Was für ein Tag! Erschöpft ließ sich Laura kurz nach 17.00 Uhr in den Sitz ihres 911er Cabrios fallen. Seit sieben Uhr morgens war sie im Büro. Ohne Verschnaufpause hatte sie versucht, zu retten, was noch zu retten war. Auch wenn sie wieder einmal spät dran war, gönnte sie sich ein paar Sekunden der Ruhe und lehnte sich genüsslich in den Sportsitz, der sich passgenau an ihren Körper schmiegte. Andächtig streichelte sie über das dunkelblaue Lederlenkrad und empfand, wie immer wenn sie in ihrem wahrgewordenen Kindheitstraum Platz nahm, eine wohltuende Zufriedenheit. Als sie den Motor startete, summte sie unbewusst das tiefe Brummen des Motors nach. Doch dann gab sie sich einen Ruck – sie war spät dran. Beherzt drückte sie das Gaspedal durch und überwand mit einem Satz die 50 Meter von ihrem Firmenparkplatz zum verschlossenen Eisentor, um gleich wieder eine Vollbremsung hinzulegen. Das war so typisch für sie: immer mit Vollgas bei der Sache.
Bedächtig und mit einem leisen Quietschen öffnete sich das Tor und erinnerte sie bildhaft daran, dass ihr Elan in manch einer Situation ausgebremst wurde. Die traurige Trägheit des Tors rief plötzlich wieder diese Wehmut hervor, die mittlerweile ihr ständiger Wegbegleiter geworden war. Und wie so oft in den letzten Monaten drängte sich ihr die Frage auf, was in ihrem Leben falsch gelaufen war ...
In den besten Jahren einer Frau, erfolgreich im Beruf, gut aussehend und jedermanns Liebling, hatte Laura augenscheinlich alles, was man sich vom Leben nur so wünschen konnte. Und darum beneideten sie auch viele, vor allem Frauen, in ihrem Umfeld. Sie war unabhängig und stark, sie galt als schnell und konsequent in ihren Entscheidungen. Und sie gab alles, wirklich alles, wenn sie der Meinung war, dass es sich lohnte, darum zu kämpfen. Aber genau darin lag ihr Problem. Diese Stärke wurde ihr immer wieder zum Verhängnis wenn es darum ging, den größten ihrer Träume zu verwirklichen: einen Mann fürs Leben zu finden. Bislang hatte sich die Erfüllung dieser Sehnsucht stets als leere Seifenblase entpuppt. Als ihre letzte Beziehung, in die sie natürlich mal wieder all ihre Begeisterungsfähigkeit hinein gesteckt hatte, vor einigen Monaten so schmerzhaft zu Bruch gegangen war, hatte Laura sich eines geschworen: Finger weg von den Männern!
„Nein, heute werde ich nicht schon wieder in diese elende Grübelei verfallen“, murmelte sie entnervt vor sich hin. Diese wiederkehrenden Gedanken quälten sie ohnehin viel zu viel. „Konzentriere dich lieber auf deinen Termin“, ermahnte sie sich nun und blickte auf die Uhr. „Gib Gas – du kommst sonst nie und niemals pünktlich an!“
Schwer wie ein Stein lag ihr die bevorstehende Präsentation im Magen. Wie hatte sie sich nur auf ein solches Abenteuer einlassen können?! Nervös raufte sie sich die Haare. Auch wenn das Projekt, das ihr Chef ins Leben gerufen hatte, keine schlechte Idee war, grauste Laura vor ihrer Rolle in dieser Sache. Der heutige Abend würde in einer Katastrophe enden. Sie hatte eine böse Vorahnung, die sie einfach nicht mehr los ließ.
In einem kleinen Kreise erfolgreicher Unternehmer würde ihr Chef, Dr. Steinborn, heute Abend das neueste Imageprojekt des Unternehmens präsentieren: die Gründung einer privaten Stiftung zur Förderung begabter junger Menschen. Mal abgesehen davon, dass er damit auch sein persönliches Image deutlich aufpolieren wollte, war Laura davon überzeugt, dass dieses Engagement Zukunft hatte. Deshalb unterstützte sie ihren Vorgesetzten auch tatkräftig dabei, es ins Laufen zu bringen. Mein Chef, ein Held der Neuzeit, grinste sie nun still vor sich hin, während ihr Bilder der sicherlich positiven Schlagzeilen durch den Kopf schossen, die morgen in der Presse erscheinen würden. Doch beim bloßen Gedanken an die Aufgabe, die Dr. Steinborn ihr für den heutigen Abend zugewiesen hatte, verging ihre Zuversicht sehr schnell.
