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Eins

 

Zwei Jahre Zuvor

 

„Relana. Relana, Liebes.“ Seine zitternden Hände hielten ihr Gesicht sanft aber bestimmt in ihrer Umklammerung. „Relana, hör mir zu.“ Die Stimme zu einem Flüstern gesenkt, jedoch ebenso unruhig, wie seine Fingerspitzen. Einen Augenblick später senkte er sein Gesicht zu ihrem und berührte ihre Stirn liebevoll mit seiner. Er küsste sie auf die gleiche Stelle, an der sich soeben ihre Gesichter berührt hatten, mit einer Hingabe, die an Verzweiflung grenzte. „Relana. Du musst mich vergessen. Hast du verstanden?“ Seine Augen sahen nun angespannt in ihre. „Vergiss uns, vergiss alles, was uns miteinander verbindet. Lösche mich aus deinen Gedanken und vor allem, lösche mich aus deinem Herzen!“

Das Mädchen schüttelte verzweifelt den Kopf. Ihre Lippen bebten, als ob sie etwas sagen wollte, doch so sehr sie sich auch bemühte, die Worte wollten sich nicht bilden. Ihre Augen waren feucht von zurückgehaltenen Tränen, das Gesicht angespannt und ihre Hände verkrampft im Schoß gefaltet.

Ihr Gesicht noch immer in seinen Händen, küsste er sie noch einmal. Doch dieser Kuss, der kaum ihre Haut berührte war endgültig, das spürte das verängstigte Mädchen. Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern, als sie endlich zum Sprechen ansetzte:

„Linos. Warum sollte ich dich vergessen wollen?“ Der Mann, der soeben noch ihr Gesicht festgehalten hatte, senkte seine Hände und blickte sich im Raum um. Seine Bewegungen wirkten abgehackt und gehetzt. Die Augen aufgerissen vor Trauer und vor allem vor Anspannung.

„Wie? Wie soll ich dich vergessen?“ Mit einer schnellen Bewegung hatte er wieder ihre Hände gegriffen.

„Relana. Ich weiß, es klingt verrückt, aber vertrau‘ mir einfach. Wir dürfen nicht zusammen sein.“

Die junge Frau hatte ihre Hände umständlich aus seinen Fingern gewunden und brachte es, nur durch pure Verzweiflung, zustande ihn anzuschauen.

„Niemand hat das Recht einem anderen vorzuschreiben, mit wem er zusammen sein soll. Lehn‘ dich dagegen auf. Wirf das hier nicht weg.“ Er hatte die kurze Zeit, in der sie gesprochen hatte, auf ihre Hände gesehen. Blonde Haare verdeckten sein Gesicht. Doch als er seinen Blick wieder auf Relana richtete, glitten helle Strähnen zur Seite und gaben den Blick auf seine Augen frei. Jene vormals hellblauen Tiefen waren dunkler geworden. Wie ein feines Gewebe zogen sich rote Adern durch das Weiß und sogar durch das Blau der Iris. Sie pulsierten und wurden von Moment zu Moment dunkler. Auch sein Gesicht hatte sich verändert. Um die Augen herum schien die Haut dunkler geworden zu sein und mit jeder Sekunde die verstrich, verzogen sich Muskelpartien und machten seine Züge schlanker, animalischer. Relana wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch als Linos wieder zum Sprechen ansetzte, waren seine Augen vollkommen Schwarz.

„Es tut mir leid, Relana.“ Er war näher an sie herangerückt und berührte mit seinem Gesicht die Haut an ihren Hals und wanderte mit seinen Lippen weiter nach Oben, um ihr schließlich wieder in die Augen zu blicken.

Er sah ihre Angst, sah, dass sie erkannte, in was er sich zu verwandeln drohte. Und er sah, dass sie verstand. Es brach ihm das Herz, aber es musste sein.

Das Schwarz seiner Augen wandelte sich und begann zu pulsieren, mit dieser Veränderung spürte auch Relana, wie sich die Luft um sie herum zu ändern begann. An der Stelle seiner Augen, wo normalerweise die Pupille saß, wurde Linos Auge heller und war schließlich ein gleißender Lichtpunkt. Das Licht schien Relana einzuhüllen, erfasste ihren Geist und sandte ihr wohlige Schauer durch den Körper. Sie war gefangen von den warmen Wellen, die bis in ihre Zehenspitzen kribbelten und hatte keine Möglichkeit, sich gegen das geistige Eindringen von Linos zu wehren.

