugendlichen versucht die Fenster zu öffnen. Da diese leider nicht manuell geöffnet werden konnten und der zuständige Schalter neben der Eingangstür des Apartments - laut späteren Untersuchungen - in der Nacht nie getätigt worden war, waren somit jegliche Fluchtwege anfangs verwehrt geblieben.

Nach vielem Lärm und Hilferufen an die Menschen auf der Straße wurde schließlich doch ein Fenster eingeschlagen. Ein Mädchen (Silver Haygilton) - laut Zeugen schlug sie das Fenster ein - sprang daraufhin aus dem Fenster. Das Mädchen prallte auf dem Schirm des Eiscafes ab und landete schließlich auf einem Autodach, das gleich vor dem Cafe geparkt hatte. Laut Zeugen standen noch einige Jugendliche am Fenster, doch bevor sie irgendetwas unternehmen konnten, gab es eine Gasexplosion innerhalb des Apartments.

Opfer dieses Brandes sind letztendlich 67 Jugendliche, die allesamt auf der Feier waren. Die meisten stammen aus dem Alexander-von-Humboldt-Gymnasium sowie auch die Veranstalterin  selbst. Die Schülerin Silver Haygilton (s.o.) ist die einzig Überlebende. Sie wurde sofort ins Krankenhaus gebracht und operiert.

 

Das ist seit langem eines der tragischsten Ereignisse Hudsons.

Laut den Untersuchungen bis zum Tag darauf konnte noch nicht festgestellt werden, ob es sich hierbei um Brandstiftung oder einem Unfall handelt. Die Feuerwehr musste die Tür des Apartments aufbrechen, da diese anscheinend abgeschlossen wurde. Ob diese von den Jugendlichen selbst oder einer Dritten Person abgeschlossen wurde, blieb bis jetzt noch ungelöst. Die Polizei wird sich noch mit den Indizien befassen und den Bereich einige Zeit absperren müssen.   

 

 

Entsetzt halte ich mir den Mundzu. Augenblicklich denke ich an Alex.

Yvonne Kirlson. Alex Kirlson.

Das meinte er also mit seiner Schwester.

War er selbst nicht auf der Party gewesen? Oder vielleicht wie die restlichen Leute, die anscheinend vor dem Brand noch die Party verlassen haben. Waren Tyler und Tobias dabei?

Und vor allem: Wo war Eisklotz die ganze Zeit? Warum hat er mich allein gelassen, wenn er mich doch angeblich begleitet hat?

Seufzend muss ich feststellen, dass der Artikel mir nicht nur sämtliche Fragen beantworten, sondern gleichzeitig wieder welche aufwirft.

Es war doch ein Unfall oder nicht? Warum würde jemand auch so viele Jugendliche umbringen wollen? Das macht doch keinen Sinn!

Ich stütze meine Ellenbogen auf dem Tisch ab und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Mit aller Mühe unterdrücke ich die Tränen, die sich durchkämpfen wollen.

Nein, du wirst jetzt nicht weinen!

Du musst stark bleiben. 

 

Nach einer Weile kann ich mich doch durch regelmäßiges Ein- und Ausatmen beruhigen und denke stattdessen an das anstehende Training. Mein Blick schweift zu der Uhr an der Wand. 15:54 Uhr. Schleunigst verlasse ich die Bücherei und laufe zum Hof. Ich schreibe Liz, dass ich gleich vor dem Parkplatz auf sie warte.

Nervös trete ich mir einen Fuß auf den Anderen während ich auf Liz warte. Dabei muss ich immer wieder an den Artikel denken.

Schließlich hält ein blaues Smart-Auto vor mir. Das Autofenster wird runtergefahren und ich blicke in Liz‘s grinsendes Gesicht.

„Hüpf rein, Süße.“

Lächelnd umrunde ich ihren Wagen und setze mich rein.

„Wie war dein Tag?“, fragt sie mich während sie losfährt.

„Gut“, antworte ich und beziehe es nur auf die Stunden am Morgen. „Bei dir?“

„Wie immer. Ich freue mich so. Wir haben seit 3 Monaten nicht mehr zusammen trainiert, weißt du das?“, meckert sie daraufhin und ich muss lachen.

„Weißt du in meinem Kopf haben wir noch nie zusammen trainiert“, lache ich. Mit einem Male vergesse ich für einen kurzen Moment den Artikel und bin Liz unglaublich dankbar dafür.

Liz schlägt vor, dass wir nach dem Training etwas essen gehen und dann in Ruhe reden können, was ich für eine gute Idee halte. Denn ich habe noch so viele Fragen. Schnell tippe ich meiner Mutter eine SMS und gebe ihr Bescheid, dass ich mit einer Freundin unterwegs bin.

Nach einer Viertelstunde kommen wir an. Wir halten genau vor dem Sportzentrum. Neugierig begutachte ich das Gebäude. Es sieht nicht aus wie ein modernes Fitnesszentrum, sondern eher wie das totale Gegenteil. Es hat einen traditionellen fast altmodischen Stil. Wir gehen durch einen großen roten Tor, der aussieht, als wäre er aus Bambus gemacht. Nur, dass er eben rot ist. Auf einem Schild lese ich „E.I.K.O. Verband“ ab.

„Wofür steht das?“ Ich deute auf das Schild.

„Ach, das steht für Europäische Internationale Kampfsport Organisation. Stell es dir einfach wie eine Kette aus Vereinen und auch kleinere Schulen und Clubs vor. Dieser Verein hier gehört unserem John.“, erklärt sie während wir durch den Eingang treten. Wir nehmen einen Aufzug, der uns bis zum 2. Stock bringt. In den unteren Stockwerken sind die anderen Kurse wie Judo, Jiu-Jitsu, Karate und Aikido. 

Wir gelangen zu einem großen Flur, wo es diesmal nicht vor lauter Türen wimmelt, sondern fast ausschließlich aus durchsichtigen Wänden, durch die man in die einzelnen Trainingsräume blicken kann. Es trainieren bereits welche in den Räumen. Während Liz mich durch den Flur zieht, schaue ich fasziniert in jeden Raum. Bei jedem besteht die vordere Wand nur aus einem Spiegel. Der Boden ist von einer roten Matte bedeckt, worauf die Leute barfuß trainieren. Die Wände sind mit asiatischen Schriften, Pokalen und Bilder volldekoriert.

„Hey, trödel nicht so rum. Das Training beginnt gleich.“ Mit den Worten zieht sie mich in die Umkleide, worin wir uns schließlich umziehen.

 

 

Während Liz sich mit einem Jungen unterhält, tapse ich wie eine Behinderte barfuß auf der Matte herum. Langsam füllt sich der Trainingsraum mit Leuten, die auch in dem Kurs sind. Die meisten Jungs und Mädchen scheinen in unserem Alter zu sein. Sie scheinen alle offen miteinander umzugehen und begrüßen sich gegenseitig. Auch mich begrüßen sie.

Nervös zupfe ich an meiner kurzen Sporthose und komme mir mit dem Spaghettitop etwas freizügig vor. Die meisten Mädchen haben Dreiviertelhosen an. Lediglich Liz und ich sind die Einzigen mit kurzen Hosen.

Als der Junge sich schließlich von Liz entfernt, ziehe ich sie zur Seite.

„Sind wir nicht etwas zu freizügig?“, zische ich ihr zu.

Liz lacht nur. „Nein, Liebes. Die anderen würden auch darin kommen… wenn sie es könnten.“  Ein Augenzwinkern und ich verstehe.

„Du bist gemein“, sage ich augenverdrehend.

„Nenn es Ehrlichkeit“, verteidigt sie sich kichernd.

„Ach übrigens, damit du auf dem neuesten Stand bleibst..“, flüstert sie mir plötzlich ins Ohr und deutet unauffällig auf einen Jungen, der sich gerade mit anderen Leuten unterhält. „Der da - Ryan heißt er - steht auf dich.“

„O-okay“, gebe ich perplex von mir und starre den Typen an. Auch er hat mich vorhin begrüßt und ich erinnere mich an sein Lächeln. Er hat braunes Haar mit einem Seitenscheitel, sodass es zur Hälfte über seine Stirn geht. Auch er ist groß und muskulös. Trotzdem erkenne ich ihn nicht. „Habe ich ihn.. gedatet oder so?“

Liz lacht neben mir kurz auf. „Das hätte er wohl gerne. Aber lebensmüde ist er auch nun wieder nicht. Nein, du…“ Sie lässt den Satz kurz in der Luft hängen, woraufhin ich sie fragend anschaue.

„… hast in einer anderen Liga gespielt.“, beendet sie den Satz schließlich mit einem Zwinkern. Ich spielte in einer anderen Liga?

Ich schiele zu dem Typen rüber. Eigentlich sieht er doch gar nicht so schlecht aus. Und ich bin nun auch wieder kein Model.

„Was meinst du genau damit?“, hake ich skeptisch nach. Liz blickt mich mit ernster Miene an, doch es kommt keine Antwort von ihr.

Denn plötzlich wird die Tür zur Seite geschoben und ein älterer kräftiger Typ tretet hinein. Man braucht mir nicht extra zu sagen, dass es der Trainer ist. Das sieht man ihn an. Er ist zwar nicht besonders groß. Ich schätze auf höchstens 1,80m, aber dafür sieht man durch das enge schwarze T-shirt, das er trägt, seine stahlharten Muskeln und auch sein Gesicht wirkt ziemlich souverän, aber auch sympathisch. Ich mag ihn sofort.

„Meine Ninjas.“ Dabei schaut er abschätzend in die Runde. Bei den Worten zucken seine Mundwinkel etwas.

„Hey John“, kommt es von Liz und ein paar anderen gleichzeitig. Auf allen Gesichtern liegt ein Lächeln, womit ich schätze, dass sie alle ihn zu mögen scheinen. Obwohl ich mich etwas hinter Liz gestellt habe, bleibt sein Blick schließlich an mir hängen. Zielsicher steuert er in meine Richtung während alle Augenpaare in diesem Raum auf ihm liegen. Als er direkt vor mir steht, streckt er mir die Hand aus. Zögernd ergreife ich sie. In dem Augenblick rutscht mein Herz in die Hose. Jetzt bloß nicht..

„Silver, wie geht es dir?“, fragt er mich mit gelassenen Ton.

„Äh gut.. und dir?“, erwidere ich und zwinge mich zu einem halbwegs ehrlichen Lächeln. Aus dem Augenwinkel versuche ich verunsichert die Reaktion der Anderen zu sehen. Sie dürfen alle nicht von meinem Gedächtnisverlust erfahren, schrie ich innerlich. Wenn er sich jetzt vorstellt...

„Gut. Sehr gut. Mach heute langsam. Ich werde mit dir arbeiten.“ Er lächelt mich kurz an und entfernt sich daraufhin zu meiner Erleichterung wieder. Kurz danach spüre ich eine Hand an meinem Rücken. Liz.

 

 

Nachdem John den Anderen eine Übung vorgeführt hat, die sie jetzt mit ihrem Partner trainieren sollen, schlendert er zu mir. Ich bin immer noch fasziniert davon, was man in wenigen Bewegungen alles mit seinem Gegner anstellen kann. Liz wollte bei mir bleiben, doch ich versicherte ihr, dass ich schon alleine mit John zurecht kommen würde.

„So Silver.“ Wir stehen etwas abseits von den Anderen, sodass sie uns nicht hören können.

„Ich weiß von deinem Gedächtnisverlust“, kommt er gleich zur Sache und verschlägt mir damit die Sprache.

„Ach…ja? Woher..“ Das habe ich jetzt nicht erwartet.

„Von den Ärzten“, unterbricht er mich, doch lächelt gleichzeitig.  „Habe es im Krankenhaus mitbekommen. Ich weiß, deine Eltern möchten es geheim halten.“

Ich nicke nur. „Danke.“ Zwar wundert mich, dass er mich dann also besucht hat, aber ich belasse es dabei und bin einfach dankbar, dass er mich nicht auffliegen lässt.

John nickt kurz ehe er beginnt mir zu erzählen, was ich bis jetzt hier gelernt habe. Eigentlich verstehe ich nur Bahnhof, weil er öfters die Übungen auf japanisch bezeichnet. Manchmal fällt es ihm auf, dann korrigiert er sich und erklärt es mir auf deutsch, aber eben nur manchmal.

„Kann.. war ich wirklich fähig einen Kerl zu verprügeln?“, frage ich neugierig als mir die Aktion mit Liz einfällt. John lacht daraufhin auf, woraufhin manche zu uns herüberschauen.

Er zieht mich etwas zur Seite und weist mich zum Hinhocken hin. Dann setzen wir uns im Schneidersitz hin.

„Wie soll ich sagen. Ob du dich gegen jeden Kerl behaupten kannst, kann ich dir nicht bestätigen, aber ja, du hattest mal den Ex von Liz geschlagen. Nicht verprügelt, aber ihn bewusstlos gehauen.“ Seine Lippen verziehen sich zu einem Grinsen, womit er gleich viel jünger aussieht. „Das war erste Sahne. Habe ich dir damals schon gesagt“, fügt er zwinkernd hinzu. Ich schmunzele. „Das will ich wieder können.“

Sofort heben sich seine Augenbrauen an. „Ach?“ Er reibt sich nachdenklich an die Stirn. „Das ist kein Problem. Nur.. geht es dir auch wirklich gut? Kannst du überhaupt irgendwelche körperliche Belastungen aushalten?“

Gute Frage. Bei den paar Büchern sah es nicht gerade vielversprechend aus.

„Keine Ahnung. Vielleicht?“, wiegele ich ab. „Wir können es ja mal ausprobieren.“

Daraufhin nickt er. Fast eine Stunde lang trainiere ich alleine mit ihm. Zwischendurch läuft er zu den Anderen, um ihnen zu helfen und auch neue Übungen zu zeigen.

John zeigt mir zu allererst die wichtigsten Grundpositionen und den Unterschied zwischen den Attacken. Es gibt Stoß-, Schiebe-, Press- und Schlagattacken. Es macht mir unheimlich Spaß. Permanent muss ich grinsen, woraufhin John mich immer ermahnen muss ernst zu bleiben. Doch ich übersehe nicht, dass bei ihm auch hin und wieder die Mundwinkel zucken.

Schließlich ist es 17:30 Uhr und ich sehe den Anderen neugierig dabei zu, wie sie eine Abfolge von etwa zwanzig Techniken hintereinander machen, die anscheinend einstudiert sind. Fasziniert stehe ich neben John, der seine Arme hinter dem Rücken verschränkt hat. Kurz schiele ich zu ihm rüber und muss zugeben, dass er wirklich ein exzellenter Trainier ist.  

„So, jetzt das war’s für heute. Die Anderen müssten gleich da sein“, verkündet er als sie anderen fertig mit ihren Ausführungen sind.

„John, können wir nicht kurz ein paar Duelle machen? Die anderen sind doch sowieso der letzte Kurs. Die können warten“, schmollt eines der Mädchen. Ich werde sofort hellhörig. Duelle?

„Hm“, wiegelt er neben mir ab. Unsere Blicke treffen sich kurz. „Ich denke, anlässlich, dass Silver wieder bei uns ist, ja.“

Bei den Worten folgen Jubelschreie und Abgeklatsche.

„Das wird dir gefallen.“ Unser Trainer zwinkert mir zu bevor er zu den Anderen schreitet und ihnen dabei hilft eine blaue Matte auszubreiten, die als Arena dienen soll.

Neugierig beobachte ich die ersten Kämpfe. Mal kämpfen Jungs miteinander mal mit einem Mädchen. 

„Warum kämpfen Mädchen nicht miteinander?“, frage ich John, der dabei ist Kampfrichter zu spielen.

„Die meisten Frauen sind hier, um sich vor uns Männern verteidigen zu können. Nicht wegen den Bitchfights unter Zicken.“ Beim letzten Satz verdreht er leicht die Augen, sodass ich kichern muss.

Plötzlich wird die Tür zur Seite geschoben und meine Augen weiten sich.

„Chris?“, frage ich ungläubig und laufe zu ihm hin.

Der große blonde Typ grinst mich verschmitzt an während er seine Arme ausbreitet und mich damit erdrückt. Ich muss nach Luft schnappen.

„Chris, ich sterbe noch wegen dir“, krächze ich, woraufhin er endlich loslässt.

„Na wie geht’s dir Kleine?“, erkundet er sich lächelnd und sieht mich von oben herab an. Ich muss zugeben, dass der Kosename leider ziemlich der Wahrheit entspricht. Neben ihm bin ich ein Zwerg. Chris ist nämlich locker über 1,90m.

„Ganz gut. Ich wusste gar nicht, dass du hier trainierst.“

Bei den Worten grinst er breit. „T‘schuldige, wir hatten auch noch nicht unser Plauderstündchen.“ Er tätschelt mir auf den Kopf während er mich belustigend anschaut. Ich muss lächeln.

Zwar habe ich Chris bis jetzt nur in der Bar getroffen, doch ich fand ihn sofort sympathisch. Außerdem sehen er und Linda einfach süß zusammen aus.

„Übrigens trainiere ich noch mit jemandem zusammen.“ Sein Grinsen wird noch breiter.

Ich ziehe die Augenbrauen verwirrt zusammen. „Wen? Etwa…“

„Ey Chris ich bin nicht dein Packesel, man.“

Hinter Chris fliegt aus dem Nichts eine große Sporttasche, die neben uns auf den Boden landet. Dann taucht eine Gestalt neben Chris auf, die ich nur allzu gut kenne. Sofort werden meine Augen zu Schlitzen.

Eisklotz scheint mich genauso wenig erwartet zu haben, denn er starrt mich einige Sekunden ungläubig mit seinen eisblauen Augen an. Zwar gleicht dieser schockierte Blick noch nicht dem in der Gasse, doch er kommt ihm ziemlich nahe.

Nein, ich bin dir nicht gefolgt, brumme ich in meinen Gedanken und verschränke meine Arme trotzig vor die Brust.

„Was macht du hier?“, fragt er mich in einem ruhigen Ton, nachdem er sich anscheinend gefasst hat. Oh, er redet mit mir.

Ich verdrehe die Augen. „Was wohl? Und überhaupt: Seit wann können Tote denn reden?“, spiele ich auf seine Aussage von letztens hinaus und sehe ihn herausfordernd an.

„Ich. bin. für. Dich. gestorben.“, hatte er gesagt.

Er schnaubt nur während Chris etwas verwirrt zwischen uns blickt. Doch ehe Eisklotz darauf etwas erwidern kann, stellt sich John neben mich. 

„Ihr seid aber früh dran. Habt mich wohl sehr vermisst, was?“, witzelt John.

„Möchtest du eigentlich auch mal kämpfen?“, fragt er mich plötzlich. Ich zucke bei der Frage etwas zusammen. „Sicher?“, hake ich unsicher nach. In dem Moment kann ich förmlich die Blicke von Eisklotz spüren.

„Na ja so wie ich sehe, hast du zwar vergessen, aber dein Körper spricht anders“, setzt John nachdenklich an. Ich erwidere seinen Blick während ich im Kopf Für und Wider abwiege. John wendet sich von meinem Blick ab und blickt zu Chris und Eisklotz. Gerade als ich John antworten will, unterbricht er mich: „Vielleicht doch ein andermal… Heute schaust du mal nur zu.“

Ich nicke etwas verwirrt von seiner plötzlichen Stimmungsschwankung, doch sage nichts. Plötzlich klingelt das Handy von John.

„Ihr beiden. Spielt mal kurz Kampfrichter für mich. Ich muss telefonieren.“ Mit den Worten klopft er Chris kurz auf die Schulter ehe er aus dem Raum verschwindet.

„Na dann“, stößt Chris aus und sieht seinen Freund an, der bereits skeptisch die anderen mustert.  

Da ich keine Lust auf den Eisklotz habe, wende ich mich von den beiden ab und laufe zu Liz, die gerade dabei ist bei einem Kampf zuzuschauen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass die beiden sich auf die blaue Matte begeben und irgendwelche Anweisungen an die Kämpfer geben. Der Penner will mich also wirklich ignorieren. Das kann ich auch.

Als ich schließlich neben Liz stehe grinst sie mich an.

„Er kann die Augen nicht von dir lassen“, kichert sie. Ich hebe verwirrt die Augenbrauen, woraufhin sie die Augen rollt. „Ryan man.“

Diesmal rolle ich die Augen. Was soll ich mit einem, den ich angeblich nur durch das Training kenne?

Ich muss bemüht schlucken, da ich für eine Sekunde gedacht habe, dass sie Eisklotz meinte.

„Du bist und bleibst eine Herzensbrecherin“, ärgert mich meine Freundin. Ich muss grinsen. Doch plötzlich macht Liz einen Schritt nach vorne und blickt mir über die Schultern. Als ich meinen Blick von dem Kampf vor uns abwende und sie stattdessen anschaue, sehe ich in ihr feindseliges Gesicht. Ich folge ihren Blick, der zu meiner Verwunderung auf unsere beiden Kampfrichter gerichtet ist. Doch ich kann nicht genau sagen, wen Liz genau mit dem Blick töten will.

„Liz..“, setze ich an, doch werde durch ihre abwedelnde Handbewegung unterbrochen.

„Ich bin gleich wieder da“, murmelt sie ohne mich eines Blickes zu würdigen und stampft geradewegs aus dem Trainingsraum. Verwirrt starre ich ihr hinterher, doch in dem Moment kommt Chris auf mich zugelaufen. Auch der Kampf geht zu Ende.

„Hey, wie findest du´s bis jetzt?“, fragt er mich lächelnd.

„Ich glaube, ich werde ab sofort hier trainieren“, gestehe ich ihm mein Vorhaben. Ich blicke mich nach seinem Freund um, doch dieser ist komischerweise nicht mehr da.

„So das ist der letzte Kampf. Glückwunsch Luc. Hast gewonnen. Ihr könnt alle gehen“, verkündet Chris in die Runde. Daraufhin verlassen alle den Trainingsraum. Ich bleibe unschlüssig stehen und frage mich, ob ich hier auf Liz warten soll. Einige Männer treten nun in den Raum ein, die anscheinend mit Chris trainieren.

„Was für ein Kurs seid ihr?“, frage ich Chris neugierig.

„Wechsel zwischen Boxxen und Krav Maga.“, erwidert er grinsend. „Wir sind ein purer Männerkurs.“

„Mhm“, gebe ich nachdenklich von mir. Er und Eisklotz sind also auf’s Kämpfen scharf? Irgendwie wundert es mich nicht.

„Hey.“ Chris stellt sich bei den Worten direkt vor mir. „Komm, ich bringe dir etwas bei.“ 

 

Kapitel 23

 

 

 

“Hey Jason, ich muss mit dir über…”

„Ich kann jetzt nicht.“ Ich hebe abwehrend meine Hand und ignoriere Johns verwirrten Blick während ich ihn umgehe.

Als ich um die Ecke komme, wartet sie bereits. Das Mädchen lehnt an der Wand gegenüber den Aufzügen. Ich blicke in ihr nachdenkliches Gesicht. Als sie mich sieht, verfinstert sich schlagartig ihre Miene.

„Ich weiß nicht, warum wir noch reden müssen.“

Ich schon.

Ich stelle mich direkt vor ihr. „Was macht sie hier?“, entgegne ich schroff. Sie versucht mich mit ihrem Blick zu durchbohren, doch da kann sie lange warten.

„Hallo? Ich darf doch noch wohl mit meiner besten Freundin trainieren gehen, du Egomane!“, zischt sie aufgebracht während ihre Hände in der Luft wedeln.

„Jetzt hör mal zu“ Ich trete näher an sie ran, doch es scheint sie nicht zu verunsichern. „Ich will mich nicht wiederholen. Aber anscheinend hast du wohl immer noch nicht verstanden.“

Endlich lässt das Mädchen ihre Hände sinken. In meinem Kopf wäge ich ab, was ich ihr sagen darf und was nicht.

„Doch, das habe ich. Du bist ein verdammtes Arschloch, der die Liebe seines Lebens getroffen hat, aber sie gehen lassen muss, weil sie zu gut für dich ist blabla…“

Ich lache kurz gequält auf.

Wenn das nur ansatzweise so wäre.

„Ihr könnt euer ganzes Frauenzeug machen, aber das hier..“ Ich deute in die Richtung der Trainingsräume. „..ist eine andere Welt. Und sie gehört nicht mehr dahin also bring sie nicht mehr hierher.“

Sie schnaubt genervt. „Hör zu Prinzessin. Ja, Silver gehört nicht mehr zu deiner Welt. Aber das heißt nicht, dass ich sie belügen werde. Sie hat das Recht…“

Ich unterbreche ihren Wortschwall, indem meine Faust neben ihr auf der Wand landet.

„Es geht hier lange nicht mehr um Recht oder Unrecht. Gerechtigkeit existiert nicht für mich. Liz, verstehst du nicht? Sie hat die Chance neu anzufangen. Ein besseres Leben zu führen. Glaubst du, ich mache das aus Spaß? Weil ich Langeweile habe? Denn weißt du, wenn mir langweilig ist, mache ich ganz andere Sachen.“

„Besseres Leben. Bist du ihr Therapeut oder was?“, spottet das Mädchen höhnisch. „Sie. will. wissen. wer. sie. ist.“

Ich kann förmlich spüren wie sie vor mir tief Luft holt ehe sie weiterspricht. Anscheinend fällt es ihr schwer.

„Und das kann sie nicht, wenn sie nie von dir erfahren wird.“

Der letzte Satz ist kaum noch ein Flüstern. Trotz allem starrt sie mich durchdringlich an.

Für einige Sekunde kommt es mir vor, als wäre ich wieder in dem Pavillon. Mit ihr.

Ich hole hörbar Luft.

Dann eben auf die andere Tour.

„Liz, du bist ihre beste Freundin. Du willst doch das Beste für sie oder?“

Das Mädchen vor mir nickt sofort.

„Dann vertraue mir, wenn ich dir sage, dass das Beste für sie ist, wenn sie nichts von mir weiß.“

Ich beiße meine Zähen fest zusammen. „Bitte.“

Einige Sekunden starren mich kastanienbraune Augen an. Ich kann mir vorstellen wie sie innerlich mit sich ringt. Obwohl ich sie nicht gut kenne, weiß ich, dass Liz ein direkter Mensch ist. Und genau das ist leider auch mein Problem.

„Na gut“, knurrt sie widerwillig. Ich schaue sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Du hälst dich aber auch daran?“

Sie kneift die Augen zusammen. „Jaaa. Meine Güte. Aber was soll ich sagen, wenn sie fragt, bei wem sie die ganze Zeit gewohnt hat? Oder andere Dinge? Ich habe Angst, dass sie herausfindet, dass ich sie anlüge. Das habe ich nämlich noch nie bei ihr getan, Jason.“

„Ich weiß.“ Seufzend lehne ich mich neben ihr an die Wand. „Sag ihr einfach, dass sie bei einem Typen gewohnt hat, mit dem sie was hatte. Doch jetzt ist er weg.“

„Dein Ernst?!“, kommt es aufgebracht von ihr. Ich schließe nur die Augen. „Ja. Er ist umgezogen, aus dem Staub gemacht, was weiß ich. Wenn du Probleme hast, melde dich bei mir. Ich helfe dir.“

„Du hilfst mir beim Lügen, wie toll. Ich hasse dich, Jason Coldon, weißt du das?“ Bei den Worten lache ich kurz auf, denn das ist nicht das erste Mal, dass Liz sie zu mir gesagt hat.

Das Mädchen setzt sich in Bewegung und ich folge ihr. Vor der Schiebetür des Trainingsraums bleibt sie plötzlich stehen, sodass ich fast gegen sie laufe.

„Was?“ Ich stocke als ich in den Trainingsraum blicke. Silver steht mit dem Rücken zu mir, doch ich würde sie aus jedem Winkel erkennen. Sie ist in der Mitte des Raumes. Vor ihr steht Chris, der gerade ihre Arme festhält und Andeutungen eines Fußfeger macht. Es ist nicht zu übersehen, dass beide dabei lachen.

„Das sieht doch aus wie eine schlechte Version von Dirty Dancing“, kommentiere ich die Szene gereizt.   

Obwohl ich weiß, dass die beiden nur eine Partnerübung machen, zieht sich mein Herz zusammen. Es geht nicht darum, dass es Chris oder wer auch immer ist. Einfach der Anblick von ihr mit einem Anderen als mir macht mich so verdammt fertig, dass es mich schon wieder fertig macht.

Liz, die links neben mir steht, stupst leicht meinen Arm an.

„Jason, ich weiß, dass Chris eine Freundin hat, aber.. was machst du, wenn Silver sich irgendwann in jemanden verliebt?“

Dieses Mädchen hat aber auch keine Gnade.

Ich balle meine rechte Hand zu einer Faust, wobei ich hoffe, dass sie es nicht sieht. Ich wende meinen Blick von der Szene ab und blicke die beste Freundin der Frau an, die ich liebe.

„Dann habe ich das erreicht, was ich will“, lüge ich.

Aber Liz weiß ja auch nicht die Wahrheit. Nicht mal ansatzweise.

Das Mädchen neben mir schnaubt, als hätte ich gerade versucht sie anzumachen. Doch plötzlich ergreift sie meinen Arm mit einem spitzen Schrei. „Oh mein Gott.“ Bevor ich ihren Blick richtig folgen kann, werde ich schon von Liz achtlos mit reingezogen.    

Mein Atem stockt, als ich Silver auf dem Boden sehe. Chris hat sich vor ihr gestützt und versucht gerade auf sie einzureden, doch ich sehe in ihren Augen, dass sie ihm gar nicht zuhört.

Diesen Blick in ihren Augen habe ich schon mal gesehen.

„Was hast du gemacht?“, fahre ich Chris aufgebracht an. Er schaut mich etwas hilflos an. „Ich wollte ihren Fuß nicht wirklich wegfegen, aber dann ist sie einfach nach vorne getreten.. Scheiße, was hat sie? Sie ist doch nicht allzu hart gelandet.“

Ich gehe vor Silver in die Hocke. Sie hat mittlerweile ihr Gesicht mit ihren Händen umfasst und zittert am ganzen Körper während ich sie deutlich wimmern höre. Ich ignoriere Chris und die anderen, die alle versuchen zu helfen, obwohl sie es nicht können.

Denn sie waren auch nicht auf dem Skydeck dabei.

„Silver. Hey“, rede ich auf sie ein, damit sie weiß, dass ich da bin. Dann hebe ich ihren Körper mit Leichtigkeit hoch, wobei meine ganze Brust durch ihr Gezittere anfängt zu vibrieren.

„Ich bin hier“, versuche ich es nochmal sanfter, doch es scheint nichts bei ihr anzukommen. Wie schon einmal trage ich sie zu einer Bank. Die Anderen folgen mir, doch schweigen zu meiner Erleichterung. Sie scheinen mir alle zu vertrauen, obwohl ich selbst keinen Schimmer habe was zu tun ist. Ich lege eine Hand auf ihren Rücken und streichele diesen in einem Rhythmus während meine andere Hand ihre zittrigen Beine davon abhält abzurutschen. In meinem Kopf brodelt es nur. Was sind das verdammt für Anfälle? Warum hat sie diese wieder?

Immer noch zittert und wimmert das Mädchen in meinen Armen während sie sich an meine Brust krallt. Ihren Kopf hat sie mittlerweile auf meine linke Schulter gelegt. Von ihr geht stoßweise ein unregelmäßiger Atem aus, was mich noch verrückter macht.

„Was ist mit ihr?“, fragt Liz, die vor Sorge hin und her zappelt. Auch John und die Anderen beobachten das Ganze mit verwirrten Gesichtern.

„Das weiß ich nicht“, antworte ich ehrlich während ich anfange ihre Haare aus ihrem Gesicht zu streichen. Was geht nur in ihrem Kopf vor?

„Silver, du bist hier. In Sicherheit. Bei.. uns. Hey..“, flüstere ich ihr vorsichtig zu. So langsam legt sich das Beben ihres Körpers. Wieder und wieder fahre ich mit der Hand ihren Rücken entlang während meine andere Hand ihre dunkelbraunen Haarsträhnen wegstreicht, damit ich ihr endlich ins Gesicht schauen kann.

„Tschuldige“, haucht das Mädchen irgendwann schwach in meinen Armen. Sie entschuldigt sich? Ist das ihr Ernst?!

„Süße, was ist mit dir?“, kommt es nervös von Liz.

„Sollen wir einen Krankenwagen rufen?“ Ich blicke John an, von dem der Vorschlag eben kommt. Etliche Falten machen sich auf meiner Stirn breit.

Wäre das richtig? Könnten die ihr helfen? Bestimmt mehr als ich auf jeden Fall. Wieder schaue ich sie an und kann endlich in die smaragdgrünen Augen blicken, dessen Lider aber nur halb geöffnet sind.

Verdammt, was hat sie nur?     

„Ja, ruft den Krankenwagen an.“ Ich tätschele leicht ihre Wangen, weil es so scheint, als wäre sie kurz davor ihr Bewusstsein zu verlieren.

„Ich rufe ihre Mutter an“, verkündet Liz besorgt und rennt daraufhin aus der Halle.

„Es tut mir so Leid. Ich habe sie überanstrengt“, murmelt Chris betreten neben mir. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er sich neben uns gesetzt hat.

Kapitel 24

 

Nach etwa sieben quälenden Minuten höre ich endlich die gehetzten Schritte von mehreren Personen im Flur. Unverweigerlich verfestigt sich mein Griff um Silver. Ihr Kopf ist immer noch auf meiner Schulter angelehnt, sodass ihr Kinn bei jeder minimalen Bewegung mein Schlüsselbein streift.

Ich blicke ihr pausenlos in die Augen, doch das Mädchen starrt nur mit einem leeren Blick auf meine Brust. So viele Dinge würde ich jetzt versuchen nur um diesen Blick von ihr nicht sehen zu müssen, doch ich unterdrücke es.

John ist der Einzige, der auf die ankommenden Sanitäter zu geht und ihnen den Vorfall schildert. Ich höre seinen Erläuterungen halb zu während ich immer wieder auf Silver einrede, sodass sie nicht das Bewusstsein verliert. Es ist die reinste Hölle, denn ich kapiere einfach nicht, was hier vor sich geht. Meinen Plan, der Deal, das Versprechen… das alles spielt gerade keine Rolle.

Auch mein permanent vibrierendes Handy in meiner Hosentasche ignoriere ich. Ich tippe mal entweder auf meinen ach-so-tollen-Großvater oder dem Kommissar, dem ich eigentlich noch einen Rückruf schulde.

„So gehen Sie bitte alle zur Seite“, kommandiert einer der Sanitäter, woraufhin alle sich von der Bank entfernen, auf der ich mit ihr sitze.

Der Mann fordert mich daraufhin auf Silver auf die Rettungskrankenliege zu platzieren, was ich widerwillig tue. Sofort umkreisen alle vier Sanitäter die Liege und befestigen sie daran. Die Rettungssanitäter texten sich alle gegenseitig mit Feststellungen über Silver‘s Zustand zu, wobei das Einzige, was ich verstehe, ist, dass sie physisch soweit stabil ist, doch psychisch kann nichts präzise gedeutet werden.  

„Wer von Ihnen möchte mitfahren?“, fragt der gleiche Sanitäter in die Runde, doch er schaut mich dabei an. „Es gibt zwei Plätze im Rettungswagen“, fügt er hinzu.

„Geh du, ich fahre mit meinem Wagen nach“, meldet sich Chris zu Wort und ich nicke.

„John, bleib du hier. Ich melde mich bei dir, wenn es ihr gut geht“, wende ich mich zu meinem Trainer, weil ich nicht will, dass ihre Mutter später uns alle sieht. Mich darf sie auf keinen Fall sehen.

Erst jetzt bemerke ich, dass Liz nicht im Raum ist. Wieso zum Teufel braucht das Mädchen solange?

Hinter mir höre ich noch wie John versucht die anderen in dem Raum zu beruhigen. Als ich den Dienstleuten in den Flur folge, entdecke ich Liz am Ende des Flurs. Sie telefoniert immer noch und lehnt sich dabei an die Wand, als wäre sie zu schwach sich auf ihren eigenen Beinen zu halten.

„Liz!“, rufe ich in ihre Richtung, woraufhin das Mädchen endlich in meine Richtung blickt. Als sie die Sanitärleute entdeckt, eilt sie mit dem Handy in der Hand zu uns.

„Kann ich mitfahren?“, fragt sie mit aufgeregter Stimme während sie das Handy von ihrem Ohr weg hält. Ein Blick und ich erkenne, dass es Silver‘s ist.

Ich nicke nur, weil ich vermute, dass Silver‘s Mutter am anderen Ende der Leitung ist.

 

                                                      

Obwohl ich so aussehe als wäre ich die einzige Person, die in diesem Rettungswagen Ruhe bewahren kann, sieht es in mir ganz anders aus. Ich befürchte schon, dass mein Herz mir aus der Brust springt. So heftig schlägt es und auch der Angstscheiß tritt auf.

Während die Leute mit ihren Geräten an Silver rumhantieren, setze ich mich auf die Bank, auf der Liz bereits sitzt.

„…nein… Bitte, Sie haben das falsch verstanden… eine Partnerübung war das…  Ko-kommen Sie einfach so schnell… ja okay.“ Widerwillig löse ich meinen Blick von Silver ab und schaue Liz an.

„Was hat sie gesagt?“, frage ich das nervöse Mädchen neben mir. So kenne ich sie gar nicht.

„Sie ist gerade irgendwo am Rande der Stadt, also wird es etwas dauern bis sie kommt“, brummt sie etwas genervt während ihre Augen besorgt auf Silver ruhen. Am Rande der Stadt? Ist ihre Firma nicht etwa zehn Minuten vom Krankenhaus entfernt?

Ich beschließe keinen weiteren Gedanken an diese Frau zu verschwenden und blicke wieder auf das blasse Geschöpf vor mir. Ohne groß zu Überlegen nehme ich ihre Hand und streiche diese leicht.

„Ich bin hier.“ Ich weiß, dass sie mich nicht hört, aber die Worte sind auch eher an mich gerichtet. Das letzte Mal habe ich dich den anderen überlassen, aber jetzt bin ich hier.

Um einen klaren Verstand zu fassen, denke ich an letzten Freitag zurück.

„Entschuldigung.. Ich … Keine Ahnung, was das eben war.“

Das hatte Silver beim letzten Anfall vor sich hin gemurmelt.

Sie wusste also selbst nicht, was das für Anfälle sind! Hatten die Ärzte etwas übersehen? Sind das Nebenwirkungen von den Medikamenten, die sie nimmt?

„Ich sterbe gleich vor Sorge“, murmelt ihre beste Freundin neben mir.

Oh, da bist du nicht alleine.

 

 

Eilig springen wir aus dem Wagen und laufen in das Krankenhaus.

„… Der Blutdruck ist stabil… Die Werte sehen gut aus…Wir müssen sie wach halten…“ Liz und ich folgen dicht den Sanitätern, die Silver im Flur vor sich hinschieben.

„Bleiben Sie draußen“, befiehlt der Sanitäter uns, als wir denen in den Behandlungsraum folgen wollen.

„Aber ich muss…“, protestiere ich, doch werde von dem Sanitäter unterbrochen. Hinter mir taucht plötzlich ihr Arzt auf, der mich mit einem kurzen Nicken begrüßt ehe er mit in den Raum verschwindet.

„Vertrauen Sie mir bitte. Wir werden unser Bestes tun“ Mit den Worten schließt der Sanitäter die Tür vor uns ab und hinterlässt mich mit Liz, die aufgebracht aufstöhnt.

„Als ob es zu wenig Platz in dem Raum gibt. Pah!“, meckert diese. Ich beschließe Liz zu ignorieren und hole mein nerviges Handy hervor, das anscheinend keine Ruhe geben will.

„Jason, was treibst du schon wieder, dass du nicht annimmst!“, kommt es sofort aufgebracht vom anderen Ende der Leitung. In dem Moment habe ich wirklich keine Lust auf ihn.

„Hey wir sehen uns am Freitag bei der Benefitsveranstaltung, okay?! Ich werde schon kommen.“ Während ich spreche, raufe ich mir müde meine Haare. Ich hoffe inständig, dass er sich mit den Worten zufrieden gibt.

„Nein, andersrum. Die Benefitsveranstaltung ist am Samstag. Übermorgen ist das Geschäftsessen“, korrigiert mein Großvater mich, doch er klingt schon ruhiger.

„Mein ich doch“, knurre ich und will schon auflegen, doch er ergreift wieder das Wort.

„Zieh den Anzug an, den ich dir schicken werde. Du wirst jemanden kennen lernen.“

„Wie auch immer“, murmele ich und lege auf.

„Du hast wieder Kontakt zu deinem Großvater?“, ertönt es plötzlich neben mir. Ich habe gar nicht gemerkt, dass Liz sich neben mich gesetzt hat.

„Ja, das gehört zum Plan und…“ Ich halte erschrocken inne. Scheiße, das darf sie doch gar nicht wissen!

„Was für ein Plan?“, kommt es wie vorhergesagt von ihr.

Ich lehne mich provisorisch zurück.

„Süße, ich will wieder der besagte Junggeselle sein. Wenn du weißt, was ich meine.“ Auf die Schnelle fällt mir keine bessere Erklärung ein. Ich zwinkere ihr zu, was sie mit einem verächtlichen Schnauben kommentiert. Innerlich atme ich auf, dass sie mir so schnell geglaubt hat.

Plötzlich entdecke ich Chris, der gerade um die Ecke gekommen ist. Genau in dem Moment öffnet sich auch die Tür vor uns.

„Sie ist stabil“, verkündet der Sanitäter lächelnd. „Wir haben ihr Beruhigungsmittel gegeben, sodass sie jetzt schläft.“

Ich klopfe Chris beruhigend auf die Schulter während eine Krankenschwester plötzlich um die Ecke kommt. „Die Patientin soll in ihr altes Privatzimmer gebracht werden. Das hat ihre Mutter gerade per Anruf angeordnet.“

„Wann kommt ihre Mutter?“, frage ich sie sofort.

Die Krankenschwester muss mich natürlich erstmal von unten herauf mustern. Gib mir einfach eine verdammte Antwort darauf!

„Sie sagte etwa in einer Viertelstunde.“ Während sie spricht klimpert sie ein paar Mal zu viel mit ihren Wimpern und auch ihr schmachtender Blick ist nicht zu übersehen.

Ich spüre deutlich wie Liz mich von der Seite her beobachtet, aber ignoriere es. Denn in dem Moment wird Silver auf einer anderen Liege in den Flur geschoben. Auch ihr Arzt kommt heraus. Während alle durch Flur laufen rücke ich ihm an die Pelle bis er mich bemerkt. Chris hingegen läuft schweigend neben mir.

„Also, was ist das, was sie hat?“, komme ich gleich zur Sache, woraufhin der Arzt mich von der Seite her anblickt. Liz ist etwas weiter vorne. Sie ist im Moment sowieso viel zu beschäftigt damit der schlafenden Silver alle möglichen Dinge an den Kopf zuwerfen.

„Sie wissen, dass Sie nicht zur Familie gehören“, erwidert dieser kühl. Schon wieder diese Masche. Der hat auch keine besseren Sprüche drauf!

„Ja, da haben Sie Recht. Ich bin mehr als ihre Familie“, knurre ich und verschränke meine Finger mit ihren. Fast hätte ich nach Luft geschnappt, so kalt sind sie. „Also?“

„Sie hat das Schlimmste überstanden. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie müsste etwa in einer Stunde wieder aufwachen“, erwidert er und lächelt mich wieder mit diesem Lächeln an, das ich so hasse.

„Warum hat sie diese Anfälle?“, frage ich ungeduldig nach. Ich weiß ganz genau, dass der Arzt mit so wenig wie möglich rausrücken will, aber er hat es hier mit mir zu tun. Ich kenne seine Masche. Immer noch frage ich mich, warum ihre Mutter keinen besseren Arzt für sie ausgesucht hat. Am Geld liegt es bestimmt schon mal nicht. Dieser hier hat diese Scheiß aufgesetzte Maske, dem ich einfach nicht trauen kann. Auch, wenn er ihr Leben gerettet hat.

„Das sind keine Anfälle. Eher eine Art kurzzeitige Störung einer Funktion im Gehirn.“

„Und was soll das heißen?“ In dem Moment erreichen wir den Raum dessen Weg ich schon im Schlaf kenne. Der Unterschied ist nur, dass ich ihn dieses Mal betrete.

Widerwillig löse ich meine Hand von ihrer und lasse die Krankenschwestern ihre Arbeit machen. Auch Liz und Chris lassen sich erschöpft auf einen Stuhl fallen und beobachten das Geschehen. Ich stelle mich neben dem Arzt, der gerade dabei ist am Regulator zu hantieren während ich John kurz simse, das Silver nun schläft.

Und der wollte auch noch vorhin, dass sie zu einem Kampf antreten soll! Ich will gar nicht wissen, was hätte schlimmeres passieren können, wenn ich ihm nicht mit einem Blick zu verstehen gegeben hätte, dass sie noch nicht soweit ist. Dem werde ich später gehörig die Meinung sagen! Scheiß übermotivierter Trainer. 

Als der Arzt fertig ist, dreht er sich um und blickt mich etwas herablassend an.

