Donnerstag 09. August
Dunkelheit!
Absolute Dunkelheit. Aber keine Stille. Irgendwo in der Ecke summte ein Generator. Stetig. Dumpf.
Er versuchte sich zu erinnern, wo um alles in der Welt er gelandet war. Unendlich langsam keimten Erinnerungsfetzen in ihm auf.
Schmerz! Unerträglicher Schmerz.
Er war an Händen und Füßen festgemacht. Silberne Ketten fraßen sich zischend in seine Haut und bei der kleinsten Bewegung brachen, bereits in der Heilung begriffene, Stellen wieder auf.
Wärme! Nicht von einer Heizung. Nein, sein eigenes Blut.
Sie hatten ihm viele seiner Wunden mit Messern oder Nadeln aus reinem Silber zugeführt. Die Waffen langsam und voller Genuss, durch sein Fleisch gezogen. Immer und immer und immer wieder ... Bis seine Schreie verstummt und ihre Arbeit fürs Erste getan war.
'Igor du Hund'
, dachte er.
Der große Blonde liebte das Spiel mit den Schmerzen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er es das erste Mal erfahren dürfen. Aber warum jetzt? Warum war er hier angekettet, wie ein Tier?
Schmerzhaft versuchte er die letzten Tage zu rekonstruieren, aber sobald er einen Gedanken fassen konnte, wurde dieser mit glühenden Haken, wieder weg und seine Stirn qualvoll aufgerissen.
Blaue Augen. Glühende blaue Augen.
Seine Augen. Seine Augen?
Warum hatte er Erinnerungen an seine eigenen Augen? Sein Gesicht! Seine Haare! Aber es war nicht sein Spiegelbild!
"Viel Spaß, Gabriel“, hörte er eine Stimme. Nein! Seine Stimme in seinen Gedanken sagen. Immer und immer wieder.
"Viel Spaß ... viel Spaß ... viel Spaß!", hallte es. Unerträglich. Und es war nicht abzustellen.
Er sah sich weggehen. Warum?
Sah sich in ihren Armen liegen. Ihre Augen weit, schwarz vor Angst.
Sah sich durch ihre blonden Locken streichen, sanft ihren Nacken küssend.
Sah sich ihre Lippen berührend.
Sah sein Gesicht in seine Richtung blicken. Grinsend, voller Hohn. Dann waren sie weg. Er, mit ihr. Und Gabriel war hier, gefangen, unfähig zu schreien. Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Unfähig ...
Wieso konnte er keine Verbindung mit ihnen aufnehmen? Und warum war er nicht mehr in seinem eigenen Körper?
Rotes Pulver ...
Warum, zur Hölle, waren seine Gedanken jetzt von rotem Pulver erfüllt? Er hatte es benutzt. Dieser Andere. Wer war es gewesen?
Er kannte seinen Namen!
Langsam brachen die Erinnerungen durch die Barrieren, suchten sich qualvoll ihren Weg an die Oberfläche. Es hatte vor circa einem Monat begonnen.
In Berlin ...
Donnerstag 05. Juli
Gabriel erwachte. In seinen Gedanken schwirrten Fetzen der vergangenen Nächte. Erinnerungen vergangener Kämpfe hallten immer noch in seinem Kopf nach und zogen ihre blutige Spur durch seine Gedanken.
Die Situation war angespannt. Seit Monaten schon rebellierten die aufständischen Werwölfe sogar hier in Köln. Khaled hatte bereits vor einem halben Jahr einen Krisenstab einberufen lassen. Doch damals schien die Lage nur in Berlin kritisch zu sein. Es war, als würden sie von einer höheren Position geleitet und koordiniert.
Sie kämpften wild, unbändig und brutal. Auseinandersetzungen gegen diese Art von Wolf gingen fast nie ohne Verletzte oder Tote aus. Sie waren wendig und ihr Selbsterhaltungstrieb ging gen null. Es war jedoch ungewöhnlich, wie methodisch sie vorgingen. Gabriel hatte Wölfe bisher nur als wilde, planlose Wesen kennengelernt und einzig Pete stach durch seine Fähigkeit heraus. Er war der einzige Wolf, den Gabriel kannte, der während der Vollmondnächte willentlich und mit vollem Bewusstsein handeln konnte. Doch Pete war tot und er hatte, soweit Gabriel wusste, keine Nachkommen.
Das war die Voraussetzung. Ein Wolf erbte immer nur die Fähigkeiten seiner direkten Vorfahren. In Petes Fall war seine Linie mit ihm ausgestorben. Gabriel vermutete, dass es vielleicht in anderen Gegenden auch Wölfe gab, die diese Gabe mit Pete gemeinsam haben konnten, doch dazu waren die Angriffe der fremden Wölfe zu emotionslos. Als bekämen sie Anweisungen, führten sie jedoch ohne eigene Gedanken aus. So als würde ihr Geist kontrolliert oder gelenkt. Und es gab nur zwei Wölfe in ganz Deutschland, die so etwas bewerkstelligen konnten.
Er war einer davon. Der andere Wolf war sein Vater und dieser war nicht einmal mehr in der Lage auch nur einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Pete hatte ihn mithilfe eines uralten Rituals in eine lebendige Leiche verwandelt, deren einzige Regung das Blinzeln der Augen war. Wie oft hatte er versucht, in Benedicts Geist einzudringen. Hatte versucht die Barrieren zu sprengen und seine Gedanken zu entfesseln. Doch jegliche Bemühungen schlugen fehl. Benedicts Erinnerungen waren durch hohe Mauern abgesperrt, wurden von dunklen Runen eingeschlossen, die er zu überwinden nicht in der Lage war. Gabriel versuchte es am Anfang fast stündlich. Durchdrang erste Schichten der Barriere um dann, ohne eine Wirkung zu erzielen, von schmerzhaften Krämpfen geschüttelt, aus Benedicts Kopf geschleudert zu werden. Es kostete ihn unzählige Minuten und einiges an Nerven, doch eine Besserung war nicht in Sicht.
Die andere Alternative war, dass sich Vampire an den Köpfen der Wölfe zu schaffen gemacht hatten. Aber da ihm ein guter Freund vor einiger Zeit einmal versichert hatte, dass seine vampirischen Fähigkeiten nicht bei voll verwandelten Wölfen wirkten, konnte Gabriel auch diesen Gedanken ausschließen. Wer also war es? Wer ließ die Wölfe diese Angriffe durchführen?
Als Gabriel die Augen öffnete, blinzelte er gegen die stechenden Strahlen der Sonne an. In den letzten Monaten hatte er immer wieder gemerkt, dass sie ihn störten. Wie sehr er doch zu einem Wesen der Dunkelheit geworden war. Auch wenn seine menschliche Seite sich in der Sonne und der Welt der Menschen wohlfühlte, merkte er ständig, dass es nicht mehr seine Welt war. Oft sehnte er sich nach der Einsamkeit, die er bei der Jagd verspürte, der Befriedigung, wenn er kleine Tiere riss und seinem Wolf nachgab, seine Instinkte akzeptierte und mit ihm eins wurde. Doch für Neva löste er sich immer wieder von dieser Realität, legte seine Natur in Ketten und nahm die Position als Alpha der Kölner Wölfe ein.
Gabriel lauschte dem stetigen Summen der Insekten. Auch jetzt war es schon warm und die Strahlen die seine nackte Haut berührten schon unangenehm heiß. Kenual hatte ihm einmal erklärt, dass die Sonne einen Vampir schwächte, dass sie ihm so lange zusetzte, bis er schließlich zu Asche zerfiel. Er fragte mich immer wieder, ob er wohl ebenso enden würde. Gabriel vermutete, dass, wenn er dem Verlangen nach der Energie der Menschen, irgendwann einmal nachgeben würde, es vielleicht genau auf das hinauslaufen würde. Dass sich Bubak
und Vampire nur in dem kleinen Detail unterschieden, dass Bubak
sich in Wölfe verwandelten und die Vampire in ihren statuenhaften Körpern gefangen waren.
Er schloss seine Augen, ließ die Geräusche auf sich einwirken und bereitete sich auf das Kommende vor. Langsam sog er Luft in seine Lungen. Der warme Hauch, der seine Nase durchströmte, trug die Nuancen der Waldluft. Erde, Moos und tierische Düfte mischten sich mit weniger angenehmen Noten. Das verfaulende Grün der Blätter, Hinterlassenschaften der Tiere im Wald und auch der metallisch, süße Geruch von Blut. Er war intensiv und durchdringend. War warm und dunkel und Gabriel reagierte spürbar darauf. Langsam drehte er seinen Kopf in die Richtung, in der der Duft am stärksten war. Die Augen geschlossen, prägte er sich jede Nuance des Geruches ein. Konzentrierte sich auf das Wesen, das diese Aromen verströmte.
Es atmete noch. Flach und unregelmäßig presste es seine Luft aus den Lungen und sog sie langsam und zitternd wieder ein. Sein Herz schlug unregelmäßig, setzte einige Male aus und würde in den nächsten Minuten stehen bleiben.
Langsam öffnete Gabriel seine Lider und sah direkt in die Augen eines jungen Mannes. Sein Blick war vernebelt und er schien ihn nicht mehr richtig wahrnehmen zu können, doch er spürte Gabriels Anwesenheit, so wie er ihn gespürt hatte. Tränen rannen in einem kleinen Rinnsal aus seinem Augenwinkel und glitzerten in der Sonne und die Schönheit dieses Anblicks stach sich mit dem Schrecken der Situation. Dieser Mann würde sterben, wenn Gabriel nichts unternahm. Doch er konnte nichts mehr für ihn tun. Seine Zeit war abgelaufen. Gabriel wusste es, nachdem sein Blick von den Augen seinen Körper hinunter gewandert war. Sein Hals war aufgerissen, tiefe Furchen an Schulter und Brust waren die Pforten seines Lebens, das nur noch träge seinen Weg aus dem Körper des Fremden suchte.
Eine Möglichkeit hatte er jedoch, die Schmerzen des Anderen zu lindern. Behutsam drang er in den Geist des jungen Mannes ein. Teilte die Wärme der Sonne auf seinem Körper in dessen Gedanken mit ihm. Sein Zittern wurde schwächer, sein Atem ruhiger und er entspannte sich zusehends. Doch Gabriel spürte auch, dass sich sein Dasein dem Ende neigte und ein kleiner hässlicher Gedanke fraß sich in ihm fest. 'Was wäre, wenn ich seine Energie nahm? Es würde ihm den Schmerz des Sterbens nehmen und es wäre so einfach ...'
Wenige Sekunden rang Gabriel mit seinen Dämonen, doch sein Handeln hatte sich verselbstständigt. Er griff mit seiner geistigen Hand nach dem Leben des jungen Wolfes. Wie eine kleine Flamme, die golden, kurz vor dem Erlöschen in ihm brannte, ließ Gabriels Berührung
sie blau auflodern. Doch es währte nur kurz, denn schon wurde sie kleiner, kälter und drohte zu verlöschen. Gabriel nahm sie an sich, zog sie mit der Unbändigkeit eines Raubtieres zu sich heran und fügte die Energie des Jungen der eigenen zu. Kurze Eindrücke seines Lebens flimmerten an Gabriels geistigem Auge vorbei. Lachende Gesichter, verschwommene Empfindungen und alle Farben und Gefühle, die man in einem Leben sammeln konnte. Doch auch dies war so schnell vorbei, wie es begonnen hatte und von ihm blieb Nichts, als eine kalte, seelenlose Hülle.
Angewidert drehte er sich zur Seite, erhob sich umständlich und übergab sich geräuschvoll in die Büsche.
Der Bubak hatte gewonnen. War Gabriel wirklich so schwach? Unwillig wischte er sich den Mund ab und verschwand, so schnell er konnte aus der Nähe des toten Mannes.
Gabriel hatte ihn getötet. Doch im Grunde war er das Opfer eines Konfliktes, der ohne ersichtlichen Grund ausbrach und von dem niemand wusste, was er überhaupt bezwecken sollte.
Nachdem er sich die frische Kleidung, die er sich im Wald deponiert hatte, angezogen hatte, ging er so schnell wie möglich zu seinem Wagen. Die letzten drei Tage waren nicht spurlos an dem Gefährt vorübergegangen. Staub und Pollen hatten einen gelblichen, schmierigen Film auf dem Lack hinterlassen und mehr als ein Vogel oder kleines Tier hatte sich auf dem Dach verewigt.
Das Handy, das er im Handschuhfach liegen gelassen hatte, zeigte einige, weniger wichtige, Nachrichten und Anrufe. Er würde sich später darum kümmern.
Der Weg nach Hause gestaltete sich weniger ruhig, als er es sich gewünscht hätte. Zwar würden die Schulferien erst in der nächsten Woche beginnen, jedoch schien sich ein Großteil der Autofahrer davon nicht abhalten zu lassen und verstopften die Straßen so, dass der Weg, den er normalerweise in weniger als einer halben Stunde zurückgelegt hätte, ihn eine Stunde seiner Zeit kostete.
Gabriel erreichte die hoteleigene Tiefgarage, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Neva schlief noch, als er die Räume betrat, die er vor etwa einem halben Jahr zusammen mit Pete und Benedict bezogen hatte. Nach Petes Tod verließ er das Hotel nicht, hatte den Angestellten mitgeteilt, dass Benedict längerfristig verreist und er nun der neue Hauptmieter war. Es war ihm keine Schwierigkeit gewesen, das Personal zu überzeugen, auch ohne seine speziellen
Kräfte. Sie kannten Benedicts Gewohnheiten und solange die Miete pünktlich gezahlt wurde, war ihnen der Eigentümer egal.
Gabriel eilte sofort unter die Dusche. Wollte die restlichen Tage von seinem Körper waschen, wollte Kämpfe und Blut aus den Haaren entfernen und am liebsten jegliche, auch noch so schwache, Erinnerung aus seinem Kopf tilgen.
Was war aus ihm geworden?
Nicht genug, dass er das neue Oberhaupt einer Horde hirnloser Werwölfe geworden war, die pausenlos versuchten sich in die oberen Ränge seiner Gunst zu schleimen. Nein, er war auch noch ein Anführer in einem Krieg ohne Ziel. Er hätte aus Frust am liebsten aufgeschrien, doch er schwieg, ließ die Wut gären, in dem Bewusstsein, dass sie sich unnachgiebig in seine Seele fraß und ihn nach und nach vergiftete.
„Du siehst nicht gut aus.“ Nevas zitternde Stimme, die sich in dieser Tonlage genauso anhörte, wie sie bei ihrem ersten Treffen geklungen hatte. Sie hatte Angst. Er roch es. Bitter und anregend zugleich, strömte sie durch jede ihrer Poren. Gabriel hatte ihr nie erzählt, welche Wirkung dieser Geruch auf ihn hatte. Dass allein dieser Geruch ihn in Rage versetzen und sie im höchsten Maße gefährden konnte. Angestrengt drängte er deshalb jede Reaktion darauf zurück.
„Die Angriffe nehmen zu. Ich weiß nicht, wie lange wir sie noch aufhalten können.“ Er wusste es wirklich nicht.
Sie trat näher an ihn heran, ohne darauf zu achten, dass die Wasserstrahlen ihr Nachthemd durchnässten. Ihr schmaler Körper drängte sich an seinen, ihre kühle Haut schmiegte sich tröstend an ihn und für wenige Sekunden konnte er wirklich vergessen. Konnte in ihrer Liebe zu ihm aufgehen und sich treiben lassen.