„Vergiss Relana!“, drang seine leise Stimme zu ihrem Verstand durch.

So sehr sie sich auch gegen dieses Gefühl wehrte, als es verblasste, waren Linos und alle Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit verschwunden …

 

31. Dezember 1850

 

Langsam ließ er den toten Körper zu Boden gleiten. Es hatte geschneit und die Leiche war schnell ausgekühlt. Äußerlich waren dem Jüngling keine Verletzungen anzusehen, doch Linos wusste, hätte er seinen Angriff überlebt, hätte er weitaus schrecklichere Schäden genommen. Bislang war dies erst ein einziges Mal passiert, doch selbst diese einmalige Erfahrung war Grund genug dafür, keines seiner Opfer am Leben zu lassen.

„Linos.“ Die ruhige Stimme seines Begleiters ließ ihn aufblicken. Er war aus der Dunkelheit getreten und ging nun mit langsamen Schritten auf den am Boden Knienden zu. Kleine Glassplitter knirschten unter den Schuhen des Anderen und Linos wusste, dass dieser, um zu ihm zu gelangen, keinerlei Geräusche verursachen musste. Er wollte, dass Linos ihn hörte.

„Was willst du?“ Noch immer hielt seine Hand die kalten Finger der Leiche und sein Blick verweilte unruhig auf dem erschlafften Gesicht des Jungen.

„Komm‘ wieder rein. Sie warten auf dich.“ Linos wandte seinen Blick von dem Toten ab und dem Anderen zu.

„Lass mich in Ruhe Seere, die Anderen können warten …“ Das Knirschen hatte aufgehört und mit einem Mal spürte Linos eine weiche Hand auf seiner Schulter. Seere hatte sein Gesicht ganz nah an seines herangelehnt und sog die Nachtluft tief durch die Nase ein. Diesem Mann so nahe zu sein, war selbst für Linos schwer zu ertragen.

„Jetzt weiß ich, warum du diesen Namen gewählt hast. Linos … der Klagende. Ha! Nur trauere nicht zu lange, auf dich warten größere Aufgaben.“ Augenblicklich verschwanden Druck und Nähe und Linos war wieder allein.

Es war schwer einzugestehen, aber Seere hatte Recht. Er musste gehen. Den Jungen ließ er liegen, Aasfresser würden sich um ihn kümmern, sobald Linos aus der Gasse verschwunden war.

Er bewegte sich langsam in die Richtung aus der Seere gekommen war, auf das Herrschaftshaus zu, das zu dieser Stunde hell beleuchtet war. Sein Rocksaum war vom Schnee durchweicht und er würde sich umziehen müssen. Justinus duldete keine Auffälligkeiten.

Linos Bruder hatte für die Öffentlichkeit zu einem Maskenball geladen und viele Menschen der oberen Schicht der Stadt waren der Einladung gefolgt. Das Haus war überfüllt und der menschliche Geruch hing schwer wie Parfum in der Luft. Es war ein intelligenter Zug gewesen die Versammlung mit einem Silvester-Ball zu vertuschen, so blieb ihnen das Gerede der Menschen erspart und keiner schöpfte Verdacht. Durch die Maskenpflicht waren sie vor der Neugierde der Anwesenden geschützt und konnten ohne Sorge unter ihnen wandeln. Denn nicht jeder von ihnen war mit einer solchen Ausstrahlung gesegnet, wie Seere.

 

Vor dem Haupteingang hatte Justinus Wachen positionieren lassen. Auf Menschen wirkten sie wie maskierte Pagen, doch durch seine unverschleierte Sicht, konnte Linos ihre wahre Gestalt erkennen. Hinter den roten Masken, deren schmale Ränder mit Fuchsfell besetzt waren, sodass sie einen großen Teil des Gesichtes verbargen, glühten rote Augen. Es waren offensichtlich Beriths Männer, wenn man bei ihnen von Männern sprechen konnte. Denn ganz nach dessen Geschmack, waren sie gänzlich in Rot gekleidet. Linos hatte Beriths Obsession für die Farbe Rot noch nie verstanden. Mit gesenktem Haupt ging er an ihnen vorbei, ihren argwöhnischen Blick im Nacken, ließen sie ihn passieren. Sie erkannten ihn am Geruch. Denn, auch wenn es so wirkte als könnten sie sehen, diese Soldaten waren blind.

