1. Schulfreunde
2. Das Unbewältigte
3. Der Stürmer
4. Schlagender Beweis
5. Wiedersehen im Netz
6. Landgang
7. Soldatenliebe
8. F wie Freitod
9. Aids - Der Tod kam früh
10. Mitte vierzig, männlich
11. Die Toten werden jünger
12. Schule der Selbsterkenntnis
13. Sigurd Stähling und die Adoleszenz
Er hat ja Karriere gemacht, sieh mal an … Er ist sogar gedruckt worden und man liest ihn und zitiert ihn ab und zu … Ich weiß es nun auch, denkt Ben, dem Netz sei Dank. Gedruckt, kaum zu glauben – dieses Würstchen, dieses opportunistische Würstchen!
Ben hatte ihn gleich so eingeschätzt, von den ersten Monaten in der neuen Klasse an. Ulrich war damals schon fünfzehn, aber weniger fortgeschritten als Ben mit seinen vierzehn. Wie sie alle einmal über ihn grinsen mussten: Schiller, Maria Stuart … Ulrich wird uns jetzt seinen Hausaufsatz vorlesen ... Und er kam nur bis: Soll man diese edle Jungfrau töten - als ihn der Deutschlehrer unterbrach: Edle Jungfrau? Maria Stuart? Sag mal, Ulrich, wie alt bist du jetzt?
Dann war er siebzehn und endlich aufgeklärt. Wies den Physiklehrer bei einer Versuchsanordnung auf seinen dicken Finger hin, der ihn gerade behindere, und grinste jetzt selbst. Den Anschluss doch noch gefunden … Immer hechelte er den anderen hinterher. Wo war die Mehrheit, wo die Mitte? Er legte sich nun häufig in den Pausen mit Ben an, widersprach ihm, wenn der mal wieder was Extravagantes von sich gegeben hatte. Ulrich war dann leicht erregbar, neigte zum Stottern. Aber er hatte sich äußerlich herausgemacht. Das Mickrige seiner Pubertät war verschwunden, er war jetzt ein mehr oder weniger hübscher Ephebe. Gewachsen war er nicht mehr, er blieb einen halben Kopf kleiner als Ben. Er war schlank und kräftig und im Gegensatz zu Ben ein sehr guter Turner. Wie gelenkig er war, bewegte sich mit Anmut, mit Wohlgefallen an sich selbst …
Ben fiel es auf, dass er den anderen neuerdings gern ansah, so beschränkt er ihm noch immer vorkam. Eine Frage arbeitete sich vor – sie war schon länger im Hinterkopf embryonal rumorend da gewesen: Kann es sein, dass ich ein Homo bin? Gefällt er mir deswegen? Es gab gar keinen Kampf mit sich zu bestehen, es wurde eine leichte Geburt - Homosexualität als Kopfgeburt. Er wusste, so etwas gab es eben unter anderem in der Welt, dann war das eben so. Er sah Ulrich immer öfter, immer lieber an und putzte ihn nicht mehr herunter. Jetzt verklärte er seine Unbedarftheit zur liebenswerten Naivität, seine Mittelmäßigkeit zu beneidenswerter Ursprünglichkeit. Er wollte ihm helfen, ihn beschützen. Und Ulrichs Zähigkeit, seine Ordentlichkeit und überhaupt dieses Adrette an ihm, darin würde er, Ben, ihm nacheifern können.
Ben setzte es durch, dass sie in der vorletzten Gymnasialklasse Banknachbarn wurden, und sie blieben es bis zum Abitur. Sie saßen zwei Jahre nebeneinander, beobachteten sich gegenseitig verstohlen, sprachen ab und zu einiges miteinander, taten, als stimmten sie in den meisten Dingen überein. Für Ben war das Illusionäre daran ein zusätzlicher Reiz. Der andere war der andere, einer, nach dem er sich sehnen konnte und der ihm doch nicht zu nahe kam. Einen halben Meter neben ihm die Stunden verträumend, „liebte“ er ihn so aus großer Entfernung …
Das Schlimmste für Ulrich waren die Deutschaufsätze. Er konnte keinen Gedanken entwickeln, da ihm kaum einer je kam. Mit Begriffen tat er sich schwer, mit abstraktem Denken überhaupt. Er las ungern, vielleicht mal etwas von Willi Heinrich. Wiederholt kassierte er bei Klassenarbeiten ein Mangelhaft und begann sich Sorgen ums Abitur zu machen. Ben war einverstanden, beim nächsten Mal rasch ein Konzept für ihn zu entwerfen, mit Materialsammlung, und es ihm zum Ausarbeiten zuzustecken. Das Experiment misslang. Ulrich, vor die Wahl gestellt, entschied sich für das Besinnungsaufsatzthema „Soll Wahrhaftigkeit stets an erster Stelle stehen?“ und bezog wieder seine Fünf. Mit roter Lehrertinte darunter: Extrem hilfloses Herumrudern in einem Sammelbecken von Unverdautem oder Unverstandenem. Wohingegen Ben mit dem verbliebenen „Kriminalromane lesen heute?“ das übliche Sehr gut erreichte.
Ulrich war vom Land, Sohn eines kleinen Beamten. Zwei- oder dreimal besuchte er Ben daheim. Einmal kam er spätabends mit, als Bens Eltern schon schliefen und das Aufbetten unterblieb, um sie nicht zu stören. Zwei junge Burschen in einem schmalen Bett also. Und es spielte sich nichts ab, überhaupt nichts. Auch Ben war auf keine Weise erregt. Kühl, so kühl blieb alles, sie schliefen einfach nur nebeneinander. Bin ich am Ende gar nicht so, fragte sich Ben. Dann konstruierte er sich einen Gegensatz von homoerotisch und homosexuell und kam nach Wochen doch auf die ursprüngliche Auffassung von der Sache zurück. Selbstverständlich „liebte“ er ihn, sehnte sich auch nach seinem Körper. Fast sein ganzes Denken und Fühlen kreiste in diesen Jahren um Ulrich, je länger, desto ausschließlicher.
In den Sommerferien kam Ulrich einmal für eine ganze Woche. Sie übernachteten draußen im Garten in einem Zelt und behielten die zwischen ihnen übliche Distanz weiter bei. Ben las ihm vor dem Einschlafen Texte von Kästner und Tucholsky vor, Gedichte, Prosa, Satirisches, Pazifistisches. Ulrich blieb lau. Das war jetzt ein zunehmend wichtiges Thema: Wie würden sie es mit dem Bund halten? Ben würde alles daran setzen, nicht hinzugehen. Der kleine Beamte wollte, dass sein Sohn Offizier würde - Berufsoffizier. Das musste verhindert werden. Ben stichelte und argumentierte und agitierte. Ulrich – blieb lau. Vielleicht ja, vielleicht nein.
Gleich nach dem Abitur verschwand er doch in einer Kaserne, es war in einer kleinen süddeutschen Stadt. Ben fuhr bald für eine Woche zu ihm. Ulrich holte ihn vom Bahnhof ab, und Ben hatte, als der Zug einlief, eine Sinnestäuschung: sah den geliebten Schulfreund draußen auf dem Bahnsteig im gewohnten Zivil. Tatsächlich trug er Uniform, das war vorgeschrieben. Er hatte jetzt nicht viel Zeit übrig. Am Tag darauf gingen sie stundenlang in der Umgebung spazieren und sprachen über dasselbe wie immer. Was sie studieren könnten, was die anderen so trieben. Ben versuchte wieder, ihm das Militär zu verleiden. Er hatte sich am Ende der Schulzeit angewöhnt, ihn zärtlich anzuschauen, ihm beim Abschied die Hand auf die Schulter zu legen, ihn beinahe zu streicheln. Diesmal war das leider unmöglich: Ulrich ging zwar dicht neben ihm auf die Kaserne zu, doch schon getrennt von ihm durch den hohen Drahtzaun.
Sie sahen sich nie wieder. Ulrich erschien anderntags, es war ein Sonntag, zum verabredeten Termin nicht, er meldete sich auch an den folgenden zwei Tagen nicht im Gasthof. Was war los? Hatten sie auf der Stube abfällige Sprüche gemacht? Oder war der Freund die pazifistischen Reden endgültig satt? Ben sollte es niemals erfahren. Er reiste vorzeitig ab, und als weiter kein Zeichen kam, schrieb er zwei Wochen später denkbar unbefangen, so sollte es scheinen, es sei Ulrich wohl nicht möglich gewesen, noch einmal mit ihm zusammenzutreffen? Der Brief blieb ohne Antwort.
Einige Monate später. Der stolze Ben, einer der Klassenbesten, hatte fern der Heimat schon Schiffbruch erlitten. Die Berufs- und Studienwahl war falsch gewesen. Er schrieb es allen Freunden von früher, und Ulrich schrieb jetzt zurück: dass er sich Vorwürfe mache, seiner eigenen Bequemlichkeit wegen. Ausgerechnet er empfahl dem anderen mehr Selbstvertrauen.
Sie wechselten noch einige Briefe. Sie behandelten, was sie meistens erörtert hatten: Was man studieren oder sonst machen könne, was die anderen trieben. Ben bot mehrfach an, sich bei Gelegenheit wieder zu treffen. Ulrich ging nicht darauf ein. Ben hatte ihm im Herbst geschrieben: Glaube mir, ich könnte Dir niemals zu nahe treten … Im Winter dann: Um mich ist es zuletzt ziemlich einsam geworden … Das Frühjahr kam, als Ulrich zurückschrieb, er werde im Sommer mit einer „Bekannten“ verreisen. Ben in seinem Tagebuch: Einmal muss ich doch den Schlussstrich ziehen, langsam wird die Chose ridicule …
Nichts war vorbei. Ulrich besuchte ihn noch unzählige Male, über Jahre, Jahrzehnte. Wann immer es Ben bei Tag wirklich schlecht ging, begegnete er ihm nachts - im Traum. Und es war dann Beruhigung, Einverständnis, tiefe Befriedigung. Es waren keine sexuellen Träume, natürlich nicht. Ulrich, meinte Ben später, war gar nicht sein Typ gewesen. Sie fuhren im Traum immer gemeinsam irgendwohin, saßen in einer Bahn oder in einem Bus nebeneinander und waren sich, ohne sich aussprechen zu müssen, vollkommen einig. Es war das reinste und tiefste Glücksempfinden, das Ben je geschenkt wurde. Und wie oft: viele, viele hunderte Male, vielleicht tausend Mal und mehr. Bis es allmählich seltener vorkam, sich langsam aus seinem sich dem Alter nähernden Leben zurückzog.