Er war damals zu feige gewesen, nach der Sache mit Pete, Neva in die Augen zu sehen. Sodass er wartete, bis sie den ersten Schritt tat. Sie war so stark gewesen, hatte ihre schwere Verletzung erstaunlich schnell überstanden. Und er? Er war nicht einmal in der Lage, ihr in der schweren Zeit beizustehen. Hatte sie nicht einmal im Krankenhaus besucht. Gabriel schob es auf seine neue Position als Kölner Alpha, doch im Grunde war es nur seine Feigheit und die Unfähigkeit, ihr die Sache zu erklären. Das erledigten schließlich Konstantin und Igor und Gabriel konnte es ihnen nicht einmal verübeln, dass sie die Sache ein wenig dramatisierten. Schließlich hatte Neva Petes letzte Minuten mit eigenen Augen mit ansehen müssen. Was gab es da schon zu erklären?
'Neva, dein Freund ist ein brutales Tier ... Ein Werwolf, der die Fähigkeit besitzt nicht nur Gedanken zu lesen, sondern auch zu kontrollieren oder sogar durch sie zu töten.' Ganz sicher nicht der beste Start für eine Beziehung. Aber trotz alledem kam sie zu ihm zurück.
„Khaled hat angerufen.“ Ihre Stimme nur ein Flüstern in seinem Nacken, doch mehr brauchte es nicht, das wusste sie.
„Vor etwa einer Stunde, er klang nervös“, sagte sie.
„Was wollte er?“ Gabriel konnte sich genau vorstellen, was er wollte. Er hatte in den letzten Wochen immer wieder versucht, ihn nach Berlin zu beordern. Doch so kurz vor dem Vollmond, war die Situation in Köln zu prekär, als dass Gabriel Neva und die anderen hier allein lassen konnte. Zumindest redete er es sich ein.
„Er hat gesagt, dass die Umstände keine andere Möglichkeit mehr zulassen, als dass du nach Berlin kommst. Es gibt wohl Hinweise darauf, dass derjenige, der die Wölfe anführt, auch in der Stadt ist.“ Etwas leiser fügte sie hinzu:
„Ich habe Angst Gabriel.“ Ein Schauder überzog ihren Körper und er drückte sie fester an sich. Ließ es zu, dass ihre Gefühle ihn überrollten. Khaled hatte Recht. Gabriel musste gehen, es gab keine andere Möglichkeit.
Es dauerte lange, bis er das besudelte Gefühl von seinem Körper gewaschen hatte. Doch die Flecken auf seinem Geist waren geblieben. Gabriel ließ sich Zeit mit dem Ankleiden und damit, Khaled zurückzurufen.
Neva hatte es unwahrscheinlich gut verkraftet, als ihr Vater ihr erklärte, wer oder besser was Gabriel war und welche Rolle er selbst in diesem Spiel übernahm. Sie hegte offensichtlich keinen Groll gegen ihn, doch konnte Gabriel ihre Abneigung und Angst vor der jetzigen Situation fast körperlich greifen.
Er wäre jede Wette eingegangen, dass sie sich selbst der Horde randalierender Wölfe entgegen gestellt hätte, wenn er es zugelassen hätte. Doch nun sah er die Panik, die sich durch ihre Augen fraß, nicht die Furcht vor der Zukunft. Nein! Die Angst, dass er nicht wieder zurückkehren würde. Gabriel wollte ihr dieses Gefühl nehmen, ihr versichern können, dass alles gut wird und dass sie den Urheber dieser Kämpfe unschädlich machen würden. Doch er konnte es nicht. Denn im Grunde war er sich selbst nicht einmal sicher, ob er die Sache unbeschadet überstand.
Neva hatte sich ins Schlafzimmer zurückgezogen, damit Gabriel ungestört telefonieren konnte. Er hörte, wie sie den Schrank öffnete, das leise Summen, mit dem die riesigen Türen auseinander glitten. Wie sie anfing, sich trockene Kleidung aus dem, fast dekadenten, Wust an Stoff heraus zu suchen und schließlich anzog.
Beim zweiten Klingeln nahm Khaled ab:
„Gabriel, ich habe versucht dich ...“
„Schon gut“, entgegnete er schroffer als er wollte.
„In Ordnung.“ Gabriel hörte die Resignation in seiner Stimme. Khaled merkte, dass etwas nicht stimmte und kam deshalb sofort auf den Punkt:
„Neva hat dir sicher mitgeteilt, dass wir vermuten, dass der Strippenzieher der Angriffe hier in Berlin ist.“ Er wartete kurz auf eine Antwort, die Gabriel ihm jedoch schuldig blieb.
„Wir wissen nun auch, wo er sich aufhält. Wir haben heute Morgen jemanden aufgegriffen, der uns seinen genauen Aufenthaltsort mitteilen kann und haben ihn in unserer Verwahrung.“ Gabriel horchte auf. Sicher würde Khaled jetzt mit seiner Bitte herausrücken, die, wie er sicher wusste, in der Aufforderung nach Berlin zu kommen ufern würde.
„Wir brauchen dich, Gabriel. Die Vampire halten sich aus der Angelegenheit heraus. Wer will es ihnen verübeln? Und auf diesem verdammten Kontinent bist du der Einzige, der die Möglichkeiten hat, die Wahrheit aus diesen Bastarden herauszubekommen.“
'So ist das also'
, dachte er bei sich. Offensichtlich funktionierte Gewalt und Folter bei diesen 'Tieren' nicht.
„Wir haben dir alle Unterlagen zugemailt. Dein Flieger geht heute Abend um Sieben. Bis später.“ Ohne einen Einwand zuzulassen, hing Khaled ein.
Wie sie so dastand, die Arme vor der Brust verschränkt. Die grünen Augen auf ihn gerichtet. Ihre Haare, Wellen von Gold und Licht, hätte er sie für einen Engel halten können. Doch der Ausdruck in ihren Augen ließ ihn schaudern. Es war, als stände Konstantin vor ihm und würde ihn für seine Feigheit verurteilen. Doch es war Neva, die genau das ausdrückte. Die, obwohl sie im Grunde nicht wollte, dass er ging, doch genau das von ihm erwartete. Sie wusste, ebenso gut wie Gabriel, dass es seine Pflicht war.
„Sie haben ihn? Habe ich recht?“ Er schüttelte langsam den Kopf.
„Sie wollen, dass ich jemanden befrage, der vielleicht wissen könnte, wo er sich aufhält.“ Gabriel sah die Skepsis in ihrem Blick, sah, dass sie wusste, dass es auf eine Unterhaltung mit dem anderen nicht hinauslaufen würde.
„Wann musst du los?“, fragte sie.
„Der Flieger geht um Sieben. Khaled hat alle Formalitäten erledigt.“
Mehr als ein leichtes Nicken brachte sie nicht zustande. Er war aufgestanden und nahm sie nun schützend in den Arm. Ihr Herzschlag umfing ihn, riss ihn mit, in diesem gleichmäßigen Takt, der leicht ins Straucheln kam, als er ihr Gesicht in seine Hände nahm. Tränen hatten sich in ihren Augen gesammelt. Er versuchte sie weg zu küssen, versuchte jede einzelne Stelle ihrer Haut noch einmal zu berühren und sich jede Nuance ihres Duftes einzuprägen.
„Ich könnte bleiben ...“, hauchte er gegen ihren Nacken, versuchte sie zu beruhigen. Doch Gabriel spürte ihr geistiges Kopfschütteln und der Kuss, der darauf folgte, sagte:
„Geh!“
In Berlin angekommen erwartete ihn eine Limousine. Khaled hatte keine Kosten und Mühen gescheut, seinen Status öffentlich und ohne Scheu in die Welt hinaus zu posaunen. Diesen Umstand machte auch der frech grinsende Surfer-Boy, der entspannt am Wagen lehnte, nicht wett. Er hatte eine Hand lässig an der Motorhaube abgestützt und in der anderen hielt er eine Zigarette. Die aufgerauchten Stummel vor seinen Füßen zeigten Gabriel, dass er nicht erst seit ein paar Minuten hier stand. Auch der aufgebrachte Sicherheitsmann, der sich wild gestikulierend und wilde Schimpftiraden loslassend vor dem Blonden aufgebaut hatte, heiterte Gabriels Stimmung nicht auf.
„Was bilden sie sich eigentlich ein. Markieren hier den Chauffeur für einen dahergekommenen Bankenheini oder was? Ich sage es ihnen noch ein letztes Mal. Verschwinden sie hier, sonst muss ich die Polizei rufen.“ Unter den Armen des fluchenden Mannes hatten sich nasse, dunkle Ränder gebildet und seine Hand ruhte angriffslustig auf dem Schlagstock, den er anstatt einer Feuerwaffe trug. Die Situation wirkte dramatisch, doch das beruhigende Lächeln des jungen Blonden, ließ Gabriel die Situation überdenken. Der Mann mit Schlagstock schien keinerlei Gefahr für den Jungen darzustellen, sah man einmal von seiner cholerischen Haltung ab. Der junge Mann lächelte und hob beschwichtigend die Hand, die vorher noch auf der Motorhaube geruht hatte. Er schob seine Sonnenbrille ein wenig nach oben und blinzelte dem Mann zu. Augenblicklich verstummte der Wachmann und entfernte sich ein wenig von ihm.
„Es ist in Ordnung, mein Bankenheini
, wie sie ihn so schön genannt haben, steht dort drüben.“ Mit der Hand, in der er gerade noch die Zigarette gehalten hatte, deutete er auf Gabriel. Der Sicherheitsmann nickte schnell und verschwand mit eiligen Schritten, zurück ins Terminal.
Dann richtete der Blonde seine Aufmerksamkeit auf den Hinzugekommenen und plötzlich verstand Gabriel, warum der Wachmann so schnell klein beigegeben hatte.
Er war einfach sympathisch. Sein ganzes Wesen strahlte eine Aura aus, die Gabriel sonst nur bei Vampiren gespürt hatte und die einen sofort in den Bann schlug. Der Braungebrannte war ein Wolf, das roch und fühlte er, doch er war besonders. Er trug Shorts und ein Hemd über dessen Kragen sich seine hellen, von der Sonne gebleichten, Locken kräuselten. Seine Augen waren immer noch von den blauen Sonnengläsern verdeckt, sodass Gabriel ihre Farbe vorerst nicht ausmachen konnte und die Füße steckten in Flip-Flops.
„Ein Chauffeur, wie er im Buche steht“, lachte er und reichte dem jungen Mann die Hand.
Dieser lächelte wieder und schob erst seine Brille nach oben, bevor er Gabriel die Hand gab. Aus seinem sonnengebräunten Gesicht sahen ihm dunkle braune Augen entgegen. Sie waren von feinen Fältchen umrahmt, von der Art, wie sie auftraten, wenn man häufig und gerne lachte.
„Du musst Gabriel sein“, sagte er und Gabriel war erstaunt, dass der andere nicht einen Funken der Unterwürfigkeit spüren ließ, den ihm jeder andere Wolf, in seiner Position, entgegen gebracht hätte.
„Ich bin Aaron und ich bin dein Chauffeur für Heute und die nächsten Tage.“ Er hielt ihm die Beifahrertür auf und Gabriel nahm die Einladung an. Er ließ sich auf die weißen Ledersitze fallen und nachdem Aaron eingestiegen war, fragte er:
„Warum auf den Beifahrersitz?“ Der junge Mann lächelte und erwiderte:
„Mir ist hier vorn zu langweilig.“ Sein Grinsen wurde breiter und nach einem kurzen Moment fiel Gabriel in sein Lachen mit ein.
Er dachte, dass sie den direkten Weg von Tegel in die Innenstadt einschlagen würden, doch er hatte sich getäuscht. Aaron fuhr etwa zwanzig Minuten auf der Stadtautobahn in Richtung Süden, bis sie in eine Gegend einbogen, die Gabriel sofort als gehobeneres Viertel erkannte. Auf beiden Seiten der Straße erhoben sich Villen der Extraklasse. Sie unterschieden sich allesamt in ihrer Bauweise, Farbe und Größe. Von herrschaftlichem Herrenhaus bis hin zum modernen Steinkubus, waren alle möglichen Bauten vertreten. Aaron hielt vor einer weiß getünchten, eingezäunten Villa, am Ende der Straße. Der riesige Vorgarten war von wenigen Buchs- und Rosenbäumchen eingerahmt und auf jeder Seite des Gebäudes waren zwei Kieswege angelegt, die jeweils zu einem Tor führten, durch das man das Anwesen von der Straße aus erreichen konnte. Offensichtlich waren hier kaum Sicherheitsmaßnahmen nötig, denn der Bau war nur durch einen mannshohen Zaun abgesichert. Doch Gabriel spürte, dass hinter dieser Abgrenzung noch andere Schutzvorkehrungen getroffen worden waren. Er konnte mindestens fünf Wesen ausmachen, die auf dem Gelände patrouillierten.
„Willkommen im Hauptquartier des Berliner Alphas!“, sagte Aaron. Doch Gabriel merkte, dass Aarons Ehrfurcht nicht ganz ernst gemeint war. Er überraschte ihn. Kein Wolf hatte sich bisher in seiner Nähe so verhalten wie er. Möglicherweise hatte es etwas mit der Regionalhirarchie zu tun und Gabriel war hier ein einfaches Mitglied? Doch soweit er sich erinnern konnte, hatte er als frisch verwandelter Wolf auch spüren können, welcher Wolf auch immer ihm übergeordnet war und welcher nicht.
Das zweistöckige Gebäude war rot gedeckt und die Haustür durch zwei Treppen an der Vorderfront zu erreichen. Alles in allem machte dieses Gebäude einen offiziellen Eindruck, so als solle es die Stellung seines Besitzers schon von Weiten deutlich machen.
Aaron lenkte den Wagen auf einen der geschotterten Wege und stellte ihn vor einem der Garagentore ab. Er zwinkerte Gabriel zu, als er seine Tür knallen lies und sich auf den Weg zum Haus machte.
Die stickige, trockene Luft des Tages war der kühlen Brise des Abends gewichen, die ihm wohlig durch das Gesicht strich. Der betäubende Geruch der Rosen und exotischer Blumenduft umfing ihn und ließ ihn innehalten. Er sog diese Düfte in sich auf, verlor sich in den Nuancen der floralen Bouquets und in der Menge an Eindrücken, die seine Sinne überfluteten. Die Grillen nutzten die weniger heißen Stunden, um lautstark auf sich aufmerksam zu machen und den Abend einzuläuten.
Gabriel war müde, spürte jeden Knochen, auch wenn der Flug nur eine Stunde gedauert hatte. Die eigenartige Mattigkeit wurde durch die atemberaubenden Gerüche und Geräusche noch verstärkt, sodass er sich schläfrig in Richtung des Gebäudes aufmachte. Khaled erwartete ihn bereits. Sein vormals langes Haar hatte er sich schneiden lassen, was ihn jetzt noch jünger erscheinen ließ. Er war ein Aufsteiger, hatte es in knapp drei Jahren von ganz Unten zum Alpha von Berlin geschafft.
Seine Augen glommen golden von den letzten Abenden nach und Gabriel konnte spüren, dass es auch hier, nicht nur eine blutige Auseinandersetzung gegeben hatte. Khaleds Lächeln bestätigte diese Annahme. Denn anders als bei Aaron, war es von seinen Emotionen verzerrt. Trauer und Schmerz zeichneten jede kleine Linie seines Lächelns nach. Aber auch Wut und Zorn hatte sich in sein Gesicht gefressen.