Linos hatte nicht die Absicht, direkt in die Arme seines Bruders zu laufen und schlich sich vorbei an den Menschenmassen, hinauf in sein Schlafzimmer.

Da Justinus sehr an der Einhaltung seiner Regeln gelegen war, wählte Linos einen schwarzen Wams mit blauem Gehrock. Dieser war mit schwarzem Fell abgesetzt und mit silbernen Knöpfen verziert. Ein dunkelblauer Ascot-Schal bildete den Abschluss. Er nahm seine Maske in die Hand. Sie war den Pestmasken des vorherigen Jahrhunderts nachempfunden, mit langem schnabelförmigen Vorderteil und dunklen Augenaussparungen. Sie war aus weißem Leder gefertigt und die weichen Strukturen der Tierhaut, sowie die präzise gesetzten Nähte, ließen die Fertigkeit des Herstellers erahnen. Keiner würde ihn heute Abend erkennen. Und genau das wollte er auch.

 

Einige Minuten später war er vom geistigen Nebel und Pulsieren der Menschen im großen Ballsaal eingehüllt. Belanglose Gesprächsfetzen zogen an seinen Ohren vorbei und nicht wenige Gäste wandten sich ihm zu, um ihn in ein Gespräch einzubeziehen. Doch Linos bahnte seinen Weg vorbei an steifen Frackträgern und kichernden Damen, um endlich an der Tür zum Büro seines Bruders anzugelangen.

Justinus saß vor dem brennenden Kamin ein Glas Rotwein in der Rechten und ein fremdartig wirkendes, glänzendes Ding in der linken Hand. Er machte sich nicht die Mühe, seinen Blick von dem blitzenden Etwas abzuwenden um Linos zu begrüßen. Stattdessen sprach Seere:

„Schön, dass du es geschafft hast.“ Die triefende Ironie in seiner Stimme, machte auch sein mildes Lächeln nicht wett.

Mit einem milden Nicken ging Linos an Seere vorbei und nahm in dem Sessel neben seinem Bruder Platz.

Auch jetzt sprach Justinus nicht, hatte die Augen weiterhin auf den Gegenstand in seiner Hand gerichtet. Im Feuerschein wirkte das Metall fast Kupferfarben, doch bei genauerer Betrachtung stellte es sich als Messing heraus. Es schien ein Teil von einem größeren Komplex zu sein, denn an einem Ende waren Haken zur Montage angebracht. Das andere Ende war umso interessanter. Linos mutmaßte, dass es so etwas, wie eine Spitze darstellen sollte. In einem Messingring saß ein Bernstein, so groß wie seine Faust, rund geschliffen und Poliert, dass er wirkte, wie eine riesige, goldfarbene Iris.

„Interessant, nicht wahr?“, erhob Justinus nach einigen Minuten des Schweigens das Wort. Sein Bruder nickte nur.

„Es ist das letzte Teil einer Maschine, die meine Ingenieure in den vergangenen Monaten angefertigt haben. Und dieser Bernstein hier“, er drehte den runden Stein langsam in seiner Hand, „wird die Apparatur zum Laufen bringen.“ Er stellte Wein und Maschinenteil ab, erhob sich aus seinem Sessel und trat so schnell an Linos heran, dass dieser seine Bewegung kaum wahrnahm.

„Und du, kleiner Bruder, wirst nicht einen geringen Teil zu meinem Erfolg beitragen.“ Justinus aufgerissene Augen glommen siegessicher und das Flackern des Kaminfeuers schien das Lodern seiner Seele zu sein.

Unmerklich wich in Linos seinem Sessel zurück und wartete.

„Murmur …“ Justinus wirkte angespannt und dem Wahnsinn nahe. Als Linos nicht antwortete, verringerte sein Bruder den kaum vorhandenen Abstand noch und war ihm nun so nahe, dass sein Herz gegen Linos Brust schlug.