„Laura, es geht um verdammt viel Geld. Wir müssen es schaffen, diese Leute für unsere Idee zu gewinnen!“ Mit dieser Ankündigung war ihr Chef erst vor zehn Tagen in ihr Büro gestürmt, um ihr klar zu machen, was er von ihr erwartete: „Stellen Sie kurz und knapp die steuerrechtlichen Vorteile eines Engagements in unserer Stiftung zusammen. Das wird im Übrigen auch Ihr Part bei der Präsentation in Friedrichshafen sein.“
Steuerrechtliche Vorteile?!? Was bitte hatte sie als Kommunikationschefin damit zu tun?!? Diese Frage war ihr unmittelbar durch den Kopf geschossen. Doch ihr war auch klar gewesen, dass ihr Chef keine Widerrede dulden würde. Laura war nun Mal seine Allzweckwaffe für all die Projekte, die mit dem eigentlichen Geschäft der Firma nichts zu tun hatten, die ihm aber aus Imagegründen ganz besonders am Herzen lagen. Und so erwartete er auch diesmal von ihr, dass sie diese neue Herausforderung hoch professionell bewältigte. Bis jetzt war ihr ja auch so Manches gelungen, was zunächst unmöglich erschien. An diesem besagten Tag war Laura allerdings fast an ihre persönliche Schallmauer gestoßen: Am liebsten hätte sie ihrem Chef – wie schon ein paarmal zuvor – alles vor die Füße geschmissen. Bei allem Engagement und aller Loyalität, hatte sie verzweifelt gedacht, es gibt auch Grenzen! Was habe ich mit den steuerrechtlichen Vorteilen einer Stiftung am Hut?!?
Dennoch hatte Laura ihren Ärgern heruntergeschluckt und im Dienste der Sache die Steuerberater des Unternehmens Tage lang nahezu zur Weißglut getrieben, um ein vernünftiges Konzept zu Papier zu bringen. Bis zur letzten Minute hatte sie schließlich daran gearbeitet, alle Informationen verständlich und übersichtlich zusammenzufassen. Die Quadratur des deutschen Steuerrechtskreises, das Unmögliche möglich machen – so wie man es immer von ihr erwartete. Doch ob ihr das auch diesmal gelungen war, würde sich noch zeigen.
Grafisch bis ins letzte Detail durchgestylt – immerhin das konnte sie, bis zur Perfektion – lag das unsägliche Papier nun in ihrer Aktentasche. In einem Karton hatte sie ehrfürchtig die Hochglanzkopien für die Teilnehmer der heutigen Abendveranstaltung verpackt. „Schön sieht meine Konzeptmappe ja aus, aber den wahren Durchblick habe ich immer noch nicht“, murmelte Laura vor sich hin und spürte schon beim bloßen Gedanken an die bevorstehende Präsentation den ersten Schweißausbruch. „Wie soll ich nur etwas erklären, das ich selbst nicht kapiere?! Egal, wird schon irgendwie schiefgehen. Die Blamage kommt noch früh genug.“
180 Kilometer lagen vor ihr und nur noch knappe drei Stunden, um diese anstrengende Strecke von München an den Bodensee zu überwinden. Die Frage war nicht, ob sie flüssig durchkam, sondern vielmehr, ob sie nur ein Stau oder gleich mehrere erwarteten. Diese verfluchte A96, stöhnte sich innerlich, und das auch noch mitten im Feierabendverkehr!