„Schön, dass du gekommen bist“, begrüßte Khaled ihn in seiner freundlichen, aber distanzierten Art.
„Hatte ich denn eine Wahl?“, entgegnete Gabriel, seine schroffen Worte vom Vormittag aufgreifend.
„Du weißt, dass wir keine andere Möglichkeit mehr ausschöpfen können. Du hast nun einmal als Einziger die Fähigkeit, Informationen zu erlangen, die wir nicht bekommen können. Aber bitte komm doch herein, du siehst müde aus.“ Gabriel nickte unwillig und setzte seinen Weg über den knirschenden Kies und die weiße Treppe nach oben fort. Bei Khaled angekommen wurde er von ihm sofort herzlich in die Arme geschlossen. Er war einen kurzen Moment verwundert über diese neue Zutraulichkeit, konnte sich seiner Umarmung aber nicht entziehen.
„Es tut mir Leid, Gabriel, wirklich. Doch die Umstände erfordern diese Maßnahmen. Ich konnte Neva nicht alles erzählen. Aber, sieh' selbst.“ Er trat zurück und schob ihn sanft ins Haus.
Das Domizil war eingerichtet, wie es von außen wirkte. Hochwertige Möbel und Einrichtungsgegenstände zierten die Räume, standen auf teuren Teppichen und schmückten die Wände. Khaled führte ihn in einen Raum, der dem Wohnzimmer im Hotel nicht unähnlich war. Doch er war von der persönlichen Note des Alphas dermaßen dominiert, dass Gabriel für einen Moment der Atem stockte. Das gesamte Zimmer diente als Bibliothek. An allen Wänden, die Fenster einmal ausgenommen, standen Regale vollgefüllt mit Büchern. Er konnte Klassiker ausmachen, in Leder gebunden und sicherlich Erstausgaben von unschätzbarem Wert. Aber auch neuere Belletristik und Trivialliteratur hatten ihren Platz. Die deckenhohen Fenster nahmen die gesamte Rückfront ein, sodass sich der Blick auf den Garten eröffnete, der in diesem Zwielicht einen sonderbaren, unwirklichen Eindruck machte. Auf einem Stuhl, ungefesselt und mit übereinandergeschlagenen Beinen, saß ein Mädchen.
Khaled bemerkte Gabriels Zögern und sah ihn an:
„Keine Angst, wir haben ihr nichts getan. Sie ist aus freien Stücken hier.“
„Aber ...“, entgegnete der Angesprochene. „Es hatte sich so angehört, als ob ...“
„Ich weiß, wie es sich angehört hat. Aber du wärest nicht gekommen, wenn ich nicht ein gewisses Maß an Spannung aufgebaut hätte.“ Er lächelte und Gabriel spürte, wie Wut in ihn aufkeimte.
„Beruhige dich Gabriel. Sie wird dir alles erzählen, denn ganz so einfach ist es nicht. Frag sie doch selbst.“ Gabriel ging ein paar Schritte auf das Mädchen zu. Sie hob den Kopf und blickte ihm voller Verachtung entgegen. Obwohl sie ungefesselt war, spürte er, dass sie nicht einfach aufstehen und gehen konnte. Sie wurde an diesen Ort gebunden, wie auch immer Khaled das anstellte.
„Sie ist zwar aus freien Stücken gekommen, das heißt jedoch nicht, dass sie ungefährlich ist.“ Gabriel musterte die junge Frau oberflächlich. Das zierliche und sehr junge Mädchen machte auf ihn keinen gefährlichen Eindruck. Sie trug ein schwarzes Tüllkleid und zerrissene Strumpfhosen. Die Füße steckten in schwarzen, zerschlissenen Chucks und ihre Haare waren feuerrot. Doch offensichtlich war sie normal. Ein Mensch, zwar mit einer sonderbaren Kleiderwahl, aber ein Mensch.
„Wie meinst du das?“, fragte er Khaled.
Er fixierte sie und lächelte dann.
„Schau noch einmal genauer hin. Wenn es sein muss, auch mit deinen speziellen
Sinnen.“
Gabriel blinzelte. Auch auf den zweiten Blick schien sie normal zu bleiben. Bis auf ihre blutjunge Erscheinung und die großen, vor Zorn geweiteten, Augen, war nichts Besonderes an ihr.
„Nein. Ich sehe nichts“, antwortete er.
Khaled gluckste.
„Er sieht es nicht.“ Er sah den Anderen nun durchdringend an. Die goldenen Augen auf Gabriel geheftet, sodass er sich augenblicklich unwohl fühlte.
„Schau ... genauer ... hin!“ Die unterschwellige Drohung ließ ihn Khaleds Weisung ausführen. Er spürte zögernd in sie hinein.
Zuerst fühlte er nichts Besonderes und war anfänglich in seiner Annahme bestätigt. Doch je tiefer seine geistigen Fühler in ihre Gedanken eindrangen desto undurchdringlicher wurden sie. Dunkelheit umfing ihn und ein Wispern erklang. Erst leise und undeutlich, dann lauter und schließlich wuchs es zu einem Dröhnen an, das so laut wurde, dass Gabriel meinte, es müsse jeder der Anwesenden hören. Es war wie tausende Stimmen, die in verschiedensten Sprachen flüsterten, schrien und kreischten. Doch er wusste, es war nur eine Illusion und tastete sich weiter vorwärts.
Die ganze Sache kam ihm mit einem Mal sehr vertraut vor, sodass er unweigerlich an Benedict denken musste. Sobald ihn diese Erinnerung durchzuckte, geschah es:
Um Gabriel herum erschienen Runen. Doch im Gegensatz zu den dunklen, fast schwarzen Gebilden in Benedicts Geist, waren diese hier rot glühend und in einer faszinierenden Art lebendig und anziehend. Sie bewegten sich und auf ihrer Oberfläche pulsierten dunkelrote Formen, die Blutgefäßen nicht unähnlich waren. Sobald er jedoch einer dieser Barrieren zu nahe kam, oder versuchte zu berühren, ertönten die Stimmen erneut. Alles um ihn herum begann zu vibrieren und mit einem heißen Hieb, der fast körperlich war, wurde er aus dem Kopf des Mädchens geschleudert.
Keuchend und den Schlag in jeder Faser seines Körpers spürend, ging er in die Knie. Gabriel sah sie an und die Rothaarige erwiderte seinen Blick. In den schwarzen Augen glitzerte jugendliche Schadenfreude. Sie öffnete ihre Lippen zu einem kleinen spöttischen Lächeln.
„Darf ich vorstellen? Eleonora Strauch. Die Tochter von Eva Strauch.“ Er machte eine dramatische Pause, die Gabriel nutzte, um sich wieder auf die Beine zu stemmen. Er ließ das Mädchen dabei keinen Augenblick aus den Augen.
„Nora ist eine Hexe“, fuhr er fort.
„Ihre Mutter Eva, war eine der Frauen und Männer, die in Bernau für ihr schändliches Tun und in der Vermutung Hexen zu sein, bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Bei Eva traf diese Vermutung jedoch zu. Nur das wussten die Henker damals nicht. Dass sie eine Tochter hatte, ebenso wenig. Nora hier, hat die Kräfte ihrer Mutter geerbt und war lange von ihr in den dunklen Künsten geschult worden.“ Er wartete darauf, dass Gabriel etwas entgegnete. Jedoch war dieser durch Petes Geschichte in der Verarbeitung solcher Tatsachen dermaßen abgestumpft, dass er sich nicht die Mühe machte, laut zu fragen, wann diese Eva wohl hingerichtet wurde. Und wieso Nora nicht alterte, obwohl sie doch eindeutig menschlich war.
„Eva wurde im Jahre 1658 als letzte Hexe in Bernau bei lebendigem Leibe verbrannt. Und nun führt Nora die Geschäfte ihrer Mutter in Berlin weiter. Bisher gab es auch nie Probleme, bis vor sechs Monaten die Übergriffe begannen.“
Das Mädchen regte sich. Die ganze Zeit hatte sie in der gleichen Position gesessen und Gabriel in die Augen gesehen. Dieser war nicht in der Lage seinen Blick abzuwenden. Als sie nun blinzelte, löste sich eine Fessel und der Wille, sich von ihr abzuwenden, kehrte zurück.
„Ich habe damit nichts zu tun!“
Ihre Stimme war kraftvoll und rauchig und ließ ihr wahres Alter fast erahnen. Jedoch klang in ihr die Jugend ihres Körpers mit und vereinte sie zu einer Melodie, die Gabriel sofort an ihre Lippen bannte.
„Und über die Geheimnisse ihrer Schönheit, junger Bubak, schweigt eine Dame. Doch vielleicht zeige ich es dir eines Tages.“ Sie zwinkerte ihm zu und er fand endlich seine Fassung wieder. Langsam atmete er ein. Denn, wie er jetzt feststellte, hatte er seine Luft die ganze Zeit angehalten.
Khaled schaute ihm grinsend ins Gesicht. Offensichtlich erkannte er ihre Wirkung auf ihn und es schien den Berliner Alpha köstlich zu amüsieren.
„Auf jeden Fall ...“, begann er wieder. „Ist Nora zu uns gekommen, um uns zu sagen, wo der Anführer der Wölfe zu finden ist.“ Er wandte seinen Blick wieder dem Mädchen zu.
Sie lächelte, unschuldig, als wäre sie nur ein junges, naives Ding und antwortete dann:
„So einfach ist das leider nicht.“ Khaled erstarrte und sog die Luft scharf in seine Lungen.
„Ich werde euch sagen, wer der Anführer ist. Aber zu gegebener Zeit und an einem ...“, sie blickte sich um. „... ansprechenderen Ort.“ Damit erhob sie sich von dem Stuhl, zog ihr Kleid zurecht und bauschte den Tüll akkurat in Form. Dann sah sie erst Khaled und dann Gabriel durchdringend, fast ein wenig herausfordernd, an und ging einen Schritt vorwärts. Als Nora auf ihn zuschritt, stand dem Berliner Alpha der Schrecken ins Gesicht geschrieben,.
„Hast du gedacht, dass diese Siegel mich bannen könnten? Dummes Hündchen, Khaled. Zwei Welpen wie ihr, haben nichts in diesen Positionen zu suchen!“ Ihre Augen funkelten vor Zorn.
„Die Siegel waren sauber geschrieben ...“, versuchte sich Khaled herauszureden. Doch Nora lachte kurz, glockenhell auf und schaute dann an die Decke. Gabriel folgte ihrem Blick und sah das Bannzeichen. Ein rotes, etwa ein Meter großes, Pentagramm war an die Deckenverkleidung gemalt worden. Die Runen schienen sauber geschrieben, soweit er das mit seinem leihenhaften Verständnis der Sache beurteilen konnte. Jedoch schien Khaled ein Fehler unterlaufen zu sein, den er jetzt, ganz offensichtlich, innerlich verfluchte.
„Ich werde dir jetzt nicht erklären, welches Zeichen du versemmelt hast, Khaled. Jedoch würde ich mir, an deiner Stelle, die Aufzeichnungen noch einmal ganz genau durchlesen.“ Sie lächelte wieder und schritt dann auf Gabriel zu. Nora stand nun direkt vor ihm. Ihr kleiner, zierlicher Körper berührte ihn fast und er war kaum in der Lage, seinen Blick von ihr abzuwenden. Die schwarzen, großen Augen, die zu ihm aufblickten. Die weichen rosafarbenen Lippen und die fesselnden, roten Haare, die in diesem Licht, wie Feuer waren. Sie unterschied sich nur in einem Detail von einem Menschen, das merkte er jetzt. Sie roch nicht! Nur der leichte Duft des Waschmittels und ihres Shampoos war auszumachen, sonst nichts. Sie amüsierte sich prächtig und sie ließ es ihn spüren.
„Nun zu dir. Bubak
.“ Sie sprach dieses Wort mit einer sonderbaren Betonung aus. „Ich werde dir sagen, wo du den Mann findest, der diese Attacken zu verantworten hat. Ich werde dich auch zu ihm führen. Aber nur dich!“ Ihre Stimme war zu einem weichen Surren geworden. Ein Finger ihrer kleinen Hand wanderte von seinem Bauch zu seinem Kinn hinauf. Die Berührung war kaum zu spüren, aber ihre Bedeutung ließ Gabriels Nackenhaare sträuben.
Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen, um noch näher an sein Gesicht heranzukommen. Der warme Atem, der bei ihren Worten in sein Gesicht wehte, war genauso geruchsneutral, wie der Rest ihres Körpers.
„Triff mich am Sonntag, um 09:00 Uhr, am alten Museum. Bis dahin ...“ Ihre Nasenspitze berührte leicht sein Kinn. Nora sah ihm wieder direkt in die Augen und dann legte sie ihren heißen Mund auf seinen. Gabriel konnte nicht anders, als ihren Kuss zu erwidern, widerstand aber dem Verlangen, sie zu packen und näher an sich heranzuziehen. Er wusste, es war falsch, wusste, dass sie mit ihm spielte. Ihre Kräfte gegen ihn einsetzte. Doch in dieser Sekunde war es ihm egal. Er war benebelt von ihrer Kraft und nicht in der Lage, auch nur einen Hauch an Gegenwehr zu leisten. Gabriel hörte, wie Khaled neben ihm ein leises Husten vortäuschte, um die Angelegenheit zu unterbrechen, jedoch war er unglaublich enttäuscht, als Nora sich von ihm löste.
„Für so ein junges Bürschchen küsst du verdammt gut“, sagte sie mehr zu sich selbst und fuhr dann fort:
„Bis dahin ... träumt etwas Schönes.“
Den Sinn ihrer Worte verstand Gabriels erst, als er sich am nächsten Morgen auf dem Boden der Bibliothek wiederfand. Mit brummendem Schädel und staubtrockener Kehle.
„Dieses Miststück“, knurrte Khaled neben ihm, als er sich umständlich aufsetzte. „Ich hätte es wissen müssen!“
„Hast du mich nicht selbst gewarnt, dass sie gefährlich ist?“ Gabriel lächelte. In diesem Moment flog die Tür auf und Aaron stand im Eingang, grinsend und mit verschränkten Armen.
„Ich hatte mich schon gewundert, wo ihr geblieben seid.“ Doch sein freudiges Lächeln schmolz so schnell, wie es auf seinen Lippen erschienen war und er fuhr fort:
„Die Hexe hat das komplette Haus schlafen gelegt. Wir können von Glück sprechen, dass in der Zeit keine gegnerischen Wölfe aufgetaucht sind. Sie hat sogar die Wachen draußen betäubt.“
Khaled richtete sich auf und zog seinen Anzug glatt.
„Verdammte Hexe“, fluchte er weiter und plötzlich war er nicht mehr der Anführer, sondern das störrische Kind, wie das er aussah.
Aaron half Gabriel auf und das amüsierte Glitzern in seinen Augen und das kleine Lächeln auf seinen Lippen zeigten ihm, dass es nicht das erste Mal war, das Khaled in ein solches Verhaltensmuster verfiel. Der Berliner Alpha fluchte weiter über die Situation und gab ihnen schließlich die Anweisung, ihr Frühstück selbst zu machen. Dann ging er davon.