Er erfuhr also erst sehr spät, dass der andere eine richtige Karriere beim Militär geschafft hatte; wenn auch nicht bei der Truppe - bei einem nachgeordneten Amt. Und in jenen Jahren des wiedergeschenkten ewigen Friedens, Ende der Geschichte und so weiter, gab es einen hochwichtigen General, der mit einem Buch auf die überstandene Zeit der Kriegsgefahr zurückblicken wollte, als Rechtfertigung der eigenen bisherigen Existenz. (Danach würde man dann weitersehen.) Der General sah auf Bildern Ulrich, wie man sich ihn älter geworden vorstellen konnte, zum Verwechseln ähnlich. Ulrich, der hohe Offizier, wurde Zuarbeiter des wichtigen Generals und lieferte ihm Beiträge für sein Buch. Reihte Zahlen, zeichnete Skizzen, vollzog Truppenbewegungen nach, die nur in der strategischen Planung des Feindes und vielleicht auch da nie existiert hatten. Wer konnte ihm das Gegenteil beweisen? Sehr hübsch gezeichnet, wie wir da vom Feind abgeschnitten und aufgerollt worden wären, ganz unblutig auf dem Papier. Ulrich, wie Ben ihn in der Schule erlebt hatte, war wieder da: ordentlich bis zur Pedanterie, verliebt in die kleinen Striche. Aus solchem Holz schnitzt man einen Oberst … Sein Stil allerdings war besser geworden. Er, dem früher in jedem zweiten Satz die Syntax aus dem Ruder gelaufen war, schrieb jetzt so gut wie fehlerfrei. Vermutlich hatte er seinerseits einen Zuarbeiter und der vielleicht noch mal einen. Der Apparat stand ja zur Verfügung, der große Apparat, in den er sich passgenau eingefügt hatte.
So erreichen wir eben irgendwann alle unseren Bestimmungsort in dieser besten aller Welten …
Das Leben ein langer Traum
Diesen Traum habe ich in immer neuen Versionen geträumt, viele hunderte Mal oder tausend Mal und mehr, und ich träume ihn noch immer in der einen oder anderen Nacht. Ein Schulfreund – ich habe ihn länger als vierzig Jahre nicht mehr gesehen – ist wieder an meiner Seite. Wir machen eine Gruppenreise, mal handelt es sich um einen Schulausflug, mal um eine betriebliche Veranstaltung (- als wären wir je Berufskollegen gewesen!). Wir reisen gemeinsam, Seite an Seite in einem Zug oder einem Bus sitzend. Wir sprechen uns aus, er stimmt mit mir überein. Es bedeutet Wiederannäherung, Versöhnung, Glück. Dann erwache ich, fühle mich sehr getröstet.
Der reale Hintergrund: Mit sechzehn fixierte ich mich für Jahre auf einen Mitschüler, der größtmögliche Durchschnittlichkeit mit einem recht angenehmen, vor allem akkuraten Äußeren verband. Indem sich mein Selbstbewusstsein damals herausbildete, erkannte ich in ihm zunehmend mein Gegenbild und fühlte mich zu ihm hingezogen, wie zu einem Urgrund, von dem man sich unweigerlich lösen muss und es nicht will. Er war die Folie, die ich von mir abreißen musste, wenn ich erwachsen werden wollte. Es tat weh und genau das war für mich das erste große Gefühl nach der Kindheit.
Ich liebte ihn nicht aufgrund seiner Vorzüge, sondern wegen seiner Mängel, die ich nach Kräften verklärte. Seine unbegabte Unbedarftheit beispielsweise wurde für mich zur liebens- und schützenswerten Naivität. Er schätzte umgekehrt meinen schärferen Verstand und war schlau genug, mein Interesse für ihn schmeichelhaft zu finden. So wurden wir als Primaner Banknachbarn, ohne die geringste Aussicht, Freunde werden zu können, ein höchst paradoxes Kastor-und-Pollux-Paar. Uns verband nichts, außer meinem Entwicklungsschmerz und seiner unterkühlten Reaktion darauf. Ich saß zwei Jahre neben ihm, litt unter seiner Normalität und Ordentlichkeit und fühlte gleichzeitig unablässig die anästhesierende Wirkung seiner Eigenliebe auf mich.
(Es versteht sich von selbst, dass zwischen uns nie etwas Eindeutiges vorfiel. Ich hatte ihn ja unbewusst gerade zu diesem Zweck ausgewählt. Dass er ihm dann in derart idealer Weise entsprach, hat mir sehr geschadet und meine Kontaktfähigkeit auf lange Zeit beschädigt.)
Mitten in diesem Zeitraum fand ein Klassenausflug statt. Ich trug ihm am Vortag an, auch im Bus neben ihm zu sitzen. Er war gleich einverstanden. Als wir dann aber vor der Abfahrt die Plätze einnahmen, ging er zur langen Rückbank, wo schon die Klassenrüpel saßen, und erklärte mir dabei kühl: Setz du dich am besten neben K., du wirst dich bestimmt gut mit ihm unterhalten. – So geschah es. Ich saß auf Hin- und Rückfahrt neben dem superklugen K. und unterhielt mich in der Tat sehr gut mit ihm, z.B. über die Illusion des freien Willens. Hinten rissen sie währenddessen Witze, doch nicht einmal über uns.
Es war eine Zurückweisung und zugleich eine Platzanweisung. Sie waren vollkommen gerechtfertigt. Dennoch habe ich sie damals als schweren Verlust und nicht zu verwindende Niederlage empfunden. Beim Abreißen der Folie scheint ein Stück Haut von mir mitgerissen worden zu sein. Es ist nie ganz verheilt. Und daher träume ich, korrigiere träumend das, was ich als nicht hinnehmbar empfinde. Immerhin träume ich diesen Traum von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weniger häufig – wobei dann auch das mit ihm verbundene unbeschreibliche Glücksgefühl sich allmählich immer seltener einstellt. Reife ist eben ein Austrocknungs- und Vernarbungsprozess.
Aus einer Laune heraus gebe ich seinen Namen bei Google ein und stelle verblüfft fest: Es gibt sogar einen Wikipedia-Artikel über ihn. Das hat, glaube ich, von uns allen er allein geschafft. Aber dann erschrecke ich: Er ist ja schon tot, im Sommer zehn Jahre tot! Und wie bei vielen älteren Semestern regt sich jetzt auch in mir jenes hässliche Gefühl von Befriedigung darüber, dass es ihn erwischt hat und mich noch nicht. Umso mehr Grund, es rasch mit Empathie zu versuchen: Ach Gott, warum so früh? Er war so sportlich, ein stabiler, kräftiger Kerl! Da stirbt man doch nicht mit fünfundfünfzig … Aber wie stabil war er wirklich?
Ich habe ihn ja kaum gekannt, nur wenig mit ihm geredet. Damals am Gymnasium ging er in die Parallelklasse, mein bester Schulfreund kam aus derselben Straße wie er und sprach oft von ihm. Es war eine Stadtrandsiedlung, sozialer Wohnungsbau. Da wohnten sie zu fünft im vierten Stock, er mit zwei Schwestern und den Eltern. Er spielte schon in der Jugendmannschaft des Bundesligavereins seiner Stadt, alle wussten es, er genoss den Nimbus, den ihm das verschaffte; blieb aber insgesamt zugeknöpft, besonders mir gegenüber. In den Zeitungen war vom "schussfesten Mittelstürmer" die Rede. Er habe das Zeug, einmal ein richtiger Torjäger zu werden.
Mit siebzehn gab er die Schule auf – und kickte im Jahr darauf in der Bundesliga. Am Gymnasium hatte es nicht geklappt, aber nun vor Zehntausenden auf dem Rasen! Doch nach einer Saison musste die Mannschaft absteigen und er lief noch zwei Jahre eine Etage tiefer für sie auf … und ging dann, Anfang zwanzig jetzt, als Profi ins Ausland … und kam schon nach einem Jahr zurück, war nun jahrelang bei einem Zweitligisten in der Nähe unter Vertrag.
Mitte zwanzig war er, als er seine Trainerlaufbahn begann, zuerst im Verein des Vorortes, in den er gezogen war. Verheiratet war er wohl schon. Er brachte den Verein in die Höhe und sein alter Club, seit Jahren in der Krise, kaufte ihn daraufhin ein, um ein neues Team aufzubauen. Zwei Jahre ging es gut, dann verließ er den Verein mit dem großen Namen von heute auf morgen. Ich krame in alten Zeitungsausschnitten, die ich mir aufgehoben habe … Geld scheint bei dem Bruch eine Rolle gespielt zu haben. Der Trainer klagt über zu wenig Unterstützung beim Aufbau einer Existenz jenseits des Fußballs. Und da gibt es jetzt einen Mäzen, einen Unternehmer aus der Gegend, mit dem hat er gerade verhandelt …
Zwischenfrage: Wovon lebt einer, der für den Fußball lebt, aber nicht wirklich von ihm leben kann? Ich weiß nichts darüber, nichts von einer Berufsausbildung oder von Stellen, die er sonst gehabt hat. Irgendwie wird er sich durchgeschlagen haben.
Zehn Jahre lang taucht er noch mal bei diesem, mal bei jenem Amateurverein als Trainer auf, wird zur „Trainerlegende“, wie es posthum an einer Stelle von ihm heißen wird. Ein Dutzend Jahre vor seinem Tod hört die Internet-Chronologie auf. So viel ich auch recherchiere, diese letzte Zeit bleibt im Dunkeln, war vielleicht wirklich finster für ihn. Und ich stoße auf keinen einzigen Nachruf! Ich forsche und forsche, will wissen, wie er tatsächlich gelebt hat und woran er so früh gestorben ist - vergeblich. Er hat zwar seinen Wikipedia-Artikel bekommen, aber der Privatmensch ist kein Thema. Dafür erfahre ich an vielen anderen Stellen, wann er vor vierzig oder mehr Jahren bei welchem Spiel in welcher Minute ein- oder ausgewechselt wurde – nur ob er Kinder hatte und wo er begraben liegt, das sagt mir das Netz nicht. Er war also nur Fußballer, sonst nichts?
Fotografien? Auf einem Schwarzweißbild, an seiner Seite ein Vereinsfunktionär, ist er Mitte dreißig, für mich leicht wiederzuerkennen. (Ich habe ihn nach der Schule nie mehr gesehen.) Er sieht, wie früher schon, ein bisschen muffelig aus, als fröre ihn am Rand des Spielfelds. Und ähnlich wirkt er auch auf den wenigen anderen Fotos, mal als skeptisch dreinblickender blutjunger Bundesligastürmer, mal als sorgenvoller Trainer neben seinen Buben – immer, so scheint es, seltsam bedrückt.
Mögest du einen sanften Tod gehabt haben.
Mit knapp neunzehn schrieb ich mich an der Universität M. ein. Ich wusste nicht, dass es nur ein kurzes Gastspiel sein würde. T. war einer der ersten Studenten, die ich in M. näher kennenlernte. Er wohnte in der weiteren Umgebung der Stadt und besuchte mich schon bald auf meinem Zimmer. Er war lebhaft, lachlustig und kontaktfreudig. Wir besprachen den begonnenen Studiengang. Und wir erörterten eine heikle Frage. Bei Thomas Mann nennt Felix Krull es sein "militärisches Verhältnis". Wir sollten uns beide bald mustern lassen und waren uns einig, auf keinen Fall zum "Bund" zu gehen. T. war Pazifist, er war ein sozusagen glühender Pazifist. Wie gerne ich das feststellte ... Und ich, war ich damals auch Pazifist? Ich bin mir nicht sicher.