Bloß nicht zu spät ankommen, hieß die Devise, denn wenn sie nach ihrem Chef eintraf, war das Chaos vorprogrammiert. Seine drohende Tirade an Fragen wummerte schon jetzt in ihren Ohren. „Laura, wo ist der Präsentationssaal? Ist die Leinwand auch groß genug? Haben Sie für Getränke gesorgt? Wer hat sich alles angemeldet? Warum kommt Herr Soundso nicht? Klappt das mit dem Abendessen danach auch? ...“
Wenn es nach Dr. Steinborn ging, durfte nichts, rein gar nichts, dem Zufall überlassen werden. Und schon gleich gar nicht die steuerrechtlichen Möglichkeiten der Absetzbarkeit von Fördergeldern für eine private Stiftung.
„Oh mein Gott!“, rief Laura verzweifelt und drückte erneut das Gaspedal bis an den Anschlag.
Mit Vollgas rauschte sie, soweit es der dichte Verkehr zuließ, über die Autobahn. Das Handy blieb erst einmal aus, beschloss sie. Es droht ja jederzeit noch ein Anruf von Dr. Steinborn, und der würde sie, gerade jetzt, endgültig aus dem Konzept bringen. Das konnte sich Laura momentan schlichtweg nicht leisten. Schneller als die Vernunft und ihr Nervenkostüm es erlaubten, flog sie an den unendlichen Lkw-Kolonnen vorbei, in der Hoffnung, dass alles gut ging. Auch wenn sie dem Verkehr ihre ganze Konzentration schenkte, gelang es ihr dennoch nicht, abzuschalten.
Um sich aufzumuntern, beschwor sie ihre oft bewährte Ablenkungstaktik hervor. Warum sollten ihr nicht auch diesmal die simplen Waffen einer Frau zur Seite stehen? Ganz bewusst hatte Laura sich heute Morgen für das Kleid mit dem auffälligen roten Muster entschieden. Ein seidiger Hauch, der an ihrem schlanken Körper entlangfloss und knapp oberhalb des Knies ihre wohl geformten Beine besonders vorteilhaft zur Geltung brachte. High Heels, farblich zum Kleid passend, und natürlich der entsprechende Schmuck rundeten ihr Outfit ab. Eine gelungene Mischung aus Eleganz und Provokation – das war Lauras Markenzeichen. Männer ließen sich damit schon ab und zu von den Inhalten ablenken. Und auf diese Karte setzte sie heute ganz besonders. Mitten im dritten Stau zupfte sie nervös an der roten Schleife, die ihr verführerisches Dekolletee schmückte, und dachte: „Hoffentlich geht meine Rechnung heute auf.“
Insgeheim wusste sie allerdings nur zu gut, dass diese Wahrscheinlichkeit eher gering war. In einer reinen Männerrunde zu reden, bedeutete für eine Frau stets eine besonders hohe und vor allem kritische Aufmerksamkeit. Das war ihr sehr bewusst. „Egal“, murmelte sie wieder vor sich hin, „irgendwann musste ja die Stunde der Wahrheit kommen. Heute wird der erste Tag meiner Karriere bei Spinoff sein, an der mein Chef feststellt, dass ich nicht alles beherrsche. Und das ist vielleicht auch ganz gut so.“
Die Uhr im Cockpit ihres Sportwagens leuchtete sie rot und aggressiv an und verriet ihr mitleidlos, dass Laura nur noch eine knappe halbe Stunde bis zum Beginn der Veranstaltung blieb. Immerhin war sie schon am Ortseingang von Friedrichshafen angekommen, aber die Gewissheit, dass ihr Chef schon längst vor Ort sein musste, trieb ihr erneut die Schweißperlen auf die Stirn. „Hallo?! Haben diese verschlafenen Häfler denn noch nichts von der grünen Welle gehört?!“ An der dritten roten Ampel zerrte sie verzweifelt ihre Puderdose aus der Handtasche und versuchte, ihr am Morgen so sorgfältig aufgetragenes und mittlerweile etwas derangiertes Make-up wieder einigermaßen auf Vordermann zu bringen.
Ein kurzer Blick nach links und Laura erstarrte einen flüchtigen Moment im hektischen Tupfen rund um ihre Nase. Neben ihr stand ein schwarzer 7er BMW. Der Fahrer – auf den ersten Blick so ganz Lauras Kaliber – schien sie schon länger zu beobachten. Frech und unverkennbar selbstbewusst grinste er zu ihr herüber. Seine leuchtend blauen Augen schienen Laura regelrecht zu verschlingen.