„Wir können alle froh sein, dass Silver überhaupt den Sturz überlebt hat. Das grenzt an Wunder. Es ist nicht auszuschließen, dass ihr Gehirn sich noch nicht ganz erholt hat besonders nach einer 14 Stunden-Operation.“

Ich hole hörbar Luft. „Aber Sie sagten mir, dass sie nur noch innere Körperverletzungen hat. Von dem hier…“ Dabei mache ich eine schweifende Handbewegung über ihren Körper entlang. „…haben Sie kein einziges Wort fallen lassen! Wird es wieder passieren?!“ Bei meinen Worten lächelt er mich wieder aufgesetzt  an, wofür ich ihm am liebsten eine reinhauen will.

„Sie sind kein Arzt, Mr. Coldon? Richtig? Der menschliche Körper ist komplex, so auch das Gehirn. Wir können nicht alles sofort vorhersehen, sondern wissen nur, dass Nebenwirkungen wie das hier eintreten KÖNNTEN. Besonders, wenn sie sich physisch überanstrengt und das hat sie wie es mir gesagt wurde. Das wird wieder passieren, wenn Silver ihren Körper überanstrengt und somit auch das Gehirn. Eigentlich muss ich Ihnen das alles gar nicht erzählen, Jason. Sie wissen sowieso schon mehr als Sie dürfen. Silver Haygilton ist einer der seltenen Patienten bei uns, die eine solche Amnesie erlitten hat. Die meisten erlangen ihre Erinnerung nach einer Zeit zurück, nachdem sich der Körper sowohl auch das Gehirn sich erholt hat.“

„Aber sie wird es nicht“, schlußfolgere ich an seinem Ton.

„Ganz genau.“   

 

 

 

 

Ich blicke auf die Uhr. „Chris, wir sollten gehen. Liz wird bei ihr bleiben.“ Obwohl ich in dem Moment alles andere will als sie wieder alleine zu lassen, habe ich keine andere Wahl.

Dafür steht einfach viel zu viel auf Spiel.

Ihr verdammtes Leben steht auf dem Spiel.                                                     

Ein letztes Mal nehme ich ihre Hand in meine und lege sie an meine Wange in der Hoffnung sie etwas aufwärmen zu können. Dann beuge ich mich zu ihr runter und küsse leicht ihre blasse Wange. Ihr betörender Duft steigt mir in die Nase doch dieses Mal ist er deutlich schwächer als sonst.

Schließlich lasse ich sie los. Den Anblick von ihr brenne ich mir ins Gedächtnis ein. In dem Moment schwöre ich mir, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich sie so sehen muss.

Bewusstlos... schwach... hier...

Als ich mich umdrehe, blicke ich in Liz’s verwirrtes Gesicht doch ich ignoriere sie.

„Pass bitte sie auf.“

Mit den Worten schleife ich den betretenen Chris mit, der anscheinend immer noch Schuldgefühle hat.

„Es ist nicht deine Schuld. Dazu wäre es sowieso irgendwann gekommen so motiviert wie sie beim Training war.“, versuche ich meinen Kumpel zu beruhigen.

So hat es ihr Arzt zumindest gesagt. Ich runzele die Stirn. Trotzdem passt irgendwas nicht zusammen…

„Trotzdem ich…“ „Ey!“ So schnell wie ein Typ den alten Mann vor uns angerempelt hat, so verschwindet er auch wieder. Als ich mich umdrehe, ist er schon fast um die Ecke. Das T-shirt, das er anhat, ist durch den Zusammenstoß etwas verrutscht. Doch ich erhasche das schwarze Etwas auf seinem Rücken, das rauslugt. Bevor ich genauer hinschauen kann, ist er auch schon weg.

„Idiot“, murmelt der Mann, der seine Schultern massiert. Er blickt Chris und mich kurz an ehe auch er seinen Weg fortsetzt.

„Was wolltest du sagen?“, frage ich Chris nachdenklich während wir mittlerweile durch die Mensa des Krankenhauses laufen.

„Ich meine nur, dass es so plötzlich kam. Sie fiel hin, da wollte ich ihr aufhelfen. Als sie fast aufrecht stand, klappt sie auch schon wieder hin und …“ Bei den Worten reibt er sich erschöpft die Stirn. Ich hole uns zwei Kaffeetassen und drücke ihm eine in die Hand. Etwas verwirrt nimmt Chris es an.

„Wir bleiben hier bis sie das Krankenhaus verlässt.“ Sofort schießen seine Augenbrauen in die Höhe.

„Wieso das? Ich meine, ist es wirklich nötig?“, fragt Chris mich verwundert.

„Ja. Ich habe eben einen von Marcs Leuten gesehen.“

Kapitel 25

 

 

 

„Silver.“ Nichts.

„Silver!“ Wieder nichts. Das Einzige, was ich sehe, ist nichts als die Dunkelheit selbst.

„SILVER!!!“ Ich will zurückschreien doch nichts verlässt meine Lippen. Einfach nichts. Alles, was ich fühle, ist Angst. Doch es ist nicht diese Art Angst um einen selber. Nicht die Panik um mein Leben. Es ist etwas anderes. Etwas, was weitaus mehr ist als mein eigenes Leben. Etwas, was mir noch wichtiger ist.

Ich nehme alle meine Kraft. Auch wenn ich nichts mehr sehe, spüre ich umso mehr. Mein Kopf zerbricht förmlich von dem Sturm an Gedanken. Was ist es, was ich fühle? Was ist dieses Gefühl von Verlangen, was ich gerade fühle? Obwohl ich nichts sehe!

Es ist, als würde mich etwas zusammendrücken. Plötzlich ist da etwas. 

Einen Griff um meinen Arm.

In dem Moment fühlt es wie eine Erlösung an. Alles, was ich eben gefühlt habe, verschwindet langsam. So auch die Dunkelheit. Das Erste, was ich sehe, ist der Mond. Es ist kein Halbmond, nein, sondern Vollmond. Er sieht so vollkommen aus.

„Au“, höre ich mich sagen. Mein Kopf meldet heftige Schmerzen und ich fühle als hätte ich es verlernt zu atmen. Jetzt erst merke ich, wie durchnässt ich bin. Wie kalt es ist. Als wäre es Winter. Der Schleier vor meinen Augen fällt. Ich blinzele. Endlich sehe ich Farbe. Ich kann alles sehen. Zuerst denke ich, dass ich mitten in eine Eislandschaft blicke.

Aber es sind Augen, in die ich blicke.

 

„Ihre Finger! Sie haben sich bewegt! Hey! Ist hier irgendwo ein Arzt?!“

Ich erkenne die Stimme. Der Versuch mich irgendwie zu bewegen, scheitert kläglich. Mit aller Mühe öffne ich meine schweren Augenlider, die sich wie Zement anfühlen.

„Oh mein Gott, Silver! Du bist wach!!!“, ertönt es wieder.

Dann ertönen Schritte. Ich blinzele. Das Licht bohrt sich in meine Augen. Das Erste, was ich sehe, ist die weiße Wand. Dann erst merke ich, dass es die Decke ist. Als ich mich umblicke, erkenne ich das Zimmer, das ich schon zu gut kenne. Warum bin ich hier?, ist das Erste, was mir durch den Kopf schießt.

Kurz darauf erblicke ich Liz. Sie steht gleich neben mir am Bett und hält meine Hand während sie unentwegt schluchzt. In dem Moment sieht sie aus wie ein Waschbär. Ihr ganzes Makeup ist hinüber. Ich lächele sie schwach an.

„Silver, du bist endlich wach“, ertönt es am anderen Ende des Bettes. Ich löse meinen Blick von Liz und schaue meinem Arzt ins Gesicht. Er lächelt mich an. So wie immer.

„Du bist später aufgewacht als wir dachten. Wie fühlst du dich?“

„Als hätte ich einen Winterschlaf hinter mir“, murmele ich und versuche aufzustehen, wobei mir Liz hilft. „Wie lange habe ich geschlafen?“

„3 Stunden“, ist seine Antwort während er zum Regulator schreitet und es anscheinend abstellt.

„Was ist passiert?“, frage ich, weil ich mich nur noch vage erinnere. Das Training, John, Jason, Chris  und dann…

„Du hast dich physisch überanstrengt. So sehr, dass dein Gehirn, das anscheinend noch nicht vollständig genesen ist, darunter gelitten hat, sodass du zusammen gebrochen bist. Du kannst es etwa mit einem Kurzschluß vergleichen. Ich habe dir doch gesagt; du sollst alles langsam angehen, Silver.“

„Du hast mir so Angst eingejagt man“, wirft mir Liz vor.

Ich blicke sie entschuldigend an.

„Deine Werte sehen stabil aus. Ich hoffe, du hast daraus gelernt. Keine physischen Überlastung mehr. Zumindest langsam steigend. Sonst kann es schlimmer ausgehen als heute. Ich muss bei einem Patienten reinschauen. Ruhe dich aus, wenn du dich gut fühlst, kannst du auch gleich entlassen werden. Ich schaue nachher nochmal vorbei.“ Mit den Worten verschwindet er auch wieder und lässt mich mit Liz zurück.

„Boah, sein Lächeln könnte glatt in einen Horrorfilm passen“, kommt es plötzlich von Liz, sodass ich auflachen muss. Müde reibe ich mir an die Schläfe während langsam alles wieder hochkommt. Ich hatte wieder diesen Anfall! Wieder diese Welle von Bildern, doch am Ende erinnere ich mich an nichts außer den höllischen Schmerzen.

„Erinnerst du dich an das, was passiert ist?“, fragt Liz mich während sie mir aufhilft.

„Ja, aber was ist danach passiert? Ich habe gar nichts mehr gesehen. Mein Kopf hat sich angefühlt als würde es zerspringen“, erwidere ich.

In dem Moment schwingt die Tür auf. Eine Frau in einem Bleistiftrock und roter Bluse mit einem Handy in der Hand läuft gehetzt in den Raum.

„Schatz! Du bist endlich wach!“ Sie drückt mich bei den Worten schwungvoll. Dabei atme ich ihr heftiges Parfüm ein, sodass ich die Nase kräusele.

„Mir geht’s gut, Mum“, versichere ich ihr und blicke zu Liz, die irgendwie angespannt aussieht.

Endlich lässt meine Mutter mich los und mustert mich ausgiebig.

„Wirklich? Was hast du dir dabei gedacht wieder ins Training zu gehen?“, kommt es vorwurfsvoll von ihr.

Wieder ins Training zu gehen? Sie wusste bereits von dem Selbstverteidigungskurs?

„Ich .. wollte eigentlich nur zuschauen. Tut mir Leid, Mum. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.“ Ich blicke sie entschuldigend an, woraufhin sie tief Luft holt. Mein Blick fällt auf ihren Ausschnitt, der meiner Meinung nach ziemlich gewagt ist für die Arbeit.

„Na gut, also jetzt weißt du ja, dass du definitiv kein Sport machen darfst. Ich habe mit dem Arzt geredet. Keine physischen Belastungen mehr, verstanden?“ Sie wirft mir einen mahnenden Blick zu, den ich nur schwer erwidern kann. Ich beschließe brav zu nicken. Daraufhin schaut sie an mir vorbei zu Liz.

„Hallo Liz.“

„Frau Haygilton.“

„Warte, ihr kennt euch?!“ Ich blicke verwirrt zwischen den beiden hin und her.

„Nur flüchtig“, beantwortet Liz meine Frage.

„Ich habe euch ein paar Male zusammen getroffen“, erklärt meine Mutter.

Ich blick meine Mutter fragend an. Dabei frage ich mich, warum sie kein Sterbenswörtchen über Liz verloren hat.

Im nächsten Moment schwingt die Tür wieder auf.

„Tyler“, lächele ich. Mit zwei Schritten steht er auch schon neben meiner Mutter und drückt mich seufzend. Dabei mustern mich ozeanblaue Augen besorgt.

„Man, was hast du dir dabei gedacht?“, kommt es vorwurfsvoll von ihm, woraufhin meine Mutter ihm eine Hand auf die Schulter legt.

„Komm, Silver hat es jetzt verstanden“, versucht sie Tyler zu beruhigen. „Jetzt bringen wir dich erstmal nach Hause. Ich muss nochmal zur Arbeit, aber Tyler fährt dich. Deinen Dad habe ich schon Bescheid gegeben.“

„Warte“, höre ich mich sagen. Alle im Raum blicken mich an. Bemüht suche ich nach einer Ausrede. „Ich.. muss John noch sagen, dass es mir gut geht.“

„Das wurde schon getan“, informiert mich Liz. Ich blicke sie etwas vorwurfsvoll an, weil sie mich nicht versteht.

„Ihr könnt doch schon mal vorgehen. Ich würde gerne noch mit dem Arzt alleine reden.“ Bei den Worten lächele ich alle an, sodass sie nicht mehr so besorgt schauen sollen. „Es geht mir wieder blendend. Wartet doch unten auf mich.“

Mir entgeht nicht, dass mich meine Mutter länger mustert als die anderen. Doch sie verabschiedet sich schließlich, da sie sowiesoweg muss.

Auch Tyler fragt mich, ob er nicht hier auf mich warten soll, doch ich schaffe es irgendwie ihn aus dem Raum zu scheuchen. Er würde unten auf dem Parkplatz auf mich warten. Als Liz ihnen folgen will, wedele ich sie zu mir zu, woraufhin sie wieder an das Bett tritt.

„Liz, wir müssen unbedingt reden. Aber vorher musst du mich wohin fahren“, sage ich und blicke sie dabei fest an.

„„Wohin?“, fragt sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Zu Eis-... Jason“, kommt es entschieden von mir.

 Bei seinem Namen runzelt sie sofort die Stirn und schaut mich misstrauisch an.

„Wieso?“  

An ihrem Blick sehe ich, dass sie es für keine gute Idee hält. Ich zucke dabei mit den Schultern. „Das werde ich herausfinden, wenn ich mit ihm geredet habe.“ Daraufhin schaue ich sie flehend an. „Bitte, es ist dringend.“

Schließlich schließt Liz hinter mir seufzend die Tür und ich mache mich daran aus den Krankenhausklamotten rauszukommen. Zum Glück hatte ich heute nur einen kurzen Jumpsuit an, in das ich schnell reinschlüpfe.

„Wow, du hast es aber eilig, Süße“, höre ich Liz mit verwunderten Ton sagen. Ich schnappe schnell meine Sporttasche und laufe grinsend zu ihr.

Auf dem Flur treffe ich auf meinen Arzt, der in unsere Richtung läuft.

„Du bist schon auf den Beinen? Das ging ja schnell“, meint er leicht lächelnd. Erst jetzt, wo ich sein Gesicht mustere, sehe ich die ähnlichen Züge zwischen ihm und Seth. Nur, dass einer ein Dauerpokerface und der andere ein Dauerlächler ist. Der totale Gegensatz.

„Kann ich mich mit Ihnen am Freitag bei der Kontrolle unterhalten? Ich habe es gerade eilig“, erwidere ich etwas gehetzt. Der Arzt runzelt etwas die Stirn doch nickt kurz darauf. „Wie du möchtest. Dann sehen wir uns am Freitag um 14 Uhr.“

„Alles klar, danke für heute. Bis Freitag“, antworte ich und ziehe Liz mit mir.

„Ciao, Doc“, höre ich Liz kichernd hinter mir sagen. Ich komme mir vor als würde ich eine Betrunkene aus der Disco rausziehen. Doch weder ist sie betrunken noch ist das hier ein Club. Liz ist einfach Liz und das hier ist alles andere als ein Club.

„Silver, ist das wirklich nötig, dass wir zu ihm fahren? Was willst du bloß von Jason COLDON?“ Mittlerweile läuft Liz neben mir und ich spüre ihren bohrenden Blick von der Seite. Coldon ist also sein Nachname. Wieso betonte sie den Nachnamen so?

Ich seufze zur Antwort. In dem Moment erinnert Liz mich an Linda, als ich mit ihr im Einkaufszentrum war. Genauso hörte sie sich an.

„Er war doch derjenige, der mir hochgeholfen hat oder?“, lenke ich ein. Natürlich war er das. Auch, wenn ich ihn nicht direkt gesehen habe. Ich habe seinen Duft wieder erkannt bevor er mich überhaupt berührt hat.

Liz hebt etwas verwirrt einen ihrer wohlgeformten Augenbrauen. „Ja, das hat er. Er wollte dich beruhigen, was ihm auch teilweise gelungen ist.“

„Ist er nicht mitgekommen?“ Ich blicke sie an, doch sie schaut nur stur nach vorne als wäre die Mensa gerade der interessanteste Ort der Welt.

„Doch, aber das ist doch egal… Silver, zerbrich dir wegen dem Macho nicht den Kopf“, murmelt sie leicht genervt. Wenn sie wüsste.

Ich seufze innerlich und konzentriere mich darauf niemanden im Flur anzurempeln. Fast hätte ich eine alte Frau mit einem Gehstock umgerannt, doch ich reagiere gerade noch rechtzeitig. In dem Teil des Krankenhauses wimmelt es nur von älteren Patienten. Ich entdecke einen Mann, der sich gerade an der Theke mit einer Krankenschwester unterhält. Ich kenne sie. Sie assistierte immer meinem Arzt. Der Mann, der uns den Rücken zugwandt hat, trägt ein blaues T-shirt und eine dunkle Jeans, was seinen großen und kräftigen Körperbau betont. Außerdem hat er eine Lederjacke in der Hand. Irgendwie passt er überhaupt nicht in das Bild hier. Doch worauf meine Augen am längsten ruhen, ist das Tattoo auf seinem Rücken. Ich erkenne jedoch nur ein Stück davon, doch auch aus einigen Metern Abstand sieht es höchst interessant aus. Nur zu gerne würde ich sehen wie es vollständig aussieht.

„Ach und übrigens: Ich weiß nicht, wo er wohnt. Sein Training ist auch schon längst vorbei“, vernehme ich wieder Liz’s Stimme neben mir.

„Ich glaube, das hat sich erübrigt“, gebe ich zurück während mein Blick sich auf ihn verharrt hat. In dem Moment entdeckt auch er mich. Er sitzt an einem Tisch mit Chris und auch zwei Krankenschwestern sitzen bei ihnen. Die Szene erinnert mich etwas an heute Morgen, als die beiden Mädchen mit Tyler am Mensatisch saßen.

„Silver“, höre ich noch Liz sagen, doch ich habe mich längst in Bewegung gesetzt. Auch Eisklotz erhebt sich von seinem Stuhl und schaut mich unentwegt an.

Ich warte bis ich direkt vor ihm stehe und blicke ihm fest in seine eisblauen Augen. „Ich muss mit dir reden.“

Er erwidert einen Moment nichts. Seine Augen ruhen einfach nur auf mir. Doch dann runzelt er seine Stirn. „Wenn du dich dafür bedanken willst, dass ich dich getragen habe, reicht ein Danke. Du brauchst keine große Sache daraus zu machen.“

Ich schnaube verächtlich. „Dafür bedanke ich mich auch. Aber das meinte ich nicht. Ich muss mit dir über etwas anderes reden.“ Dann fällt es mir erst auf. „Was machst du eigentlich noch hier?“

Er hatte doch nicht wegen mir noch gewartet?

Er scheint tatsächlich etwas über die Frage überrumpelt zu sein, denn er löst sich kurz von meinem Blick und fährt sich durch die Haare.

„Chris wollte sichergehen, dass es dir gut geht“, beantwortet er schließlich die Frage.

„Warum wart ihr dann nicht in meinem Zimmer?“, frage ich verwirrt.

„Ich hatte Hunger“, ist prompt seine Antwort, woraufhin ich amüsiert lächeln muss. Obwohl ich eigentlich alles andere will, als den Eisklotz da anzulächeln.

 

"Sag mal..", setzt Eisklotz aufeinmal wieder an. "Hast du sonst mit jemanden hier geredet? Außer deiner Mutter, deinen Freunden und dem Arzt?"

Ich blicke ihn verwundert an. "Eh.. nein, nicht, dass ich wüsste." Er atmet bei meiner Antwort kurz auf, was mich noch mehr verwirrt.

„Wie geht es dir?“, kommt es in dem Moment von Chris, der sich nun neben Eisklotz stellt.

„Es geht mir wieder gut, wirklich“, antworte ich und lächele ihn an, weil er mich so schuldbewusst anschaut. „Es war nicht deine Schuld.“

„Das sage ich ihm auch die ganze Zeit“, kommt es von Eisklotz, der mittlerweile ungeduldig wirkt.

„Wir sollten gehen, Chris.“ Dann wendet der Eisklotz sich wieder zu mir um. „Ich habe jetzt keine Zeit zu reden. Such dir jemanden anderen aus, den du nerven kannst.“ Bevor ich auch nur meine Lippen öffnen kann, ziehen die beiden auch schon mit Lichtgeschwindigkeit ab. Auch die beiden Krankenschwestern am Tisch blicken den beiden etwas sehnsüchtig hinterher. Chris dreht sich noch um und blickt mich entschuldigend an, doch dann verschwinden sie auch schon ganz um die Ecke.

„Komm, Tyler wartet schon auf dich“, höre ich Liz neben mir sagen.

Ich folge ihr widerwillig während ich mir den Kopf darüber zerbreche wie ich Jason dazu bekomme, dass er mit mir redet.

Ich muss mit ihm reden! Versprechen hin oder her.

Denn eins weiß ich jetzt: Mein Traum. Dieser unbekannte Retter.

Es war niemand anderes als Jason.    

 

 

 

„..als ob! Du hast doch keine Ahnung.“ Wie vor den hundert Malen zuvor schnaubt meine Freundin verächtlich und rutscht auf ihrem Beifahrersitz herum.

„Nein, Pfoten weg jetzt!“, keift sie Tyler an, sobald seine Finger wieder ihren Weg zum Umschalter vom Radiosender finden.

Auch mein bester Freund scheint nicht ganz begeistert davon zu sein, Liz neben sich sitzen zu haben, obwohl er derjenige ist, der mich nach hinten geschickt hat mit dem Grund, dass ich mich so besser ausruhen soll.

Ich lehne erschöpft meinen Kopf an die kalte Fensterscheibe und versuche den Streit vorne möglichst gut zu ignorieren.

Liz und ich haben ausgemacht, dass sie am Freitag mit mir zur Meisterschaft geht und wir danach reden werden. Ich solle mich erstmal erholen. Außerdem müsse sie noch was für die Uni machen. Ich blicke nach vorne. Bei dem Anblick der beiden zweifele ich etwas daran, dass es eine gute Idee ist Liz mitzunehmen, um Tyler anzufeuern. Eher würde sie ihm die Niederlage herbeiwünschen so wie sie ihn anfunkelt.

„Hey Süße, wir sind da.“ Liz dreht sich auf ihrem Sitz zu mir herum. „Hau dich auf´s Ohr, verstanden? Wir sehen uns am Freitag!“

Sie streicht mir liebevoll eine Strähne hinters Ohr, woraufhin ich sie anlächele. „Ist gut. Ich rufe dich an, wenn ich mit meinem Arzt fertig bin.“

„Okay, komm gut nach Hause.“ Daraufhin zwinkert meine Freundin mir zu. Dann wendet sie sich mit einem flüchtigen Blick kurz an Tyler.

„Danke, für´s Fahren.“ Bevor er ihr etwas darauf erwidern kann, ist sie auch schon aus dem Wagen. Ich höre wie er vorne leise seufzt und muss kichern.

 

 

Nach dem Abendessen schmeiße ich mich wortwörtlich sofort auf das Bett. Ich habe noch mit meinem Vater telefoniert, ihm aber nichts von dem Vorfall erzählt. Er soll sich nicht unnötig Sorgen machen. Da Tyler gerade unter der Dusche steht, ziehe ich mich auf meinem Bett um. Ich schäle mich aus dem Jumpsuit und schlüpfe in eins von Tylers T-shirt in seiner Trainingstasche, die er neben meinem Bett gestellt hat. Da wir morgen zur gleichen Zeit an und aus haben, habe ich ihm vorgeschlagen heute bei mir zu schlafen. Doch ich muss mir selbst eingestehen, dass es nicht der ausschlaggebende Grund ist. Denn eigentlich habe ich Angst vor irgendwelche weiteren Alpträume wie den von gestern. Auch geht mir der Traum im Krankenhaus nicht mehr aus dem Kopf.

„Das T-shirt steht dir besser als mir“, kommt es plötzlich vom anderen Ende meines Zimmers.

Ich blicke in Tylers grinsendes Gesicht, von dem noch etwas Wasser tropft. Er steht am Türrahmen gelehnt und das nur mit einem Badetuch um die Hüfte gewickelt, was mir für einen Moment den Atem raubt. Ich starre auf die vielen Muskeln, die sich auf seinem Oberkörper abzeichnen. Dabei muss ich mir eingestehen, dass die Andeutung auf sein Sixpack wirklich gut aussieht. Vielleicht sollte ich mich an diesen Anblick schon gewöhnt haben, aber das kann ich besonders in meinem Fall nicht wirklich bestätigen. Und wieder wird mir bewusst wieviel sich in den fünf Jahren geändert hat.

Erst jetzt merke ich, dass ich immer noch nichts darauf erwidert habe.

„Ehm…“ Ich senke meinen Blick, um mich nicht von ihm ablenken zu lassen. „..deine Tasche war offen und ich.. naja wollte es mal anprobieren.“

Daraufhin höre ich ihn leise lachen während er zu mir an das Bett kommt. Mir entgleiten alle Gesichtszüge. Kann er sich nicht vorher etwas anziehen?

Als ob er meine Gedanken lesen kann, bleibt er vor seiner Tasche stehen und zieht sich ein ärmelloses Shirt an. Dabei huscht sein Blick ein paar Mal zu mir. Da ich mir nicht wie eine gaffende Freundin vorkommen will, lege ich mich hin und rolle mich auf die Seite. Draußen ist es schon dunkel.

Hinter mir spüre ich wie sich die Matratze senkt und kurz darauf werde ich mit dem Rücken an eine harte Brust gezogen.

„Wenn du Schmerzen oder so hast, musst du es mir sagen, okay?“

Ich spüre seinen warmen Atem an meinen Nacken und bin nur fähig als Antwort zu nicken.

Nach einer Weile spüre ich immer noch seinen unregelmäßigen Atem und weiß, dass er noch wach ist.

„Nacht, Ty“, flüstere ich leise in die Dunkelheit hinein.

„Mhm, dir auch“, brummt mein bester Freund zurück und bettet seinen Kopf leicht auf meinen.

Kurz darauf verfalle ich in einen traumlosen Schlaf.

 

 

 

Ich erwache, als sich etwas Schweres auf mein Gesicht platziert. Verschlafen blinzele ich, doch blicke in nichts als in die Dunkelheit. Es ist immer noch nachts. Mit einem Blick zur Seite erkenne ich leichte dunkle Umrisse, die darauf deuten, dass es nur der Arm von Tyler sein kann. Vorsichtig hebe ich seinen Arm von mir weg und platziere ihn auf die Matratze. Im Flur lese ich von der Uhr ab, dass es gerade 5 Uhr morgens ist. Ich trotte müde ins Badezimmer und wasche mir das Gesicht.

Da ich bestimmt sowieso nicht mehr schlafen kann, putze ich mir gleich die Zähne. Als ich wieder im Zimmer ankomme, überlege ich, was ich zwei Stunden lang machen soll ohne Tyler zu wecken. Mein Blick fällt auf meinen Schreibtisch, an dem ich mich bis jetzt nur für Hausaufgaben hingesetzt habe. Einen Moment lang wiegele ich ab etwas zu lesen, doch dafür müsste ich mir ein anderes Zimmer mit Licht suchen. Da ich nicht im Dunkeln gerne in meinem eigenen Haus rumschleichen will, ohne jemanden zu wecken, entscheide ich mich für das Laptop.

Ich zögere einen Moment, da ich es bis jetzt noch nicht benutzt habe. Als es schließlich doch an ist, erscheinen zwei Konten.

Silvers Konto und Gast Konto. Da das Erste ein Passwort benötigt, das ich nicht mehr weiß, klicke ich auf das andere.

Kurz überlege ich, ob ich etwas für die Schule recherchieren muss, doch mir fällt ein, dass ich es gestern in der Bücherei schon getan habe. Also klicke ich mich wahllos im Internet herum, um mal mehr zu können als nur Google bedienen zu können.

Nach gut einer Stunde weiß ich in etwa, welche Seiten relevant für mich sind und wie ich sie bedienen muss. Von Plattformen wie Facebook lasse ich erstmal die Finger weg, da ich sowieso mein Passwort nicht mehr weiß und die Rücksetzung dieser nicht dringend ist. Plötzlich bekomme ich eine Idee, die gar nicht mal so abwegig ist.

Ich blicke über die Schulter hinweg auf mein Bett. Tyler liegt immer noch in derselben Position wie auch vorhin und döst friedlich vor sich hin. Ich lächele bei dem Anblick ehe ich mich wieder der Suchmaschine zuwende und den Namen: Jason Coldon eingebe.

Ich ignoriere erstmal die Artikel. Als ich auf BILDERN klicke, erscheinen viele von ihm mit einem Anzug. Alle diese Bilder sind nicht alt. Er scheint erst vor zwei Jahren in die Publicity geraten zu sein. Fast auf jedem ist eine weibliche Begleitung neben ihm zu sehen. Es wundert mich irgendwie nicht, dass jede von ihnen aussieht wie ein Model. Doch trotz allem sehen sie neben ihm blass aus. Die Bilder wurden fast immer auf Veranstaltungen aufgenommen. Anscheinend ist er noch nicht Promi genug, um Paparazzi zu haben, die ihn privat folgen. Auf einigen Bildern ist ein älterer Herr zu sehen, der seinen Arm um ihn gelegt hat und stolz in die Kamera blickt. Ich würde ihn auf etwa 60 Jahre schätzen, wobei er trotzdem noch sehr gut für sein Alter aussieht.

Er hat eine ähnliche Statur wie Jason und bei genauem Hinsehen erkenne ich ähnliche Gesichtszüge. Doch trotz allem ist er mir nicht sympathisch. Irgendetwas an seinem Ausdruck in den Bildern stört mich. Ich schüttele den Kopf über mich selber und klicke mich weiter durch zu den Artikeln.

Diese scheinen ein komplettes Gegenteil zu den Bildern zu sein. Die meisten Artikeln fangen mit Schlagzeilen wie: Der Junggeselle Hudsons entpuppt sich als Hobbyschläger oder Jason Coldon im Drogenrausch oder doch nur ein Gerücht? oder Was wäre Jason ohne seinen allbekannten Großvater Dean Coldon? an.

Meine Augen weiten sich während ich die Inhalte der Artikel überfliege. Er ist richtig bekannt. Wie kann er es nur ertragen, dass alles von ihm in die Öffentlichkeit gezogen wird und dann auch noch in Frage gestellt wird?

Bei dem Gedanken runzle ich die Stirn. Wie viel von diesem Zeug entsprechen der Wahrheit? Entsprechen ihm? Ist das der Grund, warum Liz vorhin so abfällig seinen Namen betont hat?

In dem Moment wird mir bewusst, dass ich eigentlich überhaupt nichts über diesen Typen weiß. Ich stütze müde mein Kinn auf meine Hände.

Abgesehen von den ganzen Anschuldigungen kann ich aus den ganzen Artikeln nur entnehmen, dass sein Großvater Dean Coldon ziemlich bekannt ist, da er auf der einen Seite ein Großunternehmen, das international ausgerichtet ist, und auf der anderen Seite ein Musiklabel besitzt. Seltsamerweise wird von seiner Familie so gut wie nichts berichtet. Kein Name. Nichts. Es dreht sich meistens um ihn und seinen Großvater.

Wenn er anscheinend so viele Eroberungen hat, dann war ich bestimmt nicht mit ihm zusammen, schießt es mir durch den Kopf. Ich würde mich doch nicht auf so einen wie ihn einlassen oder?

ODER?

Ich nehme mein Gesicht in die Hände und schließe erschöpft die Augen.

Nein, bestimmt nicht.

 

 

 

 

„…los! Silver, wach auf!“ Die Stimme dringt unverweigerlich in mein Ohr. Etwas verwirrt blicke ich von meinem Unterarm auf und sehe von dem noch geöffneten Laptop zu Tyler, der mich sanft an der Schulter rückt.

„Guten Morgen, du Schlafmütze“, sagt er mit einem sanften Lächeln. Er steht neben dem Schreibtisch und hat sich bereits in Jeans und T-shirt gezwängt. Sein Blick schweift zum Laptop und er runzelt daraufhin die Stirn.

„Hey“, murmele ich noch etwas verschlafen während ich mir meine Haare aus dem Gesicht streiche. „Ich muss wohl eingeschlafen sein.“

Ich lächele ihn entschuldigend an, doch sein Blick haftet immer noch auf das Ding vor mir. Einen Moment habe ich das Gefühl, dass er etwas dazu sagen will, doch er schüttelt kaum merklich den Kopf und weist mich daraufhin, dass ich noch zehn Minuten habe, um mich für die Schule fertig zu machen.

„Ich packe uns das Frühstück ein und warte im Wagen dann auf dich.“ Und dann ist er auch schon weg. Ich blicke auf das gemachte Bett und beschließe das Nötigste zu machen: Gesicht waschen, Umziehen, Schultasche packen.

Als ich vom Bad wieder ins Zimmer komme, steht Tyler zu meiner Verwunderung noch in meinem Zimmer.

„Habe mein Handy vergessen“, erklärt er, als er meinen verwirrten Blick begegnet und hebt es wie zur Bestätigung in die Höhe. Ich nicke nur und packe eilig meine Tasche. Als ich von diesem hochgucke, ist Tyler schon aus dem Zimmer. Ich werfe noch einen letzten Blick in den Spiegel und auch wenn ich nicht geschminkt bin, habe ich genug Farbe im Gesicht, weswegen ich zufrieden bin.

Da es heute etwas kühler ist als gestern - wofür ich nebenbei wirklich dankbar bin - entschied ich mich vorhin für eine dunkelblaue Jeans und eine grüne Bluse, die meine Augen unterstreichen und ich sie deswegen vor einer Woche gekauft habe. Die oberen beiden Knöpfe lasse ich offen, denn sonst hätte ich das Gefühl dort zu platzen, da sie mir unten definitiv besser passt als oben. Doch der Ausschnitt ist angemessen und zeigt nichts, was nicht angebracht wäre.

Als ich schon zur Tür angelangt bin, fällt mir noch ein, dass ich mein Laptop noch an ist. Doch als ich vor dem Schreibtisch stehe, sehe ich, dass es bereits ausgeschaltet und dazu noch zugeklappt ist. Wahrscheinlich hat Tyler es schnell gemacht, schießt es mir durch den Kopf und ich mache mich auf dem Weg nach unten. Vor Eile hätte ich fast die letzte Stufe übersprungen, konnte mich aber noch gerade rechtzeitig fangen. Doch das reicht schon aus, um meinen Herzschlag einen Moment lang aus dem Takt zu bringen.

Ich blicke beim Vorbeigehen kurz in die Küche, doch von meiner Mutter ist keine Spur zu sehen.

Tyler sitzt schon im Wagen und auch das Radio ist auf der ganzen Straße nicht zu überhören. Ich kenne meine Nachbarn nicht und ehrlich gesagt will ich nicht wissen wie sie es aufnehmen.

„Hey, dreh es mal bisschen runter“, weise ich ihm zu während ich die Autotür neben mir zuschlage. Er gehorcht meiner Bitte ohne einen Kommentar und fährt dann los. Ich lehne mich auf meinem Sitz zurück und schaue nach draußen während im Radio ein Song läuft, der die Stille zwischen uns angenehm macht. Leise summe ich mit und habe irgendwie das Gefühl, dass ich dieses Lied schon mal gehört habe oder sogar kenne. Ich blicke auf die Radioanzeige: Beneath Your Beautiful - Labrinth feat Emeli Sande.

Irgendetwas an diesem Lied zieht mich förmlich magisch an. Ja, es klingt verrückt. Ob es einfach an der Melodie liegt?

Ich schüttele über mich selbst den Kopf und blicke Tyler an, dessen Blick konzentriert auf die Straße gerichtet hat.

„Tyler?“

Einen Moment weichen seine Augen von der Straße in meine Richtung, doch nur kurz, denn sein Blick ist wieder ganz vorne gerichtet, bevor er mich auch nur eine Millisekunde angeschaut hat.

 „Mh?“, kommt es stattdessen von ihm.

„Ist alles in Ordnung?“, frage ich vorsichtig, denn irgendwie habe ich das komische Gefühl, dass ihn etwas beschäftigt. Oder ich bilde mir das ein, weil ich ihn nicht gut kenne…

 „Was? Ja, alles bestens.“ Dann schaut er mich schließlich an. „Ich sollte das eher dich fragen. Wie geht es dir?“

Ich muss daraufhin lächeln. „Gut. Sehr gut sogar. Ich habe super geschlafen bis jemand meinte, er müsse mein Gesicht als Polster für seinen Arm benutzen.“

Einen Moment lang blickt Tyler mich verwirrt an, doch dann zeichnet sich die Erkenntnis meines Vorwurfs auf seinem Gesicht ab und ein freches Grinsen liegt auf seine Lippen.

„Was kann ich dafür, wenn du so schön weich bist.“

„Bitte?“, schießt es ungläubig aus mir heraus.

„Du hast schon verstanden. Hey, es würden einige Mädchen um deine Stelle kämpfen“, lacht er auch noch. Ich boxe ihn mit einem wütenden Blick in die Seite, doch nur leicht, denn immerhin fährt er.

„Ja, das glaube ich dir sofort. Die Mädchen aus deinem sowohl auch aus meinem Jahrgang schwärmen alle nach dir“ Ich kann nicht verhindern, dass ein genervter Ton in meiner Stimme mitschwingt. Wütend über diese Tatsache und auch über mich selber starre ich wieder nach draußen und verschränke meine Arme vor mir. „Außerdem habe ich das Gefühl, dass sie nicht glauben, dass ich einfach nur deine beste Freundin bin und keine Bedrohung“, füge ich leise hinzu. Ich warte einen Moment lang eine Antwort ab, doch es kommt nichts weswegen ich weiter stumm die vorbeisausenden Straßen draußen verfolge.

Kurz darauf gelangen wir auf den Parkplatz. Als Tyler den Motor ausschaltet, will ich schon den Türgriff drücken, als eine warme Hand meinen Arm umgreift.

Ich drehe mich verwundert um und blicke in Tylers ernstes Gesicht.

„Die anderen Mädchen interessieren mich nicht“, sagt er aufeinmal mit ruhiger Stimme, doch mir entgeht sein abfälliger Ton darin nicht. 

Ich öffne leicht die Lippen, um sie doch wieder zu schließen, denn ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.

Tyler, der mein Gesicht genauestens beobachtet hat, seufzt daraufhin und fährt sich durch das schwarze Haar.

„Ich habe vorhin deinen Lap runtergefahren.. Wieso googelst du nach diesem Jason Coldon?“

Perplex sehe ich an während ich nicht verhindern kann, dass mein Mund aufklappt. Diese Frage hatte ich nicht erwartet.

„Eh…“ Ja wieso eigentlich? Wollte ich aus reiner Neugier mehr über ihn erfahren?

„Ich weiß nicht“, sage ich ehrlich und da fällt mir in dem Moment etwas ein. „Er ist in meinen Kontakten. Ich wollte wissen, wer das ist.“

Tyler, der mich immer noch mit ernsten Gesichtsausdruck anblickt, - das ich bis jetzt noch nie bei ihm gesehen habe - verzieht seine Lippen zu einem halb quälenden Lächeln. „Vergiss ihn. Er war kein Freund von dir oder so. Ich weiß zwar nicht, warum du seine Nummer hast, aber das spielt jetzt sowieso keine Rolle mehr.“

War das so?

„Kennst.. du ihn?“, hake ich nach während ich in seinem Blick nach etwas suche. Irgendetwas, aber ich finde nichts außer diesem Ozeanblauen.

Tyler schüttelt leicht den Kopf. „Nein, aber was man so von dem hört.“ Er lacht leicht abfällig auf. „Falls du ihm mal begegnen solltest, pass einfach bitte auf dich auf. Es ist besser so für dich.“

Es ist besser so für dich. Hatte ich sowas nicht schon mal von jemanden gehört?, schießt es mir durch den Kopf, doch ich komme gerade nicht darauf.

„Okay“, erwidere ich nur, um das Thema abzuschließen, weil wir mittlerweile wirklich spät dran sind.

„Wir sollten los.“ Mit einem Sprung bin ich draußen und eile zum Schulgebäude. Auch Tyler ist kurz danach hinter mir. Trotz der Eile schafft er es mir ein Pausenbrot und eine Wasserflasche von seiner Tasche in meine umzupacken mit den Worten, dass ich nicht vergessen soll, es zu essen.

„Wir sind fünf Minuten zu spät“, informiert er mich mit einem Blick auf seine Armbanduhr, als wir vor meinem Klassenraum angelangen.

„Lass mich das machen.“ Und schon öffnet er vor mir die Tür und tritt in das Klassenzimmer. Frau Rumber steht bereits an der Tafel und schreibt irgendetwas an. Ein Mädchen, das anscheinend gerade dran genommen wurde, verstummt, als sie meinen besten Freund sieht und auch die ganze Klasse blickt auf.

„Sie schon wieder. Womit beehren Sie uns denn diesmal, Herr Dreyfus?“, kommt es von Frau Rumber.

„Ich wollte Silvers Zuspätkommen nur entschuldigen, weil es an meinem Wagen lag“, erklärt Tyler mit ruhiger Stimme und ich staune wie leicht er lügen kann. Vorsichtig trete ich hinter Tylers Rücken hervor und erst jetzt fällt Frau Rumbers Blick auf mich.

Einen Moment blickt sie zwischen uns und überlegt anscheinend wie sie darauf reagieren soll.

„Na schön“, sagt sie schließlich. „Dann schlage ich vor: Sie, Silver, setzen sich hin und Sie, Herr Dreyfus, gehen in Ihren eigenen Unterricht und entschuldigen sich dort über Ihr Zuspätkommen.“

Bei der Antwort nickt mein bester Freund nur und streift mich mit einem kurzen Blick ehe er den Raum verlässt. Ich setze mich so schnell wie möglich neben Vaia, die mich zur Begrüßung anlächelt und schon fährt das Mädchen vorne fort.

 

 

Als es zur großen Pause klingelt, schleppe ich Vaia zum Mädchenklo, weil ich dringend muss. Ich habe gesehen, dass Seth da ist, der aber von anderen umkreist wird, sodass ich mir vornehme später mit ihm zu reden.

„Ich glaube, ich komme nicht zur Party mit“, höre ich Vaia durch die Kabine sagen während ich mir gerade die Hände wasche.

„Wieso nicht?“, frage ich. Ich nehme mein Handy heraus und lese die neuen Nachrichten von Linda und Liz.

„Naja…“ Vor mir öffnet sich ihre Kabine und Vaia tritt neben mich an das Waschbecken. „Ich bin nicht so der Partytyp, weißt du?“

Ich blicke von Lindas Nachricht auf, die mir geschrieben hat, dass sie mich heute Nachmittag zu sich abholen will, um mit mir einen „Mädelsabend“ zu machen.

„Oh… Warst du denn schon mal auf einer?“, frage ich, weil es mich wirklich interessiert.

„Nein… mich hat bis jetzt auch keiner gefragt naja bis auf dich eben... Und du? Bist du oft auf solchen Partys?“

„Was?“, platzt es ungläubig aus mir heraus, weil ich den ersten Satz von ihr nicht nachvollziehen kann. Vaia zuckt nur ihre Schultern.

Gerade will ich ihr sagen, dass ich gar nicht weiß, ob ich normalerweise feiern gehe, weil ich ja auch sonst kaum was von den letzten Jahren weiß, doch mir fällt im letzten Moment ein, dass sie gar nichts von meinem Gedächtnisverlust weiß und das auch erstmal so bleiben soll. 

„Die Jungs sind aber auch sowas von blind“, murmele ich stattdessen.

„Was meinst du?“, fragt Vaia sichtlich verwirrt. Als ich in ihr - wirklich verständnisloses - Gesicht blicke, muss ich lächeln.

„Du bist wirklich ein hübsches Mädchen, Vaia“, rede ich einfach darauf los und fuchtele zur Bestätigung mit meinen Händen vor ihrem Gesicht herum. „Ich verstehe einfach nur nicht, warum die Jungs dir nicht die Beachtung schenken, die du eigentlich verdient hast. Stehen die hier alle nur auf diese Barbiepuppen oder was?“ Bei der letzten Frage spiele ich auf diese Clique dieser drei Blondinen in unserer Klasse an, die sowohl mich als auch Vaia immer giftig anschauen, was mir so langsam auf den Wecker geht.

„Danke, dass du mich so siehst. Aber ich wüsste nicht, warum sie mich beachten sollen. Das haben sie nie und werden es auch nicht tun.“

Ich kann in dem Moment nur geschockt Vaia anschauen, die es aber anscheinend wirklich ernst meint, was mich nochmals aus den Socken haut.

Kopfschüttelnd öffne ich die Tür nach draußen und wir laufen schweigend den Flur entlang. Ich lehne mich mit dem Rücken an ein Schließfach während Vaia Büchern aus ihrem nimmt. Dabei beobachte ich die anderen Schüler, die ebenfalls im Flur sind. Manche laufen von der einen Seite zur anderen, doch die meisten stehen da und unterhalten sich mit anderen. Da dieser Teil der Schule nur für die Oberstufenschüler ist, sind die meisten etwa in meinem Alter. 