Die Studienanfänger wurden zu Semesterbeginn von den einzelnen Vereinigungen emsig umworben. T. schlug mir vor, ihn an mehreren Abenden zu begleiten, auch zu Verbindungen. Ich runzelte die Stirn. Er sagte: "Es verpflichtet zu nichts. Es gibt Freibier ... und noch mehr. Wird bestimmt lustig. Man muss sich doch mal ein Bild von den Brüdern machen." Die "Brüder" ließen sich nicht lumpen. Offenbar standen beträchtliche Mittel zur Verfügung. Wir saßen an langen Tischen und beobachteten, hörten zu. Das gravitätische Zeremoniell kam mir sehr exotisch vor. Ihre Farben, ihre Kappen, ihre Trinksitten, die gestanzte Redeweise, die Existenz von Füchsen, der Straftrunk - all das war eine Welt, für die ich mich nicht erwärmen konnte. T. schien es auch so zu gehen. Wir besuchten auch schlagende Verbindungen, er wollte es so. Vom Fechten hörte er gern reden, das merkte ich.
Wir gingen außerdem zu Abenden des Verbandes der Kriegsdienstverweigerer. Sie legten uns dort die Prozeduren dar, die Musterung, das Anerkennungsverfahren, die Rechtsmittel. Und sie bereiteten uns auf jene Kommission zur Erforschung unseres Gewissens vor. T. war eifrig bei der Sache, eifriger als ich. Bei ihm kam die Maschinerie früher in Gang: Musterungstermin, Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, demnächst Termin vor der Kommission.
Da kam er mir eines Tages mit einer Neuigkeit - er war gerade einer schlagenden Verbindung beigetreten. Ich sah ihn entgeistert an: "Du - der Pazifist - bei denen?! Da lachen ja die Hühner!" Er rechtfertigte sich: "Das hat nichts miteinander zu tun. Kriegsdienst und Mensurschlagen, das sind ganz verschiedene Sachen. Du musst das auseinanderhalten." Er lernte also fechten und bereitete sich zur gleichen Zeit auf seine erste Mensur und den Auftritt vor dem Ausschuss vor. Hoffentlich ohne Schmisse! Ich traf ihn immer seltener und sah ihn dann nur noch von fern: im Kreis seiner neuen Freunde. Wenn so einer Pazifist war, dann war ich es nicht. Ich bin einen anderen Weg gegangen.
- Von einem, der auszog, sich nach Kythera einzuschiffen -
Das Internet ist eine fabelhafte Sache. Sie haben einen lieben Menschen dreißig Jahre nicht gesehen, nie mehr etwas von ihm gehört? Und Sie denken noch immer gern an ihn und fragen sich: Was macht er jetzt, wie mag es ihm ergangen sein? Wenn Sie nur den Namen noch wissen, kann Ihnen geholfen werden – zwei, drei Klicks und Sie sind wieder im Bild. Natürlich ergibt nicht jede Suche Treffer, sehr oft endet sie lakonisch mit Fehlanzeige. Ob die meisten von denen tot sind? Ich wüsste es gern im Einzelfall.
Häufig staune ich, welche Karriere manche noch geschafft haben. Beispielsweise machte ein in sich gekehrter norddeutscher Schulversager sich später als Ingenieur selbständig und wurde in einer süddeutschen Faschingshochburg der örtliche Vorsitzende einer ehemals großen Volkspartei. Chapeau!
Ich will nicht länger darum herumreden: Ich habe gestern hinter Frank – nennen wir ihn hier mal Frank – hergeschnüffelt und bin rasch fündig geworden. Franks Wiege stand in jenen sanften Hügeln, in denen ein großer Roman unserer Nationalliteratur spielt. Es ist die ultimativ ländlich-sittliche Gegend und natürlich sehr katholisch. Später studierte er Medizin in einem anderen Bundesland, und zu der Zeit kam ich vorübergehend ins Spiel. Frank hatte sich angewöhnt, ab und zu in die nächste Vergnügungshochburg zu fahren, wo er mir, selbst fremd dort, ins Auge fiel bzw. stach. Er war mittelgroß, eher breit als schmal, mit leichter Neigung zur Fülle. Unter dem dunklen Haar ein wirklich hübsches Gesicht, noch sehr jung und glatt, überglänzt von einer gleichmäßig zufriedenen Heiterkeit, die es einem unmöglich machte, die Gedanken und Gefühle unter der Stirn zu erahnen.
Er war privat untergekommen und nahm mich drei Nächte hintereinander mit, wenn die Bars gegen Morgen schlossen. Wir lagen in einem Durchgangszimmer auf einem Sofa und mussten leise sein. Die Straßenbahnen klingelten draußen schon und Katzen tobten in der Wohnung. War trotzdem schön. Einige Wochen später kam er für neun oder zehn Tage zu mir in meine Stadt. Das Semester war noch nicht vorbei. Frank hatte die Medizin bereits satt. Wahrscheinlich würde er das Studium abbrechen und an einem Schalter Tickets verkaufen und dann selbst billiger dahin reisen können, wohin es ihn am meisten zog - in die Staaten. Unter seiner glatten Stirn ballten sich schon die Schuldgefühle. Seine Eltern, die das Studium finanzierten, kannten ihren Sohn in Wahrheit nicht. Sie würden alles verurteilen - was er fühlte und was er dachte, was er tat und was er war.
Sich selbst nannte Frank ein wenig faul. In der Tat war sein Phlegma unübersehbar. Er war der ideale Passagier, um sich nach Kythera einzuschiffen, freundlich, gutartig, ganz unaggressiv und sehr genussfähig. Es gab in jener Vergnügungshochburg (und es gibt ihn noch immer) einen großen, berühmten Biergarten als Vorgeschmack auf Kythera. Das war Franks Lieblingsaufenthaltsort im Sommer.
Er lud mich zu sich ein. Ich bin nie hingefahren. Warum? Ich wusste, ich war nicht dafür geschaffen, auf jene glückliche Insel überzusiedeln. Wir wechselten noch eine Zeitlang Briefe.
Kurz nach seinem Besuch bei mir rasselte er durch eine Zwischenprüfung. Jetzt verspürte ich Schuldgefühle und er begann zu ackern. Er schaffte es im zweiten Anlauf. Dann verliebte er sich glücklich und infizierte sich fast zur gleichen Zeit mit einer damals in Mode gekommenen Krankheit. Später glaubte ich mich viele Jahre lang daran zu erinnern, gehört zu haben, er habe sein Studium tatsächlich abgebrochen. Ich sah ihn nie wieder. Für mich war er untergegangen, fortgerissen von der anschwellenden Flut der Jahre.
Heute weiß ich: Er ist nicht untergegangen. Er wohnt jetzt dort, wo auch der Autor jenes Romans, von dem ich oben sprach, lange gelebt hat. (Wie heißt der Autor? Das verrate ich natürlich nicht.) Frank ist doch Arzt geworden und hat eine ansehnliche Stellung am Hauptkrankenhaus der Stadt. Er ist Mitverfasser einer Studie über die Modernisierung des Krankenhauswesens, abgefasst in diesem scheußlichen BWL-Kauderwelsch und sogar ins Englische übersetzt.
Ich habe auch sein Bild gesehen. Ich erkenne ihn noch. Der Rundschädel. Die leicht zurückgebogene Kopfhaltung. Dennoch löste der Anblick einen Schock in mir aus: die Jahre, die Jahre! Auch Ärzte altern, doch das ist es nicht. Die Mimik - sie ist jetzt wehmutsvoll. Die Augen aufmerksam wie früher, nur jetzt ein wenig traurig. Die Lippen, verschlossen, sprechen von Entsagung. Von wegen: Kythera!
Auch Hamburg war bloß Provinz, wenn man aus Berlin kam. Harro hatte Ben am Freitagmittag vom Büro abgeholt, mit seinem nach Zigarettenkippen stinkenden Fiat, dann waren sie über die Stadtautobahn getuckert und schon am Kaiserdamm hatte Harro gesagt: „Gehn wir erst noch mal `n Kaffee trinken?“ Statt dass sie gleich durchgefahren wären. Und Harro musste sich natürlich in der Bäckerei wieder aufspielen … Sie waren nie zusammen im Bett gewesen. Erst war er Harro zu unerfahren gewesen, später hatte es sich ins Gegenteil verkehrt. Für Ben war Harro jetzt nur noch ein alt werdender Junge, der sich von Jüngeren bumsen lassen wollte. Eine smarte Fassade mit wenig dahinter. Harro beschwerte sich laut, als sie zahlen sollten: „Das sind auch keine Friedenspreise mehr!“ Die Verkäuferin markierte Entrüstung, und damit hatten sie endlich genug Rückenwind, um nach Hamburg zu düsen.
Die Pension lag in einer der feineren Gegenden der Stadt. Viel zu massige, weiß verputzte Häuser in der Reihe, die vergeblich so taten, als ob sie in London stünden, und in der Halle der dämmernde Alte, der Inhaber, in einem Sessel mit Cordsamtbezug mümmelnd. Jeder hätte ihn da überfallen, berauben und töten können. Sein Freund war vor kurzem gestorben, das erfuhren sie abends im Village. Er war schon nicht mehr ganz da, aber er sagte noch immer mit Würde: „Wenn die Herren später bummeln möchten …“ Und gab ihnen die Schlüssel. Sie gingen hinauf in ihr Doppelzimmer. Harro vertauschte die Slipper mit den schweren Stiefeln, ging mit ihnen ins frisch bezogene Bett und sagte: „Dafür bezahlen wir ja. Nur mal kurz langlegen.“
Sie gingen essen und lagen danach wieder auf den Betten. Harro wartete auf eine Stadtparkbekanntschaft vom letzten Sommer, er hatte ihn telefonisch aufs Zimmer bestellt, und Ben darauf, dass sie endlich ins Village fahren würden. Die Stadtparkbekanntschaft kam, stieg zu Harro ins Bett, und Ben verkroch sich hinter der Zeit. Die Artikel weitschweifig wie immer. Das Beste an diesem Blatt war das Format - es verdeckte vollkommen, was in dem anderen Bett vor sich ging. Die Beischlafgeräusche kamen ihm ziemlich lustlos vor. Armer Harro! Und Harro sagte nachher etwas vom Mondschein damals im Stadtpark – Schönheit eine Sache der Beleuchtung! - und dass es jetzt eine Pleite gewesen sei. Sie fuhren gerade über die Lombardsbrücke nach St. Georg hinüber. Das Village wurde auch eine Pleite. Hanseatische Ledermänner, pärchenweise die lange Treppe in den Keller hinunterstiefelnd, dann vorne Konversation machen und dabei äugen, wer hinten im Dunkelraum verschwindet, wo sie später einzeln fertig zu werden hofften. Und es in der Tat wurden, meistens. (Falls du draußen auf meinen Freund stößt, lass nicht erkennen, dass wir zwei uns schon begegnet sind …) Bon soir, tristesse. Es gab keine Sperrstunde, aber sie lagen schon morgens um drei jeder in seinem Bett …
… und sie fühlten sich um zehn nach anständigem Frühstück ausgeruht und munter. Die richtige Zeit für einen Stadtbummel. Am Jungfernstieg war es kalt und zugig. Über der Alster waberten Nebelschwaden, und das Kaufhaus mit Seeblick kam ihnen wie eine schlechte Kopie des KaDeWe vor. Harro fragte: „Wie lange kennst du den Lübecker von gestern Abend schon?“ – „Hab ihn vor zwei Wochen in Frankfurt kennengelernt. Scheint nett zu sein. Er hat mich nach Lübeck eingeladen. Aber muss man dahin?“ – „Er hat ein hübsches Gesicht. Aber pass auf, diese Backen, die im Gesicht, meine ich, sind schon ein bisschen … na ja, also wenn der sich auszieht, ich wette, dann siehst du einen Bauchansatz.“
Ben reagierte nicht. Er wusste, Harro hatte einen anderen Geschmack. Zu Hause bei ihm – er hatte mal bei ihm Kaffee getrunken – hingen an der Wohnzimmerwand zart kolorierte Zeichnungen von sehr schlanken jungen Knaben, wie er selbst, Ben, früher einer gewesen war. Gertenschlank und hohlwangig – Fleischeslust ohne Fleisch, da kann man gleich Vegetarier werden. Warum hatte ihn Harro damals nicht haben wollen, und jetzt, da er etwas kräftiger war, wäre es ihm recht gewesen? Eine Zeitlang hatte Ben sich noch vorgemacht, sie könnten wenigstens Kumpel sein. Aber er fing schon an, geradeso zynisch wie Harro zu werden. Er verkehrte nur noch mit ihm, um davon zu profitieren. Harro war zehn Jahre älter und wusste über fast alle Bescheid, und mit ihm zu verreisen, kam billiger. Nach Köln waren sie zu dritt gefahren, Gerd war mitgekommen, alter Busenfreund von Harro – nur dass die beiden sich jetzt oft auf die Nerven gingen. Harro und Gerd wechselten sich auf diesen langen Strecken alle paar Stunden am Steuer ab. Wenn einer schlafen wollte, schluckte er ein Mittel, und wenn er fahren musste, wieder ein anderes. Ben hatte keinen Führerschein.