„Wir werden die Menschen endlich von ihrer Krankheit befreien. Wir werden ihnen beweisen, dass wir die einzigen Wesen sind, die wirklich und wahrhaftig lieben können. Das, was sie Liebe nennen, muss ausgemerzt werden. Menschen sind und waren niemals zu diesem Gefühl in der Lage.“

Linos kannte diesen Vortrag seines Bruders bereits und er wagte es nicht, ihm zu widersprechen. Dieser Wahn war es gewesen, weshalb Justinus vor Jahrtausenden Sodom und Gomorra zum Untergang verdammt hatte. Diese Abneigung gegen menschliche Vereinigung und insbesondere der menschlichen Liebe, war es, die etliche Kulturen ihrer Unschuld beraubt hatte. Doch wusste er nicht, wie er ihm dieses Mal behilflich sein sollte. Er liebte nicht. Nicht mehr …

„Was hast du vor?“ Linos Stimme war leise und krächzend, doch Justinus hatte von ihm abgelassen und war neben den Kamin getreten. Den Stein wog er nun wieder in seiner Hand.

„Du erfährst es noch früh genug, jetzt geh hinaus und amüsiere dich. Wir treffen uns in einer Stunde im großen Speisesaal, dann wirst du alles verstehen.“

So schnell es ihm möglich war, ging er vorbei an Seere und drückte die Tür zum Ballsaal auf. Nie war er erleichterter gewesen, aus der Nähe seines Bruders entlassen worden zu sein. Selbst die menschliche Nähe und die erdrückenden Gedanken der Anwesenden waren ihm lieber, als die Hirngespinste seines Bruders. Trotzdem wusste er, dass er ihn in diesem Wahn nicht aufhalten konnte.

Die schützende Maske wieder über dem Gesicht, drängte er sich durch Meere von Stoff, vorbei an schwarzen Anzügen und ausladenden Tornüren. Sicherheit fand er schließlich nahe der Terassentüren. Hier konnte er durchatmen und der Lärm der menschlichen Unterhaltungen verschwamm zu einem Summen mit ihren Gedanken.

„Murmur.“ So hatte Justinus ihn schon seit Ewigkeiten nicht mehr genannt. Den Namen, den er vor tausenden Jahren abgelegt und immer wieder mit anderen ersetzt hatte, nur um nicht mehr an sein Schicksal erinnert zu werden. Murmur, der von den Engeln verstoßen wurde, weil er dem Morgenstern folgte, aus den falschen Gründen, wie er schmerzhaft feststellen musste. Doch es gab kein Zurück.

 

Einige Minuten stand er in sicherer Entfernung zu den Gästen, beobachtete und lauschte, als eine Präsenz ihn aufsehen ließ. Es war kein Wort oder präziser Gedanke, es war die Gesamtheit des Menschen, der diese Signale aussandte. Linos kannte ihren einzigartigen Geist sofort, obwohl er ihn hatte vergessen wollen.

Durch den Schutz seiner Maske war er sich sicher, dass ihn keiner der anwesenden Menschen erkennen konnte. Er ließ seinen Blick über die Menge gleiten, auf der Suche nach dem einen Gedanken, der seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Auf der Suche nach dem Menschen, den er für immer verloren geglaubt hatte.

Jetzt, da er wusste, dass sie hier war, hatte sich ihre Spur, wie ein Leuchtfeuer in seine Gedanken gekrallt. Auf der anderen Seite des Saales entdeckte er sie schließlich. Die dunklen Haare kunstvoll gesteckt, zierten silberne, Vogelfedern nachempfundene, Gebilde ihre Frisur. An ihren Schläfen waren glitzernde Edelsteine in die Strähnen eingeflochten und zahllose Perlen und Juwelen fanden sich in Haar und auf dem Kleid wieder. Ihre Maske war filigran und ließ fast mehr von ihrem Gesicht sehen, als sie verdeckte. Schmale Silberdrähte waren zu komplizierten Gebilden geformt und das gekonnte Spiel der eingearbeiteten Steine, machte ihre Erscheinung perfekt. Ohne Zweifel, es war Relana. Als sie in seine Richtung blickte und ihre dunklen Augen direkt in seine zu sehen schienen, setzte sein verbittertes Herz für einen Moment aus.

Was suchte sie hier? Sie durfte nicht hier sein! Panik schoss durch seine Glieder und trotz des unguten Gefühls im Magen, ging er zu ihr. Er musste es wissen. An wie viel erinnerte sie sich? Sollte ausgerechnet er einen Fehler gemacht haben?

Ihre Nähe schmerzte fast körperlich, bei jedem Schritt, den er näher trat. Zu ihrem Schutz hatte er sie vergessen lassen, doch sie war zurückgekehrt. Strahlender und begehrenswerter als jemals zuvor.