Ich kenne keinen von ihnen hier, doch mir entgehen die Blicke von manchen nicht.

Wie ein Schutzmechanismus verschränke ich meine Arme vor die Brust und blicke zu Vaia, die immer noch am Rumwühlen ist. Dabei fällt eins der rotblonden Locken in ihr Gesicht. Wie immer ist sie ungeschminkt, womit ihre Blässe noch deutlicher zu sehen ist. Ihre bernsteinfarbenen Augen springen auf und ab, was ihr Gesuche verdeutlicht.

„Was ist los?“, frage ich nach einer Weile, als sie vor sich hin seufzt.

„Ich glaube, ich habe mein Englischbuch verloren.“, murmelt sie und blickt mich betreten an.

„Wie das?“, frage ich verständnislos und löse meine verschränkten Arme.

Vaia runzelt ihre Stirn während sie das Fach vor sich schließt. „Ich habe es zuletzt in die Bücherei gestern mitgenommen. Ich habe es auf einem Tisch gelegt während ich mich in den Regalen umgeschaut habe. Das war in der großen Pause. Vielleicht hat es ja die Frau Siebert, die dort arbeitet.“

„Ja, bestimmt.“ Ich lege meine Hand auf ihre Schultern, als Zeichen, dass sie sich nicht unnötig beunruhigen soll.

„Komm, die Pause ist zu Ende. Suchen wir es später in der Mittagspause“, schlage ich ihr vor, woraufhin sie kurz nickt. Auf dem Weg zum Raum tippe ich Linda schnell, dass sie mich um 17 Uhr vor meinem Haus abholen soll, weil ich vorher noch etwas erledigen will. Heute habe ich nach der Mittagspause nur eine Stunde Englisch, weil die Zweite bei allen Oberstufen aufgrund der Gesamtkonferenz ausfällt.

Außerdem hat sie mich gefragt, wie es mir denn ginge und ich frage mich, ob sie es nur so fragt oder von gestern Bescheid weiß. Vielleicht von Chris?

Liz hingegen schrieb mir, dass ich gefälligst auf mich achten und vernünftig essen soll. In dem Moment fällt mir ein, dass ich noch nichts gegessen habe und ich nehme mir vor, dies in der Fünf-Minuten-Pause zu tun.

 

 

 

„...So zur Hausaufgabe gebe ich euch nichts auf, weil die Klausur nächste Woche Montag ansteht.“ Mit den Worten entlässt uns Frau Rumber in die Mittagspause.

„Endlich“, stößt Zen erschöpft hervor und breitet sowohl seine beiden Arme als auch seinen Kopf auf seinem Tisch aus, als hätte er gerade die Klausur seines Lebens geschrieben.

„Hey du Faulpelz, kommst du mit uns essen oder nicht?“, frage ich ihn während ich meine Tasche packe. Auch Vaia lehnt bereits auf dem freien Tisch vor uns und lächelt, als sie Zen so sieht.

„Ich bin müdeee. Tragt mich hin!“, murmelt dieser mit dem Gesicht auf der Tischplatte.

„Hmmm“, antworte ich und tue so, als würde ich wirklich nachdenken.

„Ich könnte dir auf den Hintern treten. Das würde deinen Gang zur Mensa bestimmt beschleunigen.“, sage ich schließlich, woraufhin ein Schnauben gegen die Tischplatte ertönt und Vaia und ich gleichzeitig auflachen.

Langsam leert sich der Klassenraum. Als ich von Zen aufblicke, der sich endlich dazu entschlossen hat seine Sachen zu packen, begegne ich den Blicken von den Barbiepuppen, die einige Meter weiter weg stehen. 

Alle drei sind blond und haben einen ähnlichen Körperbau. Dünn, fast schon abgemagert, aber trotzdem mit enormer Oberweite. Ob sie sich wegen dem ähnlichen Aussehen angefreundet haben? Wäre gar nicht mal so abwegig.

Doch jede von ihnen hat eine andere Augenfarbe. Die größte von ihnen - soweit ich weiß, heißt sie Cynthia - hat braune Augen, während die mit den Locken - Fiona - hellblaue Augen hat. Dann die Kleinste, aber mit den längsten Haaren - Tess - und den grauen Augen, die mich gerade anstarrt, als hätte ich ihr etwas getan. Auch wenn sie die Kleinste ist, habe ich das Gefühl, als wäre sie eine Art Anführerin der Dreien. Alle drei huschen mit ihren Blick kurz zu Vaia ehe sie alle von dannen ziehen.

Ich schüttele nur genervt den Kopf.

„Auf geht’s“, kommt es von Zen, der endlich fertig ist. Als wir drei nach vorne schlendern, entdecke ich Seth, der an dem Türrahmen gelehnt steht und mit seinem Autoschlüssel in der Hand spielt.

Er trägt eine beige Chinohose und ein hellblaues Hemd mit hauchdünnen weißen Streifen, das ihm - wie ich mir leider gestehen muss - sehr gut steht. Doch mal wieder macht sein Pokerface das Gesamtbild zunichte. Kurz bevor wir ihn erreichen, geht er in den Schulflur, sodass ich mir mit den anderen wie ein Rudel vorkomme, dass ihn folgt.

Ich muss mit ihm unbedingt von gestern erzählen. Vielleicht kann er mir dazu etwas sagen.

Auf dem Weg zur Mensa begrüßen mich ein paar Leute, manche auch mit einem einfachen Nicken und ich erwidere alles während ich versuche zu verbergen, das es mir unangenehm ist von so vielen Fremden angesprochen zu werden.

 

 

 

Während Zen uns mit seinen Geschichten über irgendeinen Film namens Trance zutextet, esse ich schweigend meinen Caesarsalat.

Tyler und Tobias treten in dem Moment in die Mensa ein und nicken mir zur Begrüßung zu bevor sie auf das Buffett zusteuern.

Plötzlich vibriert mein Handy.

 

Und dir geht es wieder gut? Chris ist immer noch besorgt um dich. Also dann hole ich dich um 17 Uhr ab. Du brauchst nichts mitzunehmen außer du möchtest bei mir übernachten?! ;)

- Linda                                               

 

Übernachten?  Einen Moment lang wäge ich ab, dabei bedenke ich, was meine Mutter dazu sagen würde und ob sie es mir erlaubt. Ich würde sie damit ganz alleine zuhause lassen. Ob das okay ist?

Andererseits bin ich irgendwie neugierig auf Linda und freue mich, dass sie mich das gefragt hat.

„Sag mal, Seth, warum warst du gestern eigentlich nicht da?“, höre ich Zen plötzlich fragen und ich schiebe meine Gedanken kurz zur Seite.

„Zusatztraining“, beantwortet Seth mit vollem Mund die Frage.

„Dafür schwänzt du die Schule?!“, kommt es entrüstet von Zen, der vorwurfsvoll mit einem Strohhalm, den er eben ausgepackt hat, vor Seths Gesicht rumfuchtelt. Statt von dem Gefuchtel genervt zu sein, hat dieser wieder mal die Miene einer Wand.

Als Seth auch noch mit seinen Schultern zuckt, lässt Zen seufzend den Strohhalm sinken.

„Hey, Leute“, vernehme ich aufeinmal Tobias´s Stimme neben mir und kurz darauf setzt er sich neben mich während Tyler kurz zögert ehe er sich neben Vaia niederlässt.

„Hallo Jungs“, begrüße ich die beiden mit einem Lächeln.

„Möchtest du den Joghurt nicht mehr?“, fragt mich Seth, der schräg gegenüber mir sitzt.

„Eh nein“ Ich blicke auf das Tablett, wo noch ein halbes Caesarsalat steht und ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob ich überhaupt schaffe dieses aufzuessen geschweige denn von dem Schokojoghurt.

„Du kannst es haben.“ Und damit übergebe ich es Seth, der es mit einem kurzen Lächeln annimmt, was mich kurz aus der Bann wirft, weil ich ihn bis jetzt noch nie lächelnd gesehen habe.

„Du bist so ein Fressack“, kommentiert Tyler, der über Vaia hinweg Seth mustert. Wieder ein Schulterzucken. In dem Moment kann ich nicht anders als zu schmunzeln. Im nächsten Moment fährt Zen mit seinem Filmgelabere wieder los, sodass Seth und Vaia daran glauben müssen.

„Bist du morgen dabei?“, fragt mich Tobias plötzlich von der Seite.

„Klar“, lächele ich und blicke in seine dunkelblauen Augen, die mich interessiert mustern. „Einer muss euch doch anfeuern.“

„Oh glaub mir. Allein Tylers Fanclub reicht schon aus, um eine Tribüne zu füllen“, grinst er nur. Meine Augen huschen zu Tyler, der stumm isst, und wieder habe ich das Gefühl, dass ihn etwas beschäftigt.

"Glaube ich sofort“, entgegne ich mit einem Schulter zucken und widme mich wieder meinem Essen.

„Gehst du eigentlich auch auf Alex´s Feier?“, frage ich Tobias nach einer Weile.

„Aber logo. Der Held hat so etwa 70 Leute eingeladen.“ Wieder grinst er und er wird mit jedem Moment immer sympathischer.

„Krass“, kommentiere ich nur nachdenklich.

Den Rest des Mittagsessens lauschen alle abgesehen von mir Zens Erzählungen, die sich nun um den Regisseur drehen.

Ich hingegen hänge meinen Gedanken nach. Als ich Alex auf der anderen Seite der Mensa erblicke und auch er mich, nickt er mir mit einem Lächeln zu.

Und in dem Moment fühlt es sich schon fast wie eine Pflicht an sie alle zu besuchen.

 

 

Als wir alle unser Essen wegbringen, entschuldige mich bei Vaia, dass ich noch etwas zu erledigen habe und sie alleine zur Bücherei gehen soll. Ich warte ab bis Seth sein Tablett abgestellt hat bis ich ihn wortlos aus der Mensa ziehe.

Zu meiner Verwunderung kommt von ihm kein Widerstand. Im Flur blicke ich ihn kurz über die Schulter hinweg an. Er erwidert meinen Blick nur stumm.

Ich steuere den Hof an und bleibe im Ausgang stehen, um zu überlegen, wo wir am besten ungestört reden können.

„Komm mit“, sagt Seth aufeinmal und löst sich aus meinem Griff. Ich folge ihm schweigend. Er läuft am Schulgebäude entlang bis er um die Ecke umbiegt, sodass ich einen kleinen Verdacht schöpfe, der sich zu meinem Erstaunen bestätigt, als ich Seth vor MEINER Wand stehen sehe und kurz darauf schwingt er sich auch schon drauf.

„Kommst du oder willst du rumstehen?“, fragt er mich mit seinem monotonen Ton.

Wortlos steige ich auf die Mauer, indem ich den Fuß in ein kleines Loch in der Mauer setze und mich davon hochschwinge. Oben angekommen blicke ich Seth an, dessen dunkelbraune Augen auf mir liegen, aber wie immer ausdrucklos. Er hat seine Beine leicht angewinkelt und stützt seine Arme auf den Knien ab.

Ich winkele meine Beine zu einem Schneidersitz zusammen und spiele nervös mit meinen Händen.

„Ich muss dir etwas erzählen. Das bleibt unter uns, oder?“ Trotz meines Gefühls, dass ich Seth vertrauen kann, muss ich trotzdem eine Nummer sicher gehen. Immerhin kenne ich ihn eigentlich so gut wie nicht und womit kann ich mir sonst versichern, dass er es doch nicht mal ausplaudert?

  „Alles, was dich betrifft, werde ich nicht weitersagen“, ist seine knappe Antwort. Ich nicke nur ehe ich fortfahre.

„Also gestern war ich mit einer Freundin bei einem Selbstverteidigungskurs, das ich anscheinend besucht habe, und… naja ich habe mich wahrscheinlich zu sehr überanstrengt ohne es zu wissen. Bei einer Übung, wo mein Partner meine Füße weggefegt hat und ich auf der Matte gelandet bin, bekam ich plötzlich heftige Kopfschmerzen und eine Flut von Bildern kam aufeinmal. Ich weiß nicht, ob das vielleicht Erinnerungen sind oder so? Jedenfalls bin ich fast ohnmächtig geworden und sie haben mich ins Krankenhaus gebracht, wo sie mir zur Beruhigung Schlafmittel verabreicht haben.“

Nachdem ich geendet habe, hole ich hörbar Luft und blicke Seth abwartend an, der seine Stirn runzelt.

„Hattest du das schon mal?“

„Was meinst du?“

„Na das mit den Bildern.“

„Oh.. ja. Einmal letzten Freitag. Es ist als würden sie vor meinem inneren Auge abspielen, aber so schnell, dass ich nichts erkenne. Keine Personen, nichts“, gestehe ich ihm. Ich blicke zur Seite, um mir zu versichern, dass uns niemand zu hört, doch es ist kein Schüler auch nur in der Nähe zu sehen.

„Was hast du davor gemacht? Auch Sport?“, hakt Seth nach. Kurz darauf verschränkt er seine Hände ineinander während er mich pausenlos ansieht.

„Nein. Ich war shoppen und dann bin ich im Einkaufszentrum rumgelaufen. Als ich oben im Skydeck angelangt bin, bekam ich wieder… diesen Anfall, wenn man es so nennen kann.“

„Das kann auch eine physische Überlastung gewesen sein. Immerhin war das der Tag, an dem du entlassen wurdest“, schlussfolgert Seth nachdem er kurz überlegt hat.

„Ja.. kann sein. Aber was hat das zu bedeuten?“, frage ich verständnislos und blicke ihn wieder erwartungsvoll an, als wäre er das Orakel aller Fragen.

„Du hast den Ärzten nichts gesagt?“, ist stattdessen seine Gegenfrage.

„Eh nein… Ich wollte mit deinem Vater nach dem Aufwachen reden, aber ich hatte es eilig. Morgen habe ich einen Termin bei ihm. Da wollte ich ihn fragen.“

„Tu es nicht“, befiehlt er mir plötzlich. „Erzähl ihm nichts, was in deinem Kopf vorgeht. Versprich es mir.“ Dabei schwingt in seiner Stimme ein kalter Ton mit, den ich noch nie von ihm gehört habe.

„Aber wieso?“, frage ich, weil ich nicht verstand, warum ich meinem eigenen Arzt so etwas verschweigen soll.

Seth seufzt und fährt sich zum ersten Mal in meiner Gegenwart durch sein mittellanges braunes Haar, das noch oben absteht.

„Das werde ich dir ein andermal erklären. Es ist aber wichtig“, erklärt er nach einer Weile.

Ich seufze. „Na schön. Aber spätestens, wenn du die Stelle hast, möchte ich eine komplette Aufklärung von allem“, sage ich bestimmend als mir noch etwas einfällt.

„Ist gut.“

„Da ist noch was…“ Ich lege den Kopf in den Nacken während ich nach den richtigen Worten suche. Denn ich will ihm dabei nichts von Jason erzählen müssen.

„Ich habe manchmal Träume. Da tauchen Personen auf, von denen ich sicher bin, dass ich sie schon früher kenne. Aber… ich weiß nicht, ob es Erinnerungen sind.“

„Hast du sie vor deinem 13. Lebensjahr gekannt?“

„Nein.“

„Und nach deinem Aufwachen. Hast du sie da gesehen oder getroffen?“

„Ja, das habe ich“, beantworte ich die Frage wahrheitsgemäß ohne zu kapieren, worauf Seth hinaus will.

„Dann kann es einfach eine Zusammensetzung deiner Gedanken sein. Man träumt oft von Menschen, aber diese Dinge geschahen nie oder werden auch nicht gestehen. Dein Unterbewusstsein spinnt es sich zusammen“, vermutet er und schlägt somit meine Hoffnung zunichte, dass ich doch die Chance habe Bruchstücke aus früheren Erinnerungen zu sehen.

„Lass uns reingehen. Es klingelt schon.“ Bei den Worten schwingt er sich auch schon von der Mauer. Seufzend lasse ich meine Beine über die Mauer baumeln und ich mache mich schon bereit mich mit den Händen abzustoßen, als Seth unten plötzlich seine Arme ausbreitet.

„Los, mach schon“, weist er mich mit einem Nicken hin.

Einen Moment zögere ich bevor ich in seine Arme springe und er mich wie eine Feder abfängt. Dann setzt er mich auf meine Füße ab und schlendert auch schon los. Ich folge ihm nur mit einem Kopfschütteln und einem Lächeln.

 

 

 

 

Nachdem der Unterricht geendet hat, verabschiede ich mich von Vaia und Zen und nicke Seth kurz zu. Daraufhin suche ich Tyler auf dem Parkplatz auf, der bereits in seinem Wagen sitzt.

„Hey“, begrüße ich ihn. Er blickt mich an und nickt kurz ehe er den Motor startet.

„Wie geht es dir?“, fragt er nach einer Weile.

„Gut. Keine Beschwerden“, antworte ich mit einem Grinsen auf den Lippen. Doch dies verschwindet schnell, als ich daran denke, was ich gleich tun werde.

Die ganze Fahrt über erzählt Tyler mir von der Meisterschaft. Ich merke, dass er bereits jetzt etwas aufgeregt ist, auch wenn er versucht sich nichts anmerken zu lassen. Es ist eine Regionalmeisterschaft und er verriet mir, dass er daran arbeitet später in die Olympiade zukommen, was ich ihm hoch anrechne. Er möchte später Sportwissenschaft studieren, doch seine Eltern sind nicht gerade begeistert davon. Ich beneide ihn darum, dass er bereits schon ein festes Ziel vor Augen hat während ich noch nicht mal weiß, was ich studieren will.

Als ich mich verabschiede, drücke ich ihn ganz fest und versuche ihm Mut zu sprechen, wobei ich mir nicht sicher bin, ob es hilft, aber schaden kann es ja nicht.

 

Zuhause angekommen treffe ich meine Mutter nicht. Deswegen schreibe ich ihr eine SMS, dass ich heute bei Linda sein werde und bei ihr übernachten möchte.

Danach springe ich unter die Dusche während ich das Radio auf meinem Handy laufen lasse. Obwohl ich die aktuellen Lieder nicht kenne, summe ich so gut wie es geht mit, was mir nur halbwegs gelingt. Ich komme andauernd aus dem Takt. Wenn mich in dem Moment jemand hören würde, wäre  das bestimmt peinlich gewesen.

Ich packe ein paar Klamotten und einen Kulturbeutel in eine etwas größere Tasche ein. Danach binde ich meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und zwänge mich in die Klamotten von heute wieder rein.

Als ich unten in der Küche bin, kommt die SMS von meiner Mutter und entgegen meiner Erwartung erlaubt sie mir die Übernachtung mit nur einer Bedingung, dass ich ihr Lindas Adresse schicken und morgen pünktlich zum Unterricht erscheinen soll.

Ich drucke im Arbeitszimmer meines Vaters eine Liste von den Namen aus, die ich im Internet googeln konnte.

Dann schnappe mir noch schnell einen Apfel ehe ich mich auf den Weg mache. Als der Bus kommt, steige ich vorne ein und frage sicherheitshalber den Fahrer, ob er wirklich an der Station Friedhof in Ohrsdorlf anhalte. Als er mir dies bestätigt, nehme ich mir einen Platz am Fenster.

Je näher ich an mein Ziel komme, desto mehr überfällt mich ein bedrückendes Gefühl.

Es ist richtig so, rede ich mir immer wieder ein.

Ich schließe meine Augen.

Das bist du ihnen schuldig.

 

 

 

Als ich aussteige, entdecke ich nicht weit einen Floristen.

„Guten Tag, junge Dame. Wie kann ich Dir helfen, Liebes?“, begrüßt mich eine nette ältere Dame, die ich auf Mitte 50 schätze.

Ich lächele sie an und merke, dass ich gar nicht weiß, welche Sorte von Blumen ich kaufen soll.

„Ich möchte jemandem eine Blume ans Grab legen. Wissen Sie, welche Sorte dafür geeignet ist?“, frage ich die Dame unsicher, woraufhin sie wissend lächelnd.

„Wie nah stehen Sie sich denn? Es variiert immer je nachdem was für eine Beziehung Sie zu der Person haben. Rote Blumen eignen sich meist für Familie und Geliebte. Da können Sie auch rote Rosen nehmen. Auch bei engen Freunden ist das in Ordnung. Sonst würde ich Ihnen gelbe oder weiße Blumen für Bekannte empfehlen. Oder wenn Sie vielleicht ihre Lieblingsblumen kennen, dann ist es noch besser.“

„Ehm.“ Wie nah ich ihnen stand? Wenn ich das bloß wüsste. Doch das kann die Dame ja nicht wissen.

Also entscheide ich mich für das Einfache. „Wir sind Bekannte. Ich möchte ihnen meine Trauer zeigen. Verstehen Sie?“

Die Frau nickt als Antwort und führt mich durch ihren Laden. Bei den Margeriten bleibt sie stehen.

„Diese sind ein Symbol für vergossene Tränen.“ Dann schweift sie mit der Hand zu den gelben Ringelblumen. „Und diese sind eine traditionelle Totenblume, die auch für die Erlösung nach dem Tod und die Ewigkeit steht.“

Und das geht mit zehn weiteren Blumen weiter. Am Ende entscheide ich mich doch für weiße Margeriten, da die restlichen Blumen immer mehr ausdrücken, als dass ich von mir aus tun kann.

Ich kaufe exakt 67 Blumen und bedanke mich bei der netten Frau, wobei mir ihr verwirrter Blick bei der Anzahl nicht entgeht.

Während ich über die Straße laufe, drücke ich den Strauß an die Brust, als würde dies helfen dieses bedrückende Gefühl in mir zu vertreiben.

Bevor ich den ersten Schritt auf den Friedhof mache, atme ich vorher tief ein. Es dauert eine Weile bis ich den Namen Yvonne Kirlson finde. Auf ihrem Grab liegen bereits noch frische Blumen. Ich vermute mal, dass sie entweder von Alex oder seiner Familie stammen, denn die Blumen sind alle rot oder tragen dunkle Farben.

Vorsichtig ziehe ich eine Margerite aus dem Strauß in meiner Hand heraus und lege diese vor ihrem Grabstein. Dann kniee ich mich auf den Boden und lege den Strauß zur Seite.

„Es tut mir so leid“, flüstere ich während mein Blick auf ihren Namen heftet. Ich blicke eigentlich auf einen für mich unbekannten Namen. Der Name an sich weckt keinerlei Gefühle in mir. Doch das Schlimmere ist: Genau das macht mir eine solche Angst.

„Ich… weiß nicht, wie es dazu gekommen ist, aber.. das hast du nicht verdient. Keiner von euch.“ Meine Stimme bricht ab.

Ich schlucke bemüht den Kloß in meinem Hals runter ehe ich weiterrede.

„Es ist so unfair.“ Im selben Moment während ich die Worte ausspreche, fließen die ersten Tränen über meine Wangen. Immer wieder wiederhole ich diese Worte, als wären sie ein Gebet während meine Tränen das Gras unter mir begießen.

Ich weiß nicht wie lange ich gebraucht habe, um mich einigermaßen zu beunruhigen. Schließlich habe ich noch 66 weitere Gräber vor mir und dafür zwei Stunden Zeit.

„Ruhe in Frieden, Yvonne Kirlson“, hauche ich. Als ich zum ersten Mal ihren Namen ausspreche, merke ich, dass ich ihn zwar sage, aber die Person, zu der sie gehört, nicht ansatzweise würdigen kann, wo ich noch nicht mal weiß, wie sie aussieht. Stattdessen denke ich an Alex und an unsere Unterhaltung auf dem Parkplatz, so als würde ich dieses Geschehen für Yvonne wiedergeben. Wieder stehlen sich Tränen aus meinen Augen.

Aber sie ist doch im Himmel. Da sieht sie doch sowieso alles, was hier unten geschieht oder nicht?

Einen Moment lang denke ich an den Tod von Cindys Oma vor 8 Jahren. Damals hat mir mein Vater erklärt, was mit den Seelen geschieht, wenn der Mensch seinen letzten Atemzug nimmt. Er erzähle mir, dass es zwar einen Himmel oder eine Hölle gibt, jedoch die meisten in den Himmel kommen. Mein Vater ist nämlich der Meinung, dass jeder Mensch, auch wenn er etwas Unmoralisches getan hat, es irgendwann bereut und Reue führt oft zur Wiedergutmachung. Falls dies nicht geschieht, dann kommt für einen die Hölle. Ist es denn wirklich so, dass die vergangenen Taten eine Seele prägen und dies darüber entscheidet, wohin man schließlich gelangt?

In dem Moment wird mir klar, dass er es gesagt haben muss, um mir auf seine Art und Weise zu sagen, dass zwar keine Tat rückgängig gemacht werden kann, jedoch dann zählt, was man danach tut und es durchaus Möglichkeiten gibt, es wieder gut machen.

Aber wie soll ich denn den Tod von 67 unschuldigen Mitschülern wiedergutmachen, Vater? Wie?

Ich wische mir die Träne weg und stehe wieder auf.

Wie sehr ich mir meinen Vater hier wünsche. Früher ist es keine Frage gewesen. Ich wäre sofort bei so etwas zu ihm gekommen und hätte mich bei ihm ausgeheult, aber habe ich das auch in den letzten Jahren gemacht? Außerdem ist er ja gerade sowieso auf der anderen Seite der Welt.

 

 

Mittlerweile bin ich beim letzten Grab angekommen. Paul Graven. Wieder ein Name, der mir absolut gar nichts sagt.

Ich sinke erschöpft auf meine Kniee und starre einfach den Grabstein an ohne etwas zu sagen.

Meine Augen fühlen sich bereits geschwollen an, weil ich bei jedem Grab geheult habe, auch wenn ich es unterdrücken wollte, denn ich will Linda später nicht mit meiner Visage erschrecken.

Wortlos lege ich die letzte Margerite auf das Grab.

„So unfair…“, bringe ich mit bebenden Lippen hervor.

Irgendwann stehe ich auf und schmeiße das Papier vom Blumenstrauß in einem Mülleimer am Rande des Friedhofes.

Unter dem nächstbesten Baum, der mir etwas Schatten spendet, lasse ich mich nieder und schließe meine Augen. Ich wollte diesen Friedhof nicht gleich verlassen, warum weiß ich nicht. Es ist, als wäre es respektlos, gleich nach meinem Besuch wieder abzuhauen. Als würde es etwas ändern, wenn ich ein paar Minuten länger hier bleibe.

Doch ich tue es trotzdem.

Ich denke an mein Leben vor 5 Jahren zurück. Damals war alles so unbeschwert. Ich hatte wirklich ein einfaches und glückliches Leben. Wie gerne ich mich in dieses zurück versetzen könnte. Cindy, Tyler und meine Familie waren alles, was ich brauchte und mich glücklich machte. Was ist nur geschehen?

Das Leben ist geschehen.

Ich nehme mein Handy heraus. Es ist schon 16:35 Uhr. So würde ich es nicht rechtzeitig schaffen. Ich simse Linda, dass sie mich in der Nähe des Friedhofes abholen soll und entschuldige mich, dass sie weiter weg fahren muss.

Dann lehne ich wieder meinen Kopf an den Baum und ziehe meine Beine an. Ich öffne meine Haare in der Hoffnung mein verheultes Gesicht besser verdecken zu können.

Plötzlich höre ich Schritte hinter mir. Ich kann sie hören, da dieser jemand nicht auf das Gras läuft, sondern auf die einzelnen Gehsteine, die regelmäßig auf dem Friedhof verteilt sind.

Hinter mir verstummen die Schritte. Für einen Moment überlege ich, ob ich mich bemerkbar machen soll, aber es ist gerade so gemütlich, also schließe ich meine Augen wieder und versinke in meine Gedanken.

Ich denke an das, was Seth heute gesagt hat und versuche zu verstehen, warum er mir abgeraten hat, mit seinem Vater über diese Anfälle zu reden, als plötzlich eine raue Stimme meine Gedanken durchbricht.

„Er hat es wieder getan, Damian.“

Schlagartig öffne ich meine Augen. Wenn der Wind nicht in meine Richtung geweht hätte, würde ich diese Stimme wahrscheinlich nicht hören, so leise wie er spricht, aber so erkenne ich sie sofort wieder.

Was macht er bloß hier?  

Automatisch mache ich mich etwas kleiner während ich ihm bei den nächsten Worten lausche.

„Wärst du bloß hier, würde ich leicht aus dem Schneider kommen, aber so?“ Ein quälendes Lachen folgt.

„Alles läuft im Moment schief. Mum habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen. Ich bin nicht du, ich kann sowas nicht. Und sie...“ Wieder ein Lachen, das die bitterlichen Schmerzen verrät. "Sie? Ist einfach nur stur. Verdammt! Es ist so schwer sie aus allem rauszuhalten..."

Dann ist es still. Ein Rascheln folgt.

„Während du da oben mit Dad wahrscheinlich um die Wette pokerst, bin ich hier und habe nur Nate und Olivia. Idiot.“

Ich runzele verwirrt die Stirn. Wen beleidigt er denn da?

Wieder folgt ein Rascheln. Einen Moment lang ist es still ehe ich wieder Schritte höre. Ich schätze ab, dass er sich schon genug entfernt hat bevor ich hinter dem Baum aufstehe und einen Blick in seine Richtung werfe. Und tatsächlich. Auch wenn ich ihn nur von hinten sehe, reichen mir seine Haare und Statur, um zu wissen, dass es sich um niemand anderes als Jason handelt. Er trägt ein schwarzes Hemd und eine einfache graue Jeans. Die Lackschuhe machen bei jeden seiner Schritte Geräusche. Aus Angst, er könne zurückblicken, warte ich bis er außer Reichweite ist, ehe ich vom Baum wegtrete und auf die Gräber zugehe. Ich weiß nicht, vor welchem er genau gestanden hat, denn hier wurden alle dicht nebeneinander aufgereiht, doch als ich zwei Namen lese, ist es keine Frage mehr, wo er noch eben stand.

 

 

 

   Damian Coldon                  Luke Coldon

02.07.1987-09.06.2011  13.01.1962-09.06.2011 

Kapitel 26

 

 

 

Ich erstarre. Wer waren diese Menschen?  Doch nicht etwa…?  

Ich schüttele verstört den Kopf. Dieser Damian wurde gerade mal 24 Jahre alt! Wie kann man nur in seinen so jungen Jahren sein Leben verlieren? Der andere hingegen wurde fast 50.

Mit einem Male läuft mir ein eiskalter Schauer über den Rücken und obwohl mir in dem Moment tausend Fragen durch den Kopf schießen, weiß ich, dass ich selbst auf keine Antwort kommen werde.

Und die einzige Möglichkeit läuft gerade von mir weg und ich darf keine Zeit verlieren.

Binnen Sekunden schnappe ich mir meine Tasche und setze den einen Fuß vor den anderen.

Der Wind weht mir durch die Haare, die bei jeder meiner Schritte geräuschvoll auf meine Schultern prasseln. Es fällt mir etwas schwer in der engen Röhrenjeans und den Sandalen auf dem Gras zu rennen, doch ich ignoriere es. Zum Glück ist zurzeit keiner hier auf dem Friedhof zu sehen auch kein Wächter. Denn so wie ich gerade quer durch die Reihen der Gräber stürme, wecke ich bestimmt noch die Toten auf.

Als ich am Rand der Friedhofsseite ankomme, bleibe ich abrupt stehen. Auf der anderen Straßenseite ist der Blumenladen, bei dem ich vorhin noch war. Doch etwa zehn Meter weiter weg ist ein schwarzes Etwas, das sich unter einem Baum zusammengekauert hat.

Jason.

Ich räuspere mich während ich langsam auf ihn zugehe. Er hingegen bewegt sich nicht. Als ich zwei Meter vor ihm stehe und meinen Schatten schon auf ihm werfe, hat er mich dennoch nicht bemerkt. Er hat seine Beine angewinkelt und die Ellenbogen auf die Knie gestützt während er einfach seinen Kopf hängen lässt.

Er wirkt auf mich verloren. Sein Blick ist nach vorne gerichtet, doch ich spüre, dass er leer ist, denn sein Gesicht ist ausdruckslos. So habe ich ihn noch nie gesehen.

„Jason.“

Keine Reaktion. Es ist kaum ein Hauchen, das ich von mir gebe, doch ich traue mich auch nicht gleich zu ihm. Noch einmal versuche ich es. Wieder nichts.

Ich räuspere mich erneut.

„Eisklotz!“, versuche ich es nochmal und erschrecke mich selbst an meinem lauten Ton, der die Stille hier auf dem Friedhof abrupt durchbricht.

Ganz langsam, aber auch wirklich im Zeitlupentempo, hebt sich sein Kopf. Es dauert einen Moment bis er meinen Blick begegnet und schon weiten sich seine Augen.

Jason öffnet seine Lippen, doch schließt sie im nächsten Moment wieder. Dann schüttelt er den Kopf und fasst sich an die Stirn. Ich runzele die Stirn, als er sich heftig über die Augen reibt und mich daraufhin fassungslos anstarrt.

„Silver?!“, kommt es ungläubig von ihm, als würde er es nicht für möglich halten, dass ich hier vor ihm stehe.

Ich nicke langsam und überbrücke den letzten Abstand zwischen uns. Er will schon aufstehen, doch ich halte ihn mit einer Hand an der Schulter fest und ziehe ihn mit mir auf den Boden.

Und so sitzen wir da. Nebeneinander auf dem Gras. Unter einem Baum. Nebenbei auch noch auf einem Friedhof.

„Was machst du hier?“, frage ich nach einer Weile, als von ihm nichts kommt. Eigentlich habe ich erwartet, dass er derjenige ist, der mich das fragt. Oder sogar, dass er mich wegscheucht. Aber nichts dergleichen geschieht.

„Und du?“, erwidert er stattdessen und blickt mich an. Seine Augen scheinen wieder klarer zu sein und wieder blicke ich direkt in diese blauen Kristalle. Ich verdrehe leicht die Augen.

„Ich habe zuerst gefragt.“

„Ich bin älter als du“, argumentiert er.

„Bitte“ Ich stoße empört Luft aus. „Und dickköpfiger bist du auch.“

Aber wie heißt es so schön? Der Klügere gibt zuerst nach.

„Ich habe die Opfer des Brandes besucht“, erkläre ich leise, aber so, dass er es versteht und wende meinen Blick ab. Stattdessen starre ich auf das grüne Gras. Das Grün gefällt mir in dem Moment tausendmal mehr als dieses intensive Blau…

„Das ist aber nett von dir“, kommentiert er meine Tat.

Ich zucke unbeholfen mit meinen Schultern. „Das ist Mindeste, was ich tun kann. Aber.. es hilft nicht.“

„Wogegen hilft es nicht?“, hakt er nach.

„Den Schmerz“, flüstere ich leise und räuspere mich schnell danach.

Schließlich schaue ich ihn wieder an. „Und jetzt du.“

In seinem Gesicht regt sich keine Miene. Keine Trauer. Wut. Verzweiflung. Nichts.

Seine Augen scheinen das einzige Lebendige in seinem Gesicht zu sein.

„Ein paar flüchtige Bekannte besucht.“

Lügner.

Ob aus Wut oder Neugier oder was auch immer, weiß ich nicht, doch nachdem ich mich auf meinen Knien umgesetzt habe, nehme ich sein Gesicht in meine Hände und drehe sein Gesicht direkt zu mir, sodass unsere nur noch einige Zentimeter voneinander entfernt sind.

„Wer sind Luke und Damian Coldon?“, frage ich gnadenlos und sehe ihn fest an.

Und endlich kommt eine richtige Reaktion von ihm. Seine Augen werden groß und er zieht mir mit einem Zug den ganzen Sauerstoff zwischen uns weg.

Plötzlich stößt er mich gewaltvoll von sich. Ich kippe nach hinten und kann mich vor Schock nicht mehr halten, sodass ich unsanft auf das Gras falle und mein rechter Arm knackst.

„Autsch“, presse ich schmerzvoll hervor. Ich blicke von meinem Arm auf zu Jason, der mittlerweile aufgestanden ist und mich anstarrt als wäre ich ein Alien.

„Scheiße“, höre ich ihn sagen und im nächsten Moment zieht er mich nach oben. Als ich vor ihm stehe, weiche ich automatisch einen Schritt zurück und umklammere meinen angeknacksten Arm.

„Was sollte das?“, zische ich ihn wütend an. „Das war doch nur eine Frage!“

Sein entschuldigender Blick liegt auf mir, doch es dauert einen Moment lang bis er sich gefasst hat. Irgendetwas stimmt doch heute gewaltig nicht mit ihm. Sonst ist er doch sonst so schlagfertig wie eh und je!

„Es.. tut mir leid“, murmelt er unverständlich und fährt sich durch das dunkelbraune Haar.

Soll ich ihn jetzt auf den Traum ansprechen?

Ich beiße mir unbeholfen auf die Lippe.   

Im nächsten Moment blickt Jason mich wieder an und sein Blick sagt mir, dass er mir nicht wehtun wollte.

„Komm, ich fahre dich nach Hause“, schlägt er mit einem entschuldigenden Lächeln vor. Er hebt schon seine Hand an, doch ich weiche instinktiv zurück.

„Immer willst du mich nach Hause bringen“, werfe ich ihm vor und schaue ihn wütend an.

Jason hält in der Bewegung inne und sieht mich mit einem Blick an, den ich so nicht richtig deuten kann, obwohl uns nur zwei Meter trennen.

„Sei doch froh, dass ich deinen Chaffeur spiele“, erwidert er spöttisch. Seine Mundwinkel zucken dabei.

Und schon haben wir den alten Jason Coldon wieder.  

Ich rolle genervt die Augen. So wird das nichts…

„Jason, wer sind Luke und Damian? Etwa deine...“

„...Familie? Ja“, unterbricht er mich mit kühler Stimme.

„Aber…“, setze ich an, doch werde wieder unterbrochen.

„Luke war mein Vater und Damian mein Bruder.“ Der Eisklotz stößt genervt die Luft aus, sodass seine Nasenflügel sich heben. Statt etwas darauf zu antworten, wandern meine Augen zu seinen Lippen, die leicht geöffnet sind.

„Bist du jetzt zufrieden? Können wir diesen Scheißort jetzt verlassen?“, zischt er plötzlich wütend, sodass ich zusammen zucke. Ertappt blicke ich von seinen Lippen auf.

Was war gerade mit mir los?

Ich begegne Jasons misstrauischen Blick und suche in meinem Kopf nach einer schlagfertigen Antwort, doch vergeblich.

„Ich.. ehm du ..nein..“ Plötzlich fällt mir Linda ein. „Ich werde abgeholt.“

„Von wem?“, fragt Eisklotz mich mit verengten Augen. Vielleicht sollte ich das mit dem Ausfragen verschieben?, wiege ich im Kopf ab.

„Linda“, platzt es aus mir heraus.

„Aha“, kommt es kurz angebunden von ihm. Doch wenigstens verschwinden diese Schlitzaugen. Puh.

„Tut mir Leid um deinen Vater und Bruder“, sage ich leise. War das der Grund, warum nichts über sie in den Artikeln stand? Oder weil sie davor gestorben sind bevor Jason in die Presse geraten ist? Was ist mit seiner Mutter?!

„Was passiert ist, ist passiert. Ich habe mich daran gewöhnt“, meint er gelassen. Ich lächele leicht, denn ich weiß, dass er mir nur etwas vormachen will. Oder vielleicht sogar sich selbst.

Plötzlich bekomme ich den schrecklichen Drang diesen Eisklotz vor mir einfach in die Arme zu schließen. Ihm zu sagen, dass es okay ist, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Bei den Gedanken beiße ich mir augenblicklich auf die Lippen. Verdammt, dieser Friedhof macht mich total sensibel!

Dieser Eisklotz da in deinen Armen? Ha ha, dass ich nicht lache.

Um von meinen - definitiv unangebrachten - Gedanken zu kommen, hole ich mein Handy heraus.

Linda hat mir noch nicht zurückgeschrieben. Ich schaue mich hilfesuchend um. Ein paar Leute betreten gerade den Friedhof und ich erblicke neu geparkte Autos an den Straßenseiten. Mein Blick fällt auf den Blumenladen.

„Du..“, setze ich an und blicke zurück zu Jason. „.. ich bin dann mal weg. Man sieht sich.“

Ohne auf seine Antwort zu warten, drehe ich mich um und steuere auf den Blumenladen zu, in dem ich meine Zeit totschlagen will bis Linda kommt.

Es ist gut so, dass du ihn nicht darauf angesprochen hast, versuche ich mich in Gedanken selbst zu überreden. Es ist der Todestag seines Vaters und seinem Bruder!

Gegen meinen Willen bekomme ich schreckliches Mitleid mit ihm. Dass jemand so seine Familie verliert, hat niemand verdient. Auch nicht Eisklotz.

 Als ich die Türschwelle des Geschäftes erreiche, erblicke ich die Verkäuferin hinter der Theke. Sie unterhält sich mit einem Mann, der sich verdächtig weit vorne über die Theke gelehnt hat. Er trägt dunkle Sachen, jedoch schlichte wie ein T-shirt und eine Jeans. In der Hand hält er eine Lederjacke. Dann wandert mein Blick auf das Tattoo auf seinem Nacken.

Plötzlich habe ich das Gefühl ein Déjà-Vu zu erleben. Und dann fällt es mir ein. Gestern im Krankenhaus.

Automatisch weiche ich einen Schritt zurück. Das kann doch kein Zufall sein, oder?

Und noch einen.

ODER?

„Silver, was…“, ertönt plötzlich Jasons Stimme hinter mir und ich wirbele um, sodass meine Hand ihn im nächsten Moment vom Sprechen hindert. Dann umgreife ich seine Hand und ziehe ihn von hier weg. Ich werfe einen Blick nach hinten und zu meiner Erleichterung hat keiner von den beiden mich bemerkt.

„Hey, was…“

„Pssst“, zische ich ihn hektisch an und lege als Zeichen einen Finger über meine Lippen. Erst als wir um die Ecke kommen, lasse ich seine Hand los.

Ich lehne mich müde an einen Baum und ignoriere den nachdenklichen Blick von ihm.

War ich jetzt auch noch paranoid?

Ich schüttele über mich selbst den Kopf. Doch mein Gefühl sagt mir, dass ich richtig gehandelt habe. Richtig gehandelt, indem ich mich vor einem Fremden verstecke? Der mich irgendwie zufälligerweise verfolgt? Warum sollte jemand mich verfolgen?!

„Silver“, ertönt es nah an meinem Ohr, sodass ich aus meinen Gedanken schrecke.

Jason steht dicht neben mir und seine eisblauen Augen ruhen nachdenklich auf mir.

„Was war das eben?“, fragt er unerbittlich, sodass ich trocken schlucke.

Jason, ich werde glaube ich verfolgt. Nein. So ein Mann taucht an zwei Orten auf, in denen ich auch war und ja deswegen fühle ich mich gestalkt?  Klingt ja überhaupt nicht paranoid.

„Silver“, kommt es jetzt ungeduldiger und nachdrücklicher von ihm.

„Ich …“, setze ich langsam an, nur um anschließend rasend schnell zu reden. „…da war so ein Mann gestern im Krankenhaus. Er hatte so ein Tattoo auf seinem Rücken und er kam mir komisch vor, obwohl er nichts gemacht hat, aber eben habe ich ihn wieder in dem Blumenladen gesehen und ich habe das Gefühl, dass ich…“ Ich ziehe scharf die Luft an. „…verfolgt werde“, ende ich mit piepsiger Stimme und kneife meine Augen zusammen, nur um seine Reaktion nicht sehen zu müssen.

Jetzt hält er dich für vollkommen verrückt.

Als ich meine Augen vorsichtig öffne, entgleiten mir alle meine Gesichtszüge.

Jason ist einen Schritt nach hinten zurück gewichen und schaut mich mit einer Mischung aus Schock und Wut an.

„Warte hier kurz“, befiehlt er mir mit einem Ton, der keine Widersprüche zulässt.

Er ist schon mit einigen Schritten den gleichen Weg, mit dem wir hierher gekommen sind, zurück gelaufen, als er mir einen Blick über die Schulter wirft.

„Und nicht bewegen. Klar?“

Ich nicke nur mechanisch. Dann entfernt er sich auch schon.

Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Doch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, klingelt mein Handy.

„Linda“, stoße ich erleichtert aus.

„Hey Silver. Wo bist du? Ich fahre jetzt schon zwei Runden um den Friedhof herum, doch finde dich nirgends“, höre ich Linda ungeduldig sagen.

„Tut mir leid. Ich stehe gerade etwas abseits an der…“ Ich blicke auf. „…Lärchenallee.“

„Okay, alles klar ich tippe es mal schnell in den Navi ein. Sag mal, was treibst du überhaupt hier?“

„Das erzähle ich dir später, okay?“, weiche ich aus. Gleichzeitig kann ich es kaum erwarten hier weg zu kommen und den Abend mit Linda zu verbringen.

„Klar, hey ich bin dann so…“ Weiter höre ich sie nicht, denn plötzlich wird mir das Handy aus der Hand genommen.

„Jason!“, rufe ich empört, doch er gibt mir nur ein Zeichen still zu sein.

„Linda? Ich bin’s Jason … Du, ich erkläre es dir später, aber ich werde Silver zu dir fahren und du fährst alleine nach Hause. Halt nicht hier irgendwo an, fahr weiter! … Ja, ich hab dich auch lieb.“ Ich runzele die Stirn. Das Letzte klang ja mal überhaupt nicht ironisch.