Unschlüssig sah Gabriel sich um. Der Boden war zwar mit teuren Teppichen ausgekleidet, doch darauf zu schlafen hatte seinem Körper einiges abverlangt. Zudem kam die störende und auch verunsichernde Tatsache, dass er Noras Kuss immer noch spürte. Wie ein leichtes Kribbeln hallte es auf seinen Lippen nach und breitete sich, bei dem Gedanken an den letzten Abend in seinem gesamten Körper aus. Er musste wohl seine Hand zu seinem Mund geführt haben, denn Aaron maß ihn mit einem skeptischen Blick, in dem so etwas wie Triumph
mitschwang.
„Sie machen so etwas gerne“, sagte er und lächelte dann. Er bemerkte Gabriels verwunderten Blick und fuhr dann fort:
„Die Hexen. Sie setzen ihre Magie ein, um andere glauben zu machen, sie wären verliebt.“ Er lachte.
„Und bei dir scheint sie ja ein williges Opfer gefunden zu haben.“ Mit einem Grinsen sprach er weiter:
„Ein Glück war ich nicht im Raum. Ich weiß nämlich nicht, ob ich mich hätte beherrschen können.“ Als er lachte, war es so ansteckend, wie am ersten Tag und Gabriel fiel automatisch ein. Sie mussten ein lustiges Bild abgegeben haben: Zwei junge Männer in einer Bibliothek, die sich ohne Grund aus der Puste lachten. Als sie fertig waren, spürte Gabriel jeden Bauchmuskel und, was noch schlimmer war, seinen Magen, der sich lautstark bemerkbar machte.
Khaled war den ganzen Vormittag damit beschäftigt, Personal und Sicherheitskräfte zu befragen und zu kontrollieren, ob etwas fehlte oder gar deponiert worden war. Jeder Stein wurde umgedreht, auf der Suche nach magischen Zeichen oder Gegenständen, die Nora oder ein anderer hätte hinterlassen können. Aaron und Gabriel saßen auf der Veranda und schauten zu, wie die Sicherheitsleute den gesamten Garten umwälzten jedes Beet durchpflügten und sogar an den Tieren - vorzugsweise Katzen und Hunden - nachschauten, ob sie irgendein Zeichen trugen. Nach einer Weile sah Aaron Gabriel an, die Lippen zu einem Lächeln gekräuselt:
„Sieh' mal den Dicken da hinten.“ Er folgte dem ausgestreckten Finger des Blonden mit seinem Blick.
„Er versucht jetzt schon, seit etwa fünf Minuten, den Spatz zu erwischen.“
Es war tatsächlich interessant dem Mann dabei zuzusehen, wie er versuchte, den kleinen Vogel zu fangen. Die breiten Arme ausgestreckt und die kurzen, stämmigen Beine ständig in Bewegung, machte er den Eindruck, als würde er jeden Moment stürzen können und das Tier unter sich begraben.
Der Vogel machte sich jedoch offensichtlich einen Spaß daraus, den Dicken heranpirschen zu lassen und, sobald dieser zum Sprung ansetzte, ein paar Zentimeter weiter zu hüpfen. Die ganze Zeit über setzte er nicht einmal zum Flug an, bis er das Interesse verlor und der Sicherheitsmann kopfüber in die Rosen stürzte.
„Super Boris! Das nächste Mal kriegst du ihn vielleicht“, brüllte Aaron durch den Garten und erhielt als Antwort ein wütendes Schnaufen aus den Büschen.
Es ging schon auf Mittag zu und Gabriel hatte sich noch nicht bei Neva gemeldet. Das wollte er nun nachholen. Mit dem festen Entschluss ihr alles, was am Vortag geschehen war, zu erzählen, ging er ins Haus. Aaron hatte ihm am Vormittag sein Zimmer gezeigt, dass er nun ohne weitere Umschweife anvisierte.
Im Gegensatz zu den riesigen Zimmern im Erdgeschoss, war sein Schlafzimmer winzig. Das Haus war augenscheinlich dafür gebaut worden, um mehrere Gäste gleichzeitig aufnehmen zu können. Gabriel setzte sich auf das Bett und suchte nach seinem Handy.
Neva hatte es sich in der letzten Zeit angewöhnt, ihn anrufen zu lassen, da er in der Vergangenheit gleich mehrere schlechte Erfahrungen mit klingelnden Handys machen musste. Darum wartete sie auf seine Nachricht und rief nur in Notfällen an. Doch das war bisher noch nicht vorgekommen. Sie lebte in der Gewissheit und der Ruhe einer Frau, die jeden Moment das Schlimmste erfahren konnte.
Er hatte seine Zimmertür aufgelassen und war gerade im Begriff Nevas Nummer zu wählen, als ihn eine Bewegung im Türrahmen aufschauen ließ.
Auf dem Flur, direkt vor dem Zimmer, stand ein Kind. Verwundert legte er sein Handy in den Schoß und schaute es an. Das glatte kleine Gesicht und runde, große Augen, die ihn ohne Scheu musterten. Es hatte eine Haut von der Farbe von Milchkaffee. Die Haare waren schwarz, eigentümlich glatt und lang. Auf den ersten Blick konnte er nicht einmal sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Gabriel schätzte es auf etwa sieben Jahre. Es war groß, doch die schmalen Züge des Kindes ließen ihn das Alter nicht zu hoch ansetzen. Gabriel wollte sprechen, doch das Kind wandte sich um und verschwand im Korridor. Kopfschüttelnd nahm er sein Telefon wieder in die Hand. Doch auch dieses Mal kam er nicht dazu, den Wahlknopf zu drücken. Wieder nahm Gabriel eine Bewegung war. Allerdings war er überrascht, nicht mehr nur das eine Kind zu sehen, sondern auch noch ein Zweites, das dem Ersten bis auf die Haarspitzen glich.
Nur ihre Augen unterschieden sich. Die des einen Kindes leuchteten in einem so strahlendem blau, dass sie in seinem dunklen Gesicht wie Saphire wirkten. Die des anderen Kindes waren zweifarbig. Das eine Auge schimmerte in einem goldenen braun, das andere in dem gleichen faszinierenden Blau, wie die seines Zwillings.
„Hallo“, sagte Gabriel geistesgegenwärtig.
Doch sie antworteten nicht, starrten nur mit ihren faszinierenden Augen.
„Wer seid ihr?“ Er stand auf und wollte sich ihnen nähern, doch, wie durch einen stillen Hinweis, rannten sie gemeinsam davon und um eine Ecke. Neugierig geworden, durch dieses seltsame Verhalten, setzte er ihnen nach. Als Gabriel um die Ecke bog, waren sie jedoch verschwunden. Er bog in langen Flur, dessen Wände bis zur Hälfte und die komplette Decke mit dunklem Holz beschlagen war. Die hohen Fenster wurden von schweren, samtenen Vorhängen verdunkelt, sodass nur wenig Licht in das Gebäude fiel und den Gang in unheilvolles Zwielicht getaucht wurde. An der linken Seite, sowie dem Ende des Ganges führten Türen in andere Räume. Gabriel wollte sie nicht alle öffnen, nur um die Kinder zu finden, wollte eventuellen Überraschungen aus dem Weg gehen. Sodass er sich umdrehte, um in sein Zimmer zurückzukehren.
Noch in der Bewegung stockte er. Gabriel war sich sicher, dass er das Gefühl, das seinen Körper nun wie eisige Schauder und tausende kribbelnde Nadelstiche überzog, schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gespürt hatte. Die beiden Kinder waren so unvermittelt hinter ihm aufgetaucht, dass es ihm schwerfiel, auch nur die Balance zu halten. Fast wäre er rücklings auf den Boden gefallen, konnte sich aber noch in letzter Sekunde an einer der holzvertäfelten Wände abstützen. Sein Herz schlug wild und aus dem Takt. Kleine Schweißperlen kitzelten in seinem Nacken und ein merkbares Zittern breitete sich von den Knien ausgehend in jede Faser seines Körpers aus.
„Verdammt, ihr habt mich erschreckt.“ Seine Stimme war zu einem Flüstern geschrumpft und er konnte ein kleines Beben nicht verhindern.
Die Kinder lächelten, wie die Unschuld selbst und das Blauäugige hob die Hand, um Gabriel mit sich zu nehmen. Er ergriff die kleinen Glieder, die heiß und weich in seinen, nun so riesig erscheinenden, rauen Fingern lagen.
Sie führten ihn zu der letzten Tür am Ende des Flures und mit jedem Schritt konnte er die Anwesenheit hinter dem dunklen Holz fühlen. Der ruhige Atem, der plötzlich so laut in seinen empfindlichen Ohren klang, der leichte Duft, der durch die Ritzen und Löcher der Tür kroch und sich wie Nebel um ihn herum sammelte. Ein Duft nach Rosen und Wald, nach Jugend und Wildheit, aber auch der betörende Duft der Weiblichkeit, der ihn immer wieder spüren ließ, wie anfällig er für körperliche Reaktionen auf den Geruch anderer Wölfe war.
Die Kinder schienen sein Zögern zu bemerken und drängten ihn mit sanfter, kindlicher Freude zur Türe hin. Das Blauäugige ließ Gabriels Hand nicht los, während es die Klinke drückte und ein warmer Schwall, Duft geschwängerter Sommerluft, durch die Öffnung drang. Gabriel musste kurz stehen geblieben sein, denn ein leichtes Ziehen bedeutete ihm, weiterzugehen. Hinter dem Eingang war der Raum mit Sonnenlicht durchflutet. Und ganz im Gegenteil zu den dunklen Fluren war das Zimmer freundlich und hell eingerichtet, sodass Gabriel blinzeln musste, um sich an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen.
Auf einem Schaukelstuhl in der Mitte des Raumes saß eine Frau. Ihre Ausstrahlung war überwältigend. Offensichtlich war sie ein Wolf, aber anders als jedes Wesen seiner Art, das er bisher getroffen hatte. Ihre Haut war wie dunkler Karneol, schimmernd, wie Bronze. Die Haare waren lang und glatt und fielen ihr wie ein schwarzer Wasserfall über die Schultern bis in ihren Schoß. Sie trug ein weißes Spitzenkleid, das ihre einzigartige Schönheit noch betonte. Als Gabriel eintrat, hob sie den Kopf und er konnte ihr in das glatte, schöne Gesicht sehen. Die Augen waren schwarz wie Obsidiane und glänzten im Sonnenlicht. Sie lächelte und ihre geschwungenen Lippen legten zwei Reihen weißer kleiner Zähne frei, deren Eckzähne kurz, aber deutlich, aufblitzten. Die Kinder hatten sich von Gabriel weg, auf die Frau zubewegt und er erkannte sofort, die Ähnlichkeit zwischen der Fremden und den kleinen, faszinierenden Geschöpfen. Gebannt sah er zu, wie sie ihre Köpfe in den Schoß der Frau legten, um dann von ihr zärtlich gekrault zu werden.
Während der ganzen Zeit sagte keiner ein Wort. Nur die Geräusche ihrer Bewegungen und der sanfte Ton ihrer Herzen waren zu hören. Gabriel war gefangen in diesem Anblick, dass er das Flüstern zuerst nicht bemerkte. Wie aus einer Trance schreckte er hoch und besah die Frau erneut eindringlich. Hatte sie etwas gesagt?
„Du musst Gabriel sein ...“ Ihre liebevolle Stimme schwang im Raum. Die Frau lächelte nun wieder, mütterlich.
„Ich bin Aset. Khaleds Frau.“ Gabriel holte tief Luft, wollte etwas erwidern, blieb aber stumm.
Aset strich den Kindern weiterhin über die Haare, tat es mit einer Inbrunst, wie nur Mütter es können. Dann legte sie jedem Kind eine Hand unter das Kinn und hob die kleinen Köpfe an. Die beiden blickten nun wieder zu Gabriel, ihre leuchtenden Augen auf ihn fixiert. Aset richtete sich ein wenig im Sessel auf und schickte die Kinder mit einem stummen Befehl auf das Bett. Sie setzten sich und schauten still zu ihrer Mutter, voller Neugier und ohne Furcht. Aset erhob sich nun vollständig und trat langsam, geschmeidig wie eine Raubkatze an ihn heran. Erst jetzt sah Gabriel, dass ihre Augen nicht ihn, sondern einen Punkt weit hinter ihm fixierten, dass sie völlig erstarrt und ohne erkennbares Leben waren. Als hätte Aset sein Erschrecken bemerkt, schloss sie die Lider und trat nun so nah an ihn heran, dass sie nur noch wenige Zentimeter trennten. Heiße Schauer überliefen Gabriel, als sie sich näher an ihn heran beugte und seinen Geruch tief einsog. Ihr Duft war intensiv, wild und vor allen Dingen unwiderstehlich weiblich. Doch ehe er etwas unternehmen konnte, dass er später bereuen würde, zog sie sich zurück und lächelte.
„Unverkennbar.“ Gabriel war durch die Anstrengung sich zurückzuhalten, nicht in der Lage diesen Ausspruch zu deuten. Doch mit der Naivität eines von Lust betäubten Mannes rechnete er dieser Aussage auch keine große Bedeutung zu. Aset entfernte sich noch einen weiteren Schritt und Gabriels Euphorie verflog im gleichen Maße, wie ihr Abstand zunahm. Mit einer kleinen Handbewegung bedeutete sie ihren Kindern, zu ihr zu treten.
„Dies sind meine Kinder: Koray.“ Sie legte ihre Hand auf die Schulter des Jungen mit den zweifarbigen Augen. „Und das ist Kamar.“ Die andere Hand ruhte nun sanft auf der Schulter des Mädchens mit den saphirblauen Tiefen. Gabriel holte tief Luft und nickte den beiden Kindern freundlich zu.
„Und bevor du fragst, mein kleiner Alpha. Nein. Sie sind nicht Khaleds Kinder. Dafür sind sie ein wenig zu alt, findest du nicht?“ Gabriel war verwundert. Aset hatte eine Idee ergriffen, die er selbst nicht einmal gebildet hatte.
„Wie?“, begann er, wurde aber von Aset unterbrochen.
„Nein, Gabriel. Ich kann nicht in deinen Kopf schauen. Aber ich kann deine Gedanken sehen.“ Ihre dunklen Lippen verzogen sich zu einem wissenden Lächeln. „Nicht im wörtlichen Sinne“, fuhr sie fort, „ich spüre ihre Anwesenheit, denn Sehen kann ich nicht.“ Nun ließ sie wieder ihre spitzen Eckzähne sehen. „Aber spar' dir deine Mitleidsbekundungen, denn ich bin blind, seit ich denken kann. Und das, mein lieber Gabriel, ist schon ziemlich lange.“ Geschmeidig ließ sie sich wieder in ihren Stuhl sinken und wippte leicht. In den hellen Lichtbalken, die durch die Vorhänge strahlten, schien ihr Körper zu leuchten und gab ihrer gesamten Erscheinung etwas Unwirkliches. Nach einer gefühlten Ewigkeit sprach sie schließlich weiter:
„Es tut jedoch nichts zur Sache, wer ihr Vater ist. Er ist, sagen wir es so, gegangen.“ Ihre Augen waren unergründlich. Und wenn Gabriel es sich richtig eingestand, machten sie ihm sogar Angst. Hinter ihrer blinden Fassade verbarg sich ein Wissen, das Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende, an Erfahrung vereinigte.
„So ...“, begann sie erneut. „Was führt dich nun hier her?“ Gabriel war unfähig ihr eine Antwort zu geben. Starrte zuerst sie und dann nacheinander die beiden Kinder an. Sah er in ihren Augen so etwas wie Belustigung?