„Darf ich sie zu diesem Tanz bitten?“ Er erhielt ein schüchternes Lächeln zur Antwort, er wartete, doch nichts verriet ihr Erkennen. Denn wie sollte sie auch? Seine eigene Maske verdeckte nicht nur sein gesamtes Gesicht, sondern verdunkelte auch seine Augen. Mit einer fast beiläufigen Bewegung zog er die Maske vom Gesicht und blickte Relana an. Doch, was immer er erwartet hatte, sie zeigte kein Erkennen. Weder Atmung noch Puls veränderte sich, nur ihr Lächeln war aufrichtig und begehrenswert, wie schon Jahre zuvor.

Ihre kühle Hand lag leicht und zerbrechlich in seiner und für einen Tanz war sie wieder ganz nah bei ihm. Viel zu kurz war die gemeinsame Zeit, denn nach wenigen Momenten verstummten die Instrumente und das Mädchen ließ von ihm ab. Sichtlich errötet wandte sie ihren Blick weg von ihm und schien in die Menge zu starren. Als die Stille unerträglich wurde und Linos zum Sprechen ansetzen wollte, hob sie ihren Blick und sah ihm direkt in die Augen. Ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie die Frage stellte:

„Darf ich ihren Namen erfahren?“ Nach ein paar Atemzügen setzte sie ein ungeschicktes: „Bitte.“, hinterher.

Linos setzte zur Antwort an, als er Seeres Stimme aus

Richtung des Speisesaals vernahm:

„Linos, es ist so weit ...“

Er entschuldigte sich kurz, verbeugte sich tief und machte sich auf den Weg zu seinem Bruder. Flüchtig blickte er sich noch einmal zu Relana um und blieb stehen. Das Lächeln auf ihrem Gesicht hatte sich verändert und in ihren Augen sah er mit einem Mal ein Erkennen, dass ihm gefährlich werden konnte. Doch er hatte keine Zeit dem Mädchen zu erklären, warum und vor allem wie er ihre Erinnerungen gestohlen hatte. Relana öffnete den Mund, doch die Worte erreichten die Lippen nicht …

 

Auch die Tür zum Speisesaal wurde von Beriths Männern bewacht, die sicher nur ausgewählte Gäste in den Raum ließen. Als Linos die unangenehme Menge verließ und in den Saal trat, fiel sein Blick automatisch auf die riesige Apparatur in der Mitte des Saales. Dort, wo sonst Banketttische standen, an denen hunderte von Gästen Platz fanden, befand sich nun eine Maschine, deren äußeres Erscheinen nicht unähnlich einer der modernen Dampfmaschinen war. Doch Linos erkannte, dass sie weit mehr war, als das. Um ein kupfernes Zentrum herum waren drei mannshohe Spulen errichtet, deren runde Enden in der Mitte zusammenliefen. Um diese Mitte waren hunderte Zahnräder in Perfektion verbaut, dass es nur eines Antriebes benötigte, dass ihre ineinander greifenden Zähne das Gerät in Bewegung setzten. Dieser Antrieb war eine Dampfmaschine von einer Linos unbekannten Bauweise, deren Kessel einen großen Teil des Platzes einnahm. Das Schwungrad war doppelt so hoch, wie Linos und die Kolben dicker als sein Oberschenkel. Vor der Hauptmaschine war eine Aussparung eingelassen, in deren Mitte Platz gelassen worden war.

Justinus stand stolz neben der Maschinerie und lächelte. Jetzt machte auch das Gerät in Justinus Hand plötzlich einen Sinn. Diese Öffnung war genauso groß …

„Das letzte Teil der Maschine.“, beendete Justinus seinen Gedanken. „Hiermit wird sie vollständig funktionsfähig. Mit diesem Stein wird mein Vorhaben in die Tat umgesetzt und die Menschen im Umkreis von gut 30 Meilen werden ihre Fähigkeit zum Lieben verlieren.“ Er machte eine kurze Pause, in der er den Stein in seinen Fingern drehte. „Natürlich fehlt noch ein letztes Puzzleteil, aber wenn ich mich nicht irre, wird alles seinen geplanten Verlauf nehmen.“

Linos, der den Ausführungen seines Bruders kaum folgen konnte, sah ihn stumm und mit stillen Fragen beim Reden zu. Jede Frage wäre unbeantwortet geblieben, jede Handlung unsinnig gewesen. Wie Justinus sagte, alles würde sich von allein finden. Im Raum konnte er nun auch die anderen Anwesenden erkennen, die stumm und mit erwartungsvollen Gesichtern zur Maschine auf, oder zu ihm, den Neuankömmling, blickten.