„Komm, ich fahre dich zu Linda“, meint er nur und reicht mir mein Handy zurück.

„Das ist ein Scherz, oder? Was soll das, warum kann ich nicht bei ihr fahren?“, fahre ich Jason ungehalten an.

„Du hast die Wahl zwischen einem Ultimate Aero und einem langweilen BMW Caprio, da musst du noch fragen?“, spottet er arrogant und macht dabei seltsame Handbewegungen, die wahrscheinlich verdeutlichen sollen wie toll sein Schlitten doch ist.

Doch als er meinen misstrauischen Blick begegnet, lässt er seine Hände sinken und seufzt auf.

„Na schön“, setzt er an und legt dabei seine Hände auf meine Schultern, was mich noch mehr verwirrt. Dann holt er tief Luft ehe er weiterspricht.

„Du hast es dir nicht eingebildet. Dieser Typ…“ Er macht eine Kopfbewegung in die Richtung des Floristen. „…verfolgt dich wirklich.“

„Was?“, frage ich ungläubig während sich meine Augen weiten.

Doch Jason nimmt nur seine Hände von meinen Schultern weg und schüttelt ungeduldig den Kopf.

„Das erkläre ich dir später. Wir müssen hier weg.“ Wie schon hunderte Male zuvor umgreift er mein Handgelenk und zieht mich mit sich mit. Als wir um die Ecke kommen, entdecke ich sofort seinen Wagen.

 

 

Nachdem ich meinen armen Kopf vergeblich darüber zerbreche, wie Jason darauf kommt, dass mich jemand verfolgen würde, seufze ich innerlich und versuche mich nicht über diese ständige Ungewissheit zu ärgern. Stattdessen fange ich an ihn während der Autofahrt genau zu beobachten. Sein Blick ist zwar an der Straße geheftet, jedoch spiegelt sich Nachdenklichkeit und sogar etwas Wut wieder.

Auch der Fakt, dass er meinen Blick gar nicht registriert, bestätigt dies.

Der abwesende Jason von vorhin ist wie weggefegt. Stattdessen blicke ich zwar wieder sein typisches Pokerface an, jedoch weiß ich genau, dass sich dahinter etliche Emotionen abspielen.

 

Nach einer halben Stunde Schweigen und Anglotzen halten wir vor einem kleinen Haus an. Die stille Gegend in der Umgebung des Friedhofs haben wir längst hinter uns gelassen und sind jetzt wieder im Herzen der Stadt.

Ich folge Jason schweigend bis zur Haustür. Er wirft einen Blick hinter sich bevor er schließlich klingelt.

Kurz darauf wird die Tür schwungvoll geöffnet und eine Frau blickt den Typen neben mir wütend an. Ihr Bobschnitt ist etwas zerzaust.

„Du!“, fährt sie ihn gleich darauf hin an, doch bevor weitere Worte ihre Lippen verlassen, schleift mich Jason ungeduldig in das Haus rein.

Er führt mich vom Flur aus direkt in das Wohnzimmer, das ich neugierig betrachte. Es ist schlicht möbliert, jedoch verschaffen die Farben und die kleinen Dekorationen auf den Regalen und Tischen eine warme und geborgene Atmosphäre.

Hinter uns erscheint Linda, doch sie scheint nicht mehr so wütend zu sein. Stattdessen blickt sie von Jason zu mir und kurz darauf werde ich in ihre Arme gezogen.

„Alles okay bei dir?“, fragt sie mich während sie mir die Luft ausdrückt.

„Ja“, bringe ich krächzend hervor, doch ich kann mir ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Sie macht sich Sorgen um mich.

Endlich lässt sie mich los und ich sehe ihre Augen glitzern. Doch gleich darauf wendet sie sich an den Eisklotz neben mir.

„Jetzt erklär mir mal, was das vorhin war!“, zischt sie ihn an, obwohl er eigentlich nichts gemacht hat. Naja außer mich auf eigener Faust hierher geschleift.

Statt gleich zu antworten streift Eisklotz mich mit einem kurzen Blick bevor er Linda wieder anblickt.

„Linda, wir haben keine Zeit das jetzt auszudiskutieren. Ich muss jetzt zu… ihm.“ Wieder ein kurzer Blick.

„Gehört das etwa auch zu eurem Deal?!“, fährt Linda ihn ungehalten weiter an. Mittlerweile hat sie beide Hände an ihre Hüfte gestemmt.

Ich blicke zwischen den beiden hin und her und frage mich, ob ich auch etwas sagen sollte, denn immerhin geht es hier irgendwie um mich.

„Nein. Natürlich nicht. Was glaubst du, warum ich sie gleich hierher gefahren habe?“, kommt es von Jason und ich meine einen leicht verzweifelten Ton in seiner Stimme herauszuhören.

Daraufhin seufzt Linda erschöpft auf. Das ist mein Moment.

„Leute, könnt ihr mich jetzt bitte aufklären?“, frage ich die beiden vor mir. Linda weicht meinem Blick aus, daher blicke ich Jason an.

„Ich höre?“ Abwartend ziehe ich meine Augenbrauen hoch und verschränke meine Arme vor die Brust.

Jason fährt sich kurz durch die Haare und erwidert Lindas Blick.

„Sie muss etwas davon erfahren, sonst ist sie in Gefahr“, höre ich Linda plötzlich sagen.

Was?

Gefahr?

„Aber solange sie nichts mit mir zu tun hat, wird er von seiner Seite aus nichts machen. Das gehört zum Deal.“

Hä?

„Ich meine nur, auch wenn du ihn von uns allen am längsten kennst, weißt du nicht alles von ihm. Er ist unberechenbar, Jason.“

Dann blickt Linda mich an. Ihr Blick ist entschuldigend.

„Okay“, höre ich Jason sagen, woraufhin meine Augen wieder zu ihm wandern.

„Ich werde dir DAS jetzt erklären, Silver, und ich möchte, dass du es so hinnimmst und keine weiteren Fragen stellst, denn ich sage dir nur so viel wie ich es für passend halte.“

Na da bin ich ja mal gepannt...

 

 

 

Wieder ertönt ein melodischer Klang der antiken Uhr, die hier an einer Wand der Küche angebracht ist. Und das tut sie in einem Viertelstundentakt.

Mittlerweile weiß ich gar nicht mehr wie oft ich sie schon gehört habe seitdem wir uns an den Küchentisch gesetzt haben.

Jason wollte unbedingt in den hinteren Bereich des Hauses, nachdem er gemeint hat, dass man von der Straße aus in das Wohnzimmer schauen kann. Die Fenster zu verdecken wäre seiner Meinung nach zu auffällig.

Dramaqueen.

Zwar verstehe ich das ganze „Drama“ nicht, doch ich sagte nichts dazu. Denn endlich darf ich etwas erfahren. Und irgendwie freue ich mich wie ein kleines Kind darüber, obwohl ich noch nicht mal weiß, was mich erwartet.

Ich schaue Jason ungeduldig an, der gegenüber mir sitzt. An seiner Mimik und der ewigen Haarrauferei sehe ich, dass er sich seinen hübschen Kopf darüber zerbricht, was er mir als nächstes sagen wird.

Und bis jetzt kam nichts.

Soll ich ihn ansprechen?

Ich beiße mir auf die Unterlippe und schaue hilfesuchend zu Linda, die jedoch mit dem Kochen beschäftigt ist, nachdem mein Magen vorhin dieses Haus hier in Erdbeben versetzt hat.

Auch sie schweigt und ich erhasche ihre nachdenkliche Miene.

„Silver.“

Ruckartig drehe ich mich zu Jason zurück, der mich mittlerweile ansieht.

„Ja?“, gebe ich als Antwort zurück und lasse meine Unterlippe frei. Stattdessen schlinge ich meine Arme um mich und blicke ihn abwartend an.

„Du fragst dich wahrscheinlich jetzt, warum jemand wie du verfolgt werden solltest“, redet er drauf los und seine Mundwinkel ziehen sich leicht nach oben.

„Ja“, antworte ich sofort und unterstreiche dies mit einem Nicken.

Daraufhin legt der Eisklotz vor mir seine Hände auf dem Tisch und faltet diese. Unter dem schwarzen Hemd, das er trägt, zeichnen sich bei dieser kurzen Bewegung etliche seiner Muskeln ab und ich schlucke bei dem Gedanken, was für einen Körper wohl das Hemd verbirgt. 

„Es ist so. Du weißt, ich bin keiner von den feinen und anständigen Kerlen, die man seinen Eltern vorstellt.“ Er macht eine Pause und sieht mich abwartend an, doch nachdem ich nichts dazu sage, fährt er seufzend fort.

„Jedenfalls. Der Grund, warum ich dich von mir fern halte, ist auch der Grund, warum du von dem Kerl verfolgt wurdest. Du…“

„Wer ist der Kerl?“, falle ich ihm ins Wort. Im nächsten Moment bereue ich es, denn seine Augen werden zu Schlitzen.

„Was habe ich dir in Bezug auf Fragen gesagt?“, zischt er mich an und ich sehe wie sich seine Kiefern anspannen. „Ich. rede. du. hörst. zu.“

Großer Gott.

Ich senke meinen Blick.

„Tschuldigung.“  

Schließlich höre ich ihn leicht seufzen.

„Silver, die Leute mit denen ich zu tun habe, mit denen kann man nicht spaßen. Genauso wie mit mir nicht. Und sie sehen dich und vieles andere als eine Art Hindernis…“

Sofort blicke ich zu ihm auf. Hindernis? Hä? Ich mache doch gar nichts!

„…Wir dürfen nichts miteinander zu tun haben. Denn diese Leute denken nur, dass du mich ablenken wirst und das wollen sie nicht. Solche Menschen wollen alles unter Kontrolle haben und deswegen hat dich einer von ihnen verfolgt bzw. er wurde geschickt.“

Kurz räuspert Jason sich während seine Augen pausenlos auf mir ruhen. Ich bekomme Gänsehaut, denn ich habe das Gefühl, dass mir sein Blick unter die Haut geht.

„Jedenfalls. Solange du nicht mit mir gesehen wirst, wird dir nichts geschehen. Deswegen, Silver, musst du dich von mir fern halten. Denn sonst werden solche Verfolgungen wie gestern und heute das Harmloseste sein, was du von diesen Menschen kennen lernen wirst und das willst du doch nicht. Oder?“

Nach kurzem Überlegen schüttele ich leicht meinen Kopf. Den Drang ihm Fragen zu stellen überbrücke ich, indem ich mir fest auf die Unterlippe beiße.

„Gut“, lächelt Jason sichtlich zufrieden und steht auf.

Ich will ihm schon folgen, doch er deutet mir an auf dem Stuhl sitzen zu bleiben.

„Ich muss jetzt los. Silver, ich hoffe die Message ist bei dir angekommen. Das ist das Beste für dich.“ Er ist schon dabei sich zur Tür zu drehen, als er inne hält und mir wieder in die Augen sieht.

„Und noch was: Halt dich von Marc fern.“, befiehlt er mit unterkühlter Stimme.

„Marc?“, frage ich verständnislos und hebe meine Augenbrauen, weil ich nicht weiß, wen er damit meint.

„Ja. Marc Dragovic. Der Typ, mit dem du dich letzten Samstag auf der Party unterhalten hast“, erklärt er mir und ich zucke leicht zusammen, als er diesen Namen förmlich ausspuckt.

Ich nicke mechanisch, als ich an diesen fremden Mann und Jasons wütende Reaktion auf ihn denke. Er hat auf mich gleich seltsam und angsteinflößend gewirkt.

„Ich verlasse mich auf dich.“, setzt er noch hinzu und blickt dann Linda an.

„Habt noch einen schönen Abend, ihr zwei", sagt er in ihre Richtung während er sie dann stumm ansieht und für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, er würde ihr unter dem Blick eine stumme Nachricht schicken.

Im nächsten Moment sind nur noch Linda und ich in der Küche.

„Möchtest du die langen Nudeln oder die Ringelnudeln zu deiner Spaghetti? Ich wusste nicht, welche du magst deswegen habe ich beide gemacht“, wendet Linda sich an mich und lächelt dabei leicht.

„Die Ringelnudeln“, antworte ich, obwohl es mir gerade sowas von egal ist. Ich werfe einen sehnsüchtigen Blick in Richtung Tür, doch ich kann mir in dem Moment am liebsten eine selbst scheuern, dafür zu hoffen, dass ich noch weitere Antworten bekomme.

Er hat ausdrücklich gesagt, dass er mir nur so viel sagt, wie er es für angemessen hält, was hast du also erwartet?

Deine Aufgabe ist es nun dich von ihm und diesem Marc fernzuhalten.

Aber wieso verdammt nochmal?! Wovon soll ich ihn ablenken?

„..Silver?“, ertönt es plötzlich nah bei mir und ich zucke zusammen.

„Tschuldige, ich.. war in Gedanken“, murmele ich verlegen und streiche mir dabei eine Strähne aus dem Gesicht, welches sich von meinem Pferdeschwanz gelöst hat.

Linda grinst nur und drückt mir daraufhin einen Teller mit dampfenden Nudeln in die Hand.

„Los, wir gehen ins Wohnzimmer. Ich lege uns einen Film rein.“

 

 

   

Nach etwa zwanzig Minuten Spaghetti verputzen und dem Anfang von „Bad Teacher“ frage ich nach dem Badezimmer.

Nachdem ich mir etwas Wasser ins Gesicht geworfen habe und meine Haare zu einem Dutt zusammengebunden habe, kehre ich wieder zu Linda ins Wohnzimmer zurück, die mittlerweile nach dem danebenstehenden Popcorn greift. Sie hat anscheinend den Film pausiert.

Ich setze mich im Schneidersitz neben ihr auf die große Couch hin. Sie fängt meinen Blick auf und lässt daraufhin ihre Hand voller Popcorn sinken.

„Ich weiß, was du wissen willst, Silver. Aber auch ich kann dir nichts sagen, denn eigentlich weiß ich selber nicht alles“, sagt sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen und blickt mich entschuldigend an.

„Aber ich verstehe Jason nicht wirklich. Er könnte mir doch die ganze Wahrheit sagen, damit ich wenigstens verstehe, warum ich mich von ihm fernhalten soll“, plappere ich darauf los in der Hoffnung Linda weich zu kriegen. „Stattdessen tut er einen auf geheimnisvollen Bad boy und ich muss ihn auf Befehl hin gehorchen oder wie?“

„Ach Silver“, murmelt Linda und legt mir eine Hand auf meinen Arm.

„Zerbrich dir nicht deinen hübschen Kopf darüber. Ich kenne dich noch nicht so gut, aber ich kann mir vorstellen, dass du nicht Ruhe geben wirst bis du alles weißt, habe ich Recht?“

Ich nicke heftig und nach kurzem Zögern offenbare ich ihr eine meiner Vermutungen.

„Ist Jason… naja schwul oder so?“ Im selben Moment, in dem ich es ausgesprochen habe, beiße ich mir abwartend auf die Unterlippe.

Erst sieht mich Linda mit geweiteten Augen an ehe sie plötzlich anfängt los zu prusten. Ich kann nur verwirrt die Stirn runzeln.

„Wie…“, krächzt sie und wischt sich dabei eine Träne weg. „…kommst du bloß darauf?“

Ich seufze verbittert auf. „Naja, ich habe mir gedacht, wenn Jason will, dass ich mich von diesem ominösen Marc fern halte und mich irgendwelche komischen Typen mit Nackentattoos verfolgen, dann ist es entweder, weil er Angst vor seinem eifersüchtigen Freund hat oder weil es etwas Kriminelles ist“, lege ich meine Überlegungen dar und Linda hört kurz darauf auf zu lachen.

„Da hast du dir aber einiges zusammengepuzzelt, meine Liebe“, lächelt sie, doch starrt den Fernseher dabei an. 

 

 

Als ich meine Augen öffne, starre ich in die Dunkelheit. Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn ich fange augenblicklich an zu gähnen.

„Linda?“, rufe ich leise nach ihr. Kurz darauf geht das Licht im Flur an.

„Ich bin hier im Schlafzimmer! Mache gerade unsere Betten.“

Ich schiebe die kuschelige Decke von mir weg, mit der mich Linda anscheinend beim Schlafen zugedeckt hat, und tapse vorsichtig in den Flur.

„Einfach meiner Stimme nach!“ Instinktiv folge ich ihrer Stimme und trete in ein fast ausschließlich weiß möbliertes Schlafzimmer rein.

Der Kleiderschrank, die Regale, der Bei- und Schminktisch, der Nachtisch und auch das Bett, das fast in der Mitte des Zimmers steht, sind weiß.

Linda hält gerade zwei weinrote Decken in der Hand und deutet mir an zu ihr zu kommen.

„Hilf mir mal bitte das Bett an den Rand zu schieben.“ Ich tue, was sie sagt und zusammen schieben wir das Möbelstück an die Wand, sodass die Mitte leer steht.

„Ich werde mit dir auf dem Boden schlafen. Das ist lustiger so“, kichert sie und wirft mir ein Kissen hin.

„Du hast ein schönes Zimmer.. richtig girly“, murmele ich und unterdrücke ein Gähnen, woraufhin Linda grinst.

„Immer noch nicht genug geschlafen?“, neckt sie mich während sie die beiden Matratzen aneinander rückt.

„Wie lange war ich denn weg?“, frage ich und mache meinen Dutt auf, weil meine Kopfhaut langsam weh tut.

„Hmm“, machte sie und schaut auf die Uhr. „Es ist 11 Uhr abends. Also etwas mehr als drei Stunden. Du hast das Ende vom Film verpasst“, schmollt sie gespielt und ich muss lachen.

„Mit wem ist sie denn zusammen gekommen? Sag mir bitte nicht mit diesen schwulen Lehrer!“, kichere ich.

„Schwul?!? Also bitte, Silver! Wie kannst du Justin Timberlake als schwul bezeichnen!“, ruft Linda empört aus und gestikuliert dabei wild mit ihren Händen, sodass ich nur kichern kann, weil ich sie noch nie so gesehen habe. Bis jetzt ist Linda nämlich immer die Ruhe in Person für mich gewesen.

„Er ist nicht mein Typ“, gebe ich immer noch kichernd zu und setze mich mit dem Kissen in der Hand auf die Matratze.

„Also bitte. Na dann wissen wir wenigstens, dass wir uns beide wohl nie in denselben Mann verlieben werden“, stellt sie kopfschüttelnd fest und setzt sich runter zu mir.

„Die Dumme hat den Sportlehrer genommen“, beschwert sie sich und pustet sich dabei eine Strähne aus dem Gesicht.

„Das ist die bessere Wahl. Er ist der vernünftigere Typ“, stelle ich altklug fest. „Den würde ich auch nehmen.“  

„Glaub mir, wenn du auf vernünftige Typen stehen würdest, wärst du nie…“ Sie hält mitten im Satz inne und fährt sich durch die Haare.

„Nie was?“, hake ich neugierig nach.

„Ver- vergiss es.“, murmelt sie nur und steht auf.

„Lust auf Masken? Das gibt dir einen ganz frischen Teint und wenn du es öfters benutzt, brauchst du irgendwann auch kein Makeup mehr.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen hält sie mir grinsend zwei Packungen von einer Totes-Meer-Maske entgegen und ich nicke halbherzig während ich noch an den Satz denke, den sie nicht beendet hat.

Nach etwa fünfzehn Minuten steinhartem Gesicht und unterdrückten Lachanfällen, weil wir so komisch aussahen, dürfen wir endlich unser Gesicht abwaschen.

Als ich fertig bin, stöhne ich glücklich auf.

„Nie wieder!“, meckere ich, woraufhin Linda nur lacht.

„Bist du müde?“, fragt sie mich während wir zurück ins Schlafzimmer laufen.

„Nein, ich glaube, vorhin zu schlafen hat mir ganz gut getan. Es war ein anstrengender Tag“, erwidere ich lächelnd und ziehe mir ein Nachthemd über. Ein Tag voller Geheule und mysteriösen Verfolgungen.

„Das glaube ich dir sofort. Geht es dir wieder gut… ich meine wegen gestern?“, erkundet sie sich vorsichtig bei mir.

„Ja, es war sowas wie ein Kreislaufkollaps. Ach, ich weiß auch nicht. Aber morgen habe ich einen Termin bei meinem Arzt. Ich hoffe, er kann mir irgendetwas Sinnvolles sagen.“

„Ich hasse Ärzte“, murmelt Linda plötzlich, woraufhin ich meine Augenbrauen hochziehe.

„Wieso das?“

Sie zuckt mit den Schultern und legt sich auf die Matratze.

„Keine Ahnung. Es war schon immer so und wird wohl auch so bleiben.“

Dann sieht sie mich plötzlich ernst an.

„Weißt du, als Cindy in das Krankenhaus eingeliefert wurde nachdem… naja du weißt schon…“

„Nachdem du sie gefunden hast“, beende ich traurig den Satz.

„Ja. Jedenfalls habe ich den Ärzten alles erzählt. Dass ich die ganzen Schlaftabletten bei ihr im Bad gefunden habe. Sie haben es erst nicht wahrnehmen wollen. Der Oberarzt sagte, es seien diese typischen Teenagerphasen und manche kommen eben zu Suizidgedanken. Es läge keine Krankheit vor. Ich habe nach der Entdeckung wochenlang versucht mit Cindy zu reden, aber sie hat es auf den Schlafmangel geschoben und dass nicht nur sie diese benutzt, sondern auch ihre Freundinnen. Wegen dem Schulstress“, plötzlich lacht sie verächtlich auf und schüttelt traurig den Kopf. Ich sah die leicht verloren aussehende Aphrodite vor mir verwirrt und auch etwas nervös an. Denn ich habe vor dem Angst, was sie mir gleich erzählen wird.

„Ich hätte die Anzeichen sehen sollen. Scheiße, es war meine Schuld. Es hätte nie soweit kommen sollen…“

„Du kannst nichts dafür, dass sie Depressionen hatte“, rede ich ihr ein. Außerdem war es ja auch so.

„Depressionen?“ Linda sieht wieder zu mir auf. „Silver, Cindy hat eine bipolare Störung.“

Was?

„Was ist eine… diese Störung?“, hake ich nervös nach.

„Eine bipolare Störung ist eine Affektstörung. Sie beinhaltet zwar auch die Depression, jedoch schwingt die Stimmung einer solchen Person zwischen zwei Polen. Nämlich Depression oder Manie“, erklärt Linda mir mit ruhiger Stimme und blickt mich dann leicht mitleidig an.

„Das heißt Cindy hat sich psychisch nicht mehr selbst unter Kontrolle. Ihr Gemütszustand schwankt nach Phasen. Es ist nicht vorhersehbar und immer unterschiedlich. Ich denke, das könnte einer der Gründe sein, warum ihr nicht mehr befreundet wart oder es kann auch sein, dass der Grund, warum ihr nicht mehr befreundet wart, ihren Zustand verstärkt hat.“

Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, stattdessen bleibt er offen und ich merke schon wie sich ein Tränenschleier vor mir bildet.

Plötzlich nimmt Linda vorsichtig meine Hände in ihre.

„Es ist nicht deine Schuld, Silver, so darfst du nicht denken. Sowas ist genetisch veranlagt und wird zwar durch soziale Folgen wie Beziehungen verstärkt, aber in der Zeit haben sich auch ihre Eltern getrennt. Außerdem kann auch der Junge, von dem ich dir erzählt habe, ein Grund sein. Wenn alles zusammenkommt, passiert sowas nun mal.“

„Aber...“, will ich ihr widersprechen, doch meine Stimme versagt und es endet in einem Schluchzen.

„Komm her.“ Ohne Widerstand lasse ich mich in ihre Arme ziehen, woraufhin sie mir beruhigend über den Rücken streicht.

„Es war für uns alle schwer. Aber nun ist sie bei einen der besten Therapeuten und bleibt erstmal in einer psychiatrischen Abteilung, wo sie eine spezielle Therapie und auch Medikamente bekommt. Unser Vater, genauer gesagt, mein Stiefvater hat sich sorgfältig erkundet und sie kriegt die beste Behandlung. Es wird ihr also schon bald wieder gut gehen.“

Auch, wenn ich das jetzt weiß, beruhigt es mich kein bisschen. Immerhin geht es hier um meine beste Freundin. Egal, ob wir laut den ganzen Erzählungen nichts mehr miteinander zu tun haben. Sie bleibt immer eine der wichtigsten Menschen in meinem Leben.

Vorsichtig löse ich mich von ihrer Umarmung und wische mir die Tränen weg.

„Komm, lasst uns schlafen gehen. Du hast morgen Schule“, schlägt Linda mit einem Augenzwinkern vor und ich nicke langsam.

Sie verdunkelt die Nachttischlampe und legt sich schließlich zu mir.

„Silver?“, fragt sie plötzlich in die Stille hinein.

„Mh?“, antworte ich und starre dabei die weiße Decke an.

„Ich finde, du solltest deine Haare etwas schneiden. Dein Schnitt ist etwas zu fade geworden“, sagt sie plötzlich.

„Findest du?“, frage ich sie mit großen Augen und drehe mich zu ihr hin.

Sie zuckt kurz mit den Schultern. „Ist nur meine Meinung. Du hast ein so hübsches Gesicht und nur ein richtig schöner Haarschnitt ist diesem würdig“, meint sie lächelnd und ich erwidere es.

Schließlich knipst sie das Licht aus.

„Linda?“

„Ja?“

„Danke. Ich meine… für alles.“

„Gerne. Und jetzt gute Nacht, Liebes.“

„Dir auch.“

Kapitel 27

 

„Komm schon, Silver. Beweg deinen Arsch ins Auto!“, höre ich Linda von draußen rufen während ich in eines der Ballerinaschuhe auf dem Bürgersteig humpele mit dem anderen in der Hand.

„Ich komme irgendwie nicht rein“, stöhne ich auf und verfluche meine Füße, auch wenn sie eigentlich nichts für mein Problem können.

Also hüpfe ich mit einem Schuh in das Caprio rein und streiche hektisch meine Haare hinter die Ohren während ich weiterhin versuche den anderen Schuh anzuziehen. Sofort düst Linda los. Wir haben vorhin verschlafen und in sieben Minuten beginnt mein Unterricht.

Lindas Arbeit beginnt zehn Minuten nach meinem Unterrichtsbeginn, weshalb sie genauso spät ist wie ich, wenn sie mich nicht rechtzeitig absetzt.

Als wir an einer roten Ampel stehen bleiben, dreht Linda sich grinsend zu mir um.

„Das sollten wir wieder machen. Hat Spaß gemacht“, zwinkert sie mir zu, das ich mit einem Lächeln erwidere.

„Auf jeden Fall.“

 

 

 

„Vaia, was hat sie nochmal gesagt, sollen wir tun?“, zische ich leise zu meiner Sitznachbarin, die im Gegensatz zu mir, völlig gerade sitzt und den Unterricht aufmerksam verfolgt.

„Partnerarbeit. Wir sollen einen Dialog zwischen Drake und Jenny schreiben“, erklärt sie mir und ich nicke.

„Achso, das ist ja leicht. Wollen wir das zusammen machen?“, frage ich sie, doch sie schüttelt traurig den Kopf.

„Frau Rumber möchte, dass wir, die Mädchen, den Text für Jenny verfassen und die Jungs den für Drake. Nächste Stunde muss das vorgetragen werden.“

Ich schnaube genervt. „Na toll, jetzt…“

„Vaia, Silver. Haben Sie beide schon einen Partner gefunden?“, ertönt plötzlich die Stimme der Lehrerin direkt neben mir.

Ich blicke leicht überfordert zu ihr auf. „Eh…“

„Ich würde gerne mit Silver zusammen arbeiten“, höre ich plötzlich eine - meiner Meinung zu motivierte - Jungenstimme sagen. Als ich an Frau Rumber vorbei zu der Person blicke, entdecke ich einen Muskelprotz mit kurzen schwarzen Haaren.

„Na gut. Dann bleiben nur noch Seth und Vaia übrig. Ihr arbeitet zusammen und du arbeitest mit Silver.“, sagt Frau Rumber plötzlich und wendet sich zum Gehen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie die drei Barbies zu mir schauen, doch ich ignoriere sie. Wie immer.

Wie aufs Stichwort bewegt sich der Muskelprotz grinsend in meine Richtung während ich überlege, ob ich gerade eher ein Los oder eine Niete gezogen habe. Naja auch egal. Ist ja nur eine Partnerarbeit.

Vaia wirft mir noch einen entschuldigenden Blick zu bevor sie sich auf dem Weg zum Pokerface macht, der mir kurz zunickt ehe er sich nach vorne umdreht.

„Hey“, ertönt es vor mir und ich blicke in olivgrüne Augen.

„Hi“, gebe ich kurz angebunden zurück.

„So also ich fange dann einfach mal an?“, schlage ich langsam vor, als der Typ vor mir nichts tut als mich anzustarren.

„Da wir das auf Englisch machen müssen…“, setze ich an und greife zum Stift.

„Bist du mit Tyler zusammen?“, fällt der Typ mir ins Wort, woraufhin ich innehalte.

„Nein.“

Er scheint sichtlich zufrieden mit der Antwort zu sein.

„Dann lass uns ausgehen.“

„Hä?“, kommt es nicht gerade schlau von mir.  

Ein Grinsen breitet sich auf seinem - nicht ganz so häßlichen - Gesicht  aus und kurz darauf folgt ein Zwinkern.

„Komm schon, du bist single. Ich bin single.“ Ja, die Andeutung ist kaum übersehbar. Selbst für mich.

„Ich weiß noch nicht mal deinen Namen“, murmele ich seufzend und kritzele dabei die ersten Worte der Jenny auf den Block vor mir.

„Eric.“

„Aha.“

„Wie wäre es mit heute Abend?“

„Wie wäre es, wenn wir den Dialog mal schreiben?“ Meinetwegen auch Monolog.

 

 

 

 

Nach dem es geklingelt hat, stürme ich förmlich aus dem Klassenzimmer. Ich habe es wirklich geschafft diesen Typen alias Nervensäge alias Eric zu ignorieren und den Dialog selbst zu verfassen. Dann habe ich es kopiert und ihm gegeben mit dem Befehl, er solle es morgen so vorlesen wie es da steht. Er meinte daraufhin, das würde er nur tun, wenn ich mich auf einen Date mit ihm einlasse, woraufhin ich drohte, mit Vaia zu wechseln, die anscheinend auch nicht glücklich mit ihrem Partner ist. Denn so wie es mir eben erzählt hat, hat Seth nur in die Luft gestarrt und kein Sterbenswörtchen mit ihr geredet.

„Jungs sind Idioten“, brumme ich genervt und lehne mich gegen ein Schließfach während Vaia ihre Schulbücher reinlegt.

Es ist mittlerweile Mittagspause und noch zwei Deutschstunden dann habe ich endlich Wochenende.

„Manche, ja“, erwidert Vaia so leise, dass ich es fast nicht gehört habe.

Neugierig sehe ich sie an. „Manche, ja? Kannst du mir die Ausnahmen aufzählen? Das wäre wirklich hilfreich.“ Bei mir sind nämlich die Mitglieder der anderen Gruppe in der Überzahl.

„Naja, Zen ist zum Beispiel nett“, antwortet sie und ich nicke. Immer noch in Überzahl. „Dein bester Freund Tyler. Tyler Dreyfus. Er ist auch… nett.“

Wieder nicke ich, aber halte dann inne. Hat sie das Wort „nett“ gerade irgendwie anders betont?

„Verstehe ich nicht so ganz“, frage ich gespielt und schiele zu Vaia herüber, die gerade ein Schluck Wasser nimmt.

„Meinst du nett als Kumpel oder als potenziellen naja… Lover?“, hake ich skeptisch nach und im nächsten Moment verschluckt sich Vaia an ihrem Wasser.

Ich klopfe ihr mit einem belustigten Blick auf den Rücken während ihr Gesicht sich immer mehr rot verfärbt.

Sie wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. Dann dreht sie sich um und ich folge ihr sofort. Wenn sie mich loswerden will, dann muss sie sich schon was Besseres einfallen lassen.

Schweigend laufen wir in die Mensa während ich ihr innerlich dankbar bin. Denn sie ist eines der wenigen Dinge, die mich von den mysteriösen Dramen in meinem Leben ablenkt. Einfach durch solche banale Dinge.

Sie ist einer der Menschen, die ich von Anfang kenne. Ohne jegliche gemeinsame Vergangenheit, die ich nachzuforschen brauche oder es mir nacherzählt wird.

 

 

 

Nachdem wir beide zusammen mit Zen, Tobias, Tyler und einem Kumpel von den Jungs, dessen Namen ich wieder vergessen habe, gegessen haben, laufen Vaia und ich zurück zum Unterricht.

Sie war heute beim Mittagsessen verdächtig still und hat sich ziemlich weit von Tyler weggesetzt, was mir natürlich nicht aufgefallen wäre, gäbe es vorhin nicht diese Wasseraktion.

Die Jungs haben ununterbrochen von der heutigen Meisterschaft gesprochen. Ich kann ihre Aufregung verstehen, aber irgendwie kommt Tyler von allen besonders vernarrt vor. So habe ich ihn noch nie erlebt. So voller Leidenschaft.

Im Deutschunterricht kann ich mich deutlich besser konzentrieren, nachdem ich eine Riesen Portion Suppe in mich hineingeschüttet habe, da Linda und ich heute morgen keine Zeit mehr hatten, um zu frühstücken.

„Zen, hast du eigentlich diesen Sonntag Zeit?“, frage ich meinen Sitznachbar auf der rechten Seite in der Fünf-Minute-Pause.

Dieser nickt sofort freudig. „Klar, gegen Mittag passt es mir gut.“

„Gut, willst du zu mir?“, frage ich lächelnd.

„Kann ich machen. Gib mir deine Adresse. Ich komme so gegen 2?“

Ich nicke und schreibe meine Adresse auf ein Blatt auf, das ich dann kurzerhand abreiße.

„Nur die Naturwissenschaften, okay?“, zische ich ihm zu, als er es wieder zum Unterricht klingelt und Frau Rumber an die Tafel tritt.

„Ja sind ja nur drei und eins davon dein zukünftiger Leistungskurs“, lacht er leise und ich muss grinsen.

„Hey, ich habe das Wichtigste noch drauf“, erwidere ich leicht empört, weil er mich wahrscheinlich für eine schlechte Schülerin hält. Aber besser als eine mit Amnesie.

„Ist ja schon gut“, lacht er nur weiter und ich beschließe ihm nicht böse zu sein. Ich mag Zen einfach schon.

 

 

Ich muss den Unterricht früher verlassen, da mein Arzttermin schon um 14 Uhr ist. Im Bus simse ich meiner Mutter, dass sie mich vom Krankenhaus abholen kann, da sie es unbedingt so wollte.

Ich habe sie, seitdem ich vorgestern im Krankenhaus wieder aufgewacht war, nicht gesehen. Und irgendwie fühlt es sich komisch an.

Nachdenklich lege ich eine Hand auf meinem rechten Arm und denke an gestern. Es ist der Arm, auf dem ich gestern gelandet bin, nachdem mich Eisklotz von sich gestoßen hat. Doch zum Glück tut er seitdem nicht mehr weh.

Was er jetzt wohl macht? Meine Schwulentheorie habe ich seit Lindas Lachausbruch beiseite geschoben. Obwohl bei dem Kuss mit ihm hätte ich es sowieso nie für möglich gehalten...

Ich seufze auf und streiche mir meine Haare ordentlich zur Seite. Da es heute ein kühlerer Tag ist als die Tage zuvor, ließ ich sie heute Morgen offen.

Auch laufe ich den ganzen Tag wieder in enger Jeanshose und einer weißen Bluse herum. Ich lasse etwas paranoid meinen Blick durch den Bus schweifen. Dabei suche ich nach einem verdächtig aussehenden Mann mit Lederjacke und Tattoo am Nacken, doch da ich ziemlich weit vorne im Bus sitze, ist das ziemlich schwer. Dazu müsste sich jeder hier einmal umdrehen oder sich wenigstens vorbeugen. 

Plötzlich klingelt mein Handy.

„Hallo?“, spreche in den Hörer, woraufhin der alte Mann vor mir aufblickt.

„Hey Silver, ich bin’s Liz. Sorry, mein Handy hat kein Akku mehr deswegen rufe ich von Ryan aus an.“

Ryan?

„Du, ich bin gerade mit dem Training fertig geworden. Wann soll ich dich zu dieser Meisterschaft fahren?“, fragt sie mich etwas hektisch.

„Tyler will mich fahren...“ Plötzlich denke ich an die Autofahrt mit den beiden. Da waren sie richtige Streithähne. „… aber wenn du nicht mit ihm fahren willst, kann ich ihm auch sagen, dass er direkt dahin fahren soll“, schlage ich stattdessen vor.

Ich kann förmlich spüren, wie es in ihrem hübschen Köpfchen arbeitet.

„Ja, das ist mir ehrlich gesagt lieber so. Nichts gegen deinen Kumpel, aber ich habe ihn noch nie gemocht“, kichert sie und ich muss grinsen.

„Ist gut. Dann hol mich um halb 4 ab. Um 4 fängt es an.“

 

 

 

Zehn Minuten später stehe ich im Besprechungszimmer von Dr. Prinsloo. Seths Dad.

„Dr. Prinsloo empfängt Sie gleich. Er ist noch gerade bei einem Patienten“, informiert mich eine nette junge Krankenschwester.

„Alles klar, danke“, erwidere ich lächelnd und setze mich auf einem Stuhl in dem Zimmer hin.

Ich gehe im Kopf durch, was ich meinem Oberarzt fragen kann und was nicht. Denn ich habe Seth versprochen ihm nichts von meinen Träumen und Anfällen zu erzählen. Warum auch immer.

Kurze Zeit später geht auch schon die Tür auf und die ältere Version von Seth tritt hindurch. Dass mir bei der ersten Begegnung mit Seth nicht direkt die Ähnlichkeit aufgefallen ist.

Mit seinem typischen Profilächeln hält er mir die Hand hin, die ich schüttele. „Guten Tag, Silver. Schön dich wieder zu sehen, nachdem du dich vorgestern so schnell selbst entlassen hast“, scherzt er und ich ringe mir ein leichtes Lächeln ab.

„Tut mir leid, ich habe viel um die Ohren.“ Ich räuspere mich kurz. „Wegen der Schule“, füge ich hinzu. Der Mann nickt verständnisvoll und nimmt vor mir Platz.

Dann nimmt er ein Klemmbrett hervor, das er anscheinend die ganze Zeit unter dem Arm geklemmt hat.

„So also wie ich dir bereits gestern gesagt habe, sind sportliche Aktivitäten, die dich physisch stark beanspruchen zu vermeiden. Es löst bei dir eine Überfunktion im Gehirn aus und ab einem bestimmten Punkt bricht das System eben zusammen.“

Ich nicke langsam, als er mich abwartend ansieht.

„Gut, dann haben wir das ja geklärt. Die nächsten drei bis vier Wochen musst du dich noch schonen, danach kannst du dich etwas mehr belasten, aber immer Schritt für Schritt. Deine inneren Verletzungen sind alle verheilt, aber du musst wissen, dass wir viel an dir bei der Operation gemacht haben und bis alles wie früher belastbar ist, dauert es eben.“

„Okay, das habe ich verstanden. Aber können Sie mir nochmal erklären, was das jetzt genau mit meinem Gehirn zu tun hat? Und was war nochmal mit meinem Sprachzentrum? Mein Direktor meinte…“

„Langsam, langsam“, unterbricht mich mein Arzt lächelnd und seine dunkelbraunen Augen blitzen belustigt auf.

„Also zu deinem Gehirn. Wie ich dir bereits schon erklärte, als du aufgewacht bist, ist, dass du dir bei dem Sturz auf dem Autodach erstens eine Gehirnerschütterung zugezogen hattest und es viele innere Blutungen in deinem Kopf gab. Sowas ist sehr kritisch, Silver. Denn innere Blutungen bedeuten ziemlich viel Druck und ab einem bestimmten Punkt hält dein Kopf das nicht aus. Das wäre lebensgefährlich. Deswegen mussten diese erstmal gestoppt werden, woraufhin du viel Blut verloren hast. Dein Hippocampus, also das Erinnerungszentrum wurde am meisten beim Sturz beschädigt. Der Teil des Gehirns ist ziemlich empfindlich. Dein Hirn war sehr stark geschwollen und der Blutdruck musste entlastet werden deswegen musste ein Loch in deinen Schädel gebohrt werden. Während dir also sämtliches Blut ausgesaugt wurde, musste ich als Neurologe warten bis ich dich dort dann operieren durfte. Bei der Operation habe ich dann dein Hippocampus so gut wie es geht wiederhergestellt und auch den Rest. Unglücklicherweise reichte dies nicht aus, sodass die Amnesie nicht vermieden konnte. Das waren die Risiken der Operation. Darüber habe ich leider keine Kontrolle. Das tut mir auch Leid, aber wir mussten Prioritäten setzen und das ist nun mal dein Leben.“

„Oh o-okay...“ Das war jetzt viel..

"Weißt du noch unser allererstes Gespräch nachdem du aufgewacht bist?", schiebt Dr. Prinsloo unerwartet hinterher. 

Ich nicke nur. 

"Nachdem es nach wenigen Fragen ziemlich deutlich war, dass du Erinnerungslücken hast, konnte auch bei  deiner Computertomografie festgestellt werden, dass dieses Areal deines Gehirns etwas geschrumpft ist."

Ich schlucke nur.

„Und zu deinem Sprachzentrum wolltest du auch etwas wissen?“, fragt er mich lächelnd.

„Ja genau. Mein Direktor meint, dass Sie ihm mitgeteilt haben, dass mein Stand in den Sprachfächern so gut wie vor der Amnesie erhalten geblieben ist. Woran liegt das?“ Ich verschränke meine Hände ineinander und blicke meinen Arzt abwartend an.

„Ganz einfach. Bei einer Amnesie verliert der Mensch grundsätzlich seine autobiografischen Erinnerungen. Das heißt sowas wie deine sozialen Kontakte und dass was in deinem Leben in den letzten fünf Jahren geschah. Doch die restlichen Sachen bleiben in deinem Kopf, denn sie werden woanders „gespeichert“. Bei deinem besonderen Fall hast du vielleicht auch etwas mehr verloren, wie zum Beispiel Sachen, die du auswendig gelernt hast. Also Dinge aus deinem Langzeitgedächtnis. Aber dein Allgemeinwissen bleibt erhalten. Es wäre ja fatal, wenn du plötzlich nicht mehr unsere Sprache sprechen könntest“, schmunzelt der Mann vor mir, doch mir ist überhaupt nicht zum Scherzen zumute.

„Sind deine Fragen alle damit geklärt?“

Ein paar? Ja. Alle? Definitiv nicht.

„Ja“, erwidere ich und mache Anstalten aufzustehen.

Ich nehme meine große Tasche und als ich zu ihm aufblicke, sehe ich wieder direkt in sein Profilächeln, das ich überhaupt nicht vermisst habe.

„Dann wünschen ich dir noch einen schönen Tag. Mache vorne einen Termin zur Kontrolle in drei Wochen mit meiner Assitentin aus. Kommst du heute auch zur Rudermeisterschaft? Schließlich sind die Jungs der einen Mannschaft ja von deiner Schule.“

„Ja“, lächele ich, als ich an Seth, Tyler und Tobias denke. Ich öffne schon meine Lippen, um ihm zu sagen, dass ich seinen Sohn anfeuere, doch im letzten Moment halte ich es für besser, wenn er nicht weiß, dass ich mit Seth „befreundet“ bin.

„Kommen Sie etwa auch?“, frage ich stattdessen, woraufhin er sein Mund kurz verzieht.

„Nein, ich kann leider nicht. Heute ruft die Nachtschicht. Mein Sohn ist in eurem Schulteam, aber er wird das auch ohne mich schaffen“, erklärt er mir mit bedauerlicher Stimme, doch auch diese hört sich irgendwie gekünstelt an.

Ach Silver, du brauchst echt mehr Schlaf!

„Achso, na dann. Ihnen auch einen schönen Arbeitstag.“ Ich schüttele ihm die Hand ehe ich den Raum verlasse.

 

 

 

Meine Mutter schreibt mir schon, dass sie da ist, aber auf dem Parkplatz wartet, als ich noch an der Theke stehe und auf einen freien Termin warte, die mir die Krankenschwester mitteilen soll.

„Wie wäre es mit dem 1. Juli? Wieder ein Freitag?“, erkundet sie sich die blonde Frau bei mir.

„Ja, aber bitte erst um 16 Uhr“, erwidere ich, woraufhin sie wissentlich nickt. Dann nimmt sie ein Kärtchen und kritzelt auf diesem.

„Gut, dann sehe ich dich in drei Wochen wieder. Mach es gut, Silver“, verabschiedet sie sich lächelnd und schiebt mir das Kärtchen hin.

„Danke. Ihnen einen schönen Tag.“ Mit den Worten steuere ich in Richtung Ausgang. Als ich draußen ankomme, atme ich erleichtert aus.

In dem Moment weiß ich es mit Sicherheit: Ich hasse Krankenhäuser.

 

 

Nach einer halben Stunde sitze ich am Esstisch und löffele den Auflauf, das meine Mutter uns gemacht hat, leer.

Meine Mutter hingegen verzieht sich in ihr Arbeitszimmer, um zu telefonieren. Vorhin im Auto hat sie sich genauestens erkundigt, was ich mit meinem Arzt besprochen habe und es war schon fast anstrengend ihr das alles nacherzählen zu müssen.