„Ich ... äh.“ Die Situation wurde eindeutig unangenehm.
„Ich ... äh.
Gabriel? Ist das eine Frage, die man jemandem wie mir stellen sollte?“
„Jemandem wie dir? Ich wusste bis gerade nicht einmal, dass du existierst. Welche Frage sollte ich dir stellen wollen? Deine Kinder haben mich hier hergeführt und jetzt stehe ich hier.“ Ein strahlendes Lächeln überzog die Gesichter der Geschwister.
„Du bist unerfahren, kleiner Alpha. Es ist schade, dass man dich so wenig über uns und anscheinend noch viel weniger über dich selbst gelehrt hat. Du bist fürs Erste entlassen, bis du deine Frage gefunden hast.“ Sie machte eine kleine Handbewegung, die Gabriel als Aufforderung auffasste, den Raum zu verlassen. Jedoch war er neugierig geworden.
„Wer ist es, der die Wölfe kontrolliert?“ ‚Das ist es, ganz sicher, wird sie diese Frage von mir hören wollen‘
, dachte er. Jedoch war ihr Gesicht ausdruckslos geworden, nicht zu deuten und makellos schön. Kamar und Koray waren wieder an ihre Mutter herangetreten und sie setzte die Streicheleinheiten von vorher fort.
Resigniert verließ er den Raum und lenkte seine Schritte in Richtung seines Zimmers. Doch bevor er es erreichen konnte, versperrte ihm Aaron den Weg.
„Hey. Ich weiß, du bist müde. Aber hast du nicht Lust heute Abend mit mir in die Stadt zu gehen? Mir ist langweilig und Khaled hat hier genug zu tun. Du weißt schon, wegen dieser Hexensache.“ Er grinste und seine dunklen Augen glänzten vor Vorfreude.
Gabriel rieb mit Daumen und Zeigefinger über Stirn und Nasenwurzel und ließ sie einen Moment zwischen seinen Augen verweilen.
„Gut, gut“, sagte er dann und gab sich unwillig, aber ohne weiteren Einwand, geschlagen.
„Dann gegen Acht?“ Aaron rieb sich lächelnd die Hände und verschwand dann so schnell und leise, wie er gekommen war.
Den restlichen Nachmittag verbrachte Gabriel in seinem Zimmer. Er hatte Neva angerufen, jedoch den Zwischenfall mit der Hexe in keinem Wort erwähnt. Nevas tiefe Liebe und ihre Sorge um ihn fraßen ihn auf. Sodass er das Gespräch so schnell beendete, wie es ihm möglich war. Er fühlte sich schuldig und schlecht.
Er hatte die besten Männer für sie abgestellt, hatte jede Maßnahme ergriffen, um sie vor Angriffen der randalierenden Wölfe zu schützen. Doch um sein eigenes Leben hatte er sich keine Gedanken gemacht. In den letzten Monaten war seine Existenz blass geworden. Kaum ein Reiz, abgesehen von Neva, konnte ihn noch ausfüllen. Er wusste, Grund war sein unausgereiftes Training und Tatsache, dass jeder tot oder unansprechbar war, der ihm, wenn auch nur ein wenig, von seinen Möglichkeiten hätte näher bringen können. So blieb ihm nur der Selbstversuch. Doch was nützte es im Geist der Menschen oder der Wölfe zu lesen, wenn diese nicht einmal die Möglichkeiten des Selbstschutzes kannten. Er war wie eine Kerzenflamme, die einen Brief verbrannte und verzehrte, bevor auch nur ein Buchstabe darauf deutlich zu lesen war. Nach wenigen erfolglosen Versuchen hatte er es schließlich aufgegeben. Nicht zuletzt für die Menschen.
Er spürte größere Kräfte in sich brodeln, die nur eine Möglichkeit suchten, aus seinem Inneren herauszubrechen. Und er wusste auch, dass er aus diesem Grund eine Gefahr war. Eine wandelnde Zeitbombe, die mit einem falschen Gedanken seine Liebsten hinwegfegen konnte.
06. Juli 19:43 Uhr Berlin
Ich habe wieder begonnen, Tagebuch zu führen.
Die Ereignisse hier in Berlin, aber auch in Köln, nehmen ein Ausmaß an, dem selbst die alten Anführer nicht gewachsen sind. Khaled und ich, wir sind grün hinter den Ohren. Unerfahren, schwach ...
Ich spüre, dass etwas Großes auf uns zukommt. Ich weiß nur noch nicht, was die Angriffe bezwecken sollen. Doch ich könnte mein Leben darauf verwetten, dass all‘ dies geplant ist. Doch zu welchem Zweck und vor allen Dingen ... von WEM?
Pünktlich um Acht hatte Aaron vor seiner Tür gestanden, ihn in seinen Wagen verfrachtet und quer durch die Stadt gefahren. Jetzt standen sie vor einer Fassade, die beim besten Willen gerade noch als ‚Retro‘ bezeichnet werden konnte. An den Wänden bröckelte der Putz und sämtliche Fenster bis auf zwei Meter Höhe waren mit Holzlatten verrammelt. Am gesamten Mauerwerk waren Sprayer am Werk gewesen und hatten ihre Namen und Parolen an den Häusern verewigt.
Aaron führte ihn in eine kleine Kneipe. Die Eingangstür war von außen kaum sichtbar gewesen, denn auch sie war mit dutzenden Graffitis besprüht. Sie betraten einen schäbigen Raum, der mit dunklem Holz ausgeschlagen und verqualmt war. Der Barkeeper war fett, tranig und stank, als hätte er seit Tagen keine Dusche mehr gesehen. ‚Eigentlich‘
, dachte Gabriel, ‚als hätte er seit Wochen keinen Tropfen Wasser an seine Haut gelassen.‘
„Und? Wie gefällt es dir?“ Aarons Aura war unpassend fröhlich und übertrieben positiv für diesen Ort.
Gabriel blickte sich um. An den zwei Tischen im Raum saßen betrunkene Männer, die sie kaum wahrzunehmen schienen. Auf der anderen Seite stand die leere Bar hinter der der Barkeeper mit einem dreckigen Lappen in einem milchigen Glas herumwischte. Das Haar des Mannes fiel ihm fettig ins Gesicht und in seinem Bart hatten sich Speisereste, Talg und offensichtlich auch Rückstände von Blut verfangen. Gabriel blickte Aaron fragend ins Gesicht:
„Was willst du hier? Ich hätte dich nicht als Klientel dieser Art von Etablissements eingeschätzt.“ Aaron grinste, aber schaute an ihm vorbei zum Barkeeper.
„Ulf ...“ Der Dicke nickte und brummte etwas Unverständliches. Dann betätigte er einen kleinen Schalter, der unter dem Tresen eingelassen war und eine Tür in der Holzvertäfelung tat sich auf. Gabriel konnte Schreie hören, Kampfgeräusche und er roch ...
Entsetzt sah er wieder zu Aaron.
„Ganz recht ... Ich denke, es wird dir gefallen.“
Hinter der Tür führte eine schmale, dunkle Treppe hinunter in den Keller. Kampfgeräusche und Gebrüll wurden mit jedem Schritt lauter und auch die wilde, moschusartige Witterung legte sich bei jedem Schritt schwerer auf seine Sinne.
Der riesige Kellerraum wimmelte vor Menschen. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf einen kreisrunden Käfig gerichtet, der in der Mitte des Raumes aufgebaut war. Sie jubelten und fluchten, sie brüllten und warfen mit leeren Gläsern auf den Käfig, in dem zwei Männer kämpften. Alle Augen waren auf die beiden im Käfig gerichtet. Auch Gabriels Aufmerksamkeit wurde sofort von den Kämpfenden angezogen.
„Sie sind ...“, begann er und Aaron nickte zur Bestätigung, ließ aber seine Augen auf den Kampf gerichtet.
„Aber alle anderen hier im Raum sind Menschen, wie ... warum nehmen sie dieses Risiko auf sich?“
„Sie wissen Bescheid. Ich meine die Menschen hier. Sie wissen es!“
Gabriel riss entsetzt die Augen auf.
„Wart’s ab, es wird noch besser. Aber wir sollten uns einen besseren Ort suchen. Die Sicht hier ist miserabel.“ Er griff Gabriel am Arm und schob ihn durch die Menschen, die ihre Anwesenheit kaum bemerkten. Vor dem Käfig war eine Sicherheitszone abgesperrt worden, die von mehreren Männern bewacht wurde. Von ihrer Statur erinnerten sie an Türsteher, trugen aber ausnahmslos scharfe Waffen. Der Ring schien errichtet worden zu sein, um die Kämpfer vor den Wutattacken der Zuschauer zu schützen, oder aber, um die Zuschauer vor den Kämpfenden zu schützen. Nicht auszudenken, würde einer der Zuschauer verletzt. Aaron wurde ohne Fragen in den abgesperrten Bereich eingelassen und Gabriel folgte ihm skeptisch.
Augenscheinlich normal, kämpften die beiden Männer im Ring jedoch bereits am Rande zur Erschöpfung, mehrere schwere Wunden ließen ihre Bewegungen träge werden und viele ihrer Hiebe gingen ins Leere. Doch Blut und Schweiß verdeckten nicht den intensiven Werwolfgeruch, den die beiden verströmten. Gerade in dem Moment, als Gabriel durch die Absperrung trat, wurde einer der Männer gegen die Gitter gedrückt.
Er war schmal. Das Gesicht war kantig und lang. Es wurde von langen blonden Haaren umrandet, die strähnig bis auf seine Schultern reichten. In diesem Kampf schien seine Nase schon mehrmals gebrochen worden zu sein und seine Augen glühten angriffslustig in einem intensiven Gold. Als er Gabriel wahrnahm, senkte er für einen Moment den Blick, um seine Unterwürfigkeit zu demonstrieren. Beinahe zu spät hätte er deshalb die erneute Attacke seines Gegners bemerkt. Dieser war um einiges größer und an Masse überlegen. Mehrere Tattoos verzierten seinen stämmigen Körper. Als er den Blonden an den Haaren herumriss, jubelte die Menge und setzte zu einem Chorgesang an, dessen Worte Gabriel erst beim zweiten Hinhören richtig wahrnahm:
„Wolf! Wolf! Wolf!“ Immer wieder wiederholten sie das Wort, bis es mit einem Mal still wurde. Gabriel hatte sich im Raum umgesehen und schenkte nun wieder den Männern im Käfig seine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Der Blonde war auf die Knie gegangen, die Ohren deutlich, lang und spitz, unter den Haaren erkennbar, die während Gabriel zusah, dichter und kürzer wurden. Wie in Zeitlupe verzog sich das Gesicht und Gabriel hätte schwören können, dass der Mann genau dies beabsichtigte. Die Emotionen im Publikum heizten die Stimmung weiter auf und der Geruch nach Adrenalin sowie die Gefühle, die ungehindert auf Gabriels Geist prallten, ließen ihn zittern. Er kämpfte die schmerzhaften Veränderungen krampfhaft zurück, als er spürte, wie auch seine Wandlung einsetzte. Der Blonde, mittlerweile vollständig verwandelt, stand nun als großer beige-grauer Wolf dem Breitschultrigen gegenüber. Doch der Andere schien keine Anstalten zu machen, sich weiter als nötig zu verwandeln. Offensichtlich war er davon überzeugt, dem Hellen auch ohne Klauen überlegen zu sein.
Er ging auf den Wolf los und hieb ihm mit der Faust auf den Schädel, sodass er augenblicklich zusammensackte und einige Momente regungslos liegen blieb. Der Breitschultrige ließ sich von der Menge bejubeln und hob die Arme. Doch der Kampf war noch nicht vorbei. Umständlich auf die Beine gekommen, hatte sich der Wolf hinter dem vermeintlichen Sieger positioniert. Ohne Vorwarnung stürzte er sich auf den Jubelnden und schlug seine Fänge in dessen erhobenen Arm. Blut spritzte und Gabriel konnte unter dem Biss Knochen brechen hören.
In den folgenden Minuten hielten die Umstehenden den Atem an und bis auf einige vereinzelte Huster und der Kampfgeräusche im Käfig, war es in dem Raum still. Geistesgegenwärtig wollte der Große sich herumwerfen und hielt nun die geöffneten Kiefer des Wolfes zwischen seinen Händen. Dieser wand sich unter der Kraft des Anderen und versuchte sich mit aller Macht zu wehren. Doch der Große schien ein weiteres Mal überlegen zu sein. Als dieser die Kiefer seines Gegners schmerzhaft und quälend langsam auseinanderzog, wurde das Jaulen des Wolfes unerträglich. Gabriel roch das Blut und hörte Sehnen reißen.
„Stopp“, flüsterte er, doch der Große zog weiter. Das Jubeln der Menge hatte wieder zugenommen und so hörte ihn auch niemand, als er rief:
„STOPP!“
Aaron schaute ihn skeptisch an und zuckte verständnislos mit den Schultern.
„Sie müssen damit aufhören! Er bringt ihn um!“ Doch Aaron sah wieder auf den Käfig, als er antwortete:
„Schau ...“
Seinen Blick nun wieder auf die Kämpfenden gerichtet, überraschte ihn die neue Situation. Dem Wolf war es gelungen, sich aus dem Griff seines Gegners zu befreien und in den Waden des Großen zu verbeißen. Mit einem Ruck hatte er den Dicken zu Fall gebracht und seine Fänge bedrohlich über seine Kehle gesetzt. Doch er wartete, biss nicht zu, bis ein Mann in den Käfig getreten war, der ihm zu seinem Sieg zu gratulierte. Schwer atmend verwandelte sich der Blonde zurück und ließ sich als Gewinner feiern.
Noch immer fassungslos drehte Gabriel sich zu Aaron um.
„Das war großartig? Nicht!“, lachte dieser. Und auch Gabriel musste sich das eingestehen. Diese Art von Unterhaltung war ihm bisher fremd gewesen, doch sie hatte ihren Reiz. Auch jetzt noch war es schwer, den inneren Aufruhr zu besänftigen und er spürte, dass seine Augen jedes Wort der Ablehnung verleugnen würden.
„Es kann jeder teilnehmen, der es möchte ...“ Aaron schielte ihn dabei verdächtig an und grinste sein ansteckendes Grinsen. „Natürlich wird auf die Sicherheit geachtet. Kein Mensch kämpft gegen einen Wolf, das Risiko ist einfach zu hoch. Aber wenn du willst ...“
Währenddessen betraten weitere Kämpfer den Ring und Gabriel erkannte sofort, dass dieser Kampf nicht lange andauern würde.
Der jüngere Mann, der als erstes in den Ring geschoben wurde, blutete bereits aus tiefen Wunden und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Nachdem er sich zitternd und mit beiden Händen am Gitter festhaltend positioniert hatte, folgte ihm ein stämmiger Mann in den besten Jahren.
„Was geht da vor?“ Gabriels Verwunderung wurde zu Wut, als der Gong geschlagen wurde und der Ältere auf den jungen Wolf losging. Ohne Gegenwehr ließ der Verletzte Schläge und Tritte auf sich niedergehen. Nach wenigen Sekunden war der Kampf entschieden, als der junge Mann bewusstlos zu Boden ging.
Aarons leise Stimme, ließ Gabriel seinen Kopf drehen.