Sie gingen die Mönckebergstraße hinauf, und Ben fand sie schöner als den Tauentzien, sagte es aber nicht. Da wo die Straße in ihrer Mitte eine Ausbuchtung hatte, stand eine Art kleiner griechischer Tempel etwas verloren zwischen den Kommerzburgen. Harro wies auf das Café in seinem Inneren: „Die haben auch mal versucht, mich zu bescheißen. Aber nicht mit mir.“ Sie froren etwas und gingen daher in das Ladenzentrum neben dem Tempelchen. Die meisten Kunden strömten ins Untergeschoss, und sie ließen sich mittreiben. Da war ein Blumenladen mit viel Ware in der Passage, es roch stark nach Frühling. „Schauen wir mal in die Buchhandlung?“ – „Klar.“ Harro war kein großer Leser. Er steuerte gleich die Zeitschriftenecke an, Ben blieb vor den Ständern mit den Taschenbüchern stehen, ließ die Augen die Titel entlangwandern. Nicht dass er etwas Bestimmtes suchte, reine Gewohnheit von ihm. Er zog sich etwas von Brecht heraus, Leben Eduards des Zweiten von England. Das kannte er, im Fernsehen hatten sie mal eine Aufzeichnung gesendet. Er blätterte und las:
DER JÜNGERE MORTIMER
Er ist um seinen Buben liebeskrank.
Der König unterschreibt.
Ach, war das schön gewesen … Ben sah den schwulen König wieder vor sich: genießerisch, lasziv. Eduard schien einfach alles zu genießen, seine Macht, dass seine Macht bedroht war, dass er ständig verliebt war – ein Vogelfreier auf dem Thron. Etwas Vollkommeneres kann es nicht geben. Eduard räkelte sich wollüstig und zeigte dem Hof, wie gut er im Fleisch stand.
Ben fühlte sich seit einer halben Minute abgelenkt. Da schaute einer immer wieder zu ihm herüber, und er war ganz in Leder. Harro und er hatten heute Morgen Jeans angezogen, war bequemer für die Stadt, aber auf die Lederfräcke hatten sie nicht verzichtet. Das muss der Schlüsselreiz für den da gewesen sein. Er schleicht auf und ab, hat kein Auge mehr für die geistigen Werte. Wie kann man so sinken – Eduard der Zweite!
Der andere war dicht herangekommen und tat noch einmal so, als ob ihn die Bücher interessierten. Zwischendurch Augenaufschläge, reizende Blicke. Plötzlich stand Harro hinter ihnen und machte der Schäferidylle ein Ende: „Na, auch schon unterwegs?“ Und so kamen sie schnell zu dritt ins Gespräch und standen bald in der Passage, gingen da vor dem Blumenladen auf und ab.
Der andere war höchstens zwanzig und blühte mit den Tulpen und Narzissen um die Wette. Brünett war er, hatte dichtes, lockiges Haar. Schlechthin hübsch das Gesicht, schon voll aufgeblüht, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Bens Blick glitt an ihm hinunter. Die Schultern breit, aber nicht zu breit. Brustkorb ansehnlich. Unter dem weißen T-Shirt ein kleiner weicher Hügel, vom schwarzen Ledergürtel dezent betont. Wie er die Schenkel bewegte … Ein bisschen lasziv der Knabe. Er war ganz nach Bens Geschmack. (Schreiten wir bald zur Krönung Eduards des Zweiten?) Harro schien auch nicht uninteressiert, trotz der offenkundigen Unähnlichkeit des Jungen mit den Idolen bei ihm an der Wand. Aber vielleicht nahm er bloß wieder mal den Konkurrenzkampf auf.
Er war Marinesoldat, sein Schiff lag in Kiel vor Anker. „Was machst du dann in Hamburg?“ – „Um mal was zu sehen.“ In dreißig Stunden musste er wieder an Bord sein. Sie sagten ihm, dass sie aus Berlin seien und auch mal was anderes sehen wollten. Dazu äußerte er sich nicht. Sie gingen mit ihm hinaus auf den Platz und bummelten zwischen den Kaufhäusern auf und ab. Der Junge sah froh aus, wie eben ein junger Mensch aussieht, der froh ist, Anschluss gefunden zu haben. Unbestimmt erwartungsvoll, so sah er aus.
„Wart ihr letzte Nacht auch auf dem Kiez?“ In Berlin war jedes Viertel ein Kiez, also waren sie hier auch in einem gewesen. „Ja“, Harro antwortete für sie beide, „nur im Village, bis um halb drei, war aber langweilig. Du hast nichts verpasst.“ Ben sah dem Soldaten ins Gesicht, in die Augen. Da glimmte kein Fünkchen auf. Kannte er das Lokal wirklich nicht? So wie er angezogen war? Sie gingen weiter ziellos auf und ab und versuchten gegenseitig herauszubekommen, mit wem sie es denn zu tun hatten. Der Junge redete immer wieder vom Kiez, ohne dass sie Details erfuhren. Kiez hinten, Kiez vorne, und sein Ton war beinahe ehrfürchtig. Sie begriffen, dass er nur Kneipen in St. Pauli besucht hatte und St. Georg gar nicht kannte.
Harro wurde es zu dumm, er fragte geradeheraus: „Warst du auch in der Lore?“ – „Lore?“ - „Na, die Loreley halt, das alte Lokal …“ Hamburgs älteste Lederbar war ein bisschen aus der Mode gekommen, Touristen steuerten sie kaum noch an. Aber sie lag in St. Pauli, vom U-Bahnhof die Reeperbahn entlang und dann die und die Querstraße, bis zu der und der Ecke … Harro erklärte ihm den Weg, den der andere noch nie gegangen war. Jetzt war der Fall klar. Und was sollten sie nun mit dem Kind anfangen?
Das Kind sah nicht mehr froh in den grauen Hamburger Vormittagshimmel, eher betrübt, verlegen, unschlüssig. Sie gingen noch immer auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz auf und ab, pendelten zwischen Karstadt und dem Thalia-Theater hin und her. Der Soldat nahm weitere Anläufe, wollte zu gern doch noch bestätigt finden, dass sie alle drei zu etwas Bestimmtem dazugehörten. Wozu? Er sagte jetzt nicht mehr Kiez, sondern Milieu, und dass er es da geil finde. Was, Bier saufen? Er lachte ein bisschen gequält. Gleich würde er sich davonmachen, Tschüs sagen, ich muss weiter …
Nichts da, er trottete weiter neben ihnen her. Sie redeten jetzt kaum noch mit ihm. Dann ging Harro in die Schlussoffensive und fragte ihn in einem gekonnt naiven, sich einschmeichelnden Ton – Mann, muss der Kreide gefressen haben! -, wie’s denn sexuell so laufe auf dem Schiff. „Ihr seid da doch wochenlang eng beisammen und so ganz ohne Frauen an Bord … So viele kräftige junge Burschen – muss da nicht auch mal einer von euch dran glauben und was hinhalten?“ – Der Soldat sah aus, als ob er in eine Zitrone gebissen hätte, und sagte: „Mann, was ist denn das für `ne komische Frage …“ Mehr nicht. Und blieb trotzdem bei ihnen.
Sie froren jetzt alle drei und gingen daher ins Karstadt-Haus. Der Soldat kramte einmal in den Sonderangeboten auf einem Wühltisch, ein paar Meter von ihnen entfernt. „Lassen wir ihn sausen“, sagte Harro, „das wird nix.“ Sie tauchten sofort im Kundengewühl unter, ließen sich weitertreiben, bogen in die Sanitärabteilung ein, da gab es hohe Stellwände. Dann waren sie draußen. Sie waren ihn los.
„Wäre nur peinlich, wenn wir ihm zufällig wieder begegnen.“ - „Gehen wir Richtung Hauptbahnhof.“ – „Meinst du wirklich, er hat uns am Anfang für Rocker gehalten?“ – „Kann sein. Trotzdem hätten wir ihn mitnehmen können. Richtig schwul ist er zwar nicht, aber man hätte ihn vielleicht doch ins Bett bekommen.“ – „Und warum haben wir ihn dann sausen lassen?“ – „Mensch, um die Zeit werden in der Pension die Zimmer saubergemacht …!“
Für Harro gab es nur technische Probleme, typisch für einen, der von Beruf Ingenieur ist. Er sagte noch: „Jedenfalls wird er jetzt wissen, was mit uns los ist.“ – „Und weiß er, was mit ihm selbst los ist?“ – „Sein Problem.“ Ben dachte: Am besten, er vergisst alles, denn sonst muss er uns doch verachten. Ja, so wird es kommen: Verachten wird er mich - so wie ich dich.
Anmerkung: Eduard II., geb. 25. April 1284, König von England und Wales von 1307 - 1327, am 21. Sept. 1327 ermordet.
Als es den Kalten Krieg noch gab, waren Hunderttausende amerikanischer Soldaten in der alten BRD stationiert. Wie die Natur so spielt, befanden sich stets auch Tausende von Homosexuellen unter ihnen. Diese waren unerwünscht. Man suchte sie herauszufiltern und aus der Truppe zu entfernen. Für das Ausspionieren war der eigene militärische Geheimdienst zuständig. In Frankfurt verkehrten diese schwulen GIs sehr zahlreich in verschiedenen Bars im Stadtzentrum. Ich erinnere mich an eine nahe der Konstablerwache, in der sie zeitweise beinahe die Hälfte des Publikums ausmachten. Die Atmosphäre war locker und verriet nichts von Existenzängsten. Deutsche und amerikanische Gäste lachten, redeten und tranken miteinander.