Es ist bereits kurz nach drei. Gleich müsste Liz kommen. Tyler habe ich vorhin angerufen und ihm Bescheid gegeben, dass ich mit Liz komme. Er klang etwas enttäuscht, was kaum herauszuhören war, wenn man ihn nicht so gut wie ich kannte, doch ich tue es.

„Mum, ich bin dann mal weg, okay?“, rufe ich gegen die Tür ihres Arbeitszimmers, als ich mit dem Essen fertig bin.

Kurz darauf geht die Tür auf. „Warte, ich muss dir vorher noch Bescheid geben, dass ich mit einem Kollegen morgen auf eine Benefitsveranstaltung gehe und du dabei sein solltest. Ich finde, das ist eine gute Idee. Du warst doch schon immer neugierig auf meinem Job und jetzt bist du alt genug. Außerdem möchte ich, dass du einpaar Leute kennen lernst “, schlägt sie mir zuversichtlich vor und ich bin etwas überrumpelt von ihrem Angebot.

„Ehm… ja gerne“, murmele ich und sie lächelt sofort.

„Gut, aber dafür kannst du nicht eines der Klamotten anziehen. Du brauchst ein elegantes Kleid. Die Benefitsveranstaltung fängt um 17 Uhr an. Wir müssen vorher einkaufen gehen“, redet sie plötzlich hektisch darauf los.

Ich schlucke. „Ist mir egal. Oder kann ich mit einer Freundin das Kleid kaufen gehen?“

Noch eine Shoppingtour mit meiner Mum würde ich nicht überleben.

Meine Mutter schaut deutlich enttäuscht aus, doch fängt sich relativ schnell wieder.

„Na gut.“ Sie kramt in ihrer Tasche herum. „Hier sind 200 Euro. Du brauchst passende Highheels und eine Kette dazu. Am besten eine Collier, hast du mich verstanden?“

„Ja, Mum.“

„Na dann“, meint sie zufrieden und umarmt mich daraufhin. „Viel Spaß und feuere deinen Tyler richtig an, ja Schatz?“

Ich verdrehe leicht die Augen. „Er ist nicht mein Tyler“, murmele ich nur, doch dann wird mir die Tür auch schon nach einem „Wie auch immer, Schatz.“ vor die Nase geschlossen.

 

Seufzend steige ich die Treppen nach oben in meinem typisch langsamen Tempo auf.

Auf die Zeit bedacht schmeiße ich meine Tasche achtlos auf das Bett und schlüpfe aus der langen Hose und der Bluse, die ich den ganzen Tag anhatte. Ich nehme ein dunkelblaues Shirt mit weitem Schulterausschnitt und die Nietenhotpants, die ich letztens erbeutet habe, heraus und bürste mir kurz die Haare durch. Dann hole ich eine kleine Umhängetasche unter dem Schreibtisch heraus und verstaue dort das Nötigste rein.

Mit einem zufriedenen Blick auf die Uhr setze ich mich vor dem Spiegel. Ich hatte heute Morgen schnell Mascara auf die Wimpern getan. Vorsichtig ziehe ich mit einem schwarzen Kajal meine untere Wasserlinie nach und blicke lächelnd in den Spiegel. Durch die tiefschwarze Umrandung stechen meine grünen Augen nun noch mehr heraus und der Look gefällt mir.

 

 

Ich musse nicht lange draußen warten bis ein blaues Smartauto vor meiner Nase anhält.

„Hey… huch, Schätzchen, du siehst gut aus“, begrüßt mich Liz mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Grinsen auf den Lippen.

Liz hat ihre kastanienbraunen Haare locker hochgesteckt, was ihren langen Hals zur Geltung bringt, und trägt ein rotes T-shirt und dazu eine schwarze Hotpants. Sie sieht mehr als nur gut aus.

„Kann ich nur zurückgeben“, schmunzele ich, was ihr Grinsen noch breiter werden lässt.

„Was ist los?“, frage ich, als sie nichts anderes tut, als nur dümmlich vor sich hin zu grinsen. Bei der Frage wird ihr Grinsen - wenn es überhaupt noch möglich ist - breiter.

„Ich habe jemanden kennen gelernt“, gibt sie leicht verlegen zu und startet dabei den Motor.

„Wirklich?“ Ich sehe überrascht sie an. „Erzähl doch mal.“

„Er ist so toooll“, schwärmt sie drauf los. „Zufälligerweise ist er auch in einer Rudermannschaft, jedoch in der anderen Gruppe. Nach eurem Rennen werde ich ihn anfeuern! Du kommst doch mit, nicht?“

Ich nicke lächelnd. „Klar komme ich mit. Wir feuern Tylers Mannschaft an und dann ihn. Hat der Herr auch einen Namen?“

Bei der Frage fängt Liz an leicht zu kichern. „Philip heißt er. Och Gott! Silver, er ist so heiß. Weißt du? Das ganze Programm! Stahlharte Muskeln, Eightpack und ein Gesicht mit einer Mischung aus Sean Faris und Jesse Metcalfe!“, ruft sie schwärmerisch aus.

„Sagt mir nichts“, murmele ich, woraufhin mir Liz einen verächtlichen Seitenblick wirft.

„Das holen wir nach. Sag mal, Silver, wie geht es dir eigentlich? Hattest du heute.. oder gestern noch irgendwelche Schwindelanfälle?“, fragt sie während wir mit dem Auto nach rechts biegen.

„Alles gut. Mein Arzt meint, ich solle mich schonen. Ich habe wohl etwas übertrieben mit dem Training.“

„Ach der mit diesem Lächeln, das glatt von einer Zahnpastawerbung stammen könnte.“ Liz wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. „Das tut mir leid. Ich hätte dich nicht so schnell dahin schleppen sollen.“

„Ach was. Es ist nicht deine Schuld“, winke ich ab und von weitem entdecke ich schon das Wasser.

„Wie du meinst“, murmelt sie nicht ganz überzeugt und hält das Auto auf einem Parkplatz hier an.

„Ja das meine ich so. Und jetzt lass uns endlich die Jungs anfeuern“, zwinkere ich ihr zu und wir steigen aus.

Auf dem Platz ist schon eine Menschenmenge zu sehen. Die meisten sind in unserem Alter, aber auch viele Eltern sind anscheinend dabei. Eine große Tribüne ist nah am Wasser gebaut, welches schon fast ganz besetzt ist.

„Es fängt in zehn Minuten an“, stelle ich mit einem Blick auf meinem Handy fest.

Auf einem kurzen Holzsteg sehe ich viele Jungs und Männer im Ruderanzug stehen, die sich unterhalten und dabei auf die Boote auf dem Wasser zeigen. Es sind alles Achterboote.

„Wow, so viele Kerle auf einem Fleck. Da haut einen ja die Auswahl um“, höre ich Liz neben mir fachlich feststellen und ich muss lachen.

„Bleib lieber deinem Freund treu“, ermahne ich sie gespielt streng.

„Wir sind noch nicht richtig zusammen“, gibt sie leicht enttäuscht zu.

„Ach das wird noch…“

„Silver!“, ruft plötzlich Tylers Stimme dazwischen. Ich wende mich mit dem Blick von Liz ab und sehe ich in das grinsende Gesicht meines besten Freundes, der neben Tobias, Seth und etlichen Kerlen im Ruderanzug steht. Ich werfe Liz einen entschuldigenden Blick zu bevor ich sie zu den Jungs ziehe. Meine Freundin verzieht das Gesicht immer mehr während wir uns ihn nähern.

„Es ist wirklich viel los hier“, stelle ich anerkennend fest, woraufhin die Jungs grinsen.

„Es ist zwar nur die Regionalmeisterschaft, aber die entscheidet, ob wir an der deutschen Meisterschaft teilnehmen können oder nicht“, teilt Tobias mir stolz mit. Tyler legt daraufhin einen Arm um Seth, der schräg gegenüber uns steht, und schüttelt diesen leicht.

„Und mit unserem Mann hier kann heute nichts mehr schief gehen. Er hat sogar Extratraining gemacht“, kündigt Tyler grinsend an. Seth alias Pokerface verzieht natürlich keine Miene und sieht zu meiner Verwunderung stattdessen meine Freundin neben mir an.

„Und was ist an ihm so besonders?“, höre ich Liz skeptisch fragen und die Jungs sehen leicht überrascht zu ihr.

„Er ist der Beste, wusstest du das nicht? Beim Ein-Mann-Rennen schlug er bis jetzt jeden aus der Region“, klärt ein Junge mit blonden Locken die Sache auf.

Doch Liz zuckt nur mit den Schultern.

„Dann ist er eben der Beste aus der Region, heißt aber nicht, dass er der Beste überhaupt ist“, meint sie kühl und mustert Seth von unten herauf. Dieser zieht eine Augenbraue hoch und tut es ihr gleich. Die angespannte Stimmung ist zum Ergreifen nahe.

„Also Silver“, murmelt Tyler leise neben mir. „Ich hoffe, du feuerst mich richtig an.“

„Nur wenn du gut bist“, zwinkere ich ihm zu und mache dann Anstalten meine temperamentvolle Freundin von Mr. Pokerface wegzuziehen. Anscheinend hat sie noch irgendwas gesagt, was ihn leicht aus dem Konzept gebracht hat, denn seine Miene zeigt plötzlich sowas wie Gefühle. Und zwar Überraschung und Neugier.

„Also Jungs, tut euer Bestes“, rufe ich den Jungs noch lächelnd zu bevor ich mit Liz den Steg verlasse.

Kapitel 28

 

 

„Oh Gott, es fängt gleich an.“ Ich blicke zum Ufer, wo die Jungs langsam in ihre Position gehen.

„Man, Silver, jetzt sei mal nicht so nervös und du bringst mit deinem Gewippe die ganze Bank zum Wackeln“, beschwert sich Liz belustigt, die links neben mir sitzt. Augenblicklich höre ich damit auf und falte meine Hände auf dem Schoß. Wir sitzen auf der Tribüne, etwas weiter hinten, doch wir können trotzdem alles gut erkennen, wenn nicht sogar besser. Die Startlinie ist etwas weiter weg auf der linken Seite deswegen ist sie kaum zu sehen, da die Tribüne näher der Ziellinie gebaut ist. Die Jungs müssen eine 1000-Meter-Strecke hinterlegen und ich weiß nicht, ob ich solange mitfiebern kann ohne auszurasten. Tyler und die anderen sitzen noch nicht mal im Boot und ich kann jetzt schon nicht ruhig bleiben.

„Die werden das schon schaffen“, redet Liz auf mich ein während sie ihre schulterlangen kastanienbraunen Haare aufmacht, sodass diese locker herunterfallen.

„Mhhmmm“, murmele ich und entdecke in dem Moment Alex Kirlson in der Menge, der sich mit ein paar Jungs durch die Masse zu uns auf die Tribüne bewegt. Vorhin haben mich ein paar Jungs und Mädchen aus unserer Schule begrüßt, die ich natürlich nicht kannte, aber ein kurzes Hallo ist ja noch zu schaffen.

„Hey Silver“, begrüßt Alex mich, als er bei unserer Reihe stehen bleibt.

„Alex.“ Ich lächele ihn an und erkenne, dass die Jungs neben ihm dieselben sind, die ich auf dem Parkplatz getroffen habe. Auch sie nicken mir alle zu und mustern daraufhin Liz.

„Ich habe mit Tyler gewettet. Wenn der es nicht schafft, dann muss er für uns morgen einen Striptease hinlegen“, verkündet Alex grinsend. Es folgt Gelächter von den Jungs und Liz zieht ihre Augenbrauen neugierig hoch.

„Alex schmeißt morgen eine Party“, kläre ich sie lächelnd auf und sie nickt.

„Na dann hoffen wir mal, dass er sein Shirt anbehalten kann“, erwidert sie spöttisch. Dann sieht Alex sie an.

„Du kannst auch morgen kommen. Silver‘s Freunde sind auch willkommen“, meint er plötzlich und zwinkert ihr keck zu.

Doch sie ignoriert das gekonnt und wendet sich mit einem fragenden Blick stattdessen an mich.

„Komm doch mit, dann bin ich nicht mit den Jungs alleine“, bettele ich sofort und setze mein schönstes Lächeln dafür auf.

Und das stimmt auch. Immerhin hat mich Vaia quasi als Begleitung abserviert.

Sie scheint kurz zu überlegen und nickt schließlich.

„Ich komme mit. Eine muss ja auf dich aufpassen“, spottet sie höhnisch und blickt dann zu den Jungs auf.

„Na dann.“ Alex lächelt zufrieden. „Dann freue ich mich euch beiden Schönheiten auf meiner Party willkommen heißen zu können.“

Er verbeugt sich theatralisch und wir beide müssen kichern.

Mit den Worten schlürft er schließlich mit seinen Kumpels davon.

Sofort drehe ich mich zu Liz um. „Ich glaube, er hat ein Auge auf dich geworfen“, lache ich und kassiere einen leichten Seitenhieb von ihr.

Ich halte sofort den Atem auf und warte auf den Schmerz, der zu meiner Verwunderung nicht kommt.

„Oh, Silver, es tut mir leid! Habe ich dir wehgetan?“, kommt es sofort besorgt von Liz, doch ich schüttele nur lächelnd den Kopf.

„Irgendwie nicht. Ich glaube, meine inneren Verletzungen sind wirklich längst alle geheilt“, stelle ich fest und lehne mich erleichtert nach hinten.

Liz jedoch bedenkt mich jedoch immer noch mit einem besorgten Blick.

„Sag mal, Silver…“, spricht sie leise und beugt sich näher zu mir. „…was machst du eigentlich immer, wenn dich diese ganzen fremden Leute ansprechen?“

Als Antwort kann ich nur seufzen. „Ich versuche mich normal zu verhalten. Bis jetzt klappt es in der Schule ganz gut. Auf der Straße einfach angesprochen zu werden, wurde ich zum Glück noch nicht.“

Vorsichtig streicht mir Liz eine Strähne hinters Ohr. „Gut. Das wird schon, Süße. Mit der Zeit gewöhnst du dich an alles. Ich werde dir immer beistehen, vergiss das nicht.“

Dankbar lächele ich sie an und sie erwidert es.

„Woher hast du eigentlich deine Nietenshorts? Die sehen ja mal richtig hammer aus“, sagt sie plötzlich mit einem Blick nach unten und ich muss kurz auflachen. Dafür dass sie so schnell von einem ernsten Thema auf etwas Banales wechseln kann. Ich liebe sie jetzt bereits als meine Freundin.

„Danke. Ich habe es im Einkaufszentrum in der Stadtmitte gekauft. Keine Ahnung mehr, wie der Laden heißt. Wir können ja mal zusammen hin, ich weiß noch, wie der aussieht“, lächele ich, woraufhin sie sofort heftig nickt. „Ach da fällt mir ein: Meine Mum schleppt mich auf eine Benefitsgala mit. Dafür brauche ich ein Kleid und passende Schuhe und Schmuck. Hast du Lust Morgen Mittag mit mir shoppen zu gehen?“

„Oh, ich bin zufällig die beste Styleberatung ganz Hamburg“, gibt sie grinsend zurück. „Ich komme gerne mit.“

Plötzlich ertönt eine lautes Hupen, was mich aufschrecken lässt und auch die Leute um uns verstummen.

Als ich zum Wasser blicke, sehe ich ein paar hundert Meter weiter weg die ersten Ruderboote, die sich zu der Startlinie bewegen. Die Jungs werden immer kleiner bis sie fast nur noch als schmale Striche zu sehen sind.

Einige fangen darauf an den Namen der verschiedenen Teams zu rufen.

„Alexander-von-Humboldt!“, rufe ich einfach mal den Namen unserer Schule dazwischen.

„Die Humboldter machen euch alle platt!“, brüllt Liz mit und wir müssen beide grinsen.

Jetzt wird es spannend. Die Boote sind alle in Position und ein Mann mit einer großen Tafel tritt an das Ufer.

Die Leute um uns stehen auf und wir beide machen es ihnen nach.

Kurz darauf folgt das Startkommando, das lautet "Zwei Minuten", dabei steht der Seitenrichter auf die gleiche Position der Bugbälle und zeigt dies mit einer roten Tafel an. Ich spiele nervös mit meinen Händen und um uns ist es still. Dann ist nur noch die Stimme des Mannes zu hören.

"Achtung"  

Stille. Ich versuche das Boot von den Jungs zu erspähen. Vergeblich.

"Los!"  

Im selben Wimpernschlag bewegen sich die Striche alle gleichzeitig nach vorne. Die nächsten Sekunden sind sie auf der gleichen Höhe, doch dann erkennt man, dass zwei der Boote deutlich vorne liegen.

„Weißt du, welches deren Boot ist?“, frage ich Liz verzweifelt.

„Die beiden ganz vorne. Es ist das, welches näher am Ufer ist“, erwidert Liz abwesend. Auch sie scheint völlig mit zu fiebern.

Die beiden Boote vorne sind fast auf derselben Höhe.

Nein, nein, nein!

„Los Tyler, beweg deinen Hintern gefälligst!“, brülle ich mir die Kehle aus und plötzlich fängt Liz neben mir an zu lachen. Ein paar Köpfe drehen sich dabei zu mir um, doch es ist mir egal.

„Süße, wenn er seinen Hintern jetzt wirklich bewegen würde, endet er im Wasser“, lacht meine Freundin.

„Das ist mir egal. Hauptsache wir gewinnen“, grinse ich und verfolge dabei weiterhin das Rennen mit Argusaugen.

„Ja, sie könnten ja auch einfach mal zum Ziel hin schwimmen“, kichert sie neben mir.

Plötzlich wird das Boot von unseren Jungs von dem anderen überholt.

Da sie in den wenigen Sekunden bereits die Hälfte der Strecke hinterlassen haben, kann ich endlich unsere Jungs erkennen. Tyler erkenne ich sofort an den schwarzen zerzausten Haaren. Er sitzt ganz vorne, denn er ist auch der Kapitän unserer Schulmannschaft. Seth ist gleich hinter ihm und dann folgen Tobias und die anderen.

„Die haben die um zehn Meter überholt“, murmelt Liz und ich wundere mich leicht über ihren besorgten Ton. Denn eigentlich hatte ich den Eindruck, es wäre ihr egal, ob unsere Jungs gewinnen oder nicht.

Immer noch ist das andere Boot in Führung und langsam mache ich mir Sorgen. Es sind nur noch etwa 200 Meter bis zum Ziel.

„Verdammt, Seth, mach was!!!“, schreie ich hektisch.

Sie dürfen nicht verlieren!

„Ich sag doch, große Reden, nix dahinter“, murmelt Liz leise und ich hätte es fast nicht gehört, da ich bereits erneut den Mund zum Brüllen geöffnet habe.

Der Bugball der beiden Boote, die vorne liegen, sind zwar nur noch ein paar Meter voneinander entfernt, jedoch sind es nur noch weniger als 100 Meter bis zur Linie. Auch die anderen Boote haben stark aufgeholt und sind schon fast auf derselben Höhe wie unseres.

Die Leute feuern sich deren Kehle aus. Liz hingegen verfolgt das Rennen stumm.

„TYLER! JETZT HÄNG SIE ENDLICH AB!!!“, brülle ich so laut, dass meine Kehle schon schmerzt.

Ich erkenne wie Tyler etwas zu seinen Leuten nach hinten brüllt. Im nächsten Moment passiert endlich was.

Wie auf Kommando fangen die Jungs nach Tylers Worten an synchron schneller zu rudern. Man kann sogar von weitem die deutliche Geschwindigkeitsveränderung sehen.

Immer noch trennen drei ganze Meter die beiden Bugbälle. Es sind nur noch 40 Meter bis zum Ziel.

Durch die erhöhte Geschwindigkeit unserer Jungs scheint als würde das erste Boot langsamer werden, doch dem ist nicht so.

Ich spanne meinen Körper völlig an und raufe mir aufgeregt die Haare.

Noch einen Meter.

„Komm schon“, murmele ich vor mich hin.

Und endlich sind die Boote auf einer Höhe. Es sind noch 20 Meter bis zur Ziellinie.

Oh Gott, das halte ich nicht aus!!!

Doch es vergehen nur Millisekunden bis sich die Bugbälle in der Höhe wieder verschieben. Der Bugball, welches vorne liegt, ist von Tylers Mannschaft!

Noch 10 Meter.

Das Boot, das unsere Jungs überholt haben, scheint wieder an Geschwindigkeit zu zunehmen nachdem auch deren Kapitän etwas zu seinen Hintermänner schreit. Ich sehe schon, wie sich der Bugball fast auf dieselbe Höhe wie von dem unseres Bootes kommt. Im nächsten Moment aber sieht es so aus, als würde unser Boot nach vorne sprinten und lässt somit das andere Boot weiter hinter sich.

5 Meter.

Tyler brüllt pausenlos irgendetwas, was ich natürlich nicht verstehe, doch es scheint zu funktionieren, denn zwischen den Booten liegt ein guter Abstand. Der Bugball des zweiten Bootes ist auf derselben Höhe wie von Tobias, der in der Mitte des Bootes sitzt.

2 Meter.

„Oh mein Gott, sie schaffen es!“, höre ich plötzlich Liz schrill rufen und ich zucke bei ihrer Stimme zusammen.

1 Meter.

Und tatsächlich. Das Boot, das die Ziellinie in diesem Moment überschreitet… ist das von unseren Jungs.

Augenblicklich wird es um uns noch lauter, als es schon die ganze Zeit ist. Lautes Hupen und Geschreie vermischen sich.

Schreiend springe ich Liz an und sie fängt mich im letzten Moment noch auf, sodass wir nicht zu Boden gehen.

„Sie haben es geschafft!“, rufe ich glücklich aus und eine Freudenträne stiehlt sich aus meinem Auge.

Meine Freundin lächelt und umgreift meine Hand.

„Komm, wir gehen ihnen gratulieren“, sagt sie und zieht mich mit sich nach vorne.

 

Ungeduldig warte ich am Ufer mit den anderen auf die Jungs. Als Tyler als Erster aus dem Boot steigt, falle ich ihm um den Hals.

„Du hast es geschafft!“, rufe ich glücklich aus. Er schlingt schnell seine Arme um mich und vergräbt sein Gesicht an meiner Halsbeuge.

„Wir hatten unsere Taktik. Es war geplant, dass wir bis zu den letzten 50 Meter die Zweiten bleiben und dann Endspurt machen“, höre ich ihn neben meinem Ohr sagen und ich spüre augenblicklich sein Grinsen an meinem Hals.

Als er mich wieder runterlässt, strahlt er über das ganze Gesicht. Ich gratuliere den Rest der Mannschaft und falle Seth um den Hals, der anscheinend keine Umarmung erwartet hat.

„Glückwunsch“, murmele ich lächelnd an seiner Schulter und spüre kurz daraufhin seine Arme, die sich vorsichtig um mich legen.

„Danke, Silver“, erwidert Seth. Aus dem Augenwinkel sehe ich wie Liz den Jungs gratuliert. Ich mache mich schließlich von Seth los dessen Mimik etwas von Glück zeigen. Da er durch meine stürmische Umarmung ein paar Schritte nach hinten gekommen ist, müssen wir zu den anderen zurücklaufen.

„Ich habe gehört, du musst kein Striptease mehr hinlegen“, höre ich Liz grinsend sagen. Erst sieht Tyler sie verwundert an ehe auch er anfängt breit zu grinsen.

„Jetzt, wo du es sagst. Das muss Alex jetzt wohl tun.“ Mein bester Freund sieht mich dabei an.

„Ich muss zum Trainer. Wir sehen uns bei der Siegesehrung, ja?“, fragt er mich und ich nicke lächelnd. Gleich müsste Philips Rennen anfangen.

„Glückwunsch“, murmelt Liz aufeinmal fast schon kleinlaut. Erst wundere ich mich zu wem sie es sagt, da die Jungs sich langsam alle in Richtung Land bewegen, als ich bemerke, dass Seth immer noch neben mir steht.

„Danke“, kommt es kurz angebunden von ihm und mit einem Seufzen stelle ich fest, dass er wieder die Mimik einer Wand hat.

„Na dann“, murmelt Liz und sieht mich dann an. „Komm, Phils Rennen fängt gleich an.“ Dann setzt sie sich auch schon in Bewegung.

Ich nicke und verabschiede mich von Seth, der meiner Freundin nachschaut.

 

 

 

„Welcher von denen ist er?“, frage ich während mein Blick von einem Typen zum anderen schweift. Das hier ist deutlich die Herrenliga.

„Der mit den blassblonden Haaren und einer Statur wie die von Sean Faris“, beantwortet mir Liz schwärmerisch die Frage und ich kann nicht anders als die Augen lächelnd zu verdrehen.

Sie ist eindeutig total verschossen.

Ich entdecke ihn und viele andere Männer, die deutlich älter als 20 sind. Von seiner Statur her sieht er ähnlich aus wie Eisklotz. Doch er ist ein Tick schmaler und bewegt sich auch anders.

Halt Stop! Warum vergleiche ich die beiden? Die haben doch nichts miteinander zu tun!

Sein Gesicht kann ich von Weitem kaum erkennen, doch Liz‘s Geseufze neben mir spricht schon für sich.

Auch Phils Mannschaft gewinnt das Rennen, was Liz mit einem schrillen Schrei unterstreicht. Ruckartig zieht sie mich wieder durch die Menge zu den Booten.

Ein paar Meter vor dem Steg lässt sie meine Hand los und fällt einem Mann mit straßenköterblonden Haaren um den Hals.

Er fängt sie überrascht auf, doch grinst gleich darauf. Eine Weile reden die beiden miteinander und ich nutze die Zeit ihn genauer zu betrachten. Philip hat dunkelgraue Augen und unter seinen hohen Wangenknochen zeichnet sich ein Drei-Tage-Bart ab. Er hat ein etwas längliches Gesicht und seine markanten Züge unterstreichen sein Alter.

„Silver, das ist Philip. Philip, Silver“, stellt Liz uns vor und ich gebe Philip die Hand.

Ich gratuliere ihm, was er dankend annimmt. Dann laufen wir zusammen zurück während Philip über das Rennen spricht und da ich nicht die Rudersprache spreche, verstehe ich gerade mal ein Drittel, von dem was er sagt. Liz hingegen hängt förmlich an seinen Lippen.

Philips Trainer kommt uns schließlich entgegen und fängt ein Gespräch mit diesem an. Ich komme mir plötzlich etwas überflüssig vor, denn ich will die beiden alleine lassen. Also blicke ich mich suchend um und entdecke Zen, der bei Seth steht. Um die beiden herum stehen etliche Mädchen. Wie immer.

Ich sage Liz Bescheid, dass wir uns bei der Siegesehrung wieder auf der Tribüne treffen, und schlendere zu den Jungs.

„Hey, Silver“, begrüßt mich Zen grinsend. Ich lächele ihn an während ich spüre wie mich die Mädchen um uns herum mit ihren Blicken erdolchen. Seth fährt sich vor mir durch die Haare und seine dunkelbraunen Augen finden meine.

„Ich muss mal kurz mit Silver weg“, sagt er plötzlich und ein paar Mädchen schnappen nach Luft.

Bevor Zen oder ich etwas erwidern kann, zieht Seth mich mit sich mit.

Wir lassen die Menschenmenge hinter uns und unter einem abgelegenen Baum lässt er sich nieder.

„Was war das denn eben?“, frage ich ihn etwas verwirrt und setze mich auch an den Baum. Seth starrt jedoch nur an mir vorbei in die Ferne.

 „Du warst heute bei Dr. Prinsloo.“ Es ist mehr eine Aussage als eine Frage.

Ich nicke. Ach, darüber möchte er reden.

„Ja, ich war bei deinem Vater.“

„So kann man ihn auch nennen“, murmelt er monoton und ich wundere mich in dem Moment wie das Verhältnis der beiden wohl ist. Schließlich hat sein Vater es nicht mal geschafft hier kurz vorbei zu schauen.

Während wir also unter dem Baum hocken, erzähle ich ihm, was sein Vater mir erzählt hat. Als ich fertig bin, sehe ich ihn abwartend an und Seth sagt darauf etwas völlig Unerwartetes: „Das sieht dem Mann so ähnlich.“

„Was?“, frage ich verständnislos, doch er schüttelt nur kurz den Kopf.

„Die Papiere werden diese Woche noch bearbeitet. Nächste Woche bin ich dort wieder Praktikant“, verkündet er reserviert und ich hebe die Augenbrauen.

„Und das heißt…?“

Jetzt sieht er mich an. „Das heißt, dass ich dich in sein Büro mitnehmen werde, wenn er mal frei hat und dann bekommst du deine Antworten.“

Plötzlich legt er eine Hand an meinem Arm, was ich mit einem verwirrten Blick quittiere.

„Du hast die Wahrheit verdient, Silver“, sagt er daraufhin und zieht auch schon wieder seine Hand zurück.

Sofort schlinge ich meine Arme um die Beine und bette mein Kinn auf den Knie.

Wollte ich die Wahrheit? Ja.

Habe ich Angst davor? Zur Hölle ja.

Ich seufze leise auf.

Doch ich muss es erfahren. Wenn keiner bereit ist, es mir selbst zu sagen, dann gibt es keinen anderen Weg.

Und das Seth mir dabei hilft, hätte ich von allem nicht gedacht. Immerhin kennt er mich kaum. Zwar meint er, dass er es aus seinem Interesse an der Medizin tut, doch irgendwie glaube ich nicht, dass das der einzige Grund ist.

„Deine Freundin steht also auf Philip“, kommt es plötzlich von Seth und ich blicke auf. Meine Augen suchen meine Freundin und kurz darauf entdecke ich sie mit Philip. Beide stehen hinter der Tribüne und es sieht von weitem so aus, als würde Philip sie versuchen aufzuessen. Die beiden machen sowas von wild miteinander rum.

Ich wende mich von dem komischen Anblick ab und sehe Seth stattdessen an.

„Du kennst ihn?“, frage ich ihn.

Er nickt kurz. „Alle von der Schule kennen ihn.“

„Was meinst du damit?“, hake ich neugierig nach und Seth sieht mir in die Augen.

„Naja. Er war mit Yvonne zusammen. Falls du es nicht weißt, Alex und sie kommen aus einer der reichsten Familien hier in Hamburg.“ Er macht eine kurze Pause. „Jedenfalls war es kurze Zeit später klar, dass er nur mit dem Geld wegen ihr zusammen war. Sie hat ihn dann abgeschossen“, endet er in seinem typischen Sethton und meine Augen weiten sich.

Aus Liz’s Erzählungen weiß ich, dass sie auch aus einer wohlhabenden Familie kommt. Schließlich geht sie auf eine teure Privatuniversität.

„Du meinst…?“, ich wage es nicht den Satz auszusprechen. Zu sehr bin ich schockiert darüber und habe plötzlich schreckliche Angst, dass Liz verletzt werden könnte.

„Ich behaupte nichts. Es ist nur, was eben rumerzählt wird“, erwidert er monoton. Seine Miene zeigt keine Gefühlsregung. Pokerface eben.

„Deine Freundin wird schon wissen, was sie tut. Denke ich mal. Und wenn nicht, wird sie es früher oder später merken“, fügt er hinzu und blickt dabei das Paar an.

„Ich muss es ihr trotzdem sagen“, murmele ich seufzend. Augenblicklich denke ich an ihre Vergangenheit. Sie hatte bisher kein Glück bei den Männern. Zwar schlägt Philip sie nicht, doch das was er angeblich tut, ist auch nicht viel besser.

„Wie du meinst“, kommt es nur von ihm und langsam werde ich sauer.

„Kannst du manchmal auch mal Gefühle zeigen? Liz hatte es bisher nicht leicht mit euch Kerlen und du weißt etwas, was sie davor bewahren kann verletzt zu werden und alles was von dir kommt ist: „Wie du meinst“?!?!“ Bei den Worten rappele ich mich auf die Beine und starre wütend zu Seth herunter, der meinen Blick stumm erwidert.

„Deine Freundin besitzt eine falsche Vorstellung von uns, Männern. Sie stempelt mich als arroganter Playboy ab während sie in Philip den Traumtyp sieht, aber sie sieht nur die Hülle“, erwidert er daraufhin und steht ebenfalls auf. Ich bin zu perplex, um etwas darauf zu erwidern.

„Wir sollten zurück. Sonst verpasse ich noch meine Siegesehrung“, meint er leicht höhnisch. Ich folge ihm schweigend während ich das von ihm Gesagte verarbeite.

 

 

 

Während wir uns wieder in die Masse mischen, kann ich meine Augen nicht von Liz und Philip wenden. Und der Grund gefällt mir ganz und gar nicht. Vor einer Minute habe ich mir noch den Kopf darüber zerbrochen, ob ich Liz erzählen soll, was ich so eben von Seth erfahren habe, doch jetzt erinnert mich diese Szene auch noch an meinen eigenen Kuss…

Meinen verdammten Kuss mit Jason.

Ungläubig schüttele ich meinen Kopf und bekomme nebenbei mit, dass die Siegesehrung bereits angefangen hat.

Dieser Kuss. Ich bekomme einfach nicht das Gefühl los, dass dahinter so viel mehr steckt. So viel Unausgesprochenes.

Etwas, was Jason mir verschweigt.

Wie immer.

Himmel, hat er denn auch jemals freiwillig eine Information rausgerückt?

Nein, nur wenn es darauf ankam.

Gedanken versunken fahre ich mit meinem Zeigefinger meine Unterlippe nach und plötzlich habe ich das Gefühl wieder Jasons Lippen auf meinen zu spüren.

„…Erde an Silver! Hallo?!“

Erschrocken zucke ich zusammen und blicke in Tylers Gesicht. Er schaut mich fragend an, doch das glückliche Grinsen ist noch deutlich zu sehen. In seiner Hand entdecke ich einen Pokal.

„Sorry… w-was gibt´s?“, versuche ich so unschuldig wie möglich zu fragen.

„Wir sind hier fertig. Jetzt wollen wir ordentlich feiern gehen!“, grinst er und legt dabei seinen schweren Arm um die Schulter. Erst jetzt bemerke ich, dass sich die Leute um uns herum alle in dieselbe Richtung bewegen. Hinter Tyler stehen Tobias, Seth und noch weitere Jungs, die mich alle anblicken. Anscheinend warten sie auf mich.

Ich nicke zur Antwort und schaue mich nach Liz um. Dann entdecke ich sie am selben Fleck. Das Einzige, was sich an diesem Bild geändert hat ist, dass Philip beim Rummachen einen großen silbernen Pokal in der Hand hält.

Die Jungs geben alle erfreute Laute von sich und ich werde einfach mitgezogen.

Ein Muskelprotz läuft schräg neben Tyler und schlägt meinem besten Freund auf die Schulter.

„Boah ich war schon lange nicht mehr im Riverside. Heute geben wir uns so richtig die Kante. Keiner kommt nüchtern nach Hause, alles klar Leute?!“

Lautes, zustimmendes Gejubel vom Rest der Jungs.

Bei dem Anblick muss ich grinsen, doch in der nächsten Sekunde erstirbt es.

Halt stopp… Sagte er eben Riverside?!?

Kapitel 29

 

 

 

 

Die kühle Abendbrise wirbelt meine Haare auf. Ich fahre mir durch die Haare und blicke der Abendsonne entgegen, die den Himmel von einem kühlen Blau in einen rötlich bis schließlich orangenen Ton übergehen lässt. Ein wunderschöner Anblick, denke ich mir und genieße die Autofahrt mit offenen Fenstern.

Neben mir hockt eine vor sich hin grinsende Liz, die sich so oft das Haar richtet wie sie an einer roten Ampel anhält.

„Du siehst gut aus“, mache ich sie darauf aufmerksam, denn ich befürchte schon, dass ihre Haare davon abfallen werden.

Sie blickt mich lächelnd an und ich sehe das Glitzern in ihren Augen. In dem Moment hoffe ich insgeheim, dass Seth nicht mit seinem Gesagten Recht hat.

„Ach Silver! Ich weiß gar nicht wie dieses Gefühl beschreiben soll. Ich bin schon lange nicht mehr so glücklich seit du weißt schon… meinem Ex“, seufzt Liz während sie in das unterirdische Parkhaus des Riverside Hotels hineinfährt. Ich nicke, denn ich erinnere mich an den ersten Tag als ich Liz in der Stadt getroffen habe und sie mir über ihre ganzen Exfreunde erzählt hat. Kaum zu glauben, dass es erst fünf Tage her ist.

Nach der Siegesehrung ist jeder in seinen Wagen gestiegen. Tyler nimmt seine Freunde mit und auch Seth wird auf der Feier erscheinen. Und wie Liz es mir vorhin gesagt hat, kommen auch Philip und seine Leute. Nicht zu vergessen die ganzen Groupis wie Liz und ich.

Es wird also definitiv voll werden in der Bar. Trotz ihrer Größe.

Seufzend fahre ich mit einer Hand durch mein glattes dunkles Haar.

Was ist, wenn Eisklotz heute dort arbeitet? Er hat ausdrücklich gesagt, dass ich mich von ihm fernhalten soll…

Doch ich bin hier um den Sieg der Jungs zu feiern! Was kann ich dafür, wenn sie ausgerechnet hier feiern und überhaupt. Warum muss er auch in der beliebtesten Bar Hamburgs arbeiten? Konnte er nicht ein einfacher Bauarbeiter, der im Untergrund die Stadt in Ordnung bringt, sein und ich ihn so nicht über den Weg laufen muss?!

In dem Moment parkt Liz das Auto ein und ich schnalle mich ab. Nachdem sie einen letzten Blick in ihren Taschenspiegel geworfen hat, steigt auch sie aus. Ich will mich schon in Richtung Aufzug bewegen, als sie mich festhält und konzentriert an meinem Shirt rumfummelt.

Da das Oberteil, das ich trage, einen weiten Schulterausschnitt hat, schiebt Liz diesen so zur Seite, dass eine Schulter frei liegt. Sie quittiert ihr Werk mit einem zufriedenen Blick und schnalzt mit der Zunge ehe sie sich grinsend bei mir unterhackt und wir endlich zum Aufzug laufen. Ich verdrehe nur lächelnd die Augen.

„Es ist eine Feier mit Männern. Da musst du gut aussehen! Nicht, dass du es ohnehin schon tust“, rechtfertigt grinsend Liz ihre Tat.

„Ja ja ist schon gut“, murmele ich und drücke den Knopf zum 1. Stockwerk. Meine Augen wandern automatisch zur 3 und ich schlucke trocken, als mich wieder diese Schuldgefühle überkommen.

Es ist nicht deine Schuld!, versuche ich mir wie ein Mantra aufzusagen in der Hoffnung an etwas anderes denken zu können.

Denk an die Party, auf die du gleich gehst! Du feierst mit deinen Freunden, den Leuten aus deiner Schule und…

Ob Jason da ist?

Stopp! Falscher Gedankengang!

Arrrrrgh!

„Silver? Ist alles in Ordnung?“, fragt Liz mich unter einem besorgten Blick. Ich weiche ihrem Blick aus, denn ich kenne die Antwort auf die Frage und diese würde ihr nicht gefallen.

„Hey“ Vorsichtig nimmt sie mein Gesicht zwischen ihre Hände und dreht mich zu ihr, sodass ich sie ansehen muss. Ich zucke hilflos mit den Schultern und versuche mit aller Kraft die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.

„Hat dir jemand was getan? Ich bringe denjenigen um! Sag mir, wer es ist! Es ist Jason, richtig? Dieser Vollpfosten!“ Ich zucke leicht zusammen, denn Liz knurrt bei seinem Namen schon fast.

Aber nein. Es ist mehr als nur Jason.

„Ich musste an den Brand denken…“, gestehe ich leise. Daraufhin atmet Liz leicht auf und zieht mich in ihre Arme. Ich atme ihr Parfüm ein und irgendwie beruhigt mich diese Umarmung.

„Es ist schrecklich, was passiert ist, aber du darfst dich nicht ständig damit belasten!“, lenkt sie ermutigend ein. Dann lässt sie mich los.

„Du bist am Leben. Das ist, was zählt! Uff und ich dachte schon, dass dir jemand was getan hat!“, murmelt sie sichtlich erleichtert und vor uns öffnet sich die Tür des Aufzugs mit einem Pling.

Wir überqueren den Korridor, der zur Bar führt. Ich kann die laute Musik und die Leute bereits hören.

„Wie kommst du eigentlich auf Jason?“, frage ich sie noch bevor wir die Bar erreichen.

„Weil der immer irgendetwas verbockt. Ganz besonders, wenn es um dich geht“, erwidert meine Freundin grimmig und blickt dabei stur geradeaus.

„Liz“ Ich halte sie am Arm fest, sodass sie stehen bleiben muss. „Versprichst du mir alles über ihn zu erzählen? Alles, was du weißt? Bitte!“

Ich versuche es mit einem Dackelblick, doch leider habe ich keine unschuldigen braunen Hundeaugen, sondern stechend grüne.

Doch Liz willigt sofort mit einem Schulterzucken und Nicken ein.

„Und jetzt lass uns endlich feiern!“ Mit diesen Worten zieht sie mich in Bar herein. Ich blicke das hübsche Mädchen mit den kastanienbraunen Haaren und Augen an, das ich meine Freundin nennen kann, und muss bei dem Gedanken lächeln, als plötzlich etwas Hartes gegen mich gerammt wird.   

„Ja! Ich hole noch zwei Kisten von diesen…Scheiße!“, höre ich jemand durch die Musik nach hinten zur Bar rufen bevor ich einen stechenden Schmerz im Bauchbereich spüre.

Ich knicke reflexartig ein und stolpere einige Schritte zurück.

„Tut mir echt leid! Ich habe dich nicht…“ Der Schmerz vergeht zu meiner Verwunderung schnell. Als ich hochsehe blicke ich ihn eisblaue Augen. Geschockt starre ich ihn mit offenem Mund an. Dasselbe tut er auch bei mir.

„…gesehen“, beendet Jason seinen Satz und erst jetzt sehe ich, dass er drei Kästen mit leeren Bierflaschen trägt. Eins davon liegt oben über die beiden anderen Kasten und geht ihm bis zu seiner perfekt geraden Nase, sodass es ihm die Sicht zu mir versperrt haben muss.

„Schon okay“, murmele ich nur und weiche seinem Blick aus, den ich nicht so richtig deuten kann. Er scheint ernsthaft besorgt zu sein, jedoch sah ich auch etwas wie Entsetzen und Wut in seinen Augen.

„Komm.“ Schnell greife ich nach Liz´s Arm und ziehe sie mit mir mit. Ich will nur noch so schnell wie möglich von ihm weg. Denn ich weiß, dass er mich nicht hier haben will. Nicht in seiner verdammten Nähe.

Liz wirft meinem „Angreifer“ noch einen Killerblick zu ehe sie sich bei mir erkundigt, ob alles okay ist. Ich versichere es ihr schnell und daraufhin bestellt sie uns zwei Drinks. Einen Hurricane für sie und irgendeinen Fruchtcocktail für mich. Obwohl ich mit dem Rücken zum Ausgang stehe, spüre ich noch eine Weile seinen intensiven Blick auf mir, was ein leichtes Kribbeln in mir verursacht ehe sich dieses Gefühl auflöst und ich frage mich, ob es daran liegt, dass er nicht mehr zu mir sieht. Ich wage jedoch keinen Blick in die Richtung.

„Ich schätze mal, du willst keinen Alkohol trinken?“, fragt Liz mich während sie sich in der Bar umsieht. Es ist schon ziemlich voll, doch ich kann bis jetzt keinen erblicken, den ich kenne.

„Eher nicht. Und wenn dann auch nicht so viel“, antworte ich und zupfe an meiner Nietenhotpants herum. Zwar laufen andere Mädchen hier wesentlich freizügiger rum wie diese eine rothaarige Kellnerin mit ihrer Shorts, das ihren Hintern nur halb bedeckt, doch trotzdem fühle ich mich etwas unwohl.

„Lasst uns tanzen gehen!“, ruft Liz freudig aus und stellt daraufhin ihr Glas an der Bar ab. Ich tue es ihr gleich und kurz darauf stehen wir mitten auf der Tanzfläche.  

Um uns tanzen bereits einige Leute, aber die Mehrzahl ist noch dabei sich zu betrinken und Siegesreden zu halten. Ich habe das Gefühl, dass jeder in der Bar nur wegen der Party hier ist.

Liz fängt sofort an ihre Hüften zu schwingen und dreht sich einmal um die eigene Achse, was mehr lustig aussieht als verführerisch. Ich lache bei ihrem Anblick. In dem Moment läuft „Diamonds“ von Rihanna. Ich kenne den Song aus dem Radio. Sofort schließe ich meine Augen und lasse die Musik mich führen. Es ist zwar ein Remix, aber trotzdem fängt es erst langsam an, sodass ich mich langsam zur Musik bewege. Ich fühle mich plötzlich frei wie ein Vogel. Mein Kopf ist wie leer gefegt und es ist ein unglaublich gutes Gefühl. Eins wovon ich denke schon lange nicht mehr gefühlt zu haben. Ich lasse meinen Körper einfach das machen, wonach ihm gerade ist.

Langsam wird der Beat schneller. Ich lasse meine Hüfte rhythmisch schwingen und beim Refrain hebe ich automatisch meine Arme hoch in die Luft. Meinen Kopf hebe ich und öffne meine Augen, sodass ich plötzlich in eine strahlende Decke hochschaue, die vorher nicht da war. Es sieht aus, als würden tausende von Diamanten oben funkeln, doch es ist nur die Beleuchtung und eine große Discokugel, die diesen Effekt verursachen.