„Ab und zu gibt es Wölfe, die sich der Kontrolle eines Rudels entziehen, die ihren eigenen Weg suchen und sich von der Meute abspalten. Du kennst sie sicher aus deinem Rudel. Diese Omegas, ziehen durch die Stadt und wissen meist nichts mit ihrer Kraft anzufangen. Oft schlägt ihre Verunsicherung in Gewalt um und sie beginnen Menschen zu bedrohen oder gar zu verletzen. Viele stellen sich auch auf die Seite der Truppen, die uns seit Monaten bekämpfen, der Paria, wie wir sie nennen. Einige konnten wir bisher festsetzen und befragen, aber keiner von ihnen konnte sich an das Gesicht seines Anführers erkennen, oft auch nicht mehr an seinen eigenen Namen. Diejenigen, die wir jedoch befragen und für Delikte belangen können, werden oft über Zwischenstellen in diese Clubs gebracht, wo sie ihre Strafe in Käfigkämpfen abarbeiten können.“
„Aber ist das nicht Barbarisch?“ Gabriel sah zu, wie der junge Omega aus dem Ring geschleift wurde. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke und er konnte den Schmerz und die Reue des jungen Mannes spüren. Wie lange hielt er diese Folter schon durch? Und wie lange würde sein Martyrium noch andauern müssen, bis seine Schuld
beglichen war?
Aaron blieb positiv und legte Gabriel seinen Arm freundschaftlich auf die Schulter.
„Sie werden nicht getötet, wenn du das vermutest. Sie kämpfen, bis sie sich rehabilitiert haben, dann können sie sich erholen und wenig später sind sie wieder frei. Meist werden sie sogar wieder in das Rudel integriert, das ist doch gut …“ Der Blonde schien von seiner Rede vollkommen überzeugt zu sein. Doch Gabriel hatte noch etwas anderes in den Gedanken des Jungen gespürt, etwas, was ihm Schaudern ließ.
„Mach dir darüber nicht so viele Gedanken.“ Aarons Ausstrahlung bewirkte sogar, dass Gabriel sich ein wenig besser fühlte. „Wenn du willst können wir gehen.“
Nur zu gern nahm Gabriel dieses Angebot an. Fürs Erste hatte er genug von Blut, Gewalt und Käfigen. Er wollte nur noch in sein Bett und den Abend, so gut es ging, vergessen.
Am nächsten Morgen war das Haus, bis auf einige wenige Wachmänner, leer. Kenual war mit den Kindern in eine sicherere Unterkunft in der Innenstadt gezogen. Als reine Vorsichtsmaßnahme, wie ihm einer der Wachmänner versicherte.
„Er wird im Laufe des Vormittages zurückkehren“, hatte der Breitschultrige beteuert. Gabriel suchte sich einen ruhigen Ort im Garten, wo er über die vergangenen Stunden und Tage nachdenken konnte. Nach wenigen Schritten fand er diesen Platz. An einem kleinen Teich, der versteckt zwischen Rosenbüschen lag. Eine alte Holzbank stand zwischen verwilderten Sträuchern, umsäumt von duftenden Blüten. Insekten hatten in dieser Oase ihr sicheres Refugium gefunden und gingen geschäftig ihrem Tagewerk nach. Die Sonne stand bereits hoch, doch durch die Büsche und Pflanzen war Gabriel vor ihren direkten Strahlen geschützt. Das leise Summen und kaum wahrnehmbare Pulsieren des Lebens um ihn herum lullte ihn ein, ließ ihn ruhig und schließlich müde werden. Die Welt entglitt und damit auch sämtliche schweren Gedanken. Sie flossen zusammen in einem Hauch von Plätschern, Licht und Gerüchen und wandelten sich schließlich in ruhiges Nichts. Wenige Momente nur konnte er die Ruhe, die seine Seele erfasst hatte, genießen. Denn schon flüsterte eine Stimme am Rande seines Bewusstseins. Erst noch unverständlich, dann von Wort zu Wort bedrohlicher und schließlich begannen sie eine bedrohliche Botschaft zu bilden.
„Ich werde dich zerstören, Gabriel! Du bist weich, ich habe dich beobachtet. Dein Vater wäre sicher stolz auf dich gewesen. Der weiche Gabriel, ebenso kampfscheu, wie sein alter Herr. Aber weißt du was? Dein Vater ist nicht hier! Er kann dir nicht helfen. Du bist auf dich allein gestellt. Alpha, dass ich nicht lache! Ich werde dich nach Unten drücken und deine Familie vernichten. Und weißt du was? Du wirst dabei zusehen und nichts dagegen tun können.“ Die Worte brachen abrupt ab, als Gabriel eine Berührung an der Schulter spürte. Doch was sich in seiner Ohnmacht wie ein Windhauch anfühlte, stellte sich als härter heraus, als er dachte. Als er die Augen schließlich öffnete, blickte er in besorgte, dunkle Tiefen. Doch im ersten Moment konnte er das Gesicht keinem seiner Freunde zuordnen. Erst als die angespannte Stimme Aarons an sein Ohr drang und der Schleier der Benommenheit langsam von ihm abgefallen war, erkannte er den blonden Wolf.
„Ich habe versucht dich zu wecken. Nicht einmal das Teichwasser hat dich aus deinen Träumen geholt.“ Mit einem Grinsen fügte er hinzu:
„Zu gern wüsste ich, was deine ungeteilte Aufmerksamkeit gefordert hat.“ Doch sein Blick verfinsterte sich schnell wieder, als er erkannte, dass Gabriel die Mattigkeit des Traumes schwer abwerfen konnte. Tatsächlich bemerkte Gabriel auch erst mit Aarons Worten, das er vollkommen durchnässt war. Wie lange hatte er geschlafen? Träge hob er die Hand um sich die restliche Feuchtigkeit aus dem Gesicht zu wischen. Aus den Augen und aus den Haaren. Ein wenig zu lange verweilten seine Finger an der Nasenwurzel, denn Aarons Sorge vergrößerte sich und sprang auf Gabriel über.
„Ich denke du brauchst eine Dusche und ein gutes Mittagessen, dann fühlst du dich wieder wie neu geboren.“
Er hielt Gabriel eine braun gebrannte Hand entgegen und zog ihn, ohne große Anstrengung auf die Beine. Mit einem freundschaftlichen Schubs schob er seinen Freund vorwärts. Und als Gabriel wenige Minuten später aus der Dusche trat, hatte er die Stimme schon wieder vergessen. Dafür kreisten erneut Erinnerungen an Nora in seinen Gedanken.
Um sich abzulenken betrat er Khaleds Bibliothek und untersuchte die Bücher auf interessante Titel. Wie er bereits vermutet hatte, fand er von wissenschaftlichen Abhandlungen, über Erstausgaben bis hin zu den neuesten Titeln, alles vertreten. Doch schon nach wenigen Minuten wurde seine Unruhe so gewaltig, dass er an die Fenster trat und die helle Welt hinter den Scheiben betrachtete. Im gleißenden Sonnenlicht schien das Leben zu pulsieren und ohne Sorge zu gedeihen. Aber in seinen Gedanken rotierten Gedanken, die diese Welt bedrohten. Unzählige Szenarien entwickelten sich in seinem Geiste weiter. Viele in denen er als Gewinner davon ging, aber auch einige in denen er von Eleonora vernichtet wurde. Wie weit konnte er dem rothaarigen Mädchen trauen, das so viele Jahre älter war als er selbst. Er erwischte sich dabei, wie er an Nora dachte. Jedoch nicht die unschuldigen Gedanken, die er an sie geben sollte, sondern tiefere, mit Gefühlen erfüllte Szenarien, die viel weiter gingen, als nur ihr Kuss vom Vortag. Er schalt sich selbst für diese Bilder und machte ihre Magie dafür verantwortlich. Doch ihre Präsenz hatte sich in ihn eingebrannt, was es für ihn fast unmöglich machte, nicht an sie zu denken.
Er hatte nicht bemerkt, wie lange er auf das Leben im Garten gestarrt hatte, als er plötzlich von leisen Schritten aus seinen Fantasien gerissen wurde. Er drehte sich zu der Quelle des Geräusches herum und sah Aset, die in der Mitte des Raumes stehen geblieben war. Ihre Ausstrahlung war majestätisch und auch ohne die Kinder in ihrer Nähe, spürte er ihre mütterliche Aura. Er zwang sich, nicht tief durchzuatmen, aus Angst ihrem Duft zu verfallen. Er sah, dass sie barfuß lief und hielt den Blick gesenkt, als sie schließlich vor ihm zum Stehen kam. Wortlos schob sie eine Hand unter sein Kind und hob sein Gesicht, damit er sie ansehen musste. Wie ein trotziges Kind versuchte er noch kurz ihrem blinden Blick auszuweichen, doch nach wenigen Momenten der Stille, sah er ihr in das makellose Antlitz. Ihre dunkle Haut faszinierte ihn und für einen winzigen Augenblick ließ er sich von ihrer Ausstrahlung hinreißen. Ihr Lächeln holte ihn zurück.
„Sie hat nicht ahnen können, wie stark ihr Zauber auf dich wirkt. Normale Wölfe verfallen ihr normalerweise nicht so schnell. Doch du bist kein normaler Wolf.“ Ihr Lächeln zeigte keine Spur von Schadenfreude, doch verstand Gabriel nicht gleich. Ihre zarte Hand verweilte auf seiner Brust und schien seinen Herzschlag zu fühlen. Der Drang sie zu greifen war so stark, dass er seine Nägel in seine Handflächen grub. Aset schien dies zu fühlen und ergriff mit ihrer freien Hand die seine und legte sie ebenfalls auf seine Brust.
„Ihre Wirkung ihrer Magie beschränkt sich nicht nur auf sich selbst. Sie hat deine Anfälligkeit offensichtlich unterschätzt. Gabriel. Du bist auf der Suche. Auf der Suche nach dir selbst. Schau‘ dich an, gerade einmal den Kinderschuhen entwachsen, bist du in den Thron erhoben worden. Doch du traust dir diese Bürde nicht zu, kennst nicht einmal deine Stärken.“ Sie lächelte kurz und fuhr dann fort. „Deine Schwächen kennst du aber zu genüge und es frisst dich auf. Doch mach dir keine Sorgen, in ein paar Tagen ist der Zauber verflogen und du wirst die falsche Liebe vergessen haben. Wenn du sie jedoch wieder triffst, hat sie die Möglichkeit ihre Magie aufzufrischen.“ Ganz sanft löste sie die Hände von ihm und schien ihn noch einen Augenblick anzusehen, dann drehte sie sich wortlos um und ging. Der Drang Aset am Handgelenk zu greifen und sie herumzudrehen war in dieser Sekunde so mächtig, dass er meinte sie stocken zu sehen. Doch er ließ sie ziehen und wandte sich erneut den Fenstern zu. Natürlich war er auf der Suche und natürlich hatte er unbeantwortete Fragen, er war schließlich ganz allein, dachte er zornig. Aset hatte ihm, anstatt sein Gewissen zu beruhigen, weitere Zweifel in den Kopf gesetzt. Würde er Nora verfallen, sobald er ihr erneut begegnete? Wäre er im Stande Neva zu hintergehen, weil eine Hexe ihr unfaires Spiel mit ihm spielte? Ein Spiel, das er nicht gewinnen konnte, aber trotz alledem spielen musste. Er musste herausfinden, wer hinter den Paria-Angriffen steckte.
Er stand noch immer am Fenster, als er erneut aus seinen Überlegungen gerissen wurde. Es mussten Stunden vergangen sein, denn die Bibliothek war bereits in ein goldenes Zwielicht getaucht, das den nahenden Abend ankündigte.
„Über was denkst du nach?“ Aaron hatte für einen Moment seine fröhliche Miene abgelegt. In seinem Blick war echtes Interesse und als Gabriel schwieg, konnte er Aarons Enttäuschung fast greifen.
„Gut. Du vertraust mir nicht. Das akzeptiere ich. Lass mich dich trotzdem ablenken. Der Tag Morgen wird schon schwer genug.“
Ablenkung würde die Anspannung sicher mindern, doch war Gabriel bereit den Sumpf aus Gewalt und Blut noch einmal zu betreten? Sein Körper schien darauf seine eigene Antwort zu haben, denn er sah das freudige Glitzern in Aarons Blick, als Gabriels Augen ihre Farbe wechselten.
Die Fahrt schien länger zu dauern, als beim ersten Mal. Doch Gabriel schob es auf seine Ungeduld. Als sie schließlich in die Bar traten, hob Ulf nicht einmal mehr den Blick, als er den Knopf zur Geheimtür drückte. Der Geruch der Wölfe im Bauch dieses Hauses machte Gabriel fast rasend. Angestaute Energie begann ihn zu schmerzen und als die beiden vorherigen Kämpfer aus dem Ring traten, drängte er die eigentlichen Nachfolger ohne ein Wort zur Seite und betrat selbst den Ring. Aaron folgte ihm und mit einem triumphalen Lächeln auf den Lippen sprang er in die Mitte des Ringes. Die doppelt gesicherte Tür wurde Geschlossen und kurz darauf erklang die Glocke.
Aaron begann ihn zu umkreisen, den Oberkörper in Lauerstellung und in Erwartung des ersten Angriffs. Gabriel wägte ab, suchte den kleinen Raum auf eventuelle Vorteile ab und analysierte Aarons Schwächen innerhalb weniger Sekunden. Mit einem animalischen Grollen sprang er hinter den Blonden und grub seine Nägel in dessen Schultern, um ihn anschließend mit grober Brutalität auf den Boden zu schmettern. Doch er hatte nicht mit Aarons Reflexen gerechnet. Blitzschnell hatte der sich aus dem schmerzvollen Griff des Alphas gewunden und zu ihm herum gedreht. Seine Faust traf Gabriels Gesicht und im selben Moment spürte der Getroffene Blut aus einer Platzwunde am Auge quellen. Rote Schlieren zogen sich durch sein Sichtfeld und Gabriel versuchte sie aus seinem Blick zu blinzeln. Wenige Momente war er so abgelenkt, dass sein Gegenüber die Chance sofort ergriff und Gabriel sein Knie in den Magen rammte. Die darauf folgende Übelkeit raubte ihm weitere Sekunden und ließ ihn auf die Knie gehen. Doch der Blick in Aarons Gesicht, entfachte seine Kampflust erneut. Die Augen des Blonden glühten in einer Farbe, die er bei Wölfen noch nicht gesehen hatte. Sie changierten zwischen einem rötlich-goldenem Braun bis zu einem flammenden Rot. Doch auch Aarons Lächeln war bereits entstellt. Ein winziger roter Faden zog sich aus seinem Mundwinkel und färbte seine Zähne rot. Die Witterung von Aarons Blut ließ Gabriels Adrenalin kochen. Mit einem Satz war er wieder auf den Beinen und deckte seinen Gegner mit Schlägen und Tritten ein. Mehrere Minuten hielt er die Oberhand und drängte Aaron immer wieder in Patsituationen, aus denen dieser sich nur mit Mühe befreien konnte. Gerade als Gabriel seinen Sieg in Aussicht dachte, denn Aaron war schwer atmend in eine Ecke gedrängt, lenkte ihn eine leise Ahnung ab. Sein Blick wanderte in der Menge umher, um die Quelle der Störung zu erahnen. Doch innerhalb weniger Sekunden wurde die Anwesenheit so übermächtig, dass Gabriel ohne Kraft auf die Knie ging.