Schlagfertig wie sie war, grinste sie zurück. Deine Gedanken kenne ich schon, Mr. Charming, schoss es ihr dabei durch den Kopf, flotte Biene, darf Papas Auto mal wieder ausfahren. Ja, ja … Lässig und betont langsam richtete Laura ihren Blick wieder nach vorne. Nun etwas bedächtiger und souveräner puderte sie sich weiter ihre Nase. Solche Typen, die meinten unwiderstehlich zu sein und zudem ihr dickes Auto als Verlängerung ihrer Männlichkeit verstanden, waren Laura von jeher ein Dorn im Auge.
Als die Ampel auf Grün schaltete, entschied sie abzuwarten, bis ihr unverschämt gut aussehender Nebenmann in die sich verjüngende Straße durchstartete. Sie hatte jetzt keinen Nerv, sich auf ein Kräftemessen einzulassen. Doch als nichts passierte, blickte sie völlig perplex nach links. Mit einem entwaffnenden Lächeln überließ der Mann ihr offensichtlich die Vorfahrt. Ohne sich ihre Überraschung über diese charmante Geste anmerken zu lassen, schenkte Laura ihm ein knappes Nicken und trat aufs Gaspedal. Sie war dankbar, denn die Zeit rann ihr zwischen den Fingern davon. Nur noch zwanzig Minuten, stellte sie mit einem verzweifelten Blick auf die Uhr fest, und wo dieses elende Schloss ist, weiß ich auch nicht mehr so ganz genau. Das kleine Intermezzo an der Ampel war schon wieder vergessen. Hektisch suchte sie die Gegend ab. Irgendwo am See. Ich glaube, ich biege hier mal links ab. Wenige Sekunden später irrte sie durch ein Wohngebiet mit Zone 30. Knapp unter der kritischen Gefahrengrenze von 50 km/h schlängelte sie sich durch die scheinbar endlos lange Nebenstraße. Von weitem sichtbar war der Kirchturm, der den Standort des Schlosses markierte. Als sich schließlich die mächtige Schlossmauer vor ihr auftat, suchten ihre Augen nervös nach der Einfahrt. „Verdammt, das kann doch alles nicht wahr sein!“, stöhnte sie.
Minuten später erreichte Laura schließlich die Schlossmauer. Vor einem verschlossenen Tor stand mit dem Rücken zur Straße ein dunkelhaariger, sehr großer und gut gebauter Mann. Offensichtlich sprach er in das Mikrofon einer Klingelanlage. Mit quietschenden Reifen blieb sie auf seiner Höhe stehen. „Hallo, hallo ... Entschuldigung ...“, Laura lehnte sich aus dem Wagenfenster und versuchte, die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu lenken. „Wissen Sie vielleicht, wo hier der Haupteingang zum Schloss ist?“
Mit einer unnachahmlichen Eleganz und Würde drehte sich dieser zu Laura um und schenkte ihr das charmanteste Lächeln, das sie jemals … nein, Moment mal ... das Lächeln kennst du doch, stellte sie erschrocken fest. Das war doch ihr Ampelnachbar von vorhin. Der hat mir ja gerade noch zu meinem Glück gefehlt! Laura sank in ihrem Fahrersitz förmlich zusammen. Bloß keine Aufregungen mehr – bitte, bitte, nicht jetzt!
Völlig unbeeindruckt von Lauras sichtlichem Rückzug näherte sich der Mann ihrem Auto und verkündete mit einer tiefen, sonoren Stimme: „Wenn Sie wollen, nehme ich Sie mit. Ich habe soeben nachgefragt“, mit der Hand wies er auf die Sprechanlage, „welche der Schlosszufahrten heute geöffnet ist. Parken Sie doch einfach da vorne und wir gehen gemeinsam das letzte Stück zu Fuß.“
Das zum Leben erweckte Bild eines Märchenprinzen der Neuzeit lächelte Laura gewinnend an. Als sie, stärker als gewollt, aufs Gaspedal drückte und ihr Wagen in Richtung Parklücke schoss, sprang er überrascht zur Seite. „Hoppla, eine Frau mit Temperament“, hörte ihn Laura noch rufen.