„Wunderschön“, flüstere ich leise vor mich hin, wissend, dass mich keiner durch die Musik hört. Ein neuer Song wird gespielt und augenblicklich verschwindet die schöne Diamantendecke. Etwas enttäuscht wende ich den Blick ab und blicke runter zu Liz, die mich mit geschockten Augen anstarrt. Auch die Leute um uns herum sehen mich alle irgendwie interessiert an und ich werde etwas nervös bei dieser plötzlichen Aufmerksamkeit von allen Seiten.

„Was ist?“, forme ich langsam mit meinen Lippen, sodass Liz es, wenn nicht akustisch auch so verstehen muss.

Meine Freundin schüttelt etwas ungläubig den Kopf ehe sie sich vorbeugt und mir ins Ohr schreit: „Weißt du wie hammer du eben getanzt hast? Deswegen starren dich alle so an!“

Grinsend entfernt sie sich wieder von mir und wackelt belustigt mit ihren Augenbrauen.

Ich kann nur ein Oh mit meinen Lippen formen. Zum Glück tritt in dem Moment ein Beat ein, der die meisten Leute wieder dazu bringt schwungvoll ihren Tanz fortzusetzen.

Plötzlich fühle ich zwei große Hände an meiner Hüfte. Hilfesuchend sehe ich zu Liz, bei der wie aus dem Nichts aber Philip steht und wieder sieht es so aus, als würden sich die beiden gegenseitig auffressen.

Also beschließe ich mich umzudrehen. Vor mir steht ein Typ, der etwas älter aussieht, so etwa wie Philip. Daher tippe ich darauf, dass er ebenso zur Herrenliga gehört. Durch das abwechselnde Discolicht schätze ich, dass er braune Haare und hellbraune Augen hat. Er sieht eigentlich nicht schlecht aus, aber das, was mich stört ist der Blick mit dem er mich ansieht.

Es ist der Gleiche, mit dem Philip Liz ansieht.

„Wayde“, haucht der Unbekannte in mein Ohr und ich zucke etwas leicht zusammen, weil seine Stimme so rau und tief ist. Sie klingt fast wie von dem Jungen, der mir diese mysteriöse Mailboxnachricht hinterlassen hat.

Wir stehen uns direkt gegenüber und als ich immer noch nicht erwidert habe, zieht er mich mit seinen zwei Pranken näher zu sich. Entsetzt atme ich den Geruch von Zigaretten und was weiß ich noch ein, aber es ist bestimmt kein Parfüm oder Aftershave. Und wenn, dann ein ganz schlechtes.

Bestimmend stemme ich meine Hände gegen seine Brust und versuche ihn von mir wegzuschieben, doch er ist einfach viel zu stark.

Verdammte Ruderer und deren Kraft!

„Verrätst du mir deinen Name, meine Schöne?“, säuselt der Kerl weiter und ich schüttele leicht den Kopf. Daraufhin zieht er verwirrt seine Augenbrauen zusammen. In dem Moment weiß ich, dass er nicht der Hellste ist.

„Mein Name ist…“ Ich atme tief ein. „…das-hat-dich-nicht-zu-interessieren-und-jetzt-lass-mich-in-Ruhe!“

Doch der Typ lacht nur drauf los und schüttelt grinsend seinen Kopf.

„Erst machst du einen mit deinem Tanz so an und machst einen auf schwer zu haben?“, gröllt er belustigt und ich werde langsam wütend. Er zieht mich noch näher zu sicher heran, sodass unsere Hüften sich berühren und ich drehe meinen Kopf weg. Ich spüre plötzlich feuchte Lippen an meinem Hals und gerade spiele ich mit dem Gedanken seinen Kronjuwelen einen Besuch abzustatten, als der Typ plötzlich von mir weggezogen wird.

Er taumelt etwas, was wohl am Alkohol liegt.

Doch zu meinem Entsetzen ist mein Retter Jason.

Erst streift er mich mit einem prüfenden Blick von unten herauf bevor er sich zu dem Typen dreht und in seinen Augen glaube ich schon sowas wie Funken zu sehen. Er tritt so dicht an den anderen Kerl heran, sodass sich die beiden wegen derselben Größe an der Nasenspitze berühren. Jason sieht mehr als nur wütend aus. Seine ballenden Fäusten sprechen mehr als Worte. Ich habe schon Angst, dass er den Typen schlägt, als er ihn zu meiner Verwunderung nur nach draußen schleift. Dabei sehe ich, dass ihn die rothaarige Kellnerin von vorhin folgt. Sie scheint auf ihn einzureden, doch von ihm kommt nur ein Kopfschütteln.

Ich stehe leicht verwirrt etwas rum, als ich merke, dass ich andere nur beim Tanzen behindere. Seufzend schreite ich zum Ausgang.

Ich muss mich wohl oder übel bei ihm bedanken.

Mit aller Mühe quetsche ich mich durch die Leute hindurch. Einmal fühle ich wie eine Hand „zufälligerweise“ meinen Hintern streift, doch ich beschließe es zu ignorieren.

Unter den ganzen Leuten glaube ich für einen Moment diesen Marc zu sehen, doch ich muss mich wohl täuschen. Ich versuche genauer hinzusehen, doch ein großes Mädchen läuft genau in dem Moment vor mir vorbei und als sie weg ist, ist auch er weg.

Endlich erreiche ich den Ausgang und finde Jason und den Typen bei den Securityleuten. In dem Moment klopft einer von ihnen Jason beruhigend auf die Schulter. Und ich kann die Geste auch nur zu verstehen. Jason sieht aus als würde er in jedem Moment auf den anderen Typen losgehen. Ich schlucke trocken, weil ich an die ganzen Artikeln über ihn denken muss.

Jason als Hobbyschläger. So haben sie ihn alle bezeichnet.

Aber so ein Mensch kann er doch nicht sein?

Die rothaarige Kellnerin steht direkt hinter Jason und umgreift in dem Moment seinen Arm. Erleichtert sehe ich wie er dem Anderen den Rücken zuwendet, doch er blickt nicht mich an, sondern diese Rothaarige vor ihm.

Aber ich stehe auch noch etwas weiter entfernt. Die Frau nutzt den Moment aus, um ihre Arme um seinen Nacken zu schlingen und lächelnd auf ihn einzureden. Er lächelt leicht, was aber kläglich in eine Grimasse endet.

Unschlüssig darüber, ob ich zu ihm hingehen soll oder nicht, beiße ich mir auf die Unterlippe. Doch die Entscheidung nimmt Jason mir ab, als er von der Schönheit vor ihm zu mir blickt.

Sein Lächeln à la Grimasse zerfällt augenblicklich. Ich werfe mein Vorhaben fast im selben Moment über Bord und drehe mich abrupt um.

Du Idiot! Es ist sein Job solche Leute rauszuschmeißen. Da brauchst du dich nicht extra zu entschuldigen!

Stur laufe ich durch die Masse von Menschen ohne ein wirkliches Ziel vor Auge. Ich weiß selbst nicht, was gerade mit mir los ist. Das Gefühl, was sich in mir breit macht, kann ich nicht definieren, doch ich will, dass es verschwindet.

Entschlossen trete ich an die Bar und bestelle mir diesen berühmten Drink namens Hurricane, von dem hier alle so schwärmen. Die Flüssigkeit fließt durch meine Kehle und hinterlässt eine brennende Spur, doch gleichzeitig betäubt sie leicht dieses komische neue Gefühl, das ich loswerden will.

„Silver!“, höre ich jemanden durch die Musik rufen, doch ich ignoriere diese erstmal. Erneut setze ich das Glas an und trinke es aus bevor ich mich umdrehe. 

Am liebsten hätte ich mich wieder zurück gedreht.

Doch diese aschschwarzen Augen fesseln mich derart mit einem Blick, sodass mir nichts übrig bleibt als diesen zu erwidern und die aufkommende Gänsehaut zu ignorieren.

„So schnell sieht man sich wieder“, kommt es mit einem anzüglichen Grinsen von meinem Gegenüber.

Im nächsten Atemzug merke ich bereits wie der Alkohol wirkt und bin in dem Moment unheimlich dankbar dafür.

„Ja“, erwidere ich knapp und lächele leicht, um ihm nicht den Eindruck zu geben, dass ich mich gerade unwohl fühle. Denn das tue ich.

„Und noch was: Halt dich von diesem Marc fern.“, hallt eine Stimme in meinem Kopf.

„Lass uns tanzen.“ Bei den Worten berührt er meinen Arm und fast wäre ich zusammengezuckt. Mit aller Mühe suche ich nach einer plausiblen Ausrede, um nicht mit dem unheimlichen Marc tanzen zu müssen, doch anscheinend hat der Alkohol nicht nur meine Gefühle, sondern auch mein Gehirn betäubt.

Bevor ich etwas erwidern kann, werde ich im nächsten Moment auch schon auf die Tanzfläche gezogen.

Hoffnungsvoll schweift mein Blick dabei suchend durch den Raum, um einen meiner Leute zu finden, doch stattdessen sehe ich nur eine Meute von fremden Menschen.

Marcs Hand rutscht augenblicklich tiefer und ruht schließlich auf meiner Hüfte. Gerade will er mich näher zu sich ziehen, als plötzlich ein neues Lied eintritt und das viel zu langsame Lied ablöst.

Und endlich setzt der Beat ein und ich fange an wie verrückt zu tanzen. Dabei entferne ich mich geschickt aus der gefährlichen Nähe meines Gegenübers.

Ich habe förmlich das Gefühl, dass er eine Art unheimliche Aura mit sich schleppt, denn ich fühle mich so unbehaglich bei ihm.

Auch er tanzt. Und wie.

Eins muss ich diesem Typen lassen: Er verwirrt mich total. Auf der einen Seite möchte ich weg von ihm, aber dann ist wieder dieses Faszinierende an ihm, das ich nicht erklären kann.

Zum Glück nähert er sich während der nächsten drei Lieder nicht. Wir tanzen nur. Dabei spüre ich konstant seinen Blick, doch wage es nicht ihn zu erwidern und wenn nur ganz kurz. Diese Augen sind eindeutig zu gefährlich.

Was Jason sagen würde, wenn er mich mit Marc so sieht?

Die ganze Zeit über habe ich keinen entdeckt außer Zen und Seth. Ich frage mich langsam, was Liz oder Tyler machen.

„Komm, ich hol uns etwas zu trinken.“ Das ist kein Vorschlag gewesen, sondern ein Befehl. Also nicke ich nur leicht.

 Plötzlich habe ich die Idee.

Marc ist schon dabei sich in Richtung Bar umzudrehen, als ich ihn an der Schulter festhalte und mich näher zu ihm beuge.

„Ich muss mal ins Bad“, brülle ich durch die Musik hindurch.

Einen Augenblick lang blickt er mich stumm an bevor er dann nickt.

Die ersten Schritte durch die Partymasse zu den Toiletten mache ich gezwungenermaßen langsam, doch spätestens dann wo ich das Gefühl habe, dass er mich nicht mehr sehen kann, rase ich förmlich. Dabei glaube ich jemanden mit einem Drink unsanft angerempelt zu haben, doch derjenige wird schon damit fertig werden.

Ich stöhne auf, als ich die Schlange vor den Damentoiletten entdecke und stelle mich missmutig dazu.

„Silver!“, ertönt Chris‘s Stimme plötzlich von hinten und beinahe lasse ich mein Handy fallen, das ich gerade raushole.

„Arbeitest du?“, frage ich den Riesen, der mit weißem Hemd und schwarzer Hose vor mir steht, und lächele erleichtert, weil ich endlich jemanden gefunden habe, den ich kenne.  

„Meine Schicht ist vorüber“, grinst er nur und blickt dann über meine Schulter hinweg. „Das hier dauert wohl noch einen Moment. Ich warte draußen auf dich.“

Der Blonde zwinkert mir noch keck zu ehe er sich umdreht.

Nach einer Ewigkeit - so kommt es mir vor - komme ich dran. Als ich vor dem Spiegel stehe, kämme ich mir mit meiner rechten Hand etwas die Haare. Den Ausschnitt an der Schulter rücke ich zurück und hoffe insgeheim, dass Liz nichts bemerkt. Aber dazu müsste sie mich erst sehen. Ich beschließe ihr eine Nachricht zu schreiben, dass sie mich suchen soll, wenn sie nicht gerade zu beschäftigt ist. Der Grund dafür muss ich gar nicht erst erwähnen.

 

 

„Ihr Frauen, echt. Duscht ihr immer gleich auf der Toilette oder warum dauert das immer?“, ist das Erste, was von Chris kommt, als ich von den Toiletten zurückkomme.

Ich will gerade etwas darauf kontern, als mir einfällt, warum ich mich überhaupt hierhin begeben habe.

„Komm“, sage ich nur und ziehe den blonden Riesen mit mir mit.

„Aber wohin?“, fragt dieser sichtlich verwirrt.

„Ich brauche etwas frische Luft“, erwidere ich nur und steuere geradewegs zum Balkon.

Hier sind nur wenige Leute, denn gerade läuft echt gute Musik innen.

Die meisten sind am Rauchen und in der Ecke steht ein knutschendes Pärchen. Da das Mädchen dunkelhaarig ist sowie ich, kann ich gleich ausschließen, dass es sich hierbei um Liz handelt. Der Junge hat mir halb den Rücken zu gewandt. Irgendwie kommt mir seine Statur bekannt vor.

„Wie geht es dir?“, fragt mich Chris, als wir uns am Balkonrand anlehnen. Ich atme gierig die kalte Luft ein. Dabei bewundere ich die tausend Lichter der Hochhäuser und Straßen, die das Nachtleben Hamburgs darstellen.

„Gut.“

„Das ist gut. Hör zu…“, setzt er plötzlich ernst an, sodass ich ihn ansehe.

„…das beim Training tut mir wirklich…“ Weiter kommt er nicht, denn ich habe ihn meine Hand vor sein Mundwerk gelegt.

Ich schüttele lächelnd den Kopf. „Es ist nicht deine Schuld wie gesagt. Und ehrlich gesagt denke ich, dass es früher oder später eh dazu gekommen wäre.“

Einen Moment lang sieht es so aus, als würde Chris mit sich ringen, doch er nickt schließlich, sodass ich die Hand wieder runternehme.

„Ziemlich viel los“, stelle ich mit einem Blick nach innen fest.

„Ja man. Deswegen war es auch so schwer dich zu finden“, murmelt Chris etwas unverständlich. Etwas verwundert blicke ich ihn daraufhin an.

„Du hast mich gesucht?“

„Ne… a-also ich habe dich kurz gesehen. Ja und dann wollte ich dir hinterher, doch du… warst so schnell wieder weg."

Wahrscheinlich war es da, wo ich kurz davor war mich bei Jason zu bedanken. Oder?

„Achso“, murmele ich ausweichend und drehe mich wieder der Stadt zu. Frustriert merke ich wieder, wie dieses bedrückende Gefühl sich wieder in mir ausbreitet und ich frage mich ernsthaft, ob ich nicht heute etwas Falsches gegessen habe.

 

 

„Wollen wir wieder reingehen? Hier ist es ja schön kühl und alles, aber ich brauche jetzt echt einen Drink.“, schlägt Chris lächelnd vor, doch ich schüttele vehement den Kopf. Auf keinen Fall will ich nochmal in die Arme von diesem Marc laufen.

„Geh du. Ich bleibe hier noch eine Weile“, erwidere ich nur und wende mich wieder den Wolkenkratzer zu. In dem Moment kommt eine Nachricht von Liz in der steht, dass ich an die Bar gehen soll. Sie sei noch bei Philip und ich soll kommen, damit er mich seinen Kumpels vorstellen kann.

Missmutig stecke ich mein Handy wieder ein und fahre mir seufzend durch die Haare.

„Alles okay?“ Ich zucke augenblicklich zusammen und blicke erschrocken in Chris´s besorgtes Gesicht.

„Du bist ja immer noch hier“, stelle ich tonlos fest. „Ich dachte, du wärst schon gegangen.“

Als Antwort schüttelt er kurz den Kopf. „Nein, ich kann dich nicht alleine lassen.“

Überrascht hebe ich meine Augenbrauen. „Ach, bist du jetzt mein Aufpasser geworden?“, necke ich ihn und stoße ihn mit meinem Ellenbogen freundschaftlich in die Seite, doch seine Miene wird plötzlich ernsthaft.

„Das kann man so sagen“, murmelt er zu meiner Verwunderung. Dann schaut er sich unauffällig um ehe er mich in eine Ecke zieht.

„Hör zu, ich weiß, dass das jetzt total aus dem Zusammenhang gerissen klingt, doch ich brauche deine Hilfe", meint Chris plötzlich und ich warte immer noch auf den Moment, wo er mir sagt, dass alles nur ein Scherz ist.

„Wobei?“

Wieder schaut er über meine Schulter hinweg ehe er mir in die Augen blickt.

„Jason steckt in Schwierigkeiten.“

 

 

Meine Mimik verselbständigt sich. Ein nach Luft schnappender Mund und geweitete Augen.

„Was?“

Fakt ist, dass Jason vor knapp einer halben Stunde noch MEIN Problem beseitigt hat. Was für eins könnte ER denn haben?

Chris blickt mich zweifelnd an. Als würde er es im gleichen Moment bereuen es ausgesprochen zu haben. Ich ziehe skeptisch meine Augenbrauen zusammen und zwinge mich zur Ruhe. „Führ das mal bitte weiter aus. Und überhaupt: Warum erzählst du ausgerechnet mir das?“

Fast glaube ich schon Erleichterung und ein Funke Hoffnung in den grünen Augen, die konstant auf mir liegen, zu sehen, als er sich dann nachdenklich durch die Haare fährt.

„Weil du die Einzige bist, die ihn davon abhalten kann.“ Er schluckt trocken und schließt für einen Moment die Augen, so als würde es schon wehtun mit mir zu reden.

„Vor was?“, hake ich ungeduldig nach. Nicht nur, dass ich mir gerade mein Hirn darüber zermalme, um zu begreifen, was das alles hier auf sich hat. Nein, auch der Alkohol bereitet mir ein unangenehmes Pochen gegen meinen Schädel.

„Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist. Er… er zieht nur noch sein Ding durch! Und ich weiß, dass es schief gehen wird! Genau wie damals! Silver, ich weiß, du kannst dich nicht mehr daran erinnern, aber du bist der Grund, warum Jason… heute überhaupt noch am Leben ist.“

Ungläubig reiße ich die Augen auf. „Was…“, schießt es aus mir heraus, doch werde sofort von Chris unterbrochen.

„Das tut es jetzt nicht zur Sache. Ich erzähle es dir ein anderes Mal. Naja, vorausgesetzt, dass Jason mich nicht erwürgt und über eine Brücke schmeißt, wenn er das hier erfährt… Jedenfalls. Ich mache das kurz. Dieser Marc. Er ist ein übler Verbrecher. Nein, er ist mehr als das. Doch das Schlimmste ist, dass er versucht Jason als Werkzeug zu benutzen. Er hat Jason etwas versprochen, was er mit Sicherheit nicht einhalten wird, doch es geht um dich weswegen Jason eingewilligt hat und Silver, wenn du ihn nicht aufhältst, wird es übel für ihn enden. Wirklich übel.“ Der Blonde ringt nach Atem, nachdem er ohne Punkt und Komma geredet hat und die Falte auf meiner Stirn wird tiefer.

„Okaaay. Und wie stellst du dir das vor? Wobei ich immer noch Bahnhof verstehe nebenbei. Warum gibt er sich mit diesem Marc ab, wenn es doch so klar ist, dass dieser so übel ist? Warum hält Jason mich von ihm fern, aber er selbst tut es nicht?!“

Mit jeder Frage wird meine Stimme lauter.

Verzweifelter.

Wütender.

Chris legt beruhigend beide Hände auf meine Schulter und wirft wieder ein Blick über meine Schulter.

„Das ist wie der Teufelskreis.“ Traurig schüttelt er leicht seinen Kopf und seine Schulter sacken tiefer runter. „Ist man einmal drin, so kommt man nicht mehr raus. Vielleicht mit einem ultimativen Mittel, auf das ich aber noch nicht gekommen bin. Es tut mir so leid, dass ich dich damit so überfalle, aber ich weiß ihm nicht mehr zu helfen. Nicht ohne dich. Der einzige Weg, wie du ihn vor seinem eigenen Abgrund rettest, ist dass du… naja dich wieder erinnerst.“

„Tut mir leid, aber ich habe mir diese Amnesie nicht herbestellt. Ein Rückgaberecht fällt somit aus.“ Meine Stimme trieft nur vor Sarkasmus.

Chris jedoch verdreht nur seine Augen. „Nein, das meinte ich nicht. Du solltest nur so tun, als ob.“

Ich kann nicht verhindern, dass mein Kinn herunterklappt. Ist das etwa sein verdammter Ernst?

„Ich werde dir natürlich dabei helfen. Erstmal werde ich dir so gut wie es geht deine und Jasons Vergangenheit schildern. Und… naja der Rest wäre nur noch, dass du ihn davon abhältst auf diesen Marc zu hören. Dass du eure Vergangenheit vergessen hast ist das Motiv, warum Marc Jason in der Hand hat. Das kann ich nicht zulassen. Und du auch nicht.“

Obwohl in meinem Kopf tausend andere Fragen schwirren, schiebe ich sie beiseite. Denn aus dem Augenwinkel erkenne ich nun, wer der Typ ist, der da mit dem mir ähnlichen Mädchen in der Ecke steht. Auch er hat mich entdeckt.

Und da ist mir klar, dass ich keine Zeit mehr habe für weitere Fragen.

 Zumindest nicht jetzt.

 

Ich brauche auch nur eine. Die Entscheidenste.

 

Mein Blick huscht wieder zum blonden Kerl vor mir. Nervös beiße ich mir auf die Unterlippe bevor ich zögernd die nächste Frage stelle:

„Liebe ich… ich meine… habe ich Jason geliebt?“

Ich weiß. Es ist dumm von mir jemanden so eine Frage zu stellen, den ich praktisch kaum kenne, doch ich weiß einfach, dass Chris mir die Wahrheit sagen würde.

„Ja, das hast du.“ Ein jungenhaftes Grinsen schleicht sich durch seine angespannten Gesichtszüge hindurch.

„Und wie du es getan hast.“

 

 

 

Ich erwidere sein entwaffnetes Lächeln, obgleich ich nicht weiß wieso ich es tue. 

Vielleicht aus dem Grund, dass ich etwas über mein Leben erfahren habe. Ein Stück Wahrheit. Ein Stück Ich.

Ich liebte Jason.

Oder auch aus dem Grund, dass ich nun das Gefühl habe, gebraucht zu werden. Mal was anderes als diese bisherige orientierlose Suche zurück in mein Leben.

Ich liebte Jason.

Dieser für mich bedeutende Moment verstreicht binnen Sekunden, als eine rauchige, tiefe Stimme in mein Ohr lallt.

Etwas irritiert blicke ich in das Gesicht meines besten Freundes, an dessen Arm das Mädchen noch hängt. Ihr Blick spricht Bände und ich bin mir sicher, dass wir nie Freundinnen werden.

„Tyler“ Der stechende Geruch von Alkohol geht von ihm aus und instinktiv kräusele ich meine Nase. Seine Haltung ist anders. Etwas schief, krumm und vor allem wankend. Er steht notbedürftig auf beiden Beinen.

Dennoch verspüre ich nicht den Drang ihn zu stützen. Ob es an dem feindlichen Blick des dunkelhaarigen Mädchen neben ihm liegt oder aus meiner vorherigen Beobachtung, dass diese Lippen, die tonlos und scheinbar verzweifelt nach Worten zu suchen scheinen, noch vor Kurzem auf ihren lagen.

„Silver...“ Schwankend schreitet er einen Schritt zu mir nach vorne, hinterlässt dabei den klammernden Arm, und streckt nun seine Arme nach mir aus.

Aus dem Augenwinkel nehme ich die reflexartige Bewegung von Chris wahr, der mit einem Mal dicht neben mir steht. Doch er rührt sich nicht weiter, als ich die Arme meines betrunkenen Freundes ergreife, die mich sonst zu erdrücken drohen. Ich werfe Chris einen Blick, der sowas wie Ich-werde-schon-alleine-mit-dem-Betrunkenen-hier-fertig sagen soll.

„Du bist betrunken“, sage ich, obwohl es überflüssig ist. Ich lege seinen linken Arm über die Schulter und stütze ihn, indem ich meinen rechten Arm um seine Hüfte lege.

Mit einem entschuldigenden Blick verabschiede ich mich von Chris, der es widerwillig zulässt, aber nicht ohne mir vorher ins Ohr zu raunen, dass wir noch reden werden.

 

 

Schnaufend lasse ich mich auf einen der Bänke hier draußen nieder und löse die Arme von Tyler von mir, der mich durch halb geöffnete Lider pausenlos ansieht.

„Was machst du nur?“, stoße ich verärgert aus während ich ihm sein Hemd zu knöpfe, das bis zur Mitte offen steht. Er soll sich ja nicht erkälten.

Träge senkt dieser seinen Kopf bis wir auf derselben Augenhöhe sind. Als ich hochblicke, sehe ich in ozeanblaue Augen, die mich reuevoll ansehen.

„Es war zu schön, um wahr zu sein“, flüstert Tyler plötzlich leicht lallend.

„Was?“

„Sie war nicht du. Es wäre zu schön gewesen.“ Diesmal sieht er mich nicht mehr an, sondern sein Blick senkt sich auf meine Lippen. Unvermittelt ziehe ich die Luft ein.

„Du hast gedacht, ich wäre sie?“, frage ich geschockt und unbewusst habe ich meiner Stimme einen anklagenden Ton beigemischt.

Anstatt einer Antwort nickt er zögernd, träge und lange. So als würde er sich noch selbst überzeugen  müssen.

„Wieso?“ Es war kaum ein Hauchen, doch an Tylers Blick, der wieder meinen Augen gilt, weiß ich, dass er es trotzdem gehört hat.

„Weil du das bist, was ich schon immer wollte und doch nie kriegen werde.“

Und dann senken sich seine Lippen auf meine.

 

 

Kapitel 30

 

Wut und Verwirrung.

Das ist alles, was ich in diesem Moment fühle.

Wut.. wieso? Unbekannt.

Verwirrung.. warum? Na wegen der anwesenden Wut, was sonst?

Verwirrt durch meinen Gedankengang schüttele ich den Kopf und breche dadurch den Kuss ab. Sofort bereue ich die unbewusste Geste, denn ozeanblaue Augen blicken mich verletzt an. Sie wirken etwas glasig, nicht klar wie sie es sonst sind, was wahrscheinlich an dem Zeug, was auch immer Tyler zu sich genommen hat, liegt. Doch sie schaffen es nicht seine Gefühle zu verbergen.

War das nicht genau das, was ich mir ewig gewünscht hatte? Wonach ich mich heimlich gesehnt hatte? 

Und jetzt passiert es und ich...

„Tyler, ich…“                 

„Nein, lass es“, unterbricht er mich scharf, sodass ich unwillkürlich zusammenzucke. Seine Stimme wackelt, aber sie klingt kalt.

Und so verstreichen einige Minuten, wo wir beide nichts sagen und Tyler sich ein paar Mal mit einer Hand über das Gesicht reibt.

Plötzlich weiten sich meine Augen. Ein eiskalter Schauer läuft mir über die Rücken während ich nicht zu glauben wage, dass die Stimme meines besten Freundes wie eine bestimmte…

Nein, das darf nicht sein!

„Du warst es“, stelle ich tonlos fest. Warum ist es mir nicht vorher aufgefallen?!

Ist es doch, widerspricht mir meine innere Stimme, du hast es nur zu gut verdrängt.

„Was?“ Trotz seinem wütenden und finsteren Ausdruck wartet er auf meine Reaktion ab, denn ich scheine ihn etwas zu verwirren.

Wortlos krame ich mein Handy hervor. Ich habe die Nachricht nicht gelöscht und halte nun das Handy zwischen uns während ich es abspiele. Dabei blicke ich Tyler direkt an.

„Hey, Silver wo zum Teufel bist du? Ich muss mit dir reden. Ja, ich weiß, dass das scheiße von mir war, aber ich hatte keine Wahl! Und du hast mir nicht die ganze Wahrheit gesagt. Man Silver, ich komme mir richtig dumm vor. Deine Mutter weiß auch nicht wo du bist. Ruf verdammt nochmal zurück!“

Zuerst senkt sich sein Blick auf das Handy. Als die ersten Sätze ausgesprochen sind, hebt sich ruckartig sein Blick. Seine Augen vergrößern sich - wenn auch nur für eine Sekunde - bevor er schluckt und wieder die kalte Miene aufsetzt.

„Ich weiß nicht, was du mir damit sagen willst“, ist seine Reaktion darauf.

Ich lächele schwach.

Vor unendlicher Enttäuschung.

Denn als ich eben die Stimme auf der Mailbox nochmal gehört habe, war es für mich nun die volle Bestätigung für das, was ich mir nicht hätte im Traum vorstellen können.

„Warum?“ Meine Stimme klingt fester, als ich es erwartet hätte. Denn innerlich spüre ich wie mein Herz etlich Risse bekommt.

„Warum, Tyler?“, frage ich diesmal lauter, als immer noch keine Reaktion von ihm kommt. Das Pochen in meinem Schädel ignoriere ich.

Er blickt mich ausdrucklos an, doch ich sehe wie es in seinem Kopf arbeitet. Und zwar auf eine Antwort hinaus.

„Warum hast du gesagt, du kennst mich nicht? Ich dachte, du bist mein Freund! Und dann tauchst du auf und tust so als wäre alles beim Alten? Ich will wissen, was das hier zu bedeuten hat. Scheiße Tyler, ist das etwa hier ein Spiel?!“, keife ich ihn ungehalten an, denn die anfängliche Enttäuschung weicht der wachsenden Wut, die ich nicht zu bändigen schaffe.

Wieder schluckt Tyler. „Du hast Recht“, erwidert er und blickt mir dabei direkt ins Gesicht.

„Ich habe es gesagt, weil ich nichts mehr mit dir zu tun haben wollte. Wir haben uns vor deinem Unfall heftig gestritten. Ich konnte dich da nicht ertragen.“

„Ich dachte, du liebst mich“, murmele ich ironisch und versuche meine aufsteigenden Gefühle mit geballten Fäusten zu bändigen.

Tyler bricht den Augenkontakt ab, indem er sich seufzend über das Gesicht reibt.

„Du willst also die ganze Wahrheit?! Schön.“ Den Worten folgt ein verächtliches Schnauben. „Ich habe dich schon lange bevor du oder überhaupt ich es gemerkt habe geliebt. Cindy war es, die es mir gesagt hat. Ich wollte ihr nicht glauben, doch auch ich sah es irgendwann ein.“

Er schüttelt den Kopf ehe er mir wieder in die Augen blickt. Seine Augen wirken aufeinmal nicht mehr glasig.

„Ich habe alles für dich getan, Silver. Du warst meine beste Freundin, meine Seelenverwandte, die ich brauchte und liebte. Das Zweite hatte mir aber Angst gemacht. Unsere Freundschaft war mir am wichtigsten. Ich habe Jahre gebraucht bis ich bereit war diese für die Liebe zu riskieren. Ich war mir so sicher, dass du dasselbe fühlst. Deswegen habe ich dir an dem Tag, an dem du danach den Unfall hattest, meine Liebe gestanden. Aber du hattest Angst um unsere Freundschaft und… ich weiß eigentlich immer noch nicht, was du mir da sagen wolltest, aber du bist einfach weggegangen und hast mir damit das Herz gebrochen, Silver. Deswegen das alles.“

Ich schlucke trocken.

"Deswegen warst du nicht auf der Party, nicht wahr? Du wusstest nicht, wo ich war."

"Ich war kurz auf der Party, um dich zu suchen, aber dann dachte ich, du wärst woanders und bin gegangen. Als das Feuer begann, war ich nicht weit weg."

„Aber du sagtest in der Nachricht auch noch andere Dinge, die ich nicht verstehe.“

Daraufhin nickt Tyler nur. „Ja, mit „scheiße“ meine ich mein Geständnis, mit dem ich dich so überfallen habe und mit der Wahrheit naja… ich bin mir sicher, dass du mir in dem Moment nicht gesagt, was du wirklich fühlst.“

Aber ich liebte Jason. War das nicht so?

Aber Tyler behauptet doch, ich würde für ihn das Gleiche empfinden.

Plötzlich nimmt Tyler meine Hände in seine, wobei meine Fäuste sich langsam lösen.

„Das alles spielt keine Rolle mehr. Ich bin bereit neue Erinnerungen mit dir zu machen. Denn ich liebe dich und das ist alles, was zählt.“

„Alles, was zählt?“, greife ich seine Worte fassungslos auf.

„Was ist mit mir? Mit meinen Gefühlen? Und ich kann es nicht fassen, was du mir auf meinen Anruf nach dem Unfall gesagt hast. Du hast mich aufgegeben. Wegen einem Streit? Weil ich dir das Herz gebrochen habe? Ich hatte verdammt nochmal einen Unfall und alles vergessen! Meine bleibenden Erinnerungen helfen mir nicht sonderlich weiter. Und sie besteht sowieso ausschließlich von unserer Zeit zu dritt, aber das war die Kindheit. Ansonsten ist da meine Familie. Verstehst du, was ich dir sagen will?!“

„Es tut mir leid! Jeder macht mal Fehler, okay?! Ich wünschte, ich würde auch vergessen können wie du. Ich will vergessen, wie es sich anfühlt, wenn einem das Herz gebrochen wird, denn weißt du…“

„Du hast doch überhaupt keine Ahnung! Denkst du, ich habe mir das hier gewünscht?!“, schreie ich ihn verletzt an und stehe dabei ruckartig auf. Tyler tut es mir sofort nach und blickt sich kurz um. Dadurch, dass sich meine Stimme erhoben hat, haben sich ein paar Leute auf dem Balkon hier zu uns umgedreht, aber das ist mir gerade sowas von egal.

Tyler macht einen Schritt auf mich zu, doch ich weiche zurück.

„Du hast keine Ahnung, wie scheiße das alles ist. Aber von allen Menschen, Tyler, hätte ich nicht gedacht, dass du im Stich gelassen hast.“

Mit den Worten lasse ich den betroffenen Tyler stehen und rausche an ihm vorbei. Während ich mich wieder nach innen durch die Menge kämpfe, beiße ich meine Zähne so fest aufeinander wie ich es nur kann, nur um die aufsteigenden Tränen zu verhindern. Ich stoße so oft gegen irgendwelche Personen, dass ich mir sicher bin, dass meine Schultern morgen nur mit blauen Flecken übersät sein werden, doch nicht mal der physische Schmerz lindert die Risse, die drohen mein Herz auseinander zu nehmen.

Von allen Menschen von ausgerechnet ihm enttäuscht zu werden. Ich glaube in dem Moment verliere ich wirklich meinen Halt. Ich weiß einfach gar nichts mehr.

Und doch schafft der physische Schmerz es, dass ich aus meiner Gedankentrance aufwache und realisiere, dass ich gerade volle Kanne gegen jemanden gelaufen bin.

Ich blicke einer roten Mähne entgegen. Als sich die Person umdreht, erkenne ich diese Kellnerin.

Sie sieht zuerst verärgert aus, doch mustert mich daraufhin fraglich.

Dann sehe ich plötzlich, dass Jason hinter ihr steht. Naja eigentlich vor ihr. Bis ich eben reingeknallt bin.

„Tschuldige“, bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähne hervor und will mich weiter durchkämpfen, als eine Hand plötzlich meinen Arm umfasst und ich zurück gezerrt werde.

Ich spüre den stechenden Schmerz, der von meiner Schulter aus durch meinen Körper zuckt, während ich wütend herum fahre und in Jasons Gesicht blicke. Alles, aber nicht das. Ich will ihn anschreien. Ihn fertig machen, dass er es wagt mir meinen Abgang zu versauen. Doch stattdessen sehe ich in sein betroffenes Gesicht und ausgerechnet jetzt läuft mir die erste Träne über die Wange.

Plötzlich verhärtet sich seine Miene. Er dreht sich zu der Rothaarigen um, lässt aber meinen Arm nicht los.

„Entschuldige. Ich muss mich wohl um eine Kundin hier kümmern. Halt bitte die Stellung, Felicitas.“

 

Daraufhin werde ich von ihm einfach mitgeschleift.

 

 

 

 

Anders als ich schafft Jason es sich geschickter durch die Leute zu schlängeln. Zudem ist es ziemlich vorteilhaft hinter ihm zu laufen, denn seine breiten Schultern teilen die Menschen auseinander und ich komme zu keinen weiteren Körperkontakt mehr. Bis auf einen.

Ich starre wie gebannt auf seine große Hand, die gänzlich meine umschließt. Dann folgt mein Blick seinem Arm, der von dem hochgekrempelten weißen Hemd, das er trägt, frei gelegt ist. Seine Muskeln sind angespannt, doch sein Gang wirkt nicht gehetzt. Eher gemächlich und überlegt.

Ich löse meinen Blick von ihm und schaue mich um. Doch ich kann einfach niemanden aus der Menge hier ausmachen. Schon gar nicht, wenn fast alle Frauen hier in Highheels rumlaufen und mir somit komplett die Sicht versperren.

Verdammt, wo steckt nur Liz?!

Sogar nach diesem Marc halte ich Ausschau.

Er sollte Jason und mich nicht zusammen sehen, oder?

Ich verkneife es mir Jason jetzt danach zu fragen, stattdessen lasse ich mich durch die Gegend schleifen und so langsam verliere ich ganz die Orientierung. Die Bar ist sowieso schon nicht gerade klein und dann noch diese Masse an Menschen.

Und plötzlich wirken die Räumlichkeiten kleiner, schmaler.

Wir laufen durch einen Flur entlang, wo nur noch vereinzelt Paare verteilt sind, die aussehen, als würde der eine den anderen verschlingen wollen, aber ansonsten eben ein ganz stinknormaler Flur.

„Ist das hier ein Geheimgang zum Bordell?“ Die Worte verlassen meine Lippen noch bevor ich groß darüber nachdenken kann. Ich beiße mir auf die Lippe und warte auf Jasons Reaktion ab, doch stattdessen macht er eine Kurve und wir erreichen einen weiteren Gang.

Im nächsten Moment bleibt er so abrupt stehen, dass ich gegen ihn laufe. Erschrocken halte ich mir die freie Hand vor das Gesicht, doch kurz darauf macht er kurzerhand eine Tür vor ihm auf und zieht mich hinein.

Ich höre wie die Tür ins Schloss fällt und dann geht das Licht an.

In dem Raum entdecke ich Unmengen an Kleidung und auch sonst deuten die Möbel auf eine Art Garderobe und Aufenthaltsraum an.

Als ich meine Erkundungstour mit meinen Augen abgeschlossen habe, drehe ich mich zu Jason um, der neben mir steht und immer noch meine Hand hält.

Er blickt mich mit keinerlei Ausdruck im Gesicht an und doch habe ich das Gefühl, das sein Blick mein ganzes Gesicht abtastet.

„Wieso hast du mich hierher gebracht?“, höre ich mich selber fragen.

Ich halte erschrocken die Luft an, als sich der Druck auf meiner Hand verstärkt und Jason einen Schritt nach vorne macht bis meine Brust leicht seine berührt.

Seine Lider senken sich leicht, denn er muss aufgrund seiner Größe den Blick senken. Die plötzliche Wärme, die von seinem ganzen Körper aus geht, und dann seine eisblauen Augen bringen mich ganz durcheinander. Nebenbei pocht es in meinem Kopf immer noch erbarmungslos.

Ich hätte die Finger vom Alkohol lassen sollen.

Andererseits: Es war nur ein Drink!

„Was hat das mit Marc auf sich?“, fragt er mich aus heiterem Himmel und ich blinzele verwirrt.

„Was meinst du?“

„Ich habe gesehen wie du mit ihm getanzt hast“, erklärt er mir finster.

„Ist das etwa verboten?“, erwidere ich mit herausfordernder Stimme. Doch ich hätte es sein lassen sollen, denn im nächsten Moment spüre ich die kalte Wand in meinem Rücken und vor mir steht ein Jason, der gleich zu explodieren droht.

Welch ein Déjà-vu.

„Du hast mir ein Versprechen gegeben, Kleines“, sagt er mit einer äußerst gefährlich ruhigen Stimme. „Was mache ich jetzt nur mit dir?“

Was denkt der sich eigentlich?!

Vorwurfsvoll sehe ich ihn mit verkniffenen Augen an.

„Glaubst du etwa, ich habe es freiwillig getan? Um ehrlich zu sein, weiß ich selbst nicht, warum ich es getan habe. Ich hatte einen Drink.. Wahrscheinlich lag es am Alkohol... und.. er hat mich einfach auf die Tanzfläche gezogen. Aber, Jason, ich. wollte. es. wirklich. nicht.“ Ich senke schluckend den Blick.

„Er macht mir Angst“, füge ich leise hinzu. Ich fühle mich aufeinmal wie ein kleines Kind, das jemandem gesteht, dass es Angst vor dem Schwarzen Mann hat.  

Plötzlich fühle ich wie seine Finger mein Kinn anheben, sodass ich gezwungen bin, ihm wieder in die Augen zu schauen, die mich nun verständnisvoll anblicken. Doch seine Faust, die neben mir an der Wand ruht, verrät dennoch, dass es ihn stört.

„Ist schon gut. Tut mir leid, dass ich so reagiere. Das sieht dem Kerl ähnlich. Ich dachte… ich will nur nicht, dass du in irgendeiner Weise mit ihm zu tun hast, das weißt du“, sagt er mit aufrichtiger Stimme und ich sehe ihn fragend an.

„Ja, das weiß ich. Nur nicht warum. Und sollte ich mich nicht auch von dir fern halten? Warum sind wir dann hier?“

Für einen Wimpernschlag sehe ich wie seine Mundwinkel zucken und ein Lächeln andeuten, doch es ging zu schnell.

„Du hast gelernt. Das freut mich.“ Seine Finger geben mein Kinn frei.

„Das hier ist auch nur eine Ausnahme. Du sahst aufgewühlt aus, ich will gar nicht wissen, wohin du vorhin stürmen wolltest. Ich tippe mal auf dich betrinken und ich will schließlich keine Teenager in meiner Bar, die sich ihre Gefühle wegtrinken. Also: Was hast du?“

Ich blicke ihn verständnislos an.

„Spielst du jetzt etwa den Psychologen?“, erwidere ich genervt und sehe daraufhin wie ein schiefes Lächeln auf seinem Gesicht erscheint.

„Nein, nur den Barkeeper, der sich oft die Probleme anderer anhören muss.“

„Ahja.“

„Ja. Und meine Ratschläge sind tausendmal mehr wert als die eines verklemmten Psychologen. Ich habe immerhin wirklich gelebt“, setzt er seine Selbstwerbung weiter fort und schaut mich abwartend an.

Doch mir ist nicht zum Scherzen zumute. Auch wenn mir dieser Jason viel lieber ist als der finstere. Ich senke erschöpft meine Schultern und schließlich meinen Blick.

„Ich glaube, mir kann keiner helfen. Schon gar nicht irgendwelche Ratschläge“, sage ich leise und schlinge meine Arme um mich.

Ich muss plötzlich an das, was Chris mir vorhin gesagt hat, denken.

Was soll ich bloß mit ihm machen? Jetzt einen auf Ich-erinnere-mich-wieder-an-alles zu machen kann ich nicht. Die Nummer habe ich schon mal abgezogen. Zweimal wird er nicht reinfallen. Er ist nicht dumm. Und doch irgendwie in Gefahr. Oh Gott. Ich brauche Informationen von Chris. Verdammt, verdammt.

Endlose Sekunden verstreichen, indem keine Reaktion von Jason kommt. Zumindest keine hörbare, denn ich betrachte immer noch den Fließboden.

„Dann wird eben nicht geredet“, höre ich ihn plötzlich sagen. Als ich aufblicke, starre ich nur auf das Hemd, das er sich gerade über den Kopf zieht.

Hätte ich keine Kieferknochen würde mein Kinn jetzt wohl Bekanntschaft mit dem Boden machen.

„W-wa-was wird das?“, stottere ich und starre hilflos auf den Kerl, der sich hier vor mir entblößt. Ich will meinen Blick abwenden, doch es ist zu spät.

Als sich seine Arme mit dem Hemd senken, kann ich nicht anders als zu starren.

Er steht mit nacktem Oberkörper vor mir und ist beschäftigt das ausgezogene Hemd von seinem Arm abzustreifen während ich hart schlucke.

Waa… ist das überhaupt anatomisch möglich oder so? Ich meine das da… auf dem da und so viel.. und dort.. oh Gott.

Erschrocken schüttele ich den Kopf, um meine wirren Gedanken abzuschütteln. Ich spüre förmlich wie meine Wangen anfangen zu glühen und starre auf die Arbeitskleidung dort hinten auf dem Tisch, das plötzlich hochinteressant erscheint.

 „Worauf wartest du noch? Zieh dich endlich aus“, höre ich Jason fragen und ich glaube aus mir steigt gleich Dampf raus.

Spinnt der jetzt völlig? Denkt er wirklich ich würde jetzt einfach hier mit ihm… oh.