„Es wäre so einfach. Ich könnte dich hier und jetzt auslöschen. Doch ich will, dass du leidest, Gabriel. Ich will, dass du mit ansiehst, wie ich dein Leben nach und nach in den Abgrund zerre und du wirst nichts dagegen tun können.“
Als Gabriel seine Augen wieder öffnete, kniete er am Boden. Aaron hielt ihn sicher, damit er nicht umfiel. Die Sorge in seinem Blick war echt, doch Gabriel bemerkte das nur am Rande seines Bewusstseins. Der größere Teil seines Denkens war von verzerrten Gedanken beseelt, die nicht seine eigenen schienen und die sein Handeln bestimmten. Schließlich wurde die Aggression in seinem Geist so übermächtig, dass er sich vor Pein in die Haare griff und auf die Knie ging. Der Hass, der ihm entgegenschlug breitete sich wie schmerzvolle Wogen in seinem Körper aus und erfasste jede Faser. Adrenalin begann in seinen Eingeweiden zu brodeln und mit steigender Wut, reagierte auch Gabriels Körper. Seine Zähne drangen schmerzvoller, als er es jemals erlebt hatte, aus seinem Zahnfleisch. Die Nägel seiner Hände verlängerten sich und er betrachtete schließlich, vor Schmerz gekrümmte, Klauen. Noch nie war seine Verwandlung so langsam und vor allem so schmerzvoll gewesen. Nicht einmal in den ersten Tagen hatte er solche Pein gefühlt. Er wollte schreien, doch der fremde Geist erlaubte es nicht, labte sich an seiner Agonie und genoss jede Sekunde, die Gabriels Körper sich in Schmerzen wand. Mit einem unmenschlichen Brüllen ging er schließlich auf Aaron los und schlug seine Krallen in die Oberarme des Blonden. Seine Zähne gruben sich tief in Aarons Schulter und warme Röte umfing Gabriels Welt. Für eine Sekunde war sein Denken von der pulsierenden, roten Flamme gefesselt, die in Aarons Inneren loderte. Heiß und verlockend zog sie seinen Willen in eine glühende Tiefe, aus der Gabriel mit eigener Kraft nicht mehr herausfinden konnte. Doch in dem Moment, in dem seine innere Bestie nach der Verlockung glühendem Lebens greifen wollte, wer er frei. Die fremden Triebe waren verschwunden und sein Wille kehrte mit der Wucht eines Schlaghammers zurück. Noch für einen Wimpernschlag wollte er noch der süßen Anziehungskraft von Aarons Flamme nachgeben, doch zog er sich mit mehr Kraft, als gedacht, zurück. Unter dem vorwurfsvollen und fragenden Blick des Anderen, brach er schließlich zusammen.
Er wachte nicht auf. War gefangen in unruhigen Träumen von Vergangenheit und den Ereignissen in Berlin. Die blutigen Szenen der Käfigkämpfe und auch die verstörenden Augen der Kinder wirbelten ohne Zusammenhang in seinem Kopf. Wer war Aset? Und warum wusste sie so viel über ihn? Er hatte das Gefühl, dass sie Wölfe wie ihn schon getroffen hatte und dass sie mehr über ihn wusste, als sie von sich aus zugeben wollte.
Gabriel erwachte schweißgebadet und erstaunlicherweise in seinem Bett. Aarons dunkler Blick ruhte auf ihm. Die Augen glasig vor Müdigkeit.
„Wie lange sitzt du schon hier?“ Gabriels Stimme war rau und seine Zunge fühlte sich an, als wäre sie an den Gaumen geklebt worden. Aaron fuhr sich mit seiner Linken langsam über das Gesicht, bevor er sprach.
„Guten Morgen Liebling. Hast du eigentlich eine Ahnung, wie schwer du bist?“ Seine Zähne bildeten eine perfekte Reihe, als er grinste. „Ich habe die ganze Nacht neben dir gesessen. Aset war einmal kurz hier und hat dir eine Tinktur verabreicht. Offensichtlich hat es geholfen.“ Seine Augen wurden, wenn dies überhaupt möglich war, noch dunkler. „Was ist da mit dir passiert?“
Gabriel atmete tief durch und griff nach dem Wasser, das auf dem Nachttisch bereit stand. Dann erst sprach er:
„Ich weiß es nicht genau. Ich habe kaum eine Erinnerung. Da war eine Stimme, dann wurde alles verschwommen. Und Blut …“ Seine Augen weiteten sich. Als er Aarons Reaktion bemerkte.
„Oh mein Gott, Aaron, das wollte ich nicht.“ Eine unangenehme Stille entstand, als der Andere über eine Antwort nachdachte. Gabriels Kräfte kehrten schnell zurück und er schaffte es, sich aufzurichten. Als der Blonde sprach, war es leise und angespannt:
„Du bist nicht wie die anderen. Was hast du …“ Er stockte wieder, „was hast du mit mir angestellt? Ich habe Geschichten gehört, aber die drehten sich alle nur um Vampire.“
„Hör zu Aaron“, begann Gabriel zögernd. „Ich kann mich kaum an etwas erinnern, aber wenn ich dir wehgetan habe, tut es mir außerordentlich leid. Ich versichere dir, es wird nicht wieder vorkommen. Verdammt …“, schalt er sich schließlich, „ich hätte dich töten können.“
Doch die Antwort schien den jungen Mann nicht zufrieden zu stellen, denn die dunklen Augen flackerten unruhig, als er sich noch näher an Gabriel heranlehnte:
„Gabriel, du kannst mir vertrauen, ich habe da etwas gespürt … Ich kann es nicht genau beschreiben, aber es war mächtig und hat an meinem Geist gezerrt. Wie, als würde es an …“ Weiter konnte er nicht sprechen, denn in diesem Moment wurde die Tür aufgedrückt und Aset trat in das Zimmer. Ihre schwarzen Augen, als könnten sie sehen, auf Gabriel gerichtet. Unergründlich und ernst blickte sie auf den Kölner Alpha, nichts von dem freundlichen Lächeln vom Vortag war mehr auf ihrem Gesicht zu erkennen.
„Entschuldige Aaron, ich möchte mich mit Gabriel allein unterhalten.“ Der Angesprochene erhob sich unwillig und mit gesenktem Blick und machte sich auf, ohne Aset in die Augen zu sehen, den Raum zu verlassen. Kurz bevor er durch die Tür trat, hielt sie ihn jedoch an der Schulter und flüsterte einige unverständliche Worte in sein Ohr. Aaron nickte kurz, sah noch einmal kurz zu Gabriel und schloss dann die Tür hinter sich.
Aset trat an das Bett heran und legte ihre Hand auf seine Brust. Wie auch Stunden zuvor, durchzogen Schauder, deren Signale nicht eindeutig waren, seinen Körper. Neben Verlangen und Scham, war da auch Wut auf Aset, die diese Gefühle in ihm auslöste. Die Frage nach dem Warum stand zwischen ihnen, wie ein riesiges, blutrotes Fragezeichen.
„Stell sie …“, flüsterte ihre leise Stimme, kaum mehr als ein Hauch. „Stell die Frage. Ich bin mir sicher, du kennst sie bereits.“
Er griff nach ihren Fingern, als sie ihre Hand zurückziehen wollte. Ihre Lider waren geschlossen und ihr Atem ging unregelmäßig. Gabriel spürte, dass auch sie auf ihn reagierte.
„Wer bist du?“ Fast versagte auch seine Stimme, doch Aset lächelte.
„Ich bin Aset. Doch damit du diesen Namen verstehst, sollte ich vielleicht etwas länger ausholen. Darum werde ich dir nun den Namen nennen, unter welchem ich in diese Welt geboren wurde. Dieser Name ist Isis.“
Ihre Augen waren wieder geöffnet und starrten Gabriel nun direkt in die Seele.
„Ich bin, was das ägyptische Volk gern als ihre Mondgöttin bezeichnete. Doch ich schätze, von dem Status einer Göttin bin ich weit entfernt. Was ich wohl sagen kann, ist, dass ich die Älteste, der mir bekannten Gestaltwandler bin.“ Gabriel schluckte. Die Göttin Isis, das musste ein Scherz sein.
„Lache ich etwa?“ Griff sie seinen Gedanken auf.
„Also kannst du doch meine Gedanken lesen…“, doch bevor er mehr sagen konnte, sprach sie weiter:
„Gabriel. Es gibt weit mehr in der Welt da draußen, als Werwölfe, Hexen oder Vampire. Ein kleiner Kreis, mich eingeschlossen, bilden den Anfang unserer Aufzeichnungen. Doch es gab Wesen vor uns, doch das sind andere Legenden.“ Sie lächelte wieder. „Dir ist meine Geschichte sicherlich bekannt.“ Doch sie deutete den Gesichtsausdruck des Jungen richtig und begann zu erzählen:
„Ich wurde als Mensch geboren. Vor unzähligen Jahrhunderten. An den Ufern des Nils wuchs ich auf, behütet von meiner Familie, die mich zu der guten und getreuen Ehefrau ausbildete, zu der ich später einmal werden sollte. Wir lebten in einem prunkvollen Palast, mit Dienern, die mir jeden Wunsch von den Augen ablasen. Mit Sechzehn sollte ich verheiratet werden, doch ich lief fort und begegnete Osiris. Auch er begehrte gegen seinen Vater auf und war auf der Flucht vor seiner Familie. So schlossen wir uns zusammen und lebten gemeinsam versteckt in den Nilsümpfen. Dies ging ein paar Jahre gut und alle dachten, wir wären nicht mehr am Leben. Von Osiris empfing ich unseren gemeinsamen Sohn, den ich im Schutze unseres Versteckes zur Welt brachte. Doch mein Bruder, Seth, hatte niemals aufgehört nach mir zu suchen und spürte uns schließlich auf. Er fühlte meine und vor allem seine Ehre beschmutzt, indem ich die Frau eines Flüchtlings wurde. Er forderte Osiris heraus und tötete ihn.“ Sie machte eine Pause und legte ihre Hände in ihren Schoß. Gabriel konnte den Schmerz in ihren Zügen wühlen sehen, aber auch die Last der Ereignisse von damals. „Seth zerstückelte Osiris Leichnam und verteilte seine Überreste im Nil. Rasend vor Trauer und Wut, sammelte ich sie, nachdem Seth in mein Elternhaus zurückgekehrt war, zusammen und wickelte seine Leiche in Bandagen. Noch in der Nacht suchte ich unsere Magierin auf und bat sie darum, Osiris wieder zu mir zurück zu holen. Da seine Seele, durch den fehlenden Totenritus, seinen Körper nicht verlassen konnte, wollte ich sie wieder zu mir zurückholen. Die Magierin verband diesen Dienst aber mit einem Preis. Sie gab mir meinen Osiris zurück, doch dieser war von nun an nicht mehr in der Lage unter der Sonne Ägyptens zu wandeln und musste für ewig in der Dunkelheit bleiben. Sein Körper wurde mit Unsterblichkeit geheilt, aber musste mit Leben genährt werden. So wurde er zum Gott der Toten, der ihre Seelen in das Reich der Toten nahm. Heute würde man ihn als Vampir bezeichnen und er war wohl, durch meinen Egoismus, der erste seiner Art.“ Trauer umspielte ihr makelloses Gesicht, doch sie hatte ihre Gefühle gut unter Kontrolle. „Aber ich säße nicht hier, wäre dies alles gewesen. Ich wollte nicht, dass Osiris ohne mich durch die Jahrhunderte gehen musste, somit bat ich die Magierin darum, mir ebensolche Unsterblichkeit zu verleihen, wie meinem Mann. Sie gewährte mir auch dies, doch verlangte sie einen zweiten Preis. An drei Tagen im Monat musste ich mich in einen Wolf verwandeln und in dieser Zeit nicht bei meinem Geliebten und meinem Kind sein. Ein wahrlich kleiner Preis für eine unsterbliche Liebe. Doch, wie die Zeit so spielt, nicht jede Liebe hält ewig und uns trennten schließlich die Jahrtausende.“ Nach wenigen Atemzügen fuhr sie fort. „Man könnte sagen, Osiris und ich, wir waren die ersten unserer beiden Spezies. Was aus ihm geworden ist, kann ich dir nicht sagen. Möglicherweise hat ihn sein unsterbliches Dasein in den Wahnsinn getrieben, oder er herrscht irgendwo über eine Schar Vampire, versteckt, außerhalb meiner Wahrnehmung. Was ich aber eigentlich sagen möchte ist, dass es Andere gab. Vor uns. Und mit weitaus mehr Macht, als Osiris und ich je hatten. Hybriden, wie man sie heute nennen würde. Wesen, die Kräfte beider Spezies verbanden und …“ Weiter kam sie nicht, denn jemand schlug heftig gegen die Tür. Er wartete nicht auf ein Zeichen, sondern stieß sie so heftig auf, dass sie mit einem trockenen Knall gegen den Putz der Wand schlug und eine hässliche Furche hinterließ. Aaron blickte einmal kurz auf sein Werk und beließ es dann bei einem eisigen Lächeln. Als er zu Gabriel und Aset schaute, konnte man die Unsicherheit fast greifen. Doch er sammelte sich rasch und begann zu sprechen:
„Khaled hat einen Anruf erhalten. Gabriel, die Hexe möchte dich unverzüglich sehen. Du sollst sofort zum Museum kommen.“
Asets Worte klangen noch in Gabriels Gedanken nach, als Aaron in die schmalen Straßen vor dem Museum einbog. In dieser Betriebsamkeit wirkte die Szene fast schon grotesk. Nichts ließ die Bedrohung ahnen, in die Gabriel sich begeben könnte. Er war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er den Rat der Hexe in Anspruch nehmen wollte. Warum gerade allein? Warum gerade er? Er war ein unbedeutender Alpha aus einer weit entfernten Stadt. Warum interessierte sich Nora gerade für ihn? Aaron maß ihn mit einem langen abschätzenden Blick. Ihm brannten die Fragen vom Vormittag auf den Lippen, doch Aset schien ihn derart eingeschüchtert zu haben, dass er sich nicht mehr traute sie zu stellen. Zumindest hatte es den Anschein, denn Aarons Gedanken waren still und undeutbar.
Die Hand in der Tür ließ er lange Momente vergehen, nicht wirklich sicher, ob er sich zu gehen wagte. Ein zustimmendes und letztendlich auch motivierendes Lächeln von Aaron, das fast wie eine Entschuldigung wirkte, war schließlich der Grund, aus dem Gabriel den Wagen verließ. Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, trat der Blonde aufs Gas und befolgte Noras Anweisung. Gabriel war allein.
Die Sonne stand noch hoch und brannte heiß in sein Gesicht. Schließlich wurde sie so unangenehm, dass er seine empfindlichen Augen mit dunklen Gläsern bedeckte und die Kapuze seines Sweatshirts tief ins Gesicht zog. Unter den riesigen Säulen des alten Gebäudes fand er schließlich den schützenden Schatten, den selbst Sonnenbrille und seine Kopfbedeckung ihm nicht bieten konnten. Es vergingen zehn Minuten in denen Gabriel dachte, dass das Mädchen ihn zum Narren gehalten haben musste, doch Noras Stimme holte ihn aus seinen Gedanken:
„Hallo Süßer!“ Rau und jugendlich zugleich ließen diese Worte ihn aufschrecken. Ihr Auftauchen hatte ihn tatsächlich überrascht. Wie hatte er vergessen können, dass er sie nicht wittern konnte?