Zum Glück gelang ihr das Einparken auf Anhieb. Noch eine Blamage brauche ich vor diesem Typen jetzt wirklich nicht, dachte sie erleichtert. Motor aus, Verdeck zu, mit einer Hand sammelte sie alle Habseligkeiten ein, die sie im Laufe der Fahrt auf dem Fahrersitz verstreut hatte, und verfrachtete sie zurück in ihre Handtasche. Dann griff sie zur Wagentür und stellte erstaunt fest, dass Mr. Charming sie bereits aufhielt. Ganz der Kavalier bot er Laura seine rechte Hand an, um ihr aus dem Wagen zu helfen: „Sie erlauben?“
„Danke.“ Laura war sichtlich bemüht, ihre plötzliche Befangenheit zu überspielen. „Man ist es gar nicht mehr gewohnt, so hofiert zu werden.“ Als sie die Hand des Mannes ergriff, um ihr aus dem Wagen zu helfen, fühlte sie ein elektrisierendes Kribbeln in ihrer Hand. Fahrig riss sie sich los und dreht sich nochmals zum Wagen, um die Kiste mit den Präsentationsmappen hinter ihrem Rücksitz hervorzuholen. Unablässig lief ihr Gehirn auf Hochtouren. Bloß jetzt nicht aus dem Konzept bringen lassen, Laura, denk an deine steuerrechtlichen Vorteile. Das ist jetzt entscheidend, und nicht irgendein zufälliger Flirt, der sowieso keinen Sinn macht! Gedanklich gab sie sich einen Stoß und spannte ihren ganzen Körper an.
Ganz die Business Lady, drehte sie sich nun um, wollte schon durchstarten und prallte dabei ungeschickt auf den Mann, der, wie sie feststellte, sie mindestens 20 Zentimeter überragte. Als sie den Blick nach oben richtete, hielt sie kurz inne, um sein Gesicht zu betrachten. Die markanten Züge und vor allem diese stahlblauen Augen, die von langen, dichten Wimpern umrahmt waren, kamen Laura irgendwie bekannt vor – und zwar nicht nur von dem kurzen Intermezzo vorhin an der Ampel. Doch beim besten Willen wollte ihr nicht einfallen, woher.
„Darf ich Ihnen die Kiste abnehmen?“ erklärte der Mann sich bereit.
„Oh, ja ... nein … doch … gerne.“ Unbeholfen hielt sie die Kiste erst zurück, um sie ihm prompt doch in die Hand zur drücken.
„Hoppla, was ich sage“, reagierte der Mann mit einem wohltuenden Lachen, „eine Frau mit Temperament!“
Laura, die vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre, richtete ihren hochroten Kopf zu Boden und murmelte ein unbeholfenes: „Danke.“ Jetzt geh schon, dachte sie, ich hab’s eilig!
Wie auf Befehl, drehte sich der Mann um und nahm zielsicher Kurs auf ein großes Eisentor. Immer wieder vergewisserte er sich, dass Laura ihm folgte. In dem Versuch, das Kribbeln, das sie verstärkt am ganzen Körper verspürte, auszublenden, fragte sie, so beiläufig wie nur möglich: „Haben Sie auch einen Termin im Schloss?“
„Ja, ein Unternehmergespräch“, erwiderte der Mann. Mit einem Schulterzucken, das irgendwie entschuldigend wirkte, ergänzte er dann: „Eine Firma aus München hat eine Stiftung zur Förderung begabter junger Menschen ins Leben gerufen und sucht nun mit der Unterstützung vom Herzog von Württemberg weitere Geldgeber.“ Nun blieb er stehen und reichte Laura die Hand. „Darf ich mich vorstellen: Frederik Wittenberg.“
Ach du lieber Gott! Laura und fühlte sich nun endgültig einem Nervenzusammenbruch nahe. Das also ist Frederik Wittenberg, bekannt aus Presse, Funk und Fernsehen ... Vorstandsvorsitzender der Wittenberg AG ... und laut Bunte einer der attraktivsten Männer des Landes. Na, herzlichen Glückwunsch, Laura! Auf Anhieb fielen ihr zehn Frauen ein, die sicher liebend gerne jetzt hier an ihrer Stelle stehen würden. Doch für sie stieg der Stressfaktor schlagartig um ein Vielfaches an. Jetzt ist dieser Tag schon so verkorkst und dann auch das noch! Perplex schaute Laura zu ihm auf. Der hatte doch für heute abgesagt, ging sie in Gedanken die Teilnehmerliste des heutigen Abends durch. Sekunden vergingen, bis sie endlich merkte, dass er ihr immer noch die Hand hinhielt.