Wie eine Bekloppte starre ich auf das schwarze Stück Stoff mit der Aufschrift Riverside to go, das Jason mir auffordernd hinhält.

Dann entdecke ich das gleiche ähnliche Stück Stoff, nur größer, in seiner anderen Hand.

„Ich denke, du müsstest die gleiche Größe haben wie Felicitas. Das hier ist ihres“, erklärt er mir als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.

Felicitas… Das müsste die Rothaarige sein.

Ich räuspere mich. „Warum soll ich das anziehen?“

„Du meintest Reden hilft nicht.“ Er zuckt kurz mit den Schultern, die - nebenbei - immer noch entblößt sind. „Dann werde ich dir jetzt etwas zeigen. Aber dafür müssen wir hier wegkommen und wie du weißt, darf Marc uns nicht zusammen sehen.“

Eisblaue Augen blicken mich abwartend an und ich senke beschämt den Blick. Ich reiße den Stoff förmlich aus seiner Hand nur um ihn dann schnell den Rücken kehren zu können und mit geschlossenen Augen über meine Dämlichkeit aufseufzen zu können.  

Er wollte, dass wir uns umziehen und du dachtest, er wollte… aaaaahrrrr!!!

Ich blicke auf den schwarzen Pullover herab, der meine Verkleidung sein soll, und ziehe ich schließlich nach kurzem Überlegen über mein Shirt an. Dann drehe ich mich um und entdecke wie Jason sich mit einer roten Cappy gerade einen Schnauzer anklebt.

Bei dem Anblick pruste ich laut los und ernte einen verwunderten Blick von Jason, der mitten in seiner Bewegung stoppt. Lachend lehne ich mich an die Wand hinter mir und halte mir meinen Bauch.

„Was?“, kommt es auch noch von ihm und ich spüre bereits die Bauchschmerzen. Ich glaube, ich habe nach dem Unfall bis jetzt noch nie so gelacht. Und es fühlt sich verdammt gut an.

„Du…“ Ich deute anklagend mit dem Finger auf ihn und beiße mir kichernd auf die Lippen. „…siehst aus wie Mario haha!“

Einen Moment starrt Jason mich verständnislos an bis auch er grinsen muss. Er drückt noch einmal auf seinen „Schnauzer“ und schreitet mit einem Grinsen zu mir während ich ihn immer noch kichernd beobachte.

Vor mir bleibt er schließlich stehen. „Schade nur, dass du kein rosa Kleidchen trägst und blond bist, meine Prinzessin“, geht er darauf ein und ich grinse zurück.

„Vergiss Peach. Aber mit Daisy kann ich dienen“, gebe ich lächelnd zurück. Er erwidert es. Dann hält er plötzlich eine Brille hoch und setzt sie mir auf.

„Keine Sorge, das ist Fensterglas. Und jetzt, meine Prinzessin, zeige ich dir das Wunderland.“

Mit den Worten nimmt er meine Hand und wir verlassen den Raum.

 

 

Mein Herz pocht wie wild, ich komme nicht drum herum, dass ich mich wie in einem Agentenfilm vorkomme. Wie heißt nochmal dieser eine supercoole Agent, den alle 007 nennen? Egal, auf jeden Fall laufe ich gerade brav neben Mario, der genau wie ich Bierkästen trägt, nur mit dem Unterschied, dass meine leer ist. 

Diese haben wir uns vorhin in einem der Lagerräume geholt. Wir sollen also - laut meinen Komplizen - Lieferanten spielen, das errege am wenigstens Aufmerksamkeit und falls Marc nach Zeugen sucht, dann würde sich niemand mehr an uns erinnern. 

In der Sache vertraue ich Jason, der offensichtlich sowas öfters macht. 

Damit bestätigt sich nur meine Theorie, das er in kriminellen Sachen verwickelt ist. Die Schwulentheorie habe ich mittlerweile auf Eis gelegt… 

Sowie diese Felicitas ihn ansah, ist er bestimmt nicht schwul und wenn dann hat er sich noch nicht offenbart.

Der Kuss zwischen mir und ihm im Park fällt mir plötzlich ein. Okay nein, er ist bestimmt nicht schwul.

Oh Gott, das ist der Alkohol..

„Hier lang“, unterbricht plötzlich Jasons tiefe Stimme meinen Gedankengang. Wir stehen vor einer großen breiten Tür, welches aus zwei Flügel besteht und statt einer Klinke drückt Jason mit einem Ellenbogen auf den breiten Hebel. Die Tür schwingt auf und wir treten in einen kahlen Flur, wo nun gar keine Türen zu sehen sind. Wir kommen an den Aufzügen an und als Jason U wählt, dämmert es mir.

„Welchen Wagen nehmen wir?“, frage ich und blicke Jason an, der ziemlich konzentriert wirkt. Einpaar der dunklen Strähnen hängen ihm ins Gesicht, seine Kiefermuskeln sind bis aufs äußerste angespannt und die eisblauen Augen fixieren die Stahltür. Ich muss zugeben, dass er trotz allem einen wirklich gutaussehenden Mario abgibt.

„Einen von unseren Transportwagen“, antwortet er kurz angebunden und sieht mich dabei nicht an.

„Ihr liefert auch?“, hake ich neugierig weiter, ignoriere die Tatsache, dass hier wieder der unterkühlte Jason steht.

„Wir sind dafür bekannt, dass man unsere Bar auch auf einer Party, Event oder sonstigem buchen kann", ist die Antwort darauf und in dem Moment öffnen sich die Aufzugtüren.

Wir steigen in einen weißen PKW mit der Aufschrift Riverside to go ein und ich atme erstmal aus während die Anspannung von mir abfällt. Auch Jason wirkt zufrieden.

„Wohin fahren wir?“, traue ich mich schließlich zu fragen.

„Zu un.. meinem Lieblingsort.“

 

 

Ich runzele die Stirn während mein Blick auf der kahlen Wand, mit der Parkplatznummer 106 beschriftet, vor uns ruht. Bilde ich mir das ein oder hat er sich eben wirklich versprochen und wollte "unseren" sagen?

Gerade bin ich dabei den Kopf zu Jason zu drehen, als sich unsere Blicke bereits treffen. Ich stocke in der Bewegung, denn er ist mit dem Gesicht viel zu nah. Wie auf Knopfdruck erhitzen sich meine Wangen.

Dann plötzlich spüre ich eine Bewegung an meinem Bauch streifen. Mit einem Blick nach unten stelle ich verdutzt fest, dass er mich nur anschnallt.

Ein Klick folgt und wieder streift mich sein Arm, hinterlässt eine Gänsehaut an mir. Sofort kuschele ich mehr in den Hoodie rein und bin etwas verwirrt darüber wie mein Körper reagiert. Ich blicke zurück in die eisblauen Augen - die immer noch auf mir ruhen - als würde dort die Antwort stehen.  

 

 Er räuspert sich, lehnt sich auf seinem Sitz zurück und startet darauf den Motor. Der fragwürdige Augenblick verweht, ebenso die Wärme, die von ihm ausging, obwohl wir uns nicht wirklich berührt haben.

Mein Kopf arbeitet auf Hochtouren. Was machen wir hier eigentlich? Ich sollte auf der Party sein, bei Liz. Stattdessen sitze ich verkleidet in einem Transportwagen mit einem...

Ich werfe Jason einen Seitenblick zu. Ja, was war er eigentlich? Ein Eisklotz auf jeden Fall, aber was ist mit Verbrecher...? Ein einfacher Barkeeper ist er auf jeden Fall nicht.

In dem Moment wünsche ich mir, dass Chris mich bereits aufgeklärt hat, denn ich möchte es nur zu gerne wissen.

 Aber wenn ich wirklich ehrlich zu mir bin. Richtig richtig ehrlich, dann weiß ich, dass er zu den Guten gehört. Ja, es mag verrückt klingen, immerhin hat er selbst vor mir zugegeben, dass er krumme Dinge mit ebenfalls krummen Leuten wie Marc macht. Aber ich tue es einfach. 

"Habe ich etwas im Gesicht?", reißt mich plötzlich Jasons Stimme aus meinen Gedanken.

"N-nein.. das ist es nicht", stottere ich dämlich vor mich hin, wende den Blick aber nicht ab, sondern senke ihn nur.

"Ach. Dann betrachtest du mich also. Gefällt dir auch, was du siehst?", kommt es selbstgefällig von ihm und sofort schießt mein Blick wieder nach oben, sieht das Grinsen auf seinem Gesicht. 

Und dieses Mal darf ich vorstellen.. der arrogante Jason, wie er leibt und lebt.

"Gibt bessere Aussichten", gebe ich zurück und zucke unbeeindruckt mit den Schultern. Er lacht darauf auf während er den Wagen auf die Straße lenkt. 

"Ich muss zugeben, dass dort, wo wir jetzt hinfahren, die Aussicht phänominal ist, aber das..." Wir bleiben an einer Ampel stehen und wie zur Demonstration dreht er sein Gesicht ganz zu mir, um dann ganz arrogant zu schauen. "..ist ein Gottes Geschenk an die Frauenwelt."

Und dann kann ich es nicht mehr zurückhalten. Ich lache auf, verfalle schnell in einen Lachkrampf während mir sogar Tränen fließen. Mit aller Mühe halte ich meinen Bauch, meine Fakebrille verrutscht und mein Lachen hallt in jedem Winkel des Autos wieder.

Irgendwann versuche ich halbwegs Luft zu holen.

 "Es ist schön dich mal lachen zu sehen", sagt Jason plötzlich. Mein Lachen verstummt abrupt und ich blicke aus dem Fenster.

"Mhm." Er hat Recht. Ich habe nach dem Unfall mehr geweint als gelacht.

"Silver." 

Als ich nicht darauf reagiere, fühle ich plötzlich eine warme Hand auf meiner Schulter.

"Hey." Diesmal ist seine Stimme ein wenig sanfter. Ich wende widerwillig den Blick von dem hochinteressanten Verkehr ab und erwidere Jasons Blick, der mir bis ins Mark geht. Von der Intensivität überrollt, fixiere ich mich auf seine Lippen, die leicht geöffnet sind. Er sieht aus, als würde mir gleich etwas sagen, doch irgendwie will ich es nicht hören.

"Sind wir gleich da?", frage ich stattdessen und richte meinen Blick wieder nach vorne. Ich höre Jason neben mir etwas schwer ausatmen ehe er mir darauf antwortet.

"Ja", kommt es von ihm.

Keiner von uns sagt während der restlichen Fahrt mehr was. Plötzlich sehe ich das Wasser in der Weite. Ich kneife die Augen zusammen, um besser etwas sehen zu können.

"Das ist doch die Strandperle", murmele ich vor mich hin.

Aus dem Augenwinkel sehe ich wie Jason neben mir nickt. "Ja, das ist..." "Ich weiß", unterbreche ich ihn. "Ich meine, ich erinnere mich noch an diesen Ort", setze ich noch hinzu, als er mich etwas verwirrt ansieht.

Tatsächlich habe ich es noch genau vor Augen. Wie Cindy, Tyler und ich immer hierher gekommen sind. Unsere Eltern saßen zusammen während wir unten am Strand gespielt haben, mit Aufsicht versteht sich. Ich erinnere mich nur, dass das letzte Mal, wo wir dort waren, in der 5. Klasse war. Ich lächele bei den Erinnerungen. 

Ich habe das Wasser geliebt. Cindy dagegen hat sich mit großen Überreden gerade mal die Füße nass gemacht. Und Tyler war ein Zwischending von uns, obwohl ich mir sicher war, dass er es nicht halb so geliebt hat wie ich. Als kleines Kind ist er nämlich fast ertrunken, als sein Vater gerade nicht aufgepasst hat.

Mein Herz krampft sich an den Gedanken an Tyler zusammen. Nein, ich will jetzt nicht über ihn nachdenken. 

Doch anstatt wie meiner Erwartung nach hier zu parken, fährt Jason an der Strandperle vorbei. 

"Du willst nicht zur Strandperle?", hake ich verdutzt nach.

"Habe ich gesagt, dass es mein Lieblingsort ist?", stellt er die Gegenfrage. Nein, aber es war meiner.

 Seufzend lasse ich mich schließlich auf dem Sitz zurückfallen und lasse einfach Mr. Ich-bin-so-supergeil-und-unergründbar seine Sache machen.

 Es ist bereits kurz vor 10. Hier und da zieren noch schmale, hell grau-blaue Streifen den Himmel, ansonsten taucht der Rest schon in ein dunkles Blau. Bäume erscheinen und wir fahren langsamer. Wir halten schließlich an einem Gebäude an, welches ein Familienbetrieb zu sein scheint. Mehrere PKWs parken hier und Jason hat unseren gleich in die Menge gelenkt. Ich nehme an, das gehört auch zu den Vorsichtsmaßnahmen, und sage nichts. 

Warmer Abendwind weht durch die Straße und wirbelt meine Haare etwas auf. Schweigend folge ich Jasons breite Silhouette, die einpaar Meter vor mir läuft. Er hat seinen Schnauzer abgenommen, stelle ich fest, als er zur Seite blickt und ich sein Seitenprofil erblicke. Selbst im Dunkeln sieht man seine leuchtende Augenfarbe. Fast wie eine Katze. Bei der Vorstellung Jason als Katze muss ich leicht kichern und hoffe dabei, dass der Wind meinen Vordermann nichts davon mitbekommen lässt. 

Ein heftigerer Windschlag folgt und wirbelt so stark meine Haare auf, dass ich nichts mehr sehe. Ich bin dabei die ganzen Haarsträhnen aus meinem Gesicht zu streichen, als ich plötzlich gegen etwas Hartes laufe. 

Erschrocken und erleichtert zugleich sehe ich, dass es Jason ist, der aus heiterem Himmel stehen geblieben ist - versteht einer diesen Typen - und mich mit hochgezogenen Augenbrauen mustert. 

"Was ist denn so lustig, Kleine?", fragt er mich und macht keine Anstalten sich zu bewegen.

Ich kann ihm unmöglich sagen, was ich mir gerade vorgestellt habe, er würde denken, ich habe nicht mehr alle Tassen im Schrank. Da steht ein potenzieller Krimineller vor mir und ich stelle ihn mir als Katze vor. Nein, das kann ich nicht bringen.

"Ich habe mich nur an etwas erinnert", ist das Erste, was mir einfällt. Dann lasse ich meinen Blick schweifen. 

"Ist das also dein Lieblingsort? Eine Straße mit lauter Bäumen?", frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen, mit der Hoffnung, er geht nicht mehr auf das Vorherige ein.

Jason schüttelt nur den Kopf und nimmt meine Hand. Etwas perplex von der Reaktion lasse ich mich doch mitziehen. Immer mehr Bäume tauchen auf und die Grünfläche nimmt mehr zu. Doch weder ist es ein Wald, noch ein richtiger Park. Ich kann es einfach nicht richtig definieren.

Es erreicht uns eine frische Brise und ich atme wohlig ein. Plötzlich sehe ich in der Weite etwas glitzern. Meine Schritte beschleunigen sich gepackt von der Neugier, sodass ich sogar fast vor Jason laufe. Mir gefällt die Atmosphäre hier auf Anhieb, lächelnd drehe ich mein Gesicht zu Jason, der mich auf eine undefinierbare Weise ansieht. Ich schlucke, plötzlich ist seine Präsenz größer als zuvor und scheint den ganzen Ort hier einzunehmen. 

Im nächsten Moment werde ich leicht zurückgezogen.

"Da vorne."

Ich tue, was mir seine raue Stimme neben mir sagt und der Anblick nimmt mir den Atem. 

Es ist nicht irgendetwas, das es so schön macht. Nein, es ist die ganze Harmonie an sich. Vor uns wird der Weg schmaler, heller bis zur Farbe des Stegs, das sich auf dem Wasser niederstreckt. Man sieht, dass es nicht geplant ist, dass es so aussieht. Aber genau aus dem Punkt, genau wo wir stehen, sind an beiden Seiten die Bäume so, dass sie wie eine Unterführung zum Steg führen. Ganz vorne am Ende des Stegs glitzert leicht das Wasser.  

 "Wow", entfährt es mir und ich drücke unbewusst Jasons Hand fester. Diesmal bin ich diejenige, die uns zieht, doch nach wenigen Schritten ist er wieder neben mir. 

Wir betreten den Steg und leise knarrt das Holz unter unseren Füßen, doch nicht gefährlich. 

 Kurz vor dem Ende bleibe ich stehen und atme tief durch. Es ist erschreckend, wieviel Macht ein Ort über seine Gefühle haben kann. Ich fühle mich einfach total überwältigt. 

"Das ist besser als irgendein Wunderland." Ich drehe mich grinsend zu Jason, der aufeinmal auch viel entspannter wirkt. 

"Danke", sage ich und ich weiß, dass ich nicht mehr sagen muss. Er nickt nur und zieht im nächsten Moment seinen Hoodie über den Kopf. Dieses lässt er auf dem Holz fallen und setzt sich schließlich drauf. Ich mache ihm nach und strecke zufrieden meine Beine aus. 

"Hierher gehst du also hin, wenn du deine Ruhe willst", es ist eher eine Feststellung, als eine Frage. 

Er nickt bloß, sieht dabei aufs Wasser. Dadurch bietet er mir denselben Anblick wie damals im Park an. Den nachdenklichen, unerreichbaren Jason.

Meine innere Stimme schreit förmlich, dass ich diesen Moment nutzen solle. Ich schließe gequält die Augen. Aber wofür? Ihn ausfragen? Einerseits ist er heute wirklich nicht sowie sonst. Irgendwie... anders. Ob es an das, was Chris mir versucht hat zu sagen, liegt? An das, was Jason bald für diesen Marc tun muss? 
Würde er sich denn mir öffnen, wenn ich fragen würde? Oder schmeißt er mich stattdessen ins Wasser? 

"Warum seufzt du?" Erschrocken öffne ich die Augen. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich geseufzt habe. 

Jeeeeeeeetzt, schreit meine innere Stimme.

Ich werfe einen Blick nach links, zu Jason, der mich aufmerksam ansieht. Nur leider ist das völlig untertrieben, denn dieses Eisblau scheint eher geradewegs in mein Innerstes zu blicken. Er hat nur noch ein schwarzes Tanktop an, das sich an seine definierten Muskeln schmiegt und noch dazu seine Arme freigibt. Das alles hilft mir überhaupt nicht seine allgegenwärtige Präsenz zu ignorieren. Ich nehme einen tiefen Atemzug.  

"Ich kriege langsam meine Erinnerungen zurück."

Instinktiv halte ich den Atem an während ich dabei zusehe wie ihm jegliche Gesichtszüge entgleiten.

"Das ist nicht möglich.." Er verstummt, runzelt dann die Stirn. "Du versuchst es schon wieder."
"Nein." Bestimmend schüttele den Kopf, eine Strähne fällt mir dabei ins Gesicht. "Ich habe letztes Mal gelogen, da habe ich gesagt, dass ich mich an alles erinnere. Aber diesmal ist es so wie ich es sage." Bei den nächsten Worten sehe ich zurück aufs Wasser. "Ich hatte einen Traum. Zweimal sogar und jedes Detail war gleich. Nur dass beim zweiten Mal weitere Details dazu gekommen sind. Ich habe dir gegenüber den Traum neulich im Park erwähnt."

"Ich erinnere mich", kommt es nur von ihm, trotzdem ist seine Anspannung neben mir fast greifbar.

"Ja und... Ich weiß, dass du mich gerettet hast. Jason, du hast mir damals das Leben gerettet, nicht wahr?"

Ich blicke ihn an, bin selbst von meiner Direktheit überrascht und zugleich stolz. Mein Herz schlägt mir kräftig gegen die Brust, es fällt mir nicht leicht darüber zu reden. 

Seine Miene verrät nichts, am liebsten würde ich ihn durchschütteln damit er mir endlich alles sagt, aber er wäre dann nicht der Eisklotz, wenn es so einfach wäre.

"Ja", antwortet er schließlich nach einer Weile, verzieht jedoch keine Miene, er sieht mich nur an.

Wow endlich eine Wahrheit.

Ich beiße mir auf die Lippen, weiß gar nicht, was ich denken soll.

"Wie ist es dazu gekommen?"

Ich habe wirklich schon mit keiner Antwort gerechnet.

"Wir waren unterwegs. Das war Anfang diesen Jahres. Dann sind wir irgendwie im Park gelandet. Es war nachts, stockdunkel, plötzlich wolltest du schwimmen gehen. Dann warst du viel zu lange unter Wasser, du hattest einen Krampf im Fuß bekommen." Er verstummt, sein Blick verändert sich, aber ich kann ihn nicht deuten.

"Dann muss ich mich wohl dafür bedanken", sage ich schließlich und lächele zaghaft.

"Oh, das hast du längst. Ziemlich intensiv sogar." Seine Augen scheinen aufeinmal zu funkeln während meine ihn fragend anblicken.

"Wie meinst du das?"
"Du hast mich geküsst."

"Oh", entfährt es mir. Im selben Augenblick drehen sich meine Wangen wie eine Heizung auf. Ich blicke weg.

Ich wusste nicht, dass ich so bin oder beziehungsweise war. Jemanden als Dank gleich abzuknutschen. Oder hatte ich da schon Gefühle für ihn? Anfang diesen Jahres.. Das ist nicht mal ein halbes Jahr her. Vor über einem halben Jahr habe ich diese Lippen abgeknutscht. Oh man... Trotzdem bin ich ihm dankbar, dass er es mir erzählt hat.

"Zurück zu vorhin. Du sagst, du bist dabei deine Erinnerungen wieder zu kriegen-"

"Ja, es sind nicht nur die Träume. Ich habe bei allem, was ich tue ein Gefühl.. Ich weiß nicht wie ich es sagen soll, aber mein ganzer Körper scheint darauf eingestellt zu sein, die Erinnerungen zurück zu erlangen. Selbst..." Ich schüttele leicht den Kopf, traue mich fast nicht weiter zu reden, so bescheuert komme ich mir bereits vor, doch ich überwinde mich trotzdem. "..selbst eine ganz einfache Sache. Die Treppe bei mir zuhause, ständig habe ich das Gefühl ein Déjà-vu zu erleben sobald ich darauf stehe, ohne überhaupt zu wissen, was genau für eins. Irgendetwas ist mit mir dort passiert. Ich weiß, das klingt bescheuert, aber..."
"Ist es nicht", unterbricht mich Jason plötzlich. Seine Stimme ist ruhig, aber genau diese Ruhe macht mich fast verrückt.     

"Du bist mal die Treppe runtergefallen."

"Was?!" 

"Es war ein Unfall. Ich bin in euer Haus gekommen, da höre ich dich und deine Mutter. Als ich gemerkt habe, dass ihr euch streitet, war es auch schon zu spät. Im gleichen Augenblick bist du die Treppe runtergestürzt und bist mir vor die Füße gelandet."
"Wann war das? Ist mir.. etwas ernsthaftes passiert?", frage ich, fixiere dabei irgendeinen Punkt auf dem Wasser.

"Eine leichte Gehirnerschütterung, geprellte Rippen und ein Dutzend blaue Flecken." Er atmet schwer aus während ich bei der Vorstellung trocken schlucken muss.

"Das ist schon länger her. Über einem Jahr." 

"Wow", entfährt es mir und ich lache verächtlich auf. "Scheint, als ob ich mir andauernd etwas antue. Und ich dachte schon, der Unfall wäre das Einzige, das mir bis jetzt ernsthaft zugestoßen ist."

Tatsächlich habe ich bis zu den Jahren, an die ich mich erinnern kann, nichts dergleichen an Unfälle gehabt.

"Liegt auch daran, dass du mich kennen gelernt hast", wirft Jason plötzlich ein.

"Was meinst du?", frage ich sichtlich verwirrt.

Er erwidert meinen Blick, dann plötzlich hebt er eine Hand und ehe ich mich versehe, streicht er mir eine lose Strähne hinters Ohr. Die Stellen an meiner Haut, die er dabei streift, prickeln.

"Glaub mir, es ist das Beste, was dir passieren konnte. Mich... uns zu vergessen. Meine Welt, es würde dich irgendwann wirklich noch umbringen."

Ich schlucke, will irgendwas erwidern, aber was mich am meisten verwirrt, ist, dass ich irgendwie weiß, dass er Recht hat. Er hat es zugegeben. Er steht dazu, dass es ein "Uns" gab. 

"Und jetzt? Was sind wir jetzt?", frage ich und schlinge dabei meine Arme um mich.

"Wir können es ja mal mit Freunde versuchen."

Er sieht mich einfach nur an während ich die Bedeutung hinter diesen Worten zu verstehen versuche.

 

Kapitel 31

 

 

 

Ich öffne die Lippen, nur um sie darauf wieder zu schließen. 

Freunde.. mit Jason, der bei mir bereits seid unserer ersten Begegnung nach dem Unfall ein riesengroßes Fragezeichen hinterlassen hat.

Der, der nichts mit mir zu tun haben will und doch irgendwie immer da ist.

Der, der in mir diese undefinierbaren Gefühle weckt und dazu gefährlich ist.

Können wir wirklich Freunde sein und einfach die Vergangenheit beiseite schieben, als wäre nie etwas gewesen? Unsere Vergangenheit. Weil einer von uns sie tatsächlich einfach nicht mehr kennt.

"Nein." Das Wort verlässt schneller meine Lippen als beabsichtigt. Nicht, weil ich mir nicht darüber sicher bin, ganz im Gegenteil. Aber ich wollte mehr sagen, doch jetzt sehe ich, dass damit schon genug gesagt ist.

Jasons Kiefermuskeln spannen sich an während sein Blick dunkler werden scheint. Seine Beine sind angewinkelt, die Arme liegen verschränkt über seine Knie.

"Wieso nicht?", fragt er schließlich. 

"Weil.. Freundschaft heißt für mich, wenn zwei Menschen sich kennen lernen und merken, dass sie.. einfach einen Draht zueinander haben, sich ergänzen und füreinander da sind und das geht immer tiefer mit der Zeit. Du und ich, wir haben bereits eine Vergangenheit miteinander. Nur weil diese aus meinem Gedächtnis gelöscht sind, heißt es nicht.. nein, Jason, wir sind keine Freunde."

Mit den Worten erhebe ich mich. Das Kleidungsstück lasse ich liegen. Ich laufe den Weg zurück.

"Silver!"

Ignorieren.

"Bleib verdammt nochmal stehen!"

Einfach ignorieren. 

Er ruft mich nochmal, diesmal ist seine Stimme viel zu nah. Ein Holzbrett knarrt bedrohlich bei einem meiner Schritte und ich laufe mehr an den Rand. 

Plötzlich werde ich herumgewirbelt. Die Drehung ist so heftig, sodass ich die Balance verliere und ehe ich mich versehe, spüre ich den Boden unter den Füßen nicht mehr.

Ich sehe noch in Jasons erschrockenes Gesicht bevor ich in die Tiefe gezogen werde und ins Wasser falle. 

Zuerst realisiere ich nicht, was passiert ist. Doch dann spüre ich überall Druck an mir und ich versuche etwas zu sehen, doch es ist alles zu dunkel. Panik steigt in mir auf, ich will mich bewegen, doch mein Körper will nicht gehorchen. 

Das Gefühl, das schon einmal erlebt zu haben, steigt plötzlich in mir auf und ich kneife meine Augen zusammen. Ich sehe es genau vor mir.

Den Traum. 

Und er geht weiter.

Im selben Moment spüre ich auch die Arme, die mich hochziehen. Doch dies geschieht auch wirklich.

Wir kommen an die Oberfläche. Mein Zeitgefühl ist im Eimer, ich konzentriere mich nur noch darauf nach Atem zu ringen und mich an Jasons Arme zu klammern, die mich gerettet haben.  

"Alles okay?", höre ich ihn fragen und blicke in sein besorgtes Gesicht, das ich aber direkt wieder ausblende.

Ich sehe es vor mir. Was geschah nachdem er mich gerettet hat. 

 

"Hey, sssch. Ich bin hier.", redet er beruhigend auf mich ein während ich schluchze. Ich habe meine Arme um seinen Nacken fest gekrallt, als ginge es um mein Leben. Wir beide sine noch im Wasser. Ich spürte meine Beine kaum noch, dafür aber den kräftigen Herzschlag in seiner Brust.

 "Jason", schluchze ich und vergrabe mein Gesicht an seinem Hals. Sein herber Duft beruhigt mich.

Ich spüre wie er vorsichtig seine Arme von mir löst und uns beide an Land schwimmt.

Auf dem Gras angekommen, werde ich mit einem Kleidungsstück halbwegs trocken gerubelt. Das nehme ich nur ganz nebenbei wahr, zu gebannt starre ich den Mann an, der mir das Leben gerettet hat.

Ich starre dieses Blau an, das jedoch gerade beschäftigt ist, jede Stelle meines Körpers abzutasten. Als seine Augen jedoch schließlich meine finden, kann ich es nicht mehr zurückhalten. Ich küsse ihn.

Einige Sekunden verstreichen, in denen keine Reaktion von ihm kommt, doch dann erwidert er meinen Kuss. Und ich scheine in Flammen zu stehen. 

 

"...wirklich okay? Komm, wir sollten aus dem Wasser." Jasons Stimme reißt mich zurück ins Hier und Jetzt. 

Ich nicke abwesend woraufhin er uns an Land zieht. Immer wieder gehe ich jedes Detail im Kopf durch, bin zu geschockt über diese Bilder, die in meinem Kopf verborgen waren.

Ich werde auf dem Gras abgelegt und Jason entfernt sich. Kurze Zeit später kommt er mit den beiden trockenen Hoodies zurück.

"Ich ziehe dir jetzt dein Shirt aus sonst erkältest du dich", erklärt er mir und ich lasse ihn einfach machen. Er zieht mir meine Tasche und das Shirt, das wie eine zweite Haut an mir klebt, über den Kopf und trocknet mich mit seinem Kleidungsstück. Ich beiße mir auf die Unterlippe, es ist genau wie damals. 

Nur im BH und Shorts sitze ich vor ihm, doch er sieht mir ins Gesicht. Schließlich steckt Jason mich in meinen Hoodie und wiederholt die Prozedur bei sich. Da er mich mit seinem Hoodie getrocknet hat, ist es fast schon wieder nass, aber das scheint ihn nicht zu stören. 

"Kannst du laufen?", fragt er mich aufeinmal. Als Antwort stehe ich auf, aber meine Beine wackeln etwas. Ich setze gerade zum Gehen an, als Jason mich einfach hochhebt. 

"Hey!", protestierte ich und schaute ihn wütend an. "Ich kann das alleine."

"Sicher", brummt er nur, ignoriert meine Abwehrversuche und läuft lässig mit mir auf den Armen den Weg zurück. Irgendwann gebe ich auf. Meine Hände habe ich auf dem Schoß liegen, ich will mich nicht an ihm klammern. Diesmal nicht.

Ich blicke ihn von unten herauf an. Er blickt geradeaus und gibt mir dadurch freie Sicht auf sein markantes Profil. Seine im Dunkeln schwarz wirkenden Haaren stehen in allen Richtungen ab, weil er sie auch trocken gerubelt hat. Im Mondlicht sieht er gefährlicher aus als sonst und lässt mich fast vergessen, dass er mir gerade das Leben gerettet hat. Mal wieder.

Ohne nachzudenken bette ich meinen Kopf an seine Brust, spüre sofort seinen stark und stetigen Herzschlag. Ich schließe gequält die Augen. Es fühlt sich so vertraut und doch völlig fremd an. Langsam werde ich noch verrückt.

 "Jason." Ich muss es ihm sagen.

Er senkt seinen Blick, sieht mich an. "Ich habe es vorhin im Wasser gesehen. Wie ich dich.. damals geküsst habe", sage ich leise, halte dabei den Augenkontakt. Seine gesenkten Augenbrauen heben sich und einen Moment sagt er nichts. Seine Schritte sind das Einzige, das der Nacht die Stille raubt. 

"Ist das so", ist das Einzige, was er darauf erwidert und ich sehe ihn mit offenen Mund an.

"Glaubst du mir etwa nicht?" 

"Es ist nur.." Er löst den Blickkontakt und sieht konzentriert um sich herum. "..davor habe ich dir davon erzählt." Ich glaube es in dem Moment nicht. Er denkt, ich mache ihm was vor.

"Na schön." Schnaubend verschränke ich meine Arme vor die Brust, dabei ist es mir egal, dass ich wahrscheinlich wie ein trotziges Kind in seinen Armen aussehe.  

"Ich sage dir wie es genau war. Du hast mich aus dem Wasser gezogen, ich habe mich wie ein Affe an dir geklammert. Du sagtest "Sssch. Ich bin hier." und hast mich dann an Land gezogen. Dort hast du mich wie vorhin mit trockener Kleidung trocken gerubelt. Als du mich angesehen habe, habe ich dich dann geküsst. Du hast es erst nicht erwidert, aber schließlich doch." Ich beiße mir auf die Lippen. Die Tatsache, was der Kuss bei mir bewirkt hatte, muss er nicht wissen. 

Plötzlich höre ich ihn schwer ausatmen. Sein Blick wirkt gequält, auch wenn er nach vorne sieht.

"Jason?", frage ich vorsichtig, jetzt macht er mir doch etwas Angst.

Wir erreichen den Wagen und er setzt mich auf dem Beifahrersitz ab. Zurück auf seinem Sitz will er gleich den Schlüssel anstecken, doch ich halte seinen Arm fest.

"Rede mit mir", versuche ich es wieder und suche seinen Blick.

Er schließt gequält die Augen und scheint mit sich selbst zu kämpfen. 

"Du machst mich noch wahnsinnig, weißt du das?", sagt er plötzlich und blickt mich mit einem entwaffneten Lächeln an, das mehr als nur gequält wirkt. Ihn so ohne seine Eisklotzmasche zu sehen, macht mich für einen Moment sprachlos.

"Was mache ich denn genau?", frage ich ehrlich interessiert. Sein Blick ist so intensiv, dass ich schlucken muss, und ich weiß, ich könnte den Blick jetzt sowieso nicht abwenden. 

 Ich verliere mich in dem Eisblau so sehr, dass ich erst verspätet die Wärme an meinem Kinn spüre, die von seinen Fingern aus gehen, welche mein Gesicht anheben. Bis wir exakt auf derselben Augenhöhe sind.

Unwillkürlich öffne ich meine Lippen, jedoch nicht fähig etwas von mir zu geben außer meiner Aufmerksamkeit, die ganz ihm gehört. Alles andere blende ich unbewusst aus. 

Seine harten Züge bleiben unverändert, nur allein sein Blick wird weicher und mein Kopf scheint wie leer gefegt.

In diesem Moment verstehe ich, was für eine Wirkung er auf mich hat und wie gefährlich das für mich sein kann, wie gefährlich ER ist.

Aber anstatt von ihm wegzukommen, will ich das Gegenteil und das macht mir umso mehr Angst. 

Seine Arme spannen sich an, das spüre ich, weil meine Hand immer noch auf seinem rechten Arm ruht.

"Nur dieses eine Mal", murmelt er plötzlich und bevor ich auch nur den nächsten Atemzug nehmen kann, senken seine Lippen sich sanft auf meine.

Ich bin wie erstarrt und meine Hand krallt sich unwillkürlich an seinem Arm fest während er mich mit dem gleichen Arm zu sich näher zieht und anfängt seine rauen Lippen auf meinen zu bewegen.

Und damit gibt er mir den Rest. 

In meinem tiefsten Inneren entfacht ein Feuer, das sich mit einem Augenaufschlag auf meinem ganzen Körper verteilt und sogar nach außen hin, denn die Luft um mich herum wird zu einer unerträglichen Hitze. Ich schließe meine Augen, gebe mich dem unglaublichen Gefühl hin, wozu nur dieser Kuss fähig ist zu geben scheint.

Ohne nachzudenken passe ich mich dem Rhythmus an, auf dem sich seine Lippen auf meinen bewegen. Aber er lässt mir keine Zeit zum gewöhnen, denn im nächsten Moment öffnet er mit seinen Lippen die meine und ohne jede Vorwarnung trifft seine Zunge auf meine. Ich keuche nach Luft, doch anstatt aufzuhören hebt Jason mich an und ich lande auf seinem Schoss. 

Instinktiv halte ich meine Hände an seinen stahlharten Schultern fest. Seine Zunge plündert gänzlich meinen Mund aus, sein heißer Atem trifft unregelmäßig auf meiner Haut und ich verfalle komplett in diesem Kuss. 

Seine Hand legt er auf meinen Hintern und presst mich näher an sich. Mit der anderen zieht er mich am Nacken noch näher zu sich, wenn das überhaupt möglich ist. Ich habe keine Chance dem hier zu flüchten.

Ich spüre aufeinmal eine unkontrollierte Hitze in meinem Unterleib aufsteigen, das mich leise in seinem Mund aufstöhnen lässt.

Jasons Brust hebt sich unter meiner im unregelmäßigen Takt und in meinem Rausch glaube ich auch ihn leicht stöhnen zu hören. Mein ganzer Körper bebt.

Es macht mich süchtig.

Seine Zunge, die meine in einen taktvollen Tanz zieht und ungehobelt immer mehr nimmt bis ich zu explodieren scheine.

Dieser Kuss ist anders als der letzte. So verdammt anders, denn er zieht mich von Hier und Jetzt weg. Es ist wie eine Botschaft, die man nicht in Worte fassen, sondern nur spüren kann.

Plötzlich spüre ich etwas Hartes zwischen meinen Beinen und ich breche erschrocken den Kuss ab.

"Was..", keuche ich, meine Stimme hört sich seltsam kratzig an. Ich sehe in Jasons leicht benommenes Gesicht, welches mich verwundert ansieht. Dann blicke ich nach unten und meine Augen werden größer.

Ein Räuspern seinerseits folgt und wieder hebt er mein Kinn an.

"Das ist ganz normal", erklärt er mir und seine Augen sehen mich amüsiert an. Sein Daumen streicht über meine geschwollene Unterlippe und ich spüre wie mein Unterleib sich fast schmerzlich zusammenzieht. Ich schnappe nach Luft und schaue Jason fast panisch an, dessen Mundwinkel zucken.

"Das ist, weil.. ich dich begehre. Nichts unnatürliches oder so."

Er begehrt mich?
"Ich..." Ja, ich was eigentlich? Ich werde mir meiner Sprachlosigkeit bewusst und schlucke trocken. Mit gerunzelter Stirn senke ich meinen Blick, versuche das Eisblau auszublenden. 

Immernoch spüre ich noch das Nachbeben des Kusses.

"Siehst du.." Ich räuspere mich, um das Kratzen in meiner Stimme wegzubekommen.

"So etwas würden Freunde nie tun." 

Zaghaft findet mein Blick zu seinem Gesicht zurück und begegne den nachdenklichen Ausdruck auf diesem. Seine Hände verschwinden von mir ebenso wie sein Oberkörper, den er zurücklehnt. Er sieht mich nur stumm an.

"Jason-"

"Du hast Recht", unterbricht er mich in einem ruhigen Ton, dessen Kälte augenblicklich jegliche Hitze oder gar Wärme um mich verschlingt. "Ich fahre dich nach Hause."

Na toll, da ist er wieder...
Sein Vorhaben mich an der Hüfte zu fassen kommentiere ich mit einem Schnauben und ich lasse mich selbst zurück auf den Nebensitz fallen.

"Ich will zu Liz", gebe ich wutunterdrückt von mir während ich mich nichtsdestotrotz anschalle.

"Du kannst nicht zurück zur Bar."
"Und wieso-"
"Es ist viel zu spät. Viele sind bereits gegangen, die Bar somit übersichtlicher und ich kann nicht riskieren, dass Marc uns sehen könnte", ist seine Antwort darauf bevor er den Motor startet.

Stur starre ich aus dem Autofenster, in die Schwärze. Wie kann er sich nur von einer Sekunde auf die nächste wieder in diesen Eisklotz verwandeln?! Als wäre nichts! 

Im nächsten Moment hätte ich mir eine scheuern können, dafür, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin. Meine Hand fasst die Tasche, die noch etwas feucht, aber glücklicherweise wasserdicht ist. Deswegen ist auch mein Handy keineswegs nass und ich wähle Lizs Nummer.

"Hallo", meldet sich plötzlich eine verschlafene Männerstimme am anderen Ende und fast hätte ich mein Handy fallen gelassen.

"Hallo?"
"Eh hi. Wer bist du? Wo ist Liz?", hake ich mit klopfenden Herzen nach während ich gedanklich zu Gott bete, möge mein Telefonpartner kein Serienmörder sein.

 "Bin ihr Freund", gibt dieser immer noch verschlafen zurück während sich seine Stimme entfernt. 

"Silver?" Es ist Liz und ich stoße erleichtert die Luft aus. 

"Ja verdammt, wo warst du?", ich klinge viel zu sauer als beabsichtigt und da nur teilweise Lizs Schuld ist, ist es eigentlich nicht gerade fair ihr gegenüber.

"Ich habe eine Ewigkeit bei den Typen auf dich gewartet, habe die ganze Zeit versucht dich zu erreichen, aber ich habe irgendwann zu viel getrunken und Phil hat mich gefahren. Es tut mir so leid, ich habe die ganze Zeit geschlafen bis jetzt", kommt es schuldbewusst von ihr und ich kann nur seufzen. Vor uns hupt ein Auto, warum auch immer. "Wo bist du eigentlich?"

"Ist schon okay. Ich bin sicher. Mach dir also keine Sorgen, wir treffen uns ja noch zum Einkaufen. Also dann." Ich will schon auflegen, als ihre nächste Frage mich ins Stocken bringt.

"Du bist bei ihm, nicht wahr?"

"Ich.. ja." Ich höre wie Liz nach Luft schnappt und füge eiligst hinzu: "Mach dir keine Gedanken, es ist nichts passiert. Ich bin auch gleich wieder zuhause."
"Na gut, morgen will ich alles hören, Madame. Schreib mir, sobald du zuhause bist, ja? Gute Nacht, Silver." 

Tropfen erscheinen am Fenster und erst dann vernehme ich das leise Prasseln des Regens. Ich lächele leicht bei der Vorstellung wie Liz morgen reagieren wird, wenn ich ihr wirklich alles erzähle. Doch mein Lächeln erstirbt, als mir viel zu schnell wieder die Präsenz einer bestimmten Person bewusst wird. Schlagartig ist wieder die Wut da, die droht mich zum Explodieren zu bringen, wenn ich nicht sofort von ihm wegkomme.

"Lass mich hier raus", bitte ich ihn in einen ebenso ruhigen Ton.

"Nein, ich bringe dich nach Hause. Außerdem regnet es", vernehme ich von der anderen Seite des Autos.

"Tu es einfach." Erschrocken federe ich mich mit beiden Händen vorne ab, als das Auto ruckartig zum Stehen bleibt. Ironisch, aber es ist einfach nur rot. 

Jedoch Grund genug für mich hier und jetzt auszusteigen. Die Autotür fällt zu, dämpft komplett seine nach mir rufende Stimme ab leider nicht mehr den Regen, bei dem ich zu spät merke, dass dieser viel zu stark fällt.

Aber es ist egal. Hauptsache, ich muss mich nicht mehr mit ihm auseinandersetzen. 

Die Autohupen ignorierend laufe ich über die Straße und erreiche den Bürgersteig nicht bevor ich komplett durchnässt bin, doch ich fühle mich seltsam befreit. 

Wärme fließt meine Wangen entlang und mit einem Schluchzen realisiere, dass es meine Tränen sind, die sich mit dem Regen vermischen. 

Ich kann und will es nicht leugnen. Er hat mich verletzt.

Nur warum? Warum tut es so weh, wenn es doch angeblich das Richtige sein soll? 

Es war dumm von mir. Ich will nicht daran denken, warum er mich geküsst hat, aber ich hätte mich nie darauf einlassen dürfen. Denn was habe ich jetzt davon? Genau, nichts als erneute Zurückweisung.

"Silver"

Rau und tief vernehme ich seine Stimme. Aber vor allem viel zu klar, dass es eine Einbildung sein könnte.

 "Geh", schaffe ich mit fester Stimme zu sagen ohne dass er heraushören könnte, dass ich weine. Hier, mitten im Regen im Nirgendwo.

Warme Hände fassen meine Schultern und drehen mich um. Ich blicke geradewegs auf das schwarze Shirt, das er trägt und versuche mir vorzustellen, dass vor mir nichts als nur Dunkelheit ist. Jedoch wäre Jason nicht er selbst, wenn er es mir so einfach machen würde. Erneut fasst er mich am Kinn an, um mich erbarmunglos dem Eisblau auszusetzen. 

"Bitte", hauche ich erschöpft. Seine Hand gibt mein Kinn aufeinmal frei und sein Daumen streicht meine Wangen entlang.

"Bitte weine nicht", sagt er plötzlich und ich reiße meine Augen auf. Im gleichen Augenblick stoße ich ihn mit beiden Händen von mir weg und will wegrennen, doch Stahlarme schlingen sich um meinen Körper. 

"Jetzt werd nicht kindisch", sagt er nur und ich will ihm nur noch eine reinhauen.

"Kindisch? Ich soll kindisch sein?!" Wütend drehe ich meinen Kopf zur Seite, erkenne nichts außer seinem Arm, von dem ich versuche mich zu befreien.

"Das sagt gerade der Richtige! Du bist doch derjenige, der nicht weiß, was er will und komm mir ja nicht mit "Ich-weiß-was-das-Beste-für-dich-ist, denn verdammt nochmal du weißt es nicht!" Ich zittere vor Wut, denn seine Arme bewegen sich um keinen einzigen Zentimeter.