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht, drehte sich Justinus schließlich in Linos Richtung:

„Murmur. Gerade du, als Gefallener musst doch wissen, wie sehr es mich quält, was diese Wesen als Liebe empfinden? Du, der IHM ins Antlitz sehen durfte, der sein Licht und seine Wärme spüren konnte. Kommt dir ihre Empfindung dann nicht auch kalt und leer vor? Sag es mir! Du, der ihre Gedanken jeden Tag lesen kann, der du ihre Erinnerungen zum Überleben brauchst. Gerade du MUSST mich doch verstehen!“ Es klang mehr nach einer Frage, als nach einer Feststellung und Linos schwieg zur Antwort.

„Und, wie ich erwartet habe …“, ohne diesen Satz zu beenden lief Justinus an seinem Bruder vorbei, in Richtung der Tür. Das Lächeln auf seinem Gesicht, wie Linos wusste, eine perfekte Maske, eine Kopie einer menschlichen Regung zu der er seit Jahrtausenden nicht in der Lage war.

„Meine Dame.“ Er verbeugte sich tief und griff nach Relanas Hand, die seine Geste ohne auf ihn zu achten hinnahm. Ihr Blick wanderte durch den Saal und jede Regung ihres Gesichtes ließ ihre Verwunderung deutlich werden. Als sie schließlich Linos unmaskiertes Gesicht entdeckte, schlug Unglauben plötzlich in Hoffnung um und sie eilte auf ihn zu.

„Linos!“ Ihre Schritte wurden langsamer und der Angesprochene konnte sehen und spüren, wie mit jedem Schritt ein Teil ihrer Erinnerung zurückkehrte. Als sie endlich vor ihm stand, waren Unglauben und Trauer in ihren Augen zu erkennen.

„Du hast mich vergessen lassen.“ Es war weniger ein Vorwurf, als eine nüchterne Feststellung. „Warum kann ich dich dafür nicht hassen? Warum akzeptiere ich, was du bist, denn du bist kein Mensch, das weiß ich nun wieder.“ Ihre Finger strichen seine Wange und die zarten Berührungen ließen seine Haut brennen. Was hatte Justinus vor? Und wie sollte er seinem Bruder zu einer Stadt oder gar einer Welt ohne Liebe verhelfen?

Ein Klatschen holte ihn in die Realität zurück.

„Mein Bruder feiert seine wiedererrungene Herzdame. Doch!“ Er machte eine Pause. „Sie ist nicht ohne Grund hier. Wie du dir vielleicht vorstellen kannst, braucht meine Maschine einen Antrieb. Und was verzehrt Liebe am besten? Leid und unsäglicher Schmerz!“ Während er sprach, war er hinter das Mädchen getreten und sein Grinsen wurde tiefer und diabolisch. Mit Entsetzen begann Linos zu erfassen, was sein Bruder plante. Einer von ihnen sollte sterben …

Auch Relana schien Justinus Gedanken gefolgt zu sein, denn ihre Augen weiteten sich panisch und ihr Mund öffnete sich zu einem kleinen ‚O‘, als Justinus seine Hände auf ihre Schultern legte.

„Meine Liebe. Du wirst gleich etwas Großartiges sehen. Etwas, was die Welt der Menschen auf den Kopf stellen und für immer zu einem Ort der Vernunft, der Produktivität und des Konsums machen wird. Eine Welt ohne Liebe. Denn ihr seid es nicht wert, eine solche Emotion zu haben. Ihr beschmutzt allein mit euren einfältigen Gedanken daran, das wahre Ausmaß wirklicher, wahrhaftiger Empfindung. Denn ich muss es wissen. Ich bin Asmodeus. Ich habe bereits vor Jahrtausenden eure Welt von der Lüge der Liebe befreit. Wegen mir fielen Sodom und Gomorra. Denn ich befreite sie von der Lüge, von der Illusion ihrer Herzen, doch ich wurde aufgehalten und die Menschen mussten meine Schwäche mit ihren Leben bezahlen. Doch Heute werde ich diesen Fehler nicht wieder machen. Mein Vorhaben ist besser und größer, als jemals zuvor und es ist keiner mehr da, der mich stoppen könnte.“ Er ließ Relanas Schultern los und schlenderte unter den Blicken der Anwesenden in Richtung der Maschine. Aus seiner Manteltasche holte er langsam das letzte, noch fehlende Teil und drehte es bedächtig in den Händen. Die Lichter der Kandelaber und des Kronleuchters brachen sich in dem Stein und verströmten ihr goldenes Licht im gesamten Saal. Einer dieser Lichtstrahlen brach sich in Relanas Augen und für einen kurzen Moment flackerte etwas wie Angriffslust in ihrem verängstigten Gesicht. Hatte Linos sie unterschätzt? Doch die Illusion verschwand so schnell, wie sie gekommen war und von einem Wimpernschlag zum nächsten, war sie das verstörte Mädchen, das sie einige Sekunden vorher noch war.