„Laura ... Entschuldigung Herr Wittenberg ... Laura de Oliveira“, mit einem letzten Hauch an Souveränität reichte sie ihm die Hand, wobei sie beim Versuch eines Lächelns kläglich scheiterte. „Ich bin sozusagen die Geldeintreiberin des heutigen Abends.“ Gott, stöhnte sie innerlich, wie peinlich ist das denn?!?
Frederik Wittenberg ergriff ihre Hand, hielt sie etwas länger als notwendig fest. „Laura de Oliveira ...“, die Stimme einige Nuancen tiefer, betonte er ihren Namen auf eine fast sexy Art. „ ... ein schöner Name für eine schöne Frau ... es freut mich außerordentlich, Sie kennen zu lernen!“
„Laura, da sind Sie ja endlich!“ Dr. Steinborn stürzte am Haupteingang des Schlosses auf Laura zu. „Unsere Veranstaltung findet nicht im großen Saal statt. Der Herzog will eine lockere Runde in seinem Raucherzimmer veranstalten. Wir sitzen da einfach im Kreis, ohne Tische! Die Teilnehmer können sich doch bei so einer Sitzordnung gar nichts aufschreiben!“ Es war offensichtlich, dass er schon ungeduldig auf sie gewartet hatte und nun auf eine schnelle Lösung dieser unvorhersehbaren Änderung hoffte. Wie so oft setzte er auf ihr Organisationstalent und erwartete schnellste Reaktionsfähigkeit.
Frederik Wittenberg hielt sich indessen dezent im Hintergrund und beobachtete, wie Laura nahezu auf Knopfdruck absolute Souveränität wiedererlangte: „Herr Dr. Steinborn, das ist doch perfekt! Wir wollen Begeisterung für eine gute Sache wecken, die viel mit Emotionen zu tun hat. Da ist eine so private Räumlichkeit viel besser geeignet als jeder Konferenzsaal. Und aufschreiben müssen sich die Herren ohnehin nichts, es steht alles in den Unterlagen drin, die ich mitgebracht habe.“ Sie deutete mit ihrer Hand auf die Kiste, die Frederik Wittenberg in der Hand hielt.
Doch bevor sie die Herren überhaupt bekanntmachen konnte, folgte die nächste Tirade ihres Chefs: „Meinen Sie wirklich?“, kurz schien Dr. Steinborn zu reflektieren. „Ja, doch, ich glaube Sie haben Recht.“ Etwas beruhigter drehte er sich um, ohne auch nur eine Sekunde Frederik Wittenberg Beachtung zu schenken, und stürmte wieder zurück ins Schloss. Über die Schulter rief er Laura noch zu: „Beeilen Sie sich!“
„War das Ihr Chef?“, fragte dieser interessiert.