Larry war einer der ersten Amerikaner, die ich in Berlin näher kennenlernte. Er war neunzehn, neu bei der Army und neu in Berlin. Er kam aus einem kleinen Nest in Ohio, wirkte gutartig und noch etwas kindlich. Er hasste alle großen Städte, ihren Schmutz, die Verwahrlosung, das Verbrechen. Er war nur einmal bei mir, dann redete ich ab und zu mit ihm, wenn wir uns zufällig trafen.
Um diese Zeit nahm die Zahl der GIs in meinem Stammlokal stark zu. Die meisten von ihnen haben keine Spuren in meinem Gedächtnis hinterlassen. Ich erinnere mich an einen kleinen Texaner. Er sah putzig aus, ungefähr so wie die gemalten Knaben auf der Titelseite der Hörzu früher. Ganze Nächte verbrachte er in der Bar, friedlich in einer Ecke sitzend, schauend, dösend. Manchmal schlief er gegen Morgen ein, wie auf einem Schulausflug, der zu lange dauert. Roy gehörte nicht zu dieser Gruppe, er war auch bedeutend älter. Er bewegte sich privat fast nur unter Deutschen, sprach perfekt Deutsch, wenn auch mit leichtem Akzent, und ließ sich sogar mit einem deutschen Vornamen anreden. Bei einem seiner seltenen Barbesuche hatte ich ihn kennengelernt. Eine mehrmonatige Beziehung schloss sich an. Roy sagte: "Larry und die anderen, die sind sehr unvorsichtig. Der Dienst beobachtet sie, und wenn er genug auf der Liste hat, werden sie zurückgeschickt."
War Roy Soldat? Er trug nie Uniform, doch benutzte er den amerikanischen Militärsonderzug, wenn er von Berlin nach Frankfurt fuhr. Dort war er seit langem zu Hause und erst neuerdings beruflich meistens in Berlin. Hier war er bei einem Freund untergekommen. Ich fragte nie, was er genau mache. Vielleicht war es ein dem Militär zugeordneter Dienst.
Roy übernachtete ab und zu bei mir. Er benutzte einmal morgens meinen Nassrasierer und brachte sich, darin ungeübt, üble Schnittwunden bei. Er fluchte: "Im Büro denken sie natürlich, ich wär in eine Schlägerei geraten. Die halten mich da für ziemlich rough." Und er konnte doch so zartfühlend sein ... Wir sprachen auch über Musik. Im Gegensatz zu mir liebte er Verdi und Puccini. Diese Musik habe ihm früher über schwere Enttäuschungen hinweggeholfen. Bald darauf wurden auf einen Schlag etwa zwanzig Berliner GIs wegen Homosexualität aus der Army ausgestoßen. Einigen ersparte man die unehrenhafte Entlassung, sie durften selbst um ihr Ausscheiden bitten. Unter diesen war Larry.
An einem Samstagmorgen verließen wir meine Wohnung in der Keithstraße. Roy wollte uns am Wedding eines seiner deftigen mittelwestlichen Frühstücke zubereiten. Bei Fontane wohnt Effi Briest in der Keithstraße, von den alten Häusern haben nur wenige den letzten Krieg überstanden. Ich lebte in einem der nicht allzu bemerkenswerten neuen Appartementhäuser. Wir traten vor die Haustür. In diesem Augenblick wurden wir samt Hausfassade fotografiert. Der gut gekleidete Mann mittleren Alters auf der anderen Straßenseite stieg unmittelbar danach in seinen Wagen und fuhr weg.
Am Vorabend war Roy auf einer Party in der amerikanischen Kolonie gewesen. Als wir jetzt die Siegessäule in seinem Wagen umrundeten, sagte er: "Sie können es gar nicht herausgefunden haben ... Ich bin von der Party so verschlungene Wege zu dir gefahren. Eigentlich unmöglich."
Dann musste er einige Wochen in einem militärischen Trainingslager verbringen. Ich hörte lange nichts von ihm, sehr lange nicht. Er rief einmal aus Frankfurt an und schlug kein Treffen vor. Ich bemühte mich, ihn zu vergessen.
Jahre später sollte ich ihn noch einmal sehen, in einer großen Disco. Das damalige Discofieber ließ mich kalt, ich beobachtete vom Rand der Tanzfläche aus die Derwische. Manche von ihnen schnupften Drogen oder warfen sich Pillen ein, während sie sich verbogen. Auf einmal war einer von diesen neben mir, küsste mich und entfernte sich, schon wieder tanzend, rasch von mir. Es war Roy, er lachte mir nun von weitem zu. Er schien etwas ausdrücken zu wollen - nur was? Dann hörte er auf zu tanzen und ging mit anderen fort. Als sie an mir vorbeikamen, sah er noch einmal herüber und lächelte jetzt verlegen. Er sah aus, als wolle er mir sagen: Was willst du machen, das Leben ist ein Spiel. - Ja, Roy, nur kein sehr amüsantes.
(Nachbemerkung für mitlesende Schlapphüte: Das Vorstehende hat sich vor rund vier Jahrzehnten zugetragen. Die Namen der Soldaten wurden verändert.)
Heute habe ich wieder an F. gedacht, F wie Freitod. Ich muss noch oft an ihn denken, dabei ist er schon über dreißig Jahre tot.
Er war einer der bestaussehenden Männer, an die ich mich erinnere. Groß, kräftig, breitschultrig und hübsch. Von leichter Melancholie umflort. Ich sah ihn jahrelang in den Straßen, in den Bars von West-Berlin, ohne mit ihm in Berührung zu kommen. Dann begegneten wir uns zufällig an einem Sommersonntagnachmittag im Grunewald. Es war auf einem breiten Waldweg, nicht weit vom Stadtrand. Wir blieben beide stehen und sahen uns an. Er stellte eine Frage, ich nenne sie mal die F-Frage. Ich sagte nein. Da lächelte er schwermütig und sagte, sich entschuldigend: "Ich brauch das halt." Dann wandte er sich ab und ging in eine andere Richtung.
Ich habe danach nie mehr mit ihm gesprochen. Er verschwand für ein, zwei Jahre aus meinem Gesichtskreis. Dann war er wieder da und ich hörte, er sei in Westdeutschland gewesen. Es hatte weder privat noch beruflich geklappt. Nun versuchte er es erneut in Berlin. Er ließ sich auf riskante Praktiken ein, ich nenne sie hier mal die FF-Praktiken. Dabei gab es einen Zwischenfall, er wäre beinahe verblutet. Er kam durch, wurde lange behandelt und sorgte überall durch sein bloßes Erscheinen für Gesprächsstoff. Es war ihm sichtlich unangenehm. Er bekam viel Taktloses zu hören.
Ich zog fort aus der Stadt. Im selben Jahr las ich, dass er sich umgebracht hatte. Sonntagsspaziergänger hatten ihn gefunden. Er hatte sich gerade am Ort unserer früheren Begegnung an einem Baum aufgeknüpft. Ich las es in einem Nachruf. Der Verfasser stellte dort Vermutungen über ihn an. Er sei wohl unter seiner gefassten männlich-kameradschaftlichen Oberfläche ein anderer gewesen: verletzlich, einsam und enttäuscht. Seitdem ist kaum ein Monat vergangen, in dem ich nicht an ihn gedacht hätte. Die meisten Selbstmörder ziehen sich zum Sterben zurück. Sie wenden sich von uns ab, endgültig. Er dagegen hatte es öffentlich vollzogen, ein Schrecken für harmlose Spaziergänger, ein Vorwurf an die, die ihn gekannt hatten. Sein Tod ein Skandal. Oder wollte er insgeheim, dann man ihn rechtzeitig fände und zum Leben wiedererwecke? In diesem Fall wäre ihm auch das misslungen.
Im Mai lernt Svoboda die neue Frau seines geschiedenen Vaters kennen. Sie ist wegen einer Familienfeier nach Wien gekommen und mustert ihn kritisch. Denkt sie schon ans Erben, als sie fragt: "Und Sie, denken Sie gar nicht ans Heiraten? Sie sind doch schon vierzig ..." - "Nein, überhaupt nicht, ich bin ja schwul." - "Mein Gott, Sie sind homosexuell? Was für ein Unglück!" - "Für mich nicht, Frau Svoboda, für mich ein Glück. Damit Sie es wissen!" Nun ist er doch laut geworden.
Im Sommer ist er so oft wie möglich im Prater oder in der Lobau, allein oder mit dem Amerikaner, der schon zum zweiten Mal hier ist. Sie reden auch über die neue Krankheit. Svoboda sagt, er verwende schon lange Pariser, wegen der Hepatitis. Und jetzt beschränke er sich ohnehin auf die Stammkundschaft. Später wird er sagen: "Schön war der Sommer, aber auch schnell vorbei ..."
Im September ruft ihn einer dieser Stammkunden wieder mal an. Er ist Eisenbahner und hat da unten in Kärnten Frau und zwei Kinder. Der Dienstplan verlangt es ab und zu, dass er in Wien übernachtet. Er meldet sich nur in großen Abständen. Nachher sagt er tief befriedigt immer dasselbe: "Und es ist doch gegen die Natur." Das rundet für ihn die Sache erst ab. Svoboda lacht dann und sagt: "Alles ist Natur, wir alle sind Natur. Wir sind von Erde genommen ..."
Im März ist der Eisenbahner wieder einmal in Wien. Seit dem Herbst hat er Svoboda nicht mehr gesehen. Svoboda meldet sich nicht am Telefon. Um diese Zeit hat er ihn sonst immer erreicht. Svoboda ist auch nicht im Esterhazy-Park. Der Eisenbahner nimmt sich vor, beim nächsten Mal früher anzurufen.
Es ist wieder Mai. Unter Svobodas Nummer ist niemand mehr zu erreichen. Der Eisenbahner nimmt die Trambahn und findet heraus, was er schon vermutet hat: Das Klingelschild mit Svobodas Namen ist durch ein anderes mit einem anderen Namen ersetzt. Da geht das Haustor auf - ist das nicht seine Nachbarin? Sie sagt: "Svoboda? Der ist im März gestorben. Diese neue Seuche, Sie wissen schon? Und man hat es ihm nicht angesehen. Ich glaube, er hat es selbst nicht gewusst ... Waren Sie mit ihm befreundet?" - Der Eisenbahner sagt: "Ich hab ihn flüchtig gekannt."
Als sein Zug am anderen Morgen in den Semmering-Tunnel einfährt, denkt er: In Wien ist es jetzt auch dunkel geworden - und es wird nie wieder hell.
In der U-Bahn heute Mittag ein Gesicht, mir von früher noch gut vertraut. Es ist vielleicht das ansehnlichste im Hamburger Westen, dunkel, seelenvoll, sehr edel. Wir hatten uns trotz gegenseitiger Signale des Wohlwollens einander nie genähert. Warum wohl? War mir zu viel Intelligenz und Bravheit an ihm, neutralisierten sie die Sinnlichkeit? Jetzt schien er merklich verändert, älter geworden, das Gesicht schmaler, die Stirn höher, der Schnurrbart länger, buschiger. Da ist nun etwas Karbonaromäßiges, ein klein wenig Verruchtes, stärker sinnlich. Er bemerkte mich und lugte zeitweise herüber, ich wechselte bei Gelegenheit den Platz. Schönheit war für mich immer nur ein Versprechen von Glück, das nicht gehalten wird.