"Lass mich los, Jason!"

Ich will schon zu drastischeren Maßnahmen greifen, als er sich von selbst von mir löst und ich unwillkürlich einpaar Schritte nach vorne stolpere. 

Jason steht mit ausdrucksloser Miene vor mir und auch seine gerade Haltung verrät nichts darüber, was in seinem Innersten vorgeht. Und wenn ich es nicht besser wüsste, wirkt er in der Dunkelheit und im rauschenden Regen noch viel bedrohlicher.

"Was willst du hören, Silver? Sag es mir."

Ich schnaube wütend. "Dass du zu dir selbst stehst, Jason. Denn das hast du seit unserer ersten Begegnung nie getan."
Jetzt ist es er, der schnaubt und sich mit beiden Händen durch die Haare fährt. 

"Und dann? Du erwartest von mir egoistisch zu sein, aber das kann ich nicht. Es gibt hier kein Happy ever after, wenn ich dir jetzt sage, dass ich dich liebe. Denn mal abgesehen von der ganzen Sache mit Marc tust du es nämlich nicht. Also was soll mir das bringen? Was, Silver? Was? Sag es mir!"

Ich weiß nicht warum, aber weitere Tränen finden den Weg nach unten während ich Jason sprachlos anstarre.

Sekunden verstreichen, mir selbst kommt es wie eine Ewigkeit vor bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann. Und vor allem fähig die Tatsache zu verdauen, dass dieser große, gefährliche Kerl vor mir mich lieben soll.

 Lieben.

"Du würdest mich nicht im Stich lassen, Jason." Verzweifelt presse ich meine Lippen aufeinander, denn ich sehe es ihm an, dass er es nicht versteht. Schützend schlinge ich meine Arme um mich, als würde das mich vor dem unbarmherzigen Regen schützen, der auf uns beide herabfällt. 

"Ich kann das alles nicht ohne dich." Die Erkenntnis trifft mich genauso unerwartet wie ihn. 

"Wie soll ich ein Leben leben, das ich nicht kenne? Welches, dass man mir versucht einzureden, wenn es sich doch so falsch anfühlt. Wenn das offensichtlich Falsche sich doch so richtig anfühlt, Jason. Was tut man dann? Folgt man seinem Herzen oder dem Kopf und Verstand? So wie ich das sehe, sprechen die verlorenen Erinnerungen nicht wirklich für Kopf und Verstand, also folge ich doch lieber meinem Herzen. Und das, Jason, leitet mich zu dir. Immer wieder und ich werde das nicht leugnen."

 Entschlossen trete ich an ihn heran während er sich nicht rührt.

"Gib uns eine Chance. Hör auf dir in den Kopf zu setzen, dass meine Amnesie uns auseinandergetrieben hat und es so bleiben soll, denn ich werde nie von dir loskommen. Selbst, wenn ich das wollen würde."
Unbeholfen beiße ich mir auf die Unterlippe, weil immer noch keine Reaktion von ihm kommt während ich mich so nackt und ausgeliefert fühle wie noch nie. Aber ich weiß, dass ich diese Chance nur jetzt habe.

Hier und Jetzt.

Ich schlucke, weil mich die nächsten Worten auszusprechen eine ganze Überwindung kostet.

"Wenn du mich liebst.. dann kämpfe für mich, für uns. Dann werde auch ich kämpfen. Ich habe vielleicht vergessen wie es ist dich zu lieben, aber das ist doch nicht gleich das Ende." 

Ich stehe nicht mehr als einen Meter vor ihm, sehe wie sein Adamsapfel auf und ab hüpft bevor ich ihm direkt in seine eisblauen Augen blicke. Sein Blick ist so finster, dass es mir in jeder anderen Situation Angst gemacht hätte.

 

 

Mein Herz klopft in einem Rhythmus, sodass mir schwer fällt ruhig atmen zu können und so wie es unkontrolliert von Takt zu Takt stolpert weiß ich nicht, ob ich es so lange mitmache bis mir Jason eine Antwort gibt. Erbarmungslos fällt der Regen auf uns herab und raubt der Nacht die Stille ebenso wie mir die Sicherheit.

Ich ahne schon die Antwort.

Meine Lippen fangen unkontrolliert an zu beben und ich senke den Blick, um wenigstens noch das bisschen Würde zu wahren, das ich noch habe. 

Ich habe ihm alles offen gelegt. Meine Angst. Mein Herz.

Von allem. Von allen Dingen war er derjenige, den ich immer wieder versucht habe zu erreichen. Doch wie viele Male muss man wiederholt weggestoßen werden bis auch der letzte Funke Hoffnung erlischt? Bis man nicht mehr genug Kraft findet, um für etwas zu kämpfen, dass so unsicher ist wie das Leben selbst?

Schützend schlinge ich meine Arme um mich. Ich setze schon im Kopf den Heimweg an, als ein tiefes Räuspern zwischen dem prasselnden Regen hindurch schlüpft. 

"Du weißt nicht was auf dich zukommt"

Jason sieht mich mit durchdringlicher Miene an. 

"Ist das etwa deine Antwort?", hauche ich ungläublich, weil mir nicht mehr viel von meiner Stimme übrig bleibt.

Statt einer Antwort tritt er plötzlich dicht an mich heran, nimmt eine nasse Strähne aus meinem Gesicht und dreht sie in seinen Fingern ehe er sie mir hinter das Ohr streicht. Trotz und vielleicht gerade wegen der Kälte hinterlässt diese sanfte Berührung eine glühende Spur auf meiner Haut. Ich lehne mich automatisch gegen ihn und als würde er es bereits erwarten empfangen mich seine Lippen. Es ist ein sanfter, kurzer Kuss. Binnen Sekunden schafft er es den Schmerz zu lindern und meine Angst zu lähmen und mich stattdessen einer lodernden Flamme auszusetzen. Schließlich lässt er schweratmend von mir ab.

"Bist du bereit?" 

Mit der Frage habe ich nicht gerechnet. Er sieht mich an ohne die Miene zu verziehen während mein Herz droht zu zerspringen.

Ich schaffe es nur zu nicken.

Völlig unwissend auf was ich mich damit einlasse.

 

Kapitel 32

 

 

Surreal. Nein, absurd. 

Genauso kommt mir die Situation gerade vor. Ich sitze wieder auf dem Beifahrersitz während Jason schweigend neben mir fährt. Wir fahren zu ihm. Das war jedenfalls seine Antwort und auch das letzte gesprochene Wort seit vorhin. 

Ich blicke auf mich herab. Der Hoodie klebt an mir und meine Shorts sind so nass, dass mir der Ledersitz fast leid tut. Meine Haare bekommen ihr Eigenleben, mein Kajal ist verschmiert und im Großen und Ganzen sehe ich aus wie ein begossener Pudel. Im Gegensatz zu mir kriegt es Jason mit einem Hand-durch-die-Haare-fahren hin, dass alles bei ihm so aussieht wie es sein sollte. Das Leben kann ja so unfair sein..

Wir halten an und obwohl es dunkel ist, kann ich mit Sicherheit sagen, dass ich noch nie in dieser Gegend war.

Jason steigt aus und macht mir die Tür auf. Ich zucke leicht zusammen, als seine Hand meinen Rücken findet und mich zu einem Haus dirigiert. Zu surreal fühlt es sich alles an.

Ich weiß nicht genau, was meine Worte vorhin bewirkt haben, doch etwas hat sich zwischen uns geändert.

 Schließlich kommen wir bei einem Apartment in eins der oberen Stockwerke an und ohne fragen zu müssen, weiß ich, dass Jason wirklich hier wohnt. Dann war die Wohnung, in der Nathan ist, eine andere. Wahrscheinlich von seiner Tante.  

Der breite Eingang verrät schon, dass es großflächig ist. Ich folge Jasons breite Statur, die vor mir läuft und schaue dabei von einer verschlossenen Tür zur anderen. Im Wohnzimmer angekommen fällt mein Blick direkt durch die Glaswand auf das große Balkon.

"Warte hier. Ich hole dir frische Sachen." 

Ich nicke nur. Als er den Raum verlässt weiß ich nicht wohin mit mir. Unschlüssig schweift mein Blick durch den Raum dabei auf die Wanduhr. Kurz nach 3 Uhr. 

In dem Zimmer kann ich mich nicht entscheiden, ob der riesige Plasmafernseher oder die ausgefallene Bar aus hellem Marmor der Blickfänger ist. Obwohl hier nichts an Deko steht, wirkt es nicht so steril und kahl wie das, was ich mein Zuhause nenne. Gerne wäre ich zum Balkon getreten, doch mir ist gerade viel zu kalt. 

Neugierig trete ich an das Regal neben dem Fernseher und entdecke ein einziges Bild. Nate und Jason stehen nebeneinander in Sportkleidung während Nate ein Fußball im Arm hält. Unwillkürlich muss ich bei dem Anblick der beiden lächeln.

"Das müsste dir etwa passen. Das Bad.." Erschrocken zucke ich zusammen, als mir bewusst wird, dass Jason direkt hinter mir steht. Auch er hält inne und schaut an mir vorbei. Als er das Bild sieht, erscheint ein kurzes Lächeln auf seinem Gesicht.

"Da war er fünf", offenbart er mir und ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Wieder wird mir schmerzlich klar, dass ich gar nichts über seine Familie weiß. Und danach zu fragen würde nur daran erinnern, was uns weggenommen wurde. 

Stattdessen nehme ich die Klamotten, die er in der Hand hält. 

"Das Bad ist am Ende des Flurs. Nimm ruhig ein Bad. Handtücher liegen bereits daneben", sagt er leise und erst jetzt sehe ich wie erschöpft er aussieht. Vor allem seine Lippen sind gefährlich blass. Das schwarze Shirt klebt wie eine zweite Haut an ihm. Er muss doch noch mehr frieren als ich im Hoodie.

"Du solltest auch ein Bad nehmen", erwidere ich und er setzt schon zur Antwort an, als ich leise hinzufüge: "jetzt gleich." 

Augenblicklich schießen seine Augenbrauen in die Höhe. "Lädst du mich gerade ein mit dir ein Bad zu nehmen?"
"Nein! - Nein ich meine.." Ja was meinte ich eigentlich? Am liebsten hätte ich mir auf die Stirn geschlagen, dass ich die Sache null durchdacht habe und mal wieder munter drauf los babbele. Ich begegne seinem belustigten Blick.

"Leider habe ich nur ein Badezimmer anzubieten also wie darf ich dein nettes Angebot verstehen?", fragt dieser auch noch im gespielt verwunderten Ton. Ich nehme sowohl tief Luft als auch den übrigen Mut zusammen ehe ich antworte. "Ich möchte nicht, dass du erfrierst und bevor wir es beide gleich tun kann ja einer die Dusche nehmen und der andere.. die Badewanne?" Insgeheim bete ich dafür, dass er beides hat, aber bei so einem modernen Apartment nehme ich das mal stark an.

Jason sieht mich nachdenklich an. Als ich einen leichten Windzug vom gekippten Fenster aus spüre, will ich ihm keine Gelegenheit für einen Widerspruch geben und ich ziehe ihn einfach mit mir mit. Als Kind habe ich immer von meiner Mum gesagt bekommen, dass Windzüge sehr gefährlich sind und man sich leicht eine Erkältung davon holen könnte.

Zu meiner Verwunderung gibt er auf dem ganzen Weg zum Bad hin nichts von sich. Langsam öffne ich die Tür zum Bad und lasse dabei seine Hand los. Tatsächlich erblicke ich eine Dusche etwa drei Meter von der Badewanne entfernt und mal abgesehen davon ist das Bad riesig. Man könnte auch eher von einem Minipool als von einer Badewanne reden. Da würden zehn von mir reinpassen.

Barfuß betrete ich das Bad und zucke kurz wegen der Kälte der Fließen zusammen. 

"Warte ich stelle den Boden wärmer", kommt es gleich von Jason und dreht an einem Regulierer rum. Unschlüssig schaue ich von ihm weg, versuche nicht Reue darüber zu empfinden, dass wir uns beide gleich nackt hier in einem geschlossenen Raum befinden werden.

"Du kannst dich schon mal ausziehen. Ich lasse dir schon mal das Wasser ein." Bei den Worten stellt er sich vor die Wanne mit dem Rücken zu mir. "Ich schaue nicht. Versprochen."
Okay tief Luft holen... Es gibt schlimmeres. Ja zum Beispiel Marc. Genau Marc ist schlimm. Stell dir vor er wäre anstelle Jason hier.

Verwirrt von meinem eigenen Gedankengang schüttele ich den Kopf und beginne damit mir den Hoodie über den Kopf zu ziehen. Dann folgen die Shorts. 

In Unterwäsche stehe ich nun da. Die nassen Klamotten hänge ich auf und behalte bei der kleinsten Bewegung Jason im Auge. Doch er steht nur ruhig da und dreht am Wasserhahn rum. 

Plötzlich halte ich inne. Ob er mich schon mal so gesehen hat? Mal abgesehen von vorhin. Ich meine wir haben uns doch beide geliebt.. Was wenn wir schon mal..?

"Es ist fertig. Ich warte bis du drinnen bist.. dann gehe ich unter die Dusche." 

Ich kann mich nicht bewegen. Wie konnte ich bis jetzt nicht daran denken?!? Es ist doch nicht zu glauben. Ich weiß noch nicht mal, ob ich noch Jungfrau bin oder nicht..!

"Silver?", vernehme ich die Stimme von Jason. Ich öffne leicht die Lippen, noch unfähig etwas von mir zu geben, als er sich auch schon von selbst umdreht und direkt zu mir blickt.

"Was ist los?", fragt er weiter und mustert mein Gesicht. "Ich kann auch rausgehen und-"

"Nein", unterbreche ich ihn. Ich trete an ihn heran, überbrücke somit die Meter die uns trennen.

Das kann ich nicht fragen. Ich meine wer tut es schon? Es ist demütigend.

"Bleib hier", bitte ich nur und trete dann an ihm vorbei. Ohne einmal auf ihn zu achten ziehe ich auch nun meine Unterwäsche aus und steige in die Wanne. Wärme empfängt mich und innerlich seufze ich auf. Meine erschöpften Glieder danken mir in dem Moment. Ich tauche bis zum Kinn unter und möchte für immer in dieser Position verharren. 

Irgendwann höre ich die Dusche laufen und schließe entspannt meine Augen. 

Doch sofort tauchen Bilder auf. Bilder von Jason und mir. Im Bett.

Und ich kann nicht sagen, ob das Vorstellungen oder Erinnerungen sind.

 

 

 Erschrocken tauche ich auf und schnappe nach Luft. Meine Hände finden umständlich den Rand der Wanne und klammern sich daran. Die Bilder verschwinden, ich blicke wieder klar auf das Wasser vor mir, doch Hitze zieht sich über meine Wangen.

"Silver?", vernehme ich aufeinmal Jasons Stimme. Erst jetzt fällt mir auf, dass die Dusche gar nicht mehr läuft.

"Alles okay?"
"Ja ja, alles gut", erwidere ich schnell, vielleicht etwas zu schnell. Ich widerstehe dem Drang über die Schulter hinweg zu ihm zu schauen. Stattdessen fange ich an an mir zu schrubben.  

  Irgendwann höre ich, dass die Tür zu fällt. Ich halte sekundenlang inne bevor ich mich umdrehe und feststelle, dass Jason einfach das Bad verlassen hat. Okay, es ist ja nicht so, dass er dazu verpflichtet ist, genauso lang wie ich im Bad zu bleiben. Die Situation ist komisch genug..

Ich wasche mich noch zu Ende bevor ich die Wanne verlasse. Im Spiegel erblicke ich mein erschöpftes Gesicht. Ich senke meinen Blick und betrachte die kleinen Narben an meinem flachen Bauch. Ich versuche immer wieder diese als Teil von mir zu akzeptieren, doch es fällt mir schwer. Vor allem wenn ich die Ursache nicht mal verstehe. Den Unfall.

Die Sachen, die mir Jason gegeben hat, sind ein langärmiger Pullover aus beigen Kaschmir und eine schwarze Leggins. Ich wundere mich, wem sie gehören vor allem, weil beides wie angegossen sitzt. Da der Pullover dick genug und meine Unterwäsche noch nass ist, beschließe ich keinen BH anzuziehen.

Ich föhne mir noch kurz die Haare bevor ich das Bad verlasse. 

Im Flur steigt mir sofort der Duft von Essen in die Nase und ich merke jetzt erst wieviel Hunger ich habe. Mein Blick fällt auf die verschlossenen Türen nebeneinander. Ich nehme tief Luft ehe ich beschließe seine Privatsphäre zu missachten. Fitnessraum, Abstellraum, Gästezimmer und Arbeitszimmer. Ich mache es immer kurz: Klinke runter, reinlunsen, Tür wieder zu. Noch eine Tür, welche sich schräg gegenüber dem Wohnzimmer befindet. Das gedämpfte Brutzeln verrät mir, dass die Küche nicht weit von dem Zimmer ist. Doch ich riskiere es trotzdem und drücke die Klinke runter. Doch nichts geschieht.

Die Tür ist verschlossen.

Ich schaue mich im Flur um. Sein Schlafzimmer müsste noch fehlen.

Es muss dieses Zimmer sein. Warum hat er es verschlossen? Etwa wegen mir?

Oder generell?

 Nachdenklich nehme ich meine Hand von der Klinke. Bin ich überhaupt bereit dafür? Für das Ganze hier? Hatte Jason mich das deswegen vorhin gefragt?
Ich trete seufzend einen Schritt von der Tür zurück und suche daraufhin die Küche auf. 

Dort blicke ich direkt auf Jasons breiten Rücken. Er hat nun ein dünnes graues Shirt und eine schwarze Jogginghose an. Seine Haare sind noch leicht feucht von der Dusche und er hat diese nach hinten gestrichen. Im Großen und Ganzen sieht er viel zu gigantisch für die Küche aus, dass es schon fast lächerlich aussieht.

"Du kannst kochen", stelle ich trocken fest und bleibe ein paar Meter neben ihm stehen. 

Jason schaut kurz zu mir rüber. 

"Wenn ich Zeit habe, ja", ist seine Antwort und schaltet dabei den Herd aus. Ich gucke auf eine braune Sauce mit ganz viel Gemüse und Fleisch oben drauf. Asiatisch ist es, mehr kann ich nicht sagen.

"Was ist das?" Ich deute auf das sorgfältig geschnitte Fleisch.

"Entenbrustfilet."

Ich helfe ihm so gut wie es eben geht beim Tisch decken und wir setzen uns an den Küchentisch.

"Es riecht wirklich gut", gestehe ich fast schon bewundernd, doch sehe ihn dabei nicht an. 

 Irgendwie schaffe ich es nicht mehr ihn richtig ansehen zu können, ohne das mein Herz aus seinem regelmäßigen Rhythmus gerät.

"Probier's erstmal." Ich höre das Lächeln aus seiner Stimme heraus ohne ihn ansehen zu müssen.

Tatsächlich schmeckt es verdammt gut. Wer hätte gedacht, dass der böse Kerl gut kochen kann.

Ich musste unwillkürlich lächeln, als ich wieder den Anblick mit ihm in der Küche vor Augen habe.

Seinen Blick spürend sehe ich zu Jason rüber, der schräg neben mir sitzt. Ja, statt gegenüber einander zu sitzen wie es Normale tun, bilden wir beide eine Ecke und müssen immer zur Seite schauen, um den anderen anzusehen. Mir fällt dabei ein, dass Jason derjenige ist, der sich nach mir hingesetzt hat.

"Schmeckt gut", lobe ich ihn nachdem ich unter seinem Blick mühsam schlucke.

Er nickt nur und widmet sich seinem Essen. Und so schweigen wir das ganze Essen lang.

Nachdem dem Abräumen stehe ich unschlüssig an der Tür.
"Jason" Ich hole tief Luft. "Bitte lasst uns nun reden."

Daraufhin dreht Jason sich zu mir um, trocknet noch seine Hände ab ehe er zu mir schreitet und dicht vor mir stehen bleibt.

Er nickt nur und geht an mir vorbei. Seufzend begebe ich mich wieder einmal dem Schicksal des hinterlaufendes Dackels. Wie erwartet sucht er sich für das Gespräch das Wohnzimmer auf. Ich schiele noch zur Schlafzimmertür bevor ich ihm durch die Tür folge.

Jason lässt sich auf die Couch nieder und ich mache es ihm nach. Er lehnt sich lässig zurück und platziert seinen Stahlarm auf die Lehne während ich kerzengerade sitze.

Wieder spukt der Gedanke im Bad in meinem Kopf rum und ich will am liebsten aufheulen. Es macht mich noch wahnsinnig. Aber ich kann ihn das nicht fragen. Zumindest nicht direkt.

"Erzähl mir von uns", bitte ich ihn, verschränke meine Finger ineinander und mache mich auf das Schlimmste gefasst. Denn illegale Sachen werden das Mindeste sein, was kommen wird.

"Von uns.." Er scheint in Gedanken versunken, dabei nehmen seine Augen einen unergründbaren Ausdruck an. Dann beugt er sich nach vorne und eisblaue Augen bohren sich in meine. "Von Anfang an? Da muss ich aber weit ausholen."

"Ich habe auch keine Kurzgeschichte erwartet", lächele ich.

 

 

Kapitel 33

 

2012

 

Ein Zug. Qualmende Hitze füllte meine Lungen. Entspannen tat es nicht, doch es half. Das blonde Mädchen warf ihr Haar zurück während sie sich mit ihrem Gefolge unterhielt. Der Kerl mit der David Beckham-Frisur umarmte sie von hinten und zog sie leicht aus dem Kreis weg. Sie drehte sich halb zu ihm um und erwiderte seinen Kuss halbherzig. Denn sie sah zu mir. Der aufsteigende Qualm meiner Zigarette ließ sie verschwinden ebenso wie mein Interesse an ihr.

Ein weiterer Zug. Ganz in der Nähe stand die Sportlergruppe und unterhielten sich. Dabei warfen sie Blicke zu der Mädchengruppe. Irgendwann bemerkten diese es und schauten neugierig zurück, jede in der Hoffnung das Objekt der Begierde zu sein. 

Die Kerle waren muskulös, manche sogar breiter als ich. Doch an ihren Bewegungen sah ich, dass es ein Klacks wäre sie in einem Kampf zu besiegen. Nicht dass es dazu kommen würde. Vielleicht.

Der letzte Zug. Gelangweilt ließ ich den Rest des Stümmels fallen und trat es aus. Dann stieß ich mich von der Wand ab, kehrte dem Szenario hier den Rücken zu und lief zum Gebäude. Am liebsten möchte ich kehrt machen, aber ich wusste, dass das hier nicht meine Entscheidung war. Es war seine.

Bevor ich die Tür aufstieß zog ich mir die graue Kapuze tief über die Stirn. Doch selbst das würde nicht dagegen helfen meine Augen richtig zu verdecken. Ich sah aus dem Augenwinkel wie ich angestarrt wurde. Anscheinend war ein Hoodie hier nicht ganz geläufig. 

Ich steuerte auf das Zimmer mit der Aufschrift SEKRETARIAT zu und machte es ohne zu Klopfen auf. Vielleicht nahmen die mich dann nicht mehr an, dann würde ich mir diese Klappsmühle sparen. 

Der Papierkram verlief zügig. Und obwohl die Sekretärin mich nicht mochte, wahrscheinlich wegen meiner Erscheinung, verriet sie mir den Raum, bei dem ich meine erste Stunde hatte und bot mir sogar jemanden an, der eine Rundführung mit mir machen könnte. Nein danke.

Ich unterdrückte das Gefühl etwas stärkeres zu nehmen stattdessen fragte ich einen Jungen nach Kaugummi. So unscheinbar und ein Nerd wie er war, gab er es mir mit zitternder Hand. Pfefferminze mit Melonengeschmack, nicht übel. Ich bedankte mich sogar. 

Das Getuschel ignorierend lief ich zum Raum. Aber ich hätte mir auch Zeit lassen können, denn die Klasse wartete noch auf den Lehrer. Ich stoppte an der Ecke und lehnte mich abseits an die Wand. Dieses Kaugummi schmeckte echt nicht übel. 

Gelangweilt schweifte mein Blick flüchtig über meine sogenannte Klasse. Jeweils ein Drittel Barbies, dann Sportler und zuletzt dieser unscheinbare Haufen. Verdammt, wo war ich hier bloß gelandet?!
Andererseits.. Die Sportler würden leichte Kunden werden. Einbisschen Kleingeld konnte nie schaden. Und die Püppchen.. Ich leckte mir über die Lippen. Die wären mal eine ganz nette Abwechslung. 

Das nervtötende Stökeln von Schuhen unterbrach meine Gedanken und an mir wehte die heftigste Parfümwolke meines Lebens. Selbst der Geruch der stärksten Droge übertraf es nicht mal.

Ich hustete diesen ekligen Gestank weg und folge der kleinen Ursache, die wohl die Lehrerin war. Sie ließ alle rein und musterte mich von unten herauf ehe sie sich erkundigte wer ich war.

"Bin neu", gab ich kurz von mir und bertrat den Raum.

 Genervt musste ich feststellen, dass die ganzen Sportler den hinteren Bereich besetzt hatten. Ich ließ mich also am Fensterplatz in der mittleren Reihe nieder. Das Mädchen vor mir drehte sich zu mir um. Es war die Blonde von vorhin. Barbie musterte mich und meine Kapuze als zu meiner leichten Verwunderung ein kleines Lächeln auf ihren dicken Lippen erschien.

"Deine Augen sind geil." Sie leckte sich verführerisch über die Lippen. 

Ich glitt mit meinem Blick von ihren grau-blauen Augen weg zu ihren prallen Brüsten und Kurven. 

Vielleicht war der Tag doch nicht so am Arsch. 
"Ich weiß", sagte ich nur und beugte mich näher an sie ran. Dadurch bekam sie einen guten Blick auf mein Gesicht und wie erwartet weiteten sich leicht ihren Augen.

"Du gefällst mir auch" Sie fand sich schnell wieder und reckte leicht ihren Kinn hoch. 

"Ich schmeiße heute Abend eine Party. Kannst ja vorbeikommen, wenn du magst."

Mein rechter Mundwinkel zuckte. "Wie wär's wenn wir unsere 'Party' auf die Pause vorverlegen?"

Ihr Mund öffnete sich leicht ohne dass sie etwas sagte, doch dann nickte sie diabolisch.

 Sie drehte sich um und ich lehnte mich zufrieden nach hinten. 

Die Parfümbombe bat um Ruhe und tatsächlich kehrte in der Klasse so etwas wie Stille ein.

Im nächsten Moment sah sie zu mir und bat mich sich vorzustellen. 

"Wie gesagt. Bin neu hier" Sollte die bloß nicht erwarten, dass ich auch noch dafür aufstand. Ich war hier um etwas abzusitzen und da blieb ich auch sitzen.

"Unser Neuer ist etwas zurückhaltend" Missbilligend sah sie mich an ehe sie fortfuhr. "Dann muss ich das wohl machen. Ab heute besucht er unsere Klasse. Sein Name ist Jason Coldon."

 

 

 Ich stieß seufzend die Luft aus nachdem die Tür hinter mir zu fiel. Dann fuhr ich mir durch die Haare. Die Kapuze war längst nicht mehr an ihrem Platz. Ich schaute gelangweilt zu beiden Seiten und sah wie voll die Fluren waren. Es war mir eindeutig zu laut. Aber das lag eher daran, dass meine Ohren von Barbie eben taub gestöhnt wurden. Ihren Namen hatte ich direkt nach ihrem ersten Stöhnen verdrängt und so oft wie die meinen missbraucht hatte, dachte sie bestimmt selbst schon, dass sie so hieß. Der überflüssige Versuch an meinem Hoodie zu schütteln, um den Gestank der ganzen Chanel Serie loszuwerden konnte ich einfach nicht unterlassen. 

Ich trat von der Tür zur Abstellkammer, in der ich Barbie noch nackt hinterlassen hatte, weg. Die wird auch noch einbisschen brauchen bis sie raus konnte. 

 Auf dem Weg nach draußen begegnete ich eine Gruppe von Muskelpaketen. Sportler.

Gerade noch spielte ich mit dem Gedanken mein erstes Geschäft hier zu machen als mein Handy vibrierte.

Fuck.

Es war Er.

Heute Abend stand wieder ein Deal an. Zwei Wochen hatte er kein einziges Lebenszeichen von sich geben lassen und auch seine Leute hielten dicht und jetzt das. 

Wenn meine Laune vorhin noch schlecht war, sank sie jetzt auf den absoluten Tiefpunkt.

Meine Hände verschwanden in den Hosentaschen doch fanden nicht das, was ich wollte. 

Ich näherte mich dem Schuleingang und einige von der Gruppe blickten auf. Skeptisch, voreingenommen und doch neugierig. Sie machten keinen Mucks als ich an ihnen vorbei lief. 

Das Einzige, was ich jetzt brauchte ist etwas körperliches. Und damit meinte ich nicht einer Frau das Hirn wegzuvögeln, denn selbst da bekam ich nicht den Kopf frei. Mittel wie Joints verblassten in ihrem Effekt schneller als erwünscht. Nein, der Ausweg trug den Namen Training.

Die Leute um mich herum ausgeblendet steuerte ich zu meinem Baby. 

Ein Schwarm von entgegenkommenden Schülern wichen mir aus als die ersten von ihnen leicht von mir angerempelt wurden. Die Kommentare ignorierend lief ich weiter. Doch als das Wort "Arsch" fällt juckte mein Mittelfinger. Mehr als Bestätigung als Widerspruch versteht sich.

Als ich mich aber wieder nach vorne drehte, lief ich in etwas rein. Oder eher in jemanden. 

Ich konnte im ersten Moment nichts vor mir erkennen. Dann erst entdeckte ich sie auf dem Boden. Unwillkürlich musste ich schlucken. Ob das an der Tatsache lag, dass es unerwartet war oder dem Anblick konnte ich nicht sagen. 

Das Mädchen, in das ich hineingelaufen war, lag nicht gerade damenhaft auf ihrem Hintern und wie sie mit zusammen genkiffenen Augen ihr Gesicht schmerzlich verzerrte, hatte ich große Arbeit geleistet.

Mein Blick streifte ihre makellosen Beine und obwohl mein letzter Sex ein Schulflur her ist, erweckte dieser Anblick erneute Lust in mir.

Ich wollte eigentlich einfach weitergehen. Doch da war etwas, was mich daran hinderte und ich bewegte mich keinen Zentimeter.

Plötzlich öffnete sie ihre Augen und mich blickten die intensivsten grünen Augen an. Nein, sie funkelten mich an.

"Kannst du auch etwas anderes als mich dumm anzustarren? Mir hochhelfen wäre gar nicht mal so schlecht." 

Unerwartet kam ihre Schlagfertigkeit, denn ihr Äußeres verriet wenig über sie, was unüblich für mich war. Sie trug eine normale Jeans und eine figurbetonende Bluse.

Ich beschloss das erstmal beiseite zu schieben und der Kleinen mal das Maul zu stopfen. 

"Ich starre dich nicht an, sondern warte auf deine Entschuldigung", war meine einzig schnelle Antwort darauf und fast ärgerte mich das, doch ihre Reaktion darauf war es mir wert.

Sie schnaubte verärgert, dabei fielen ihr sämtliche tiefbraune Haarsträhnen ins Gesicht ehe sie plötzlich ergeben in den Himmel hockblickte. Mit der Tatsache, dass sie mit angewinkelten Beinen noch auf dem Boden lag, ergab dies einen interessanten Anblick. Ihren Oberkörper stützte sie mit beiden Armen am Rücken hinten ab. 

"Gott, womit habe ich das verdient? Ich würde dich ja als Arsch bezeichnen, aber das weißt du bestimmt selbst - nein, du lässt es ja nur so drauf ankommen - also sage ich dir lieber das: Verschwinde einfach."

Beim letzten Satz sah sie mich ausdrucklos an. Ich zog die Augenbrauen zusammen. Ihren Worten nachzukommen, indem ich weitergehe wäre das Einfachste und eigentlich wollte ich das auch, aber jetzt wo und vor allem wie sie das sagte, hielt ich inne. 

Mein Blick fiel auf ihre freiliegenden Füße, bei denen nicht weit auf dem Boden ein Paar High heels lagen. Sie musste beim Sturz umgeknickt sein, denn ihre Füße waren in einem ungesunden Rosaton. Einen Kommentar zu den definitiv unpassenden Schuhen verkniff ich mir und ich tat etwas, was mich selbst verwunderte. Langsam beugte ich mich zu ihr herunter und griff nach den Schuhen. Mir entgingen ihre Argusaugen nicht, mit denen sie mich dabei beobachtete. Komischerweise sagte sie nichts also griff ich im nächsten Moment zu eines ihrer Füße, doch sie zuckte zischend zusammen. 

"Verstaut", war mein trockener Kommentar dazu und sie verdrehte nur die Augen. 

"Du bist ja ein richtiger Intelligenzbolzen." Ihre Stimme klang aufeinmal nicht mehr so fest wie vorhin, was wohl auf die Schmerzen zurückzuführen war.

Kurz überlegte ich. Ja, es lag sogar auf dem Weg. Und damit hätte ich sogar eine Entschuldigung für mein noch bis vor Kurzem geplantes unentschuldigtes Fehlen des restlichen Schultages. 

Ich musste mich trotzdem überwinden bis ich dann in Sekundenschnelle das protestierende Mädchen vom Boden aufsammelte, um wieder meinen Wagen anzusteuern. Fast zuckten meine Mundwinkel, denn trotz offensichtlichem Erstaunen über meine Reaktion konnte sie es nicht lassen im allerletzten Augenblick noch zu ihrer Tasche zu greifen, das nun auf ihrem Schoß lag. 

 

 

Schweigend ließ sie sich von mir auf dem Beifahrersitz ablegen. Als ich sie anschnallte und ihr dabei etwas nah kam vernahm ich wie sie ihre Nase rümpfte. 

"Du stinkst nach .. schlechtem Frauenparfüm." Mit den Worten drückte sie sich weiter in den Sitz so als würde das etwas bringen.

Angeekelt sah sie an mir vorbei und ich gab mir nicht die Mühe ihr zu antworten. 

Ich startete den Motor und verließ den Parkplatz nicht ohne dass mir die neugierigen Blicke entgingen. 

Heute Abend ging es wieder los. Bis dahin musste ich die Kleine hier loswerden. Ich beschloss mich noch vor ihrer Behandlung aus dem Staub zu machen. Krankenhäuser waren sowieso nicht mein Ding.

"Bist du neu an unserer Schule?", durchbrach die Stimme der Kleinen das so angenehme Schweigen. Sie klang ruhig, fast kontrolliert. Vielleicht waren die Schmerzen doch nicht so schlimm, obwohl der Fuß immer noch übel aussah wie ich mit einem flüchtigen Blick feststellte. 

Ich nickte nur und fuhr eine Spur schneller. Das Mädchen seufzte nur und gab für den Rest der Fahrt nichts mehr von sich, was mir mehr als nur recht war. 

Denn ich war sowieso zu beschäftigt damit abzuwägen, welchen Revolver ich später benutzen würde. 

 

 

Vor dem großen Gebäude angekommen parkte ich mein Baby notbedürftig. Ich nahm unauffällig tief Luft ehe ich meine unbeteiligte Miene aufsetzte. 

Der warme Nachmittagswind wehte mir entgegen als ich die Autortür zuschlug und ich zog mir den nun widerlichen Hoodie über den Kopf, um ihn dann auf den Rücksitz zu schmeißen.

Dann öffnete ich die Beifahrertür und bemerkte erst jetzt wie blass das Mädchen um das Gesicht war. War sie auch schon vorher so kalkweiß? 

Ich beschloss nicht weiter darüber nachzudenken und nahm sie auf den Armen. Sie protestierte diesmal nicht, sondern legte sogar ihren Kopf auf meine Schulter. Ihr Atem ging unregelmäßig und sie zitterte leicht. 

Stirnrunzelnd betrat ich mit ihr auf den Armen das Krankenhaus. Ihre Symptome gaben mir etwas Bedenken. Das konnte wohl kaum nur von unserem Zusammenstoß kommen. Ich blickte prüfend auf sie herab. Sie hatte ihre Lider geschlossen. Wenn die jetzt irgend so eine Krankheit hatte, bei welchem sie auf alles und jeden hypersensibel reagierte und gleich zusammenbrach, dann war das heute wohl mein Pechtag.

Die Sorte von Menschen ertrugen und durften das Wenigste. Wie wenig musste man dann vom Leben haben? 

Schade wäre es doch um sie. Einen schlechten Körper hatte die Kleine ja nicht. Zwar war sie keines dieser Barbies, die ich gewöhnt war, aber ich würde fast behaupten ihre Proportionen wären besser.

Auch nahm ich jetzt erst ihren Duft wahr, was wahrscheinlich daran lag, dass ich meinen verseuchten Pulli nicht mehr trug. Er war äußerst angenehm, etwas rosig mit einem Hauch Kokos.

Ich erklärte der Schwester hinter dem Tresen die Situation und übertrieb etwas, damit das Ganze hier schneller ging während ich sie weiter in den Armen hielt.

Als die Schwester nach der Krankenkarte fragte, fluchte ich, dass ich ihre Tasche vergessen hatte. Ich setzte die Kleine auf der großen Couch im Wartezimmer ab und holte ihre Tasche. 

Silver Haygilton las ich von ihrer Krankenkassenkarte ab bevor ich es der Krankenschwester am Tresen reichte.

 

 

Eine Weile später kam endlich ein Arzt während ich ungeduldig am Handy tippte. 

"Guten Tag, ich bin für Silver Haygilton zuständig." Ich stand auf und er schüttelte mir die Hand während er zwischen mir und dem halb bewusstlosen Mädchen blickte. "Sie sind dann..?"

"Ein Schulkamerad."

Er nickte wissend und sah wieder zu dem Mädchen.

"Wie ich bereits Ihrer Assistentin geschildert habe sind wir beide aneinandergestoßen und sie hat sich dabei den Fuß verstaut. Auf dem Weg hierher ist sie ganz blass geworden und zittert und atmet unregelmäßig."

"Verstehe, dann werde-"
"Hören Sie, ich kann leider nicht bleiben, aber Sie machen das schon. Das Mädchen kann ja dann später ihre Eltern anrufen. Schönen Tag noch." 

Mit den Worten ließ ich den verdutzten Arzt stehen und beeilte mich dieses ätzende Gebäude zu verlassen. 

 

 

 

Jab.

Punch.

Sidekick.

Jab.

Uppercut.

Fuck!

Wütend schlug ich gegen den Sack, diesmal unkontrolliert. Er schwang hin und her und das machte mich noch wütender. Ich brachte ihn zum Stillstand und achtete wieder auf meine Atmung. 

Erschöpft lehnte ich meine Stirn gegen den Boxsack. 

"Seid wann wird nach 'nem Kampf gekuschelt, Jay?", drang eine Stimme zu mir durch. 

Schnaubend ließ ich es los und griff nach dem Handtuch auf der Bank. Ich warf Chris einen genervten Blick zu ehe ich ihm den Rücken zuwand. Doch ich spürte seinen prüfenden Blick.

"Hattest' wohl schlechten Sex heut'", schob er weiter nach und ich knurrte. Der schob auch jedes Problem auf schlechten Sex! Unwillkürlich dachte ich an vorhin. Nein, Barbie war okay. 

Ich wand mich nun direkt zu ihm. "Er ist wieder da", kam ich direkt auf den Punkt.

Sofort wurden seine Augen groß und er stieß geräuschvoll die Luft aus.

"Fuck", knurrte er ehe er sich die Schützer von den Händen abzog. "Die brauche ich wohl dann nicht mehr."

Ich nickte nur. Auf dem Weg in den Ring nickte ich noch einpaar Kollegen mit rein. Sie zogen alle jegliche Schützer aus. 

Das Training auf raw-hit-way war sowas von überfällig.

Es lief so ziemlich immer auf eine Art ab.

Einer von den Jungs ging in die Mitte. Der Rest kreiste ihn ein und einer blieb am Rande. Er beobachtete das Ganze und sorgte hier und da für den letzten Schliffer.

Ich sah um mich herum. Es waren sechs.

Da ich seinen Auftrag direkt heute Abend hatte, gab ich dem Jungs zügig mit einem Nicken Zeichen endlich anzufangen.

Tief Luft holend ließ ich meinen Nacken kreisen und ging auf Position.

 

 

 

 

"Mit wem haben wir es diesmal zu tun?" Chris warf mir einen Seitenblick zu während er seine Tasche schulterte. An seinem rechten Arm zeichnete sich schon langsam der blaue Fleck ab, der von Rics fiesen Kick stammte. Chris stand auch ungünstig. Ein kurzer Moment. Eine Millisekunde.

Ich wand den Blick ab, denn ich wollte nicht daran denken. An die eine Sekunde, die mich hätte umbringen können, wäre Chris damals nicht da gewesen.

"Russen." Ich öffnete den Wagen und wir stiegen ein.

"Und was wollen die diesmal rüberschmuggeln?", bohrte Chris nachdenklich weiter. An seinem angespannten Kiefer konnte ich ihm deutlich ansehen, dass ihm das Ganze nicht gefiel.

Ich mochte die Russen auch nicht.

"Das Übliche. Aber die wollen es bald mit Waffen versuchen." Meine Finger bohrten sich in das Lenkrad, denn das war etwas, was ich schon lange befürchtet hatte.

Drogenschmuggel war die eine Sache, die in unserer Unterwelt passierte, aber Waffen... das ging mit Terrorismus einher. 

"Fuck!", brachte es Chris auf den Punkt.

Wir mussten es stoppen bevor diese Organisation noch viel mehr Leben zerstörte als bereits meines oder Chris.

 

 

Kapitel 34

 

 "Stopp"

Ich halte inne und blicke Silver ausdruckslos an. Während meiner Erzählung habe ich einen Punkt an der Wand fixiert, denn ich konnte sie einfach nicht dabei ansehen. 

In ihren smaragdgrünen Augen spiegeln sich Entsetzen, Verwirrung und sogar Angst wieder und es fällt mir in diesem Moment verdammt schwer es nicht zu bereuen ihr von der Vergangenheit zu erzählen.

Der Wahrheit. 

"Aber.. heißt das, dass du mit.. mit Drogen und sogar Waffen..", stottert sie herum während ihre Augen vorsichtig mein Gesicht abtasten, so als würde sie dort etwas finden wollen, dass ihr sagt, dass das alles nur ein schlechter Scherz war. 

"Ja", bringe ich nur hervor.

Sie stößt geräuschvoll die Luft aus und steht auf. Ich hingegen rühre mich nicht und überlege genauestens, was ich ihr als Nächstes sagen soll und darf.

Vor mir läuft Silver im Zimmer hin und her. Sie scheint nicht mehr geschockt zu sein, sondern am grübeln.

Nur zu gerne würde ich jetzt wissen, was in ihrem hübschen Kopf vorgeht.

"Du wusstest bereits, dass so etwas kommen könnte", stelle ich klar und sie bleibt vor mir zum Stehen.

"Ja! Ich habe mir schon einige illegale Sachen ausgemalt, es aber bestätigt zu bekommen und das in einem solchen.. Ausmaß, ist etwas anderes verdammt nochmal!", donnert sie ungehalten zurück. 

"Dabei ist das nur der Anfang", verkündige ich reserviert, denn dem war auch so. 

Was drum herum noch war, das ist noch eine ganz andere Geschichte.

Silver stößt geräuschvoll die Luft aus während sie mich einfach nur anstarrt. 

Ein Tornado der Gefühle prallt dabei gegen mich.

Wut.

Angst.

Verwirrung.

Ich halte dem stand, obwohl ich sie eigentlich einfach in meine Arme nehmen will.

"Ja, das habe ich mir gedacht. Kaum zu glauben, dass wir uns so kennen gelernt haben. In der Schule", erwidert sie nach einer Weile, die mir ewig vorkommt. Sie nimmt wieder neben mir Platz, doch mir scheint als hätte sie sich jetzt mit mehr Abstand hingesetzt.

Oder kommt mir das nur so vor?

Ich ignoriere den seltsamen Stich in meiner Brust.

Smaragdgrüne Augen sehen wieder zu mir und ich rede mir ein, dass sich nichts ändern wird. 

"Wie hast du dir denn unsere erste Begegnung vorgestellt?", frage ich ehrlich neugierig.

"Ich dachte eher an sowas wie eine Entführung oder so", spricht sie ehrlich ihren Gedanken aus und meine Augenbrauen wandern nach oben.

"Ach? Weil auch alles mit mir illegal sein muss?"

Sie grinst mich entwaffnet an und fast möchte ich es erwidern, doch im selben Moment trüben andere Dinge meine Gedanken und ich frage mich ehrlich wie ich dieses Mädchen vor mir retten kann.

Imprint

Text: Milena Nguyen. - Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Autors. Hinweis zu § 52 a UrhG!
Publication Date: 04-25-2014

All Rights Reserved

Dedication:
Großes Danke an Schneekoenigin, die das tolle Cover gestaltet hat ♥ Und Dankeschön an alle meine Leser, die mir immer ihre Meinungen und auch Wartebeschwerden mitgeteilt und mich so supportet haben ♥

Next Page
Page 1 /