Justinus erreichte die Konstruktion und prüfte andächtig die bronzenen Rohre der Apparatur. Zahnräder und Kolben wurden mit zärtlicher Vorsicht berührt und kontrolliert. Er war vollkommen in seiner Fantasie gefangen und nahm seine Umwelt kaum noch wahr. Sein Blick wanderte liebevoll zu dem metallenen, kugelförmigen Zentrum der Maschinerie und dann weiter hinauf zur Decke des Raumes, die in einer Glaskuppel zusammenlief. Der Himmel über ihnen war nicht zu erkennen, denn eine, bereits Zentimeter dicke, Schneeschicht hatte sich auf die Fenster gesetzt und machte die Sterne zumindest heute Nacht unsichtbar. Linos war dem Blick seines Bruders gefolgt und wurde von dem Einrasten des Edelsteines nun wieder in die brutale Realität zurückgeworfen. Nachdem Justinus ein paar Hebel betätigt und etliche Knöpfe gedrückt hatte, setzten sich erste Kolben schnaufend in Bewegung. Durch die Antriebskraft der großen Zahnräder schienen Generatoren angetrieben zu werden, deren Energie sich auf die Spulen übertrug und sie zum Summen brachte. Linos hatte solch einer Art Kraft noch nie gesehen und war nun, wie viele der Anwesenden im Raum, erstaunt über das Maß an Energie, das sich zischend und gleißend hell zwischen den kugelförmigen Enden der Spulen entlud. Ein heiseres Lachen war aus Justinus Kehle zu hören, als er die ersten Lebenszeichen seines Werkes betrachtete.

Linos hingegen war von der puren Welle von Furcht, die ihn von Relana entgegenschlug fast starr und hatte Schwierigkeiten seine Ruhe zu bewahren. Wie gern hätte er das zitternde Mädchen jetzt in die Arme genommen und ihr jede Furcht aus ihren Gedanken getilgt. Doch sich ihr jetzt zu nähern wäre sicherlich ihrer beider Todesurteil gewesen. Doch Justinus brauchte einen von ihnen lebend. Die Frage war nur, wen?

Im selben Moment, als das Lachen verklang, änderte sich die Stimmung im Raum. Hatten bisher Neutralität und vielleicht anfängliche Neugierde das Bild bestimmt, waren es jetzt nervöse Anspannung und aggressiver Wissensdurst. Doch Justinus leise Stimme bat einen Großteil der Anwesenden aus dem Raum, doch nicht wenige wollten sich dieser Aufforderung widersetzen und begannen lauthals zu diskutieren. Der Vorteil war jedoch auf Justinus Seite, denn die Wächter Beriths standen auch unter seinem Kommando, sodass innerhalb weniger Minuten der Raum geleert war und nur noch eine Hand voll Männer dem Vorhaben beiwohnen konnten.

Seere war einer von ihnen, er und zwei Wachen in Rot waren die Einzigen, die Justinus beistanden.

„Du fragst dich sicherlich, warum ich die Oberhäupter aus dem Raum verbannt habe? Die Antwort ist simpel. Ich bin eitel, ich teile nicht gern. Und vor allem möchte ich nicht, dass einer von ihnen meine Idee für sich vereinnahmt und einen persönlichen Nutzen daraus ziehen kann. Du verstehst sicher, diese neue Art des Profitdenkens der viktorianischen Zeit…“ Er klang herablassend, aber tödlich, ernst und ehrlich. „Sicherlich ist es unvorsichtig, allein mit dir in einem Raum, wo ich doch weiß, wie gewandt du bist. Doch ich denke dein Beschützerinstinkt ist größer als dein Überlebenswille. Deshalb …“ Blitzschnell war eine der Wachen hinter Linos getreten und hielt seine Hände in fester Umklammerung. „Ist das leider unvermeidlich.“