Nicht auszuschließen, dass er nicht mehr vollkommen gesund ist. Und hoffentlich schreibt nicht auch er noch Bücher über Aids und hält Vorträge. Sogar zu Hause bei uns in N … gibt es jetzt einen davon, aus der Sippe C … Ihre Botschaft ist die banalste: dass Leben lebenswert und Krankheit bekämpfenswert. Es sind doch Unzählige in dieser Lage, heroisch, und bleiben unbeachtet. Im Büro raunt man, Kollege E …, seit vier Monaten krank, habe auch Aids. Er ist ein tüchtiges, überaus integres Mäuschen, wenn auch weniger hübsch.
Was mich auf zwei Tote des vorigen Jahres bringt: Manfred Salzgeber und Barry Graves, beide mit Anfang fünfzig gestorben, in ihrem geliebten Berlin. Ich sehe beides noch vor mir, des einen Ernsthaftigkeit und des anderen vielleicht nur gespielte Lässigkeit. Der schwere wie der leichte Tritt und Auftritt vorbei, nicht wiederholbar. Das war unsere Welt, und eine andere ist nicht in Sicht. Ob T. … noch lebt? Schon lange will ich mal im Telefonbuch nachschlagen – Kontakt aufnehmen sicher nicht. Es ist mir ja auch unangenehm, Martin von weitem in der U-Bahn zu bemerken. Ich habe es zweimal so eingerichtet, dass er mich nicht wahrnahm.
Einige Wochen später … Auf dem Schweriner Bahnhof lief ein Zug aus Greifswald ein, und als er hielt, schaute ein mir vertrautes Gesicht heraus - der Karbonaro von neulich. Es mag noch Zufall gewesen sein, dass er in denselben Wagen wie wir stieg und sich einen Platz in unserer Nähe suchte. Er blieb mir allerdings bis fast nach Hause auf den Fersen. Auf dem U-Bahnhof ging er demonstrativ freundlich an mir vorbei, stieg einen Wagen weiter ein und an meiner Station aus, wie üblich bei ihm, nahm aber, anders als sonst, diesmal denselben Ausgang wie ich. Mit sehr kurzem Abstand hielt er oben Schritt mit mir, ich hörte ihn immer wieder fröhlich pfeifen. Es war irritierend, bin ich nicht längst über diese Sachen hinaus? Nur sein Reiz war noch da, unverändert stark und natürlich wieder etwas platonisch gefärbt.
Im Zug hatte mir *** gesagt, der da sei nicht so jung, wie er wirke, er sei um die vierzig und habe ihnen immer als Muster von Bindungsunfähigkeit gegolten. Ich beobachtete ihn, wie er sich im Zugfenster spiegelte. Er hörte Musik aus einem Kopfhörer, schien nebenbei auf uns zu achten, trank eine Dose Bier. Der Mund kam mir auffallend hart vor, in seinem Winkel etwas Schaum. Im Ganzen dennoch ein harmonischer Eindruck, gefühlvoll und beherrscht. Ungeachtet seines tatsächlichen Alters ist er der klassische romantische junge Mann. Ich bin immer noch neugierig auf ihn. Ich sollte … ich müsste … ich würde … Da ist eine Faser, die mich mit früher verbindet, noch nicht abgerissen. In der Tiefe zieht es ein wenig. Das geht vorbei.
Neulich hat einer Ausschnitte aus Rosa von Praunheims Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ von 1971 ins Netz gestellt. Ich habe den Film nur einmal gesehen – 1972 – und bin jetzt neugierig, ob ich auf bekannte Gesichter stoße. Ich mache zwei Entdeckungen …
Da ist Henny, der Wirt der „S-Bahn-Quelle“ - ich weiß nicht, ob er es damals schon war; ich bin ihm erst in den folgenden Jahren begegnet. Die „Quelle“ lag in Charlottenburg, an einem stark verkommenen Durchgang zwischen dem Stadtbahnviadukt und hohen alten Häusern. Noch immer ist dort der Zugang zum S-Bahnhof Savignyplatz – doch die Ecke ist sehr verwandelt. Wo seinerzeit eine stimmungsvolle Szene für „Cabaret“ gedreht werden konnte, findet man jetzt nur eine langweilige Gasse zum Shoppen vor. Und ausgehen? Ja, wenn man braver Mittelschichtler und am besten auch noch Tourist ist.
Henny spielt sich selbst, d.h. er „tölt“, er macht sich schlangenhaft an diesen oder jenen ran, um im letzten Moment neckisch zurückzuweichen. Man weiß nie, über wen er sich mehr amüsiert, über sich selbst oder sein jeweiliges Gegenüber. Genauso wie im Film trat er als Kneipenwirt auf. Mit Parodie und Selbstpersiflage machte er sich weniger zum Affen als zu einer Art Mutter Courage der Ledermänner. Sein Lokal florierte einige Jahre lang auch dank emsigen Besuchs von Strichjungen wie von linken Studenten. Das Interieur: schmutzstarrend, die Angestellten: erbarmungswürdig. Barry Graves war dort Stammgast, Praunheim sah man manchmal, Fassbinder, wenn er in der Stadt war. 1975 wurde eine Konkurrenz eröffnet und die „Quelle“ verödete rasch. Brachte sich Henny deshalb nach einiger Zeit um? Möglich, ich weiß es nicht. Ich habe seine weitere Geschichte im Kopf, wenn ich mir seinen Auftritt bei Praunheim jetzt ansehe. Er übt gewissermaßen noch. Es ist derselbe Mensch, nur jünger. So kenne ich ihn und habe ihn so jung doch real nie gesehen.
Noch irritierender erlebe ich den gleichen Effekt bei Manfred Salzgeber. Er gibt im Film von 1971 einen speziellen jugendlichen Liebhaber, halb junger Groucho Marx, halb Alain Delon. Noch ist er hübscher, als ich später für möglich gehalten hätte, dabei eloquent, diskutierfreudig und von behänder Beweglichkeit. Dass der professionelle Cineast Salzgeber selbst schauspielerisches Talent besaß, ist neu für mich. Nicht vor der Mitte der Siebziger lernte ich ihn bei Gesprächen flüchtig kennen, und wir unterhielten uns länger erst nach meinem Weggang von Berlin. Ich traf ihn einmal in Amsterdam, wo er für Zeitungen schrieb, und er erklärte mir die soziale Unruhe, die gerade im Tulpenstaat herrschte. Später kam er ab und zu nach Hamburg, um neue Filme anzusehen – er war jetzt auch Filmverleiher -, und lief mir dann nachts über den Weg.
Ein letztes Mal sah ich ihn in den späten Achtzigern. Wir redeten kurz über den Film eines gemeinsamen Bekannten, dann erzählte er mehr als sonst von sich selbst. Ich habe mir immer gesagt, erklärte er mir, wenn du erst mal vierzig bist, fickst du weniger und schreibst mehr … Er sprach von Verträgen für Drehbücher und skizzierte mir den großen Roman, den er zu schreiben begonnen hatte. Er kam ohne falsche Bescheidenheit aus: Man wird vielleicht einmal an Dostojewski denken … Ich finde insoweit keine Spur einer Veröffentlichung. Er sagte auch schon einschränkend: Falls ich nicht zuvor von einer Seuche hinweggerafft werden sollte … Im August 1994 ist er an AIDS gestorben, vier Wochen vor Barry Graves.
Damals lud er mich am Schluss auf ein Bier ein – es war das Bier, das gewöhnlich mehr bedeutet. Ich sagte nein, und er empfahl sich rasch. Wenn ich ihn von nun an für immer fortgehen sehe, dann tut er es nicht länger auf die bisher von mir erinnerte Weise: skeptisch, gedankenvoll und durchaus nicht mehr jung, sondern mit dem Elan, dem Optimismus und der Jugendlichkeit aus Praunheims Film. Meine Toten werden jünger. Ich erlebe sie posthum auf eine Weise, wie sie mir zu ihren Lebzeiten nie begegnet sind. Es sind noch entwicklungsfähige Wesen. Wahrlich, das sind jetzt Zeiten, in denen die Zeit rückwärts zu laufen beginnt.
- Aus dem Tagebuch eines Siebzehnjährigen -
Heute Latein-Klassenarbeit, mehr oder weniger gutgegangen. Während wir übersetzten, bekam ich plötzlich Einblicke, die ich mir gern erspart hätte. Einmal zu konzentriert, zu scharfsinnig gewesen – es ist nicht mehr gutzumachen. Mit Cicero hat das gar nichts zu tun …
Es war so: Ulrich stand auf und verlangte vom aufsichtführenden Lehrer, aufs WC gehen zu dürfen. Unmittelbar davor hatte ich ihn von der Seite beobachtet, er schien nicht mehr voranzukommen. Ihm fehlten wohl wieder einmal Vokabeln, und jetzt schlug er sie draußen in seinem Miniwörterbuch nach - leicht zu erraten. Nun ja, dergleichen kommt halt vor … Und er gab sich nachher nicht einmal viel Mühe, den kleinen Betrug vor uns anderen zu verbergen. Er wollte nichts riskieren, es daher nicht offen zugeben - aber doch das kleine Plus an Prestige einsacken, das bei Heldentaten wie dieser mit herausspringen kann. Klingt das hämisch? Aber ich mag ihn doch wirklich, wir sind Freunde, hoffe ich wenigstens.
In dem Augenblick, als er den Saal verließ und mir klar wurde, zu welchem Zweck, war sie wieder da, meine alte Antipathie gegen ihn. Und wie stark dieses Gefühl jetzt war … Zwei Jahre lang hatte ich ihn doch verachtet, beinahe gehasst. Ich spürte jetzt gleich den untergründigen Neid in mir heraus, das war neu für mich. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, dann schlug alles wieder in Sympathie für ihn um, aber es hatte genügt, mir etwas von meinem Innersten zu zeigen.
Ich empfand also heftigen Widerwillen gegen das, was Ulrich tat. Ich redete mir kurz ein, dass ich es schäbig fände, dass ich niemals wegen solcher Kleinigkeiten pfuschen würde, dass ich nur da betrügen und etwas riskieren würde, wo es sich wirklich lohnt. Und dabei übersah ich für einen Moment völlig, dass ich dieses gleiche Gefühl des Widerwillens, der beinahe körperlichen Antipathie früher gerade dann empfunden hatte, wenn Ulrich etwas Besonderes leistete oder wenn er es verstand, sich auf irgendeine Art in den Mittelpunkt zu stellen, oder wenn er nur ein etwas lautes Wesen an den Tag legte. Ich ignorierte auch, dass ich im Grunde genommen gegen solche kleinen Schwindeleien nichts ernstlich einzuwenden habe, wohl aber gegen den wirklich großen Betrug, und dass ich, ganz offen gestanden, diesmal auch gerne gepfuscht hätte, um sicher zu gehen, wieder eine Eins oder Zwei zu erreichen, wonach es in diesem Augenblick gerade nicht aussah. Ich konnte mich nur kurz selbst täuschen, dann wusste ich es besser: Ich unterließ doch das Mogeln weder aus moralischen noch existentiellen Gründen, sondern einfach aus Feigheit, Laschheit und Schwachheit! Mir fehlt, sagte ich mir, dieses minimale Draufgängertum, das jeder normale Mensch besitzt, eine gewisse Unbekümmertheit, Unbeschwertheit, mir fehlt die Kraft, das zu tun, was ich im Grunde nicht für falsch halte und auch gern tun würde.