„Ich hatte ehrlich gesagt mit einer anderen Reaktion gerechnet.“ Sie verzog ihre Unterlippe zu einem gespielten Schmollen und hakte sich dann bei ihm unter. „Und nun, ein wenig Kulturprogramm.“ Gabriel ließ sich von ihr führen. Nicht sicher, ob sie ihre Magie anwandte oder ob er tatsächlich mit ihr gehen wollte.
Die schieren Eindrücke, die vor Hitze flimmernde Luft, die tausenden von Gerüchen und die Gedankenflut der Besucher erdrückten Gabriel für einen Moment. Obwohl der Kultur nicht gänzlich abgeneigt, zählten Museumsbesuche nicht zu seinem alltäglichen Programm. Den letzten Besuch, an den er sich entsinnen konnte, war ein Museumsgang mit seiner Großmutter in Bonn gewesen. Wie, als wäre es Gestern, sah er die volle U-Bahn vor sich, hörte die blechernen Durchsagen, wenn ein Zug einrollte. An die staubigen Ausstellungsstücke, die größtenteils aus ausgestopften, ausgestorbenen Tieren bestanden. Als Kind übten diese unbekannten Tiere eine magische Faszination auf ihn aus, doch nun sah er die Welt mit anderen Augen und sie waren nichts weiter als totes Fleisch, Haut und Knochen. Nora zog ihn mit kindlichem, fast übertriebenem Elan vorwärts. Augenblicklich fühlte er sich wieder wie das Kind, dass auf einen Ausflug mitgezerrt wurde. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass ihr weiblicher Körper sich, wie durch Zufall, an seinen schmiegte und ihre Blicke eine ganz andere Absicht vermuten ließen. Doch sie waren nicht zum Vergnügen hier. Nora machte es jedoch unverkennbaren Spaß, mit Gabriel durch die Überreste menschlicher Kulturen zu wandeln. Wohl wissend, dass die Zeit an ihr keine Spuren hinterlassen konnte. Nach einigen Minuten wurde ihr Zerren drängender und in ihr Lächeln stahl sich etwas wie Vorfreude. Sie waren in der Abteilung für altägyptische Kultur angelangt und er ahnte, worauf sie anspielen wollte. Aset hatte ihm vor nicht ganz zwei Stunden die Anfänge ihrer Geschichte erklärt und nun zeigte ihm Nora die Mumien? Doch, was Gabriel zu sehen bekam, ließ selbst ihn verstummen. Neben Mumien, Schmuckstücken und Alltagsgegenständen waren auch Büsten und Statuen zu finden, die unverkennbar Aset zeigten. Ihre Haare mit goldenen Fäden durchwoben und mit der Krone der Könige geschmückt, hatten die Künstler der damaligen Zeit ihr Gesicht für die Ewigkeit erhalten wollen. Sie hatten es geschafft. Einige der, vollkommen aus Onyx gehauenen und polierten, Figuren sahen der wahren Isis zum Verwechseln ähnlich. Doch das war es nicht, weshalb ihn Nora in diesen Flügel des Gebäudes geführt hatte. Der Grund befand sich auf einem Sockel im Zentrum des Raumes. Der dunkle Stein der Statue war in einer Art behauen, von der selbst Gabriel wusste, dass sie für diese Zeit untypisch war. Details, wie winzige Härchen und die Zähne hinter den geöffneten Lippen waren mit einer Kunstfertigkeit in den Stein gehauen, die das enorme Ausmaß der Arbeit erahnen ließ. Was Gabriels Aufmerksamkeit jedoch am meisten forderte, waren die Augen der Statue. Es schienen Saphire zu sein. Jedoch leuchteten sie in einer Art, die den Stein fast lebendig machte und gleichzeitig das gesamte Ungetüm, das sie ausschmücken sollten, mit einer unheimlichen Aura versahen. Ein eisiges Kribbeln stahl sich seinen Rücken hinauf. Er hatte dieses Wesen schon gesehen. Und nicht nur einmal …
„Was ist das? Es passt nicht zu den anderen Ausstellungsstücken.“ Nora lächelte und zog ihn weiter. Vorbei an Steinreliefs, die mit größeren und kleineren Abbildungen des Wesens versehen waren. Neben Totenbaren, Königen, hohen Regenten und Kindern. Ausnahmslos schien der Wolf einen beschützenden oder freundschaftlichen Status inne gehabt zu haben.
„Es ist eine besondere Ausstellung. Diese Abbildungen wirst du in keinem anderen Museum der Welt finden. Sie sind besonders und nur selten zu sehen. Du kannst dich glücklich schätzen, dass du sie zu Gesicht bekommst.“
„Aber was zeigen sie? Welche Rolle nimmt er ein?“ Gabriels Geduldsfaden war eindeutig überspannt und das ließ er die Hexe auch spüren. Doch ihr Blick wurde weich und besorgt.
„Siehst du es nicht? Deine Art ist von Anfang an die Beschützer- und Beraterrolle zugedacht. Ihr seid in der Lage, den Sterblichen schlimme Fehler auszureden und sie auf den richtigen Weg zu bringen. Ihr seid die eigentlichen Könige, Herrscher, Anführer. Doch und zu schlägt einer aus der Art und fängt an seine ihm gegebenen Gaben gegen die Menschen zu nutzen. Oder,“ Sie machte eine kurze Pause, in der Gabriel das Ausmaß dieses Kampfes klar wurde, „gegen seine eigene Rasse!“
„Du meinst der Befehlshaber der Wölfe ist ein Bubak?“ Sie nickte aber verzichtete auf weitere Ausführungen. „Es gibt also noch mehr von uns?“ Er zögerte, als ihm klar wurde, wie dumm diese Frage geklungen haben musste. Natürlich musste es noch mehr von ihnen geben. Wie vermessen wäre die Annahme, er und Benedict wären die Einzigen gewesen. „Sag mir, wer es ist, damit ich gegen ihn vorgehen kann!“
„Du wirst es noch früh genug erfahren, aber erst einmal möchte ich dir noch etwas zeigen.“ Sie führte ihn erneut vor die Abbildung des Wolfes und hielt Gabriel die Augen zu.
„Was soll das?“ Noras kalte Finger raubten ihm jegliche Sicht. Ein Wunder, wenn er bedachte, wie klein sie und ihre Hände eigentlich waren. Er war blind. Und ihr „Nicht Schummeln“, klang unecht und falsch in seinen Ohren. Es war ihm nicht möglich. Nach einigen Momenten, in denen sie Gabriel einige Schritte, in vollkommender Dunkelheit geführt hatte, nahm sie die Hände von seinem Gesicht. Es wurde schlagartig so hell, dass er die Dunkelheit wegblinzeln musste. Er sah der Statue direkt in die Augen. Dort, wo vorher unbelebte Saphire waren, begann es nun vor Leben zu pulsieren. Ein inneres Leuchten legte sich auf sie und ihrer vorher schon bedrohliche Kühle, wandelte sich in etwas Greifbares. Bestürzt stellte er fest, dass die Abteilung des Museums menschenleer war, außer Nora und ihm, hielt sich in diesem Teil des Gebäudes kein lebendes Wesen auf. Ein Grollen erscholl und das Geräusch, als ob Stein auf Stein schabte. Die Statue begann sich zu bewegen, langsam und stockend. Gabriel konnte sehen, wie sie blinzelte und die Nüstern zu beben begannen.
„Keine Angst. Mehr wird sie nicht können. Aber es ist doch ein schauriges Gefühl, oder?“ Sie lächelte und Gabriel fuhr herum.
„Findest du das lustig? Ist es amüsant, dass Wölfe und Menschen sterben, weil eine Hexe meint, ihr kindisches Vergnügen haben zu müssen?“ Nora schüttelte langsam den Kopf und schien nachzugeben. Doch mit einem Mal wurde das Scharren lauter und noch eher er reagieren konnte, war Gabriel in den steinernen Klauen des Ungetüms gefangen. Er ahnte, dass er sich aus eigener Kraft nicht befreien konnte, startete jedoch einige schmerzhafte Versuche. Sie brachten ihm allerdings nur Schrammen und verrenkte Knochen ein und brachten Nora zum Lächeln. Sie trat näher an ihn heran.
„Wäre es so einfach, Gabriel, dann hätte ich ihm schon längst das Licht ausgeblasen. Doch er ist anders. Stärker? Vielleicht nicht, doch gerissen und er weiß, wie er die Sterblichen und sogar mich manipulieren kann. Er weiß, womit er sie lenken kann, damit sie seinen Plänen dienlich sind.“
Es trennten sie nur wenige Zentimeter voneinander und Gabriel konnte einen Funken Verzweiflung in ihrem Blick entdecken. Nora schien allerdings kein Interesse mehr an dem Gespräch zu haben, denn sie drehte sich herum und begann, wie zufällig, die Relikte zu betrachten. „Diese Statue, weißt du, warum man ihn nie in anderen Ausstellungen zu sehen bekam?“ Sie wartete nicht auf seine Antwort, sondern sprach unverzüglich weiter: „Benedict hat es verhindert. Er wollte euch schützen. Dich und die anderen Wölfe. Doch nun, da seine Macht erloschen ist, hat jemand angefangen, eure Identität nach und nach offen zu legen. Du kannst dir sicher vorstellen, was das für Konsequenzen, für euch und auch für andere, nach sich ziehen wird. Vergleiche es einmal mit den Hexen. Wir gelten seit dem späten 17ten Jahrhundert als ausgerottet. Viele Menschen, vornehmlich jene mit schlechten Absichten, haben uns zu ihren unerfüllten Machtfantasien erhoben. Nun stell dir einmal vor, sie wüssten, es gäbe mich oder andere wirklich? Und glaube mir, viele Hexen würden dieses Angebot der Popularität sicher nicht ausschlagen.“ Sie holte tief Luft und Gabriel konnte die Stille kaum deuten. Schließlich drehte sie sich wieder zu ihm herum und er konnte die Sorge in ihren Augen fast fassen. „Jetzt ruf dir vor Augen, die Sterblichen wüssten von der Existenz eines Wesens wie dir? Fast unempfindlich gegen jede Art von Waffe. Silber einmal ausgenommen. Doch wer schießt heutzutage mit Silberkugeln? Kaum zu vergiften und nahezu unsterblich.“ Sie war weiter an ihn herangetreten, gefährlich nahe stand sie nun vor ihm. Nora flüsterte die letzten Worte nur noch: „Stell dir vor, welche Macht ihr inne hättet. Den Status eines lebenden Gottes. Und die Sterblichen würden es mit Freuden glauben!“
Ihre Nähe schmerzte, denn mit jedem Wort hatte sie ihren Zauber aufgefrischt. Nun stand sie wenige Zentimeter vor ihm und ihre Nasen berührten sich fast. Ihn umwehte ihr süßes Parfüm und ihr heißer Atem und innerhalb von Sekunden, war er ihren hypnotischen Augen verfallen. Das Schwarz, von dem er am Anfang gedacht hatte, dass es die komplette Iris ausfüllte, wurde zum Rande hin heller und lief zu einem rötlichen Ring aus. Es war faszinierend, wie er sich selbst in diesen Tiefen sah und wären seine Arme nicht gefesselt gewesen, hätte er sie gepackt und alle Zweifel fallen lassen. Sie legte ihre Lippen auf seine und plötzlich war seine Leidenschaft nicht mehr zu zügeln. Mit einem lauten Knirschen, brachen die steinernen Arme der Statue und Gabriels Hände waren frei. Ein ohrenbetäubendes, unmenschliches Grollen dröhnte aus seiner Brust und seine klauenbewehrten Finger packten Nora und drängten sie gegen die gegenüberliegende Wand. Atemlos schmiegte sie sich an ihn und forderte stumm seine Küsse ein. Willig beugte er sich ihrem Drängen und geblendet von ihrem Zauber, war er ihr gedankenloses Spielzeug. Seine Hände stahlen sich unter ihre Kleider und liebkosten ungestüm ihre weiblichen Rundungen. Ein wohliges Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, als sie ihre Beine um seine Hüfte schlang und sie feststellte, dass auch er ihre Leidenschaft teilte. Doch Gabriels Sinne kehrten, träge, wie durch erstarrenden Leim, zurück. Sein Denken war jedoch, zu einem größeren Teil, weiterhin von Nora beeinflusst, sodass sich eine Hand nun ihre Hüfte hinabstahl, um weichere und wärmere Regionen zu erkunden. Doch tief in seinem Gewissen schrie die Vernunft und kämpfte mit immer schwereren Waffen gegen Noras Magie an.
In dem Moment, in dem Verlangen und Abscheu einen unausgeglichenen und qualvollen Zwist austrugen, war Gabriel frei. Noras Zauber war verglüht und die falsche Leidenschaft ein flüchtiger Funke ihrer Ekstase.
Wenige Momente spielte er ihr diese Scharade noch mit. Doch unbemerkt durch ihre blinde Lust, kroch die Hand die vorher noch auf ihrer Brust gelegen hatte, weiter nach oben zu ihrem Hals. Vorsichtig legten sich seine Finger um ihre Kehle und mit einem wütenden Flackern seiner Augen, begleitet von einem zornigen Knurren, drückte er sie gegen die Wand. Ihre Augen waren vom Schock geweitet und ihre Lippen zu einem stummen Schrei geöffnet. Gabriels Miene verzog sich zu einem schmalen, boshaften Lächeln, bevor er zu sprechen begann:
„Was willst du damit bezwecken Hexe?“ Er spürte, wie die Spannung aus seinen Gliedern wich und seine Augen wieder normale Farbe annahmen. Nora schien auch, nachdem Gabriel seinen Griff gelockert hatte, keine Worte zu finden und sah ihn aus großen, schwarzen Augen an. Er verzichtete, entgegen einer dunklen, leisen Stimme aus seinem Hinterkopf darauf, noch einmal fester zuzudrücken und lockerte seinen Griff stattdessen. Jedoch baute er mit seinem Körper eine Barriere, von der sie sich nicht so einfach befreien konnte. Etwas langsamer fragte er noch einmal:
„Was ist der Zweck dieses Schauspiels? Es kommt mir vor, als ob du mich hinhältst.“ Sie blieb jedoch stumm und eine einzelne Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel. Beschämt oder verletzt, Gabriel konnte ihre Gefühle nicht deuten, wandte sie ihren Kopf zur Seite.
„Es hätte nicht passieren dürfen.“ Ihre Stimme brach. Und jetzt bemerkte er auch erst die Anwesenheit, die er hätte schon lange vorher spüren müssen. Doch Noras Verführungsversuch hatte gewirkt.
Er kannte denjenigen, der sich hinter der riesigen Eingangstür versteckt hielt und offensichtlich jedes Wort mitangehört hatte. Sein Blick musste Gabriel verraten haben, denn Nora war plötzlich angespannt.
„Ich habe dir gesagt, du sollst allein kommen.“ Und auch jetzt war sie eher nervös, als wütend.
„Es ist Aaron, kein Grund sich Sorgen zu machen. Er wollte sicher nur nach dem Rechten sehen.“ Er ließ von Nora ab und wollte dem blonden Mann entgegen gehen, als hinter diesem ein weiterer Schatten auftauchte. Ohne einen Laut von sich zu geben, oder nur reagieren zu können, ging Aaron in die Knie und schließlich zu Boden. Doch auch Gabriel kam nicht weit, denn kaum hatte er einen Schritt vorwärts gesetzt, traf ihn etwas am Hinterkopf und von einem Augenblick auf den anderen wurde ihm schwarz vor Augen.
Text: Ashley Kalandur 2012
Publication Date: 04-21-2012
All Rights Reserved