Der Griff des Wächters war heiß und unnachgiebig. Linos wusste, wie diese Wesen gestrickt waren, Befehl war Befehl und jeglicher Widerstand wurde hart bestraft. Relana blinzelte die Furcht aus ihren dunklen Augen, die beim Anblick von Justinus, der langsam auf sie zuschritt, noch dunkler zu werden schienen. Wogen von Stoff raschelten und flogen, als er sie am Handgelenk packte und in die Mitte des Raumes zerrte. Sie ließ ihn ihre Furcht nicht erkennen und folgte jeder seiner Weisungen. Als sie endlich in Reichweite des Steines stand und Justinus in seine Tasche langte, um etwas daraus hervor zu holen, reagierte sie schließlich. Furcht und Rückhaltung waren von einem Augenblick zum nächsten in Angriffslust und Mut umgeschlagen. Relana griff in die Falten ihres Rockes und holte einen kleinen, glänzenden Dolch hervor, den sie in Sekundenschnelle in Justinus Brust rammte. Verblüffung stand auf sein Gesicht geschrieben, als sein Körper schwer getroffen und von der eigenen Trägheit getrieben vorwärts wankte. Ein leichter Stoß von Relana ließ ihn auf seine eigene Maschine fallen, wo er auf dem Bernstein-Verstärker zum Liegen kam. Linos musste seine Augen zusammen kneifen, als sich tausende Volt in den Körper seines Bruders entluden und selbst sein unzerstörbares Fleisch zum Brennen brachten. Augenblicklich ließ die Wache von Linos ab und eilte zu dem Brennenden, nur um selbst von der zerstörerischen Entladung getroffen zu werden und an Ort und Stelle zu verbrennen. Ein letzter, gewaltiger Stoß entlud sich in den drei Kugelenden der Spulen und brachte die Kuppelfenster zum Bersten. Millionen kleinster Scherben und Schnee ergossen sich auf die verbleibenden Anwesenden. Der Blick in den klaren, sternenbedeckten Himmel wurde frei und diesem Moment flogen erste Raketen in den glühenden Himmel und kündigten tosend und farbenfroh das neue Jahr an.

Linos eilte zu Relana, die mitten in Scherben und qualmendem Fleisch nach einem Anker suchte. Der Stoff ihres Kleides war zerrissen und einige Scherben hatten ihre Haut geritzt, doch sie war schwereren Verletzungen entkommen und am Leben. Stürmisch schloss er sie in seine Arme, genoss jede heiße Berührung mit ihr, jeden Kuss, der seine Haut zum Brennen brachte, jede Träne, die sein Gesicht benetzte. Gefühlte Ewigkeiten standen sie in dieser unwirklichen Umgebung, bis sie schließlich ihr Gesicht hob und ihm in die Augen blickte. Linos wusste, was er tun musste. Justinus Körper würde nicht ewig tot bleiben, seine Zellen würden sich regenerieren und er würde sein Vorhaben von neuem beginnen. Doch dieses Mal würde er niemanden mehr haben, den er benutzen kann.

Zärtlich schloss er seine Hände um ihre Schläfen, fuhr mit seinem Mund von ihrem Kinn bis zu ihren Lippen und küsste sie, liebevoll, endgültig. Die Erkenntnis spiegelte sich nur wenige Momente in ihren Augen, als seine Iris sich von einem hellen Blau in ein tiefes Schwarz färbte. Doch dieses Mal ließ er ihr keine Möglichkeit des Widerspruchs, keine Möglichkeit einer Erinnerung …

 

Seere hatte das Schauspiel neutral betrachtet und die gesamte Zeit den zweiten Wächter zurückgehalten. Mit einem stillen Lächeln sah er zu, wie Linos seine Gestalt wandelte. Wie Arme und Finger zu riesigen, schwarzen Schwingen und Gesicht und Nase zu einem Greifenkopf wurden. Den geschundenen Körper Justinus in den Klauen erhob sich Linos schließlich rauschend in die Höhe und brach durch das Loch in der Decke. Er würde nicht zurückkehren, niemals.

Justinus musste verbannt werden!

Bevor er zwischen gleißenden Raketen und flirrenden Lichtern verschwand, sandte Linos einen letzten, geistigen Befehl an Seere:

„Bring sie nach Hause und lass sie sicher alt werden!“

 

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Publication Date: 03-28-2013

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