Nun wurde mir vollends klar, dass es tatsächlich vor allem Neid auf alle mir abgehenden guten wie weniger guten Eigenschaften Ulrichs war, Neid, der diese starke Antipathie, diesen Hass begründete. Ich war neidisch auf Ulrich – wegen seiner Lebenskraft, seiner Tüchtigkeit, seiner Lust zu leben. Ich hatte ihn gehasst, weil er mich, sobald er irgendwie aktiv war, an meine Schwachheit, meine Resignation erinnerte. Und jetzt, d.h. seit über einem Jahr, schätze ich ihn aus den gleichen Gründen … Wie seltsam nah aber beides beisammen wohnt!
Ulrich kam zurück. Er sah mich nicht an, ging sogleich wieder an seine Arbeit, die ihm nun flott von der Hand ging. Auch ich beugte mich erneut über den Text von Cicero und meine steckengebliebene Übertragung. Ich hörte ihn emsig immer weiterschreiben, ich konnte das Geräusch nicht aus meinem Bewusstsein ausblenden, es drang tiefer und tiefer in mich ein. Auf einmal ging es auch bei mir voran. Ich erfasste den Aufbau der langen Periode, verstand den Sinn und übersetzte mühelos. Und dieser Schwung trug mich bis zum Ende der Arbeit. Schlecht habe ich mich nachher trotzdem gefühlt.
Wir hatten alles im Blick, wenn auch nicht wirklich unter Kontrolle. Am Anfang der Oberstufe hatte ich mich neben Ulrich setzen dürfen, in die letzte Bank der Fensterreihe. Ulrich, unser Klassensprecher, war so smart, dass man ihn fast schon für hübsch halten konnte. Er sollte es später einmal bis zum Oberst bringen. Noch saß er ganz hinten am Fenster, wie auf einem Feldherrnhügel in der Ebene. Neben ihm am Gang sitzend beschlich mich das unklare Gefühl, ich sollte ihn weniger häufig anschauen. Er hatte schon seine eigenen Feststellungen getroffen, mich betreffend. „Du streichst dir so oft mit den Händen über die Haare, da hinten“, sagte er, „was soll das?“ Er ahmte meine Gebärde am eigenen Hinterkopf nach, besorgt lächelnd. Was fürchtete er für mich? Ich fühlte mich schuldbewusst, ohne zu wissen weswegen. Mein Haar war doch wie Putzwolle, widerborstige dunkle Locken, sein milchkaffeebrauner Schopf dagegen kürzer und glatt. Maniküre war ihm schon wichtig, darin war er mir voraus, überlegen. In den Stunden wagte ich ihn nur noch verstohlen von der Seite zu betrachten.
In der Bank vor uns saßen Sigurd und Franz. Sigurd Stähling anzuschauen, erfüllte mich anfangs mit Widerwillen, so hässlich war er. Äußerlich schien er ein mickriges Jüngelchen, unterentwickelt und doch wie vor der Zeit gealtert; schmalbrüstig, mit länglichem, unten spitz zulaufendem Gesicht und fliehendem Kinn, der Schädel auch hinten verformt. Sein magerer, rachitisch wirkender Körper wollte ihn zum gebückten Gang verleiten, doch er stemmte oder vielmehr klemmte sich dagegen, mit versteiftem Rücken und kleinen, sehr um Würde bemühten Schritten. Seine braunen Augen wirkten geistvoll, das Timbre der Baritonstimme war angenehm. In dem Stadtviertel, in dem Stählings wohnten, lebte damals eine Großtante von mir. Ich horchte Tante Klara aus und erfuhr, Sigurd war ein Zwillingskind und die Geburt so kompliziert verlaufen, dass sein Bruder dabei gestorben war und er selbst nur gerade am Leben geblieben. Er war wie ich selbst Einzelkind.
Der stämmige Franz spielte vor den anderen gern den Proleten, den Anti-Intellektuellen, den Quälgeist. Sigurds Martyrium fand in den Minuten statt, wenn alle schon saßen und auf den Lehrer und den Beginn der Stunde warteten. Franz rückte dem Nachbarn nahe, fuhr ihn mit Stentorstimme an: „Du Homo, du!“ Er gab ihm Knüffe in die Flanke. Sigurd versuchte, zur Seite auszuweichen. „Lass das, hör doch auf“, zischte er. - „Was hast du gesagt: höher rauf?“ Franz zwickte ihn in den Oberarm. – „Aua, nicht doch, lass …!“ – War es ein Spiel, ein Ritual, das mich da abstieß und zugleich faszinierte? Keiner hatte die beiden zusammengesetzt, sie hatten es selbst gewollt. Franz trug Kaufhausklamotten im Military-Stil. Er fing schon an, etwas üppig zu werden. Dieses schwellend Zuchtlose an ihm stach mir in die Augen und darüber erschrak ich, sah dann rasch zu dem schlanken, adretten Ulrich hinüber. Er und Franz palaverten oft scheinbar freundschaftlich in den Pausen, aber Ulrich duckte Franz immer wieder. Er ließ ihn körperlich nicht an sich heran, nannte ihn faul und einen Blödmann.
Königlicher amüsierte Ulrich sich nie, als wenn Franz auf Sigurd einhackte: „Du Homo, du!“ Der sonst so kühle, disziplinierte Ulrich lachte, brüllte, bog sich vor Vergnügen. Franz genoss den Applaus und führte das Stück beinahe täglich vor uns auf. Mir war Ulrichs Verwandlung dabei unheimlich. Ich sprach Sigurd darauf an: „Stopp doch diesen Quatsch, bei dem für keinen was Gutes rauskommt.“ – „Was soll ich denn machen, so ist er halt …“
Sigurd war jetzt mein Hauptgesprächspartner. Mit ihm oft und lange zu reden, brachte mich weiter. Er las schon Nietzsche und Schopenhauer und ärgerte den Deutschlehrer damit, dass er in seinen Aufsätzen den ironischen Stil Thomas Manns nachahmte, ohne Rücksicht auf das Thema, von dem er dabei weit ab- und daher selten über ein Ausreichend hinauskam. Seine Eltern waren Zeugen Jehovas, doch Sigurd war – in einer überwiegend evangelisch bis atheistischen Stadt – katholisch getauft und erzogen worden. Darüber beklagte er sich bei mir: „Die Rituale, mit denen sie dich prägen, die wirst du im Leben nicht mehr los.“ Das Verhältnis zu den Eltern war für uns beide problematisch. Als ich feststellte, es fehle daheim insofern die Basis, entgegnete er: „Wo keine Basis ist, da braucht man keine.“ Ich besuchte ihn einmal zu Hause, es war schmucklos, freudlos, beengt, niederdrückend.
Er war eine auffallende Erscheinung, mehr noch als in der Klasse auf den Korridoren, im Schulhof oder in der Stadt draußen. Kein zweiter Schüler war wie er gekleidet. Er trug als einziger Tag für Tag einen schwarzen Anzug mit weißem Einstecktuch, schwarze Halbschuhe und über weißem Oberhemd stets dieselbe dezent hellgrau gemusterte Krawatte. Immer dabei: die schwarze Miniaktentasche und ein dazu passender Regenschirm. Er vertraute mir einen Herzenswunsch an: eines Tages mit Melone zu erscheinen. Damals trug er auch konservative Gesinnung. Als ich mit ihm über einen Koalitionsbruch reden wollte, entschuldigte er sich: Von heutiger Politik verstehe er nichts. Zu den Büchern, von denen er sprach, gehörte Felix Rexhausens „Lavendelschwert“. Davon erzählte er nur recht allgemein, behaglich schmunzelnd, ohne zum Kern zu kommen: „Sehr amüsant. Eben eine deutsche Revolution.“ Den satirischen Roman über den Aufstand der Hundertfünfundsiebziger las ich selbst erst viel später.
Das Abitur stand bevor. Ich harmonierte geistig mit Sigurd, fühlte mich physisch von Franz angezogen und beschloss wider alle Vernunft, dass ich meinen Roman, wie bei Proust der Erzähler es bezogen auf Albertine sich vornimmt, eben mit Ulrich haben wollte. Daraus wurde indessen nur eine wenig ergiebige Kurzgeschichte.
Sigurd und ich, wir schrieben uns nach der Schule auf mein Betreiben an der Universität von *** ein. Bald erkannte ich, meine Berufs- und Studienwahl war falsch gewesen. Mein Vater zwang mich, wenigstens bis zum Ende des Semesters auszuharren. Bis dahin hatte ich noch Gelegenheit, Sigurds Verwandlungen aus der Nähe mit anzusehen. Er radikalisierte sich rasch und wechselte mit der Gesinnung auch seine Kostümierung. Aus dem Londoner Börsenmakler wurde ein deutscher Hippie, der sich in schlabberige rote oder grüne Wollsachen hüllte. Gern zitierte er jetzt den Apostel Paulus: den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche sein.
Mein Musterungstermin nahte und ich hoffte, für untauglich befunden zu werden. Von einem Mittel dazu hatte ich bei Thomas Mann gelesen: sich für homosexuell zu erklären. Ich wandte mich um Rat an Sigurd und gestand ihm als Erstem überhaupt, dass ich schwul sei. Er schien anfangs unangenehm berührt, runzelte die Stirn und antwortete in ungewohnt trockenem, unpersönlichem Ton, als wären wir Fremde füreinander. Er riet mir, diesen Notausgang nur im äußersten Fall zu nehmen. Abschließend sagte er noch, jeder Homosexuelle müsse sich über seine Rolle selbst klar werden. War das nun eine diskrete Offenbarung oder nicht?
Nach diesem Semester wohnten wir in verschiedenen Städten, besuchten uns gelegentlich und schrieben einander Briefe. In einem der ersten gab er erneut einen Lesetipp. Martyn Goffs „Der jüngste Herr im Vorstand“ werde zur Erhellung Deiner Lage Unschätzbares leisten, schrieb er. Er selbst lese gerade Osbornes „Ein Patriot für mich“. Daneben fand sich eine Liste toter Schriftsteller, deren Biographien er sich, ohne es zu begründen, sämtlich bald anschaffen wolle: Arthur Rimbaud, Paul Verlaine, André Gide, Oscar Wilde, Stefan George, Alexander von Humboldt, Marcel Proust, René de Chateaubriand, Hans-Christian Andersen … Es war leicht, die Schrift auf der unsichtbaren Banderole zu entziffern: Homosexualität in der Literatur. Nur bei Chateaubriand hatte er sich vertan, glaube ich. Mich ärgerte dieses literarische Maskenspiel. Ich wollte ihn provozieren, konstruierte in meiner Antwort den Gegensatz von intellektuell – das sei er – und sinnlich: wäre ich gern gewesen. Er verstand mich gut und zeigte in seiner Antwort, wie verletzt er war.
Bei der Musterung gelang mir tatsächlich, aufgrund von Homosexualität für untauglich erklärt zu werden. Ich wollte ein bisschen stolz auf mich sein, aber Sigurd meinte, so ein Coming-out sei doch ein Fehler. Das würde sich zeigen, falls man später einmal im öffentlichen Leben eine Rolle spielen wolle.
Einige Zeit später wechselte er das Studienfach, an die Stelle von Psychologie trat jetzt Soziologie. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund löste sich auf und Sigurd fand Anschluss an eine marxistische Splittergruppe. Sie war aus seiner Sicht ideal – einerseits radikal, andererseits auch etwas feingeistig und mit Geldmitteln unklarer Herkunft versehen. Sie schickten ihn zu Kursen ins westliche Ausland, er stieg bis in den Führungszirkel auf. Er schrieb auch für ihre Zeitung und erklärte mir, faktisch habe er aufgehört zu studieren, er sei jetzt Berufsrevolutionär.
Damals lebte ich schon in Berlin. Bei Sigurds erstem Besuch dort war seine Aufmachung nicht mehr extravagant, er trug jetzt schlichte Alltagssachen, als er mich spontan von der Arbeit abholte. Den Abend verbrachten wir anfangs auf einem Teach-in in der Technischen Universität, dann führte ich den stumm Widerstrebenden in die schwule Disco, in der ich damals verkehrte. Ich wurde enttäuscht, im Lokal zeigte er keinerlei Reaktion auf die Umgebung. Obwohl in dieser Welt selbst noch nicht wirklich angekommen, wollte ich doch in ihm den bornierten Provinzler sehen, der blind durch Berlin lief. Er hat weder Gespür für Atmosphäre, sagte ich mir, noch für das wirkliche Leben. Die Menschen auf den Straßen und Plätzen, er scheint sie kaum zu sehen, er atmet nur die dünne Luft von Bibliotheken, Seminaren, Buchläden und kleinen linken Zirkeln. Besonders enttäuschte er mich dadurch, dass er auch auf intellektuellem Gebiet nicht mehr so glänzte wie früher. Er schien mir theoretisch schwach und leicht angreifbar. Aber mich reizten oberflächliche Streitgespräche nicht mehr.
Vielleicht hatte ich mich getäuscht … Als er einige Abende später wieder kam, war er gerade auf einer Kudamm-Demonstration gewesen und hatte dabei, wie er mit halb unterdrückter Befriedigung berichtete, ein eindeutiges Angebot erhalten. Aber er war doch nicht mit dem Jungen auf dessen Zimmer gegangen - und ich verstand nicht einmal, wie überhaupt einer Sigurds Körper begehren konnte.
Später in diesem Jahr trafen wir uns, als wir wieder einmal in der Heimat zu Besuch waren. Wir gingen im Wald spazieren und erörterten literarische Pläne. Über meine äußerte sich Sigurd im Ganzen wohlwollend. Nur sagte er, er vermisse dabei das Anliegen. Dass einer ohne ein solches schreiben und dabei nur sein Lebensgefühl ausdrücken will, konnte er nicht akzeptieren. „Wir gehören halt zwei verschiedenen Epochen an“, sagte er, „du einer untergehenden, ich einer gerade beginnenden.“
Wir kamen an einem Ausflugslokal vorbei, auf das ich ihn hinwies: da sei ich mal mit Ulrich gewesen. – „Und, hörst du noch etwas von ihm?“ – „Nein, schon lange nicht mehr.“ Nach Franz fragte ich gar nicht erst.
Einige Monate darauf besuchte er mich ein zweites Mal in Berlin. Es war Freitagabend und nach einer Woche Büroarbeit zog es mich in die Bars. Da stand plötzlich Sigurd vor der Tür meines Apartments. Er sei schon eine Woche in der Stadt, habe meine Telefonnummer verloren und sei in Arbeit versackt. „Wir sind dabei, auch hier eine Gruppe aufzubauen, das ist schwer in so einem politisierten Milieu. Nach einem Seminar in der FU planen wir nun eine Großveranstaltung in der TU, im Audimax.“ Er nannte zwei, drei Namen von Männern, die Vorträge halten sollten. Er hielt sie für sehr bedeutend, wenn sie der Öffentlichkeit auch kaum bekannt waren.
Er wollte nur kurz mit mir sprechen und den Nachtzug nach Frankfurt nehmen. Ich überredete ihn ohne viel Mühe, erst am nächsten Morgen zu fahren und die Nacht in meiner Gesellschaft zu verbringen. Dann führte ich ihn wieder in meine Lieblingslokale. Er fiel kaum noch auf, so unscheinbar wie er sich nun kleidete. Oder fiel er gerade dadurch auf? Noch nie habe er derart überfüllte Kneipen gesehen, sagte er; es klang neutral. Da kam Rupert Danziger in die Bar und mir gerade recht: Er war Schauspieler, Regisseur, intellektuell, die beiden würden sich gut unterhalten können. Ich stellte sie einander vor, aber Rupert, mein neuer Mentor, glänzte diesmal nicht. Er habe drei Tage und Nächte tanzend durchgemacht und fühle sich dem Zusammenbruch nahe. „Ich bin schon so müde, dass ich nicht einmal mehr schlafen kann …“ Sigurd versuchte dazu ein Lächeln, schwieg. Rupert zog weiter.
Jetzt ging ein schlanker junger Mann mit Römerkopf vorbei, der mich beinahe feindselig anstarrte. Sigurds Miene schien fragend. Ich sagte, das sei mein Dämon. „Er ist Koch, er fasziniert mich. Ich habe ein paar Mal mit ihm zu reden versucht, es war nicht an ihn heranzukommen. Und doch sind wir seitdem aufeinander fixiert, irgendwie … Was soll ich tun? Bist du nicht mal Psychologe gewesen?“ – „Ja, gewesen, das ist nicht mehr mein Fach. Und ich kann dir dazu nichts sagen.“
Wir versanken in anhaltendes Schweigen. Ich begann mir vorzuwerfen, ihn über Nacht dabehalten zu haben. War ich denn so viel besser als Franz damals mit seinem „Du Homo, du“? Welcher Dämon trieb mich zum zweiten Mal, ihn in eine Szene einzuführen, die er selbst bewusst mied? Aber er hatte mich wegen meiner Lebensführung in seinen Briefen kritisiert, hatte von gepflegter Abartigkeit geschrieben. Ich erinnerte mich und mein Groll war wieder da.
Wir kamen gegen drei Uhr morgens bei mir an. Es waren noch vier Stunden herumzubringen. Mein Apartment war so klein, dass nicht zwei gleichzeitig sich niederlegen konnten. Also blieben wir auf und stritten uns. Er begann mit Eindrücken von einem Kursus in Frankreich im Sommer davor. Da war eine deutsche Genossin gewesen, ihr Vater sei Chefredakteur in Frankfurt. „Die Auflage geht in die Millionen und er residiert in einem Hochhaus.“ – „So schön kann Sozialismus sein …“ – „Nur auf die Effektivität kommt es an.“ – „Genau, und die Frage solltest du dir auch mal vorlegen.“ – „Ich weiß, dich hat noch nie etwas überzeugt von dem, was ich tue.“ – „In der Tat. Von proletarischer Revolution dauernd reden, aber keine Ahnung von Proletariern haben …“ – „Woher beziehst du eigentlich deine kleinbürgerlichen Vorstellungen, auch Studenten schaffen Mehrwert, den sie verkaufen müssen, sind also Proletarier.“ – „Alle Studenten sind Proletarier?! Lachhaft. Ich habe jeden Tag im Büro mit echten Arbeitern und kleinen Angestellten zu tun, am Telefon oder persönlich. Ich weiß, was sie verdienen, wie sie arbeiten, weshalb sie gekündigt werden. Du aber treibst Theorie ohne Basis und obendrauf packst du dann noch Praxis. Das kann nur scheitern.“
Er sagte, wir sollten nicht weiter auf diese Art diskutieren. Wir litten an gebrochener Kommunikation, könnten uns einander nicht mehr mitteilen. Er monologisierte zwanzig Minuten und legte mir dar, was ihn antreibe und worin unsere Differenzen begründet lägen.
„Wenn Leute wie ich Rechenschaft über ihr Tun ablegen sollen“, begann er, „und das nicht mit Hinweis auf äußere Erfordernisse dieses oder jenes Sachverhaltes tun können, bekommt man meist unzureichende Antworten. Ich für meinen Teil habe die Erfahrung gemacht, daß sich dabei ein Selbstbewußtsein manifestiert, das sich im wesentlichen bestimmen läßt als die Erkenntnis der konstituierenden Bedeutung des Gesamtprozesses für die Rolle des Subjekts, es ist das historische Bewusstsein …“ (er betonte es, machte eine kleine Pause und fuhr fort:) „Die vulgäre Existenzbestimmung als einer unmittelbaren gibt niemals Raum für die Erkenntnis ihrer eigenen Bedingungen. Sie geht aus vom einfachen Sich-selbst-gegeben-Sein und verharrt auf der Stufe dieser Unmittelbarkeit; dies ist das ahistorische Bewusstsein“, (er nickte bedeutsam und wiederholte sich:), „das ahistorische Bewusstsein also, das, indem es seine Existenzbedingungen wesentlich als Produkte seines Wollens sieht, die Bedeutung seiner eigenen Existenz nur aus sich selber zu geben vermag. Damit muß ihm seine eigene Wesenheit fremd bleiben, denn diese ist vom Ganzen her bestimmt. Die vulgäre Bestimmung der Existenz gibt sich allzu bescheiden, sie hat nicht den Anspruch, integrierender und damit konstituierender Bestandteil des Ganzen zu sein. Indem sie ihre Bestimmung an sich selber zu verwirklichen sucht, bringt sie es fertig, von der Tatsache zu abstrahieren, daß sich die eigene Lebensbewegung nur inmitten der Gesamtbewegung vollzieht und setzt sich damit absolut. So erweist sie sich als eitle Sackgasse …“
Das ging noch eine Weile so fort, dann brachte ich ihn zum Bahnhof Zoo.
Hatte ich seine Suada mitstenografiert? Natürlich nicht. Er bekam zwei Wochen später einen ruppigen Brief von mir und antwortete postwendend, indem er mir noch einmal ausführlich darlegte, wie er mit dem Weltgeist sei und ich eben Bewohner einer - eitlen Sackgasse. Ich erkannte fast alles wörtlich wieder. Er hatte es wie auswendig gelernt herunterspulen können, so dass ich die Briefstelle heute als Redezitat verwenden kann.
Viel mehr als dieser Hauptteil trafen mich Anfang und Ende seines Schreibens. Es begann so: „Ich habe mich in unseren Beziehungen niemals über einen Mangel an Zynismus beklagen können; das hatte seine Gründe und ich habe das akzeptiert …“ und schloss damit: „Daß Du verschiedene Wunden mit Ätze ausgewaschen hast - im Sinne der Hygiene wird dies niemand verurteilen können! Hygiene aber findet ihren Sinn erst in der Therapie.“
Da ich ihm nicht helfen konnte, beließ ich ihm das Schlusswort. Er verschwand für mich im Dunkel der Zeitgeschichte.
Publication Date: 07-01-2015
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