„Ja“, entschuldigend blickte Laura Frederik Wittenberg an, „ich bitte vielmals um Entschuldigung, dass ich Sie nicht vorgestellt habe. Aber Dr. Steinborn ist heute etwas angespannt, weil ihm diese Veranstaltung sehr am Herzen liegt. Ich hole es später nach, versprochen!“
„Machen Sie sich meinetwegen keinen Kopf “, lächelte er sie verständnisvoll an und nahm Kurs auf ein kleines Tor seitlich des Hauptweges zum Schloss. „Kommen Sie“, mit seiner freien Hand hielt er Laura die Eisentür auf, „ich kenne den kürzesten Weg zum Raucherzimmer des Herzogs. Ich war schon öfter mal hier zu Gast.“ Dann ging er voraus und ergänzte in freundlichem Konversationston: „Versprechen Sie sich nicht allzu viel vom Sitzkomfort in dem alten Saal. Die Stühle dort sind zwar historisch wertvoll, aber ein Alptraum für den Rücken.“
„Das macht nichts, die Idee mit dem Raucherzimmer ist wirklich viel reizvoller, als in einem nüchternen Konferenzsaal zu sitzen und die Gäste mit unzähligen Charts von einer Idee zu überzeugen, die eigentlich für sich spricht. Ich finde die Entscheidung des Herzogs sehr gut“, antwortete Laura und merkte überrascht, dass Frederik Wittenberg nicht nur eine Augenweide war, sondern auch wie Balsam auf ihre Seele wirkte. In diesem Moment hatte er nichts von diesem Schwerenöter-Typen, den sie vorhin bei ihrem Intermezzo bei der Ampel in ihm gesehen hatte.
Wenige Minuten später betraten beide das Raucherzimmer. Der Raum, in den sich die männlichen Gäste der herzoglichen Familie schon seit Generationen nach dem Essen zurückzogen, um ganz unter sich über die großen Themen ihrer Zeit zu diskutieren, zog Laura sofort in seinen Bann. Man roch sie förmlich, die Geschichte. An den Wänden hingen wertvolle Bilder bekannter Meister, Laura meinte sogar einen Goya zu erkennen. In den Ecken des Saals standen livrierte Diener mit weißen Handschuhen und kredenzten Erfrischungsgetränke. In der Mitte befand sich ein kleiner runder Tisch, im großen Kreis rund herum die von Frederik Wittenberg schon angekündigten Stühle, deren historischer Wert genauso offensichtlich war wie die fehlende Bequemlichkeit. Ein Sammelsurium in Brokat, Samt und Seide – kunterbunt und jeder für sich offensichtlich ein wertvolles Einzelstück. Laura lächelte in sich hinein. Dieser Frederik Wittenberg schien hier tatsächlich ein und aus zu gehen, denn sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Herzog diesen Raum ständig der Öffentlichkeit preisgab.
„Königliche Hoheit“, mit einer angedeuteten Verbeugung begrüßte Frederik Wittenberg den Herzog, der soeben den Saal betrat. Dann wandte er sich Laura zu: „Darf ich vorstellen: Das ist Laura de Oliveira, Mitarbeiterin von Dr. Steinborn.“
Der Herzog ergriff Lauras Hand und deutete einen formvollendeten Handkuss an: „Es ist mir eine Ehre, sie kennen zu lernen, Frau de Oliveira. Willkommen im Sommerschloss meiner Familie.“
„Die Ehre ist ganz meinerseits, Königliche Hoheit. Ich danke Ihnen im Namen meiner Firma, dass Sie uns Ihr Raucherzimmer geöffnet haben, um unser Anliegen vortragen zu können. Eine tolle Idee! Und als Frau fühle ich mich dabei ganz außergewöhnlich bevorzugt.“ Laura schenkte dem Herzog ihr gewinnendstes Lächeln. „Ich gehe davon aus, dass dieser Raum im Laufe der Jahrhunderte nur selten eine Frau gesehen hat?“
„Da haben Sie nicht ganz Unrecht“, lächelte der Herzog charmant, ja fast verschmitzt, „Rauchen war früher, wie so vieles, reine Männersache.“
„Nun, Königliche Hoheit, ich werde mich bemühen, diese männliche Hochburg heute nicht ganz zum Einsturz zu bringen.“
Amüsiert über diesen perfekten Smalltalk zwischen Laura und dem Herzog griff Frederik Wittenberg unter Lauras rechten Arm: „Kommen Sie, lassen Sie uns einen Platz reservieren. Sie müssen sich bestimmt noch etwas vorbereiten.“
„Oh ja“, lächelte Laura dankbar. Für sich dachte sie zunehmend nervös: Da war doch noch etwas. Aber wenn ich neben diesem Prachtexemplar an Mann sitze, bringe ich kein Wort zu diesen dusseligen steuerrechtlichen Vorteilenüber die Lippen. Dieser Wittenberg weiß doch viel besser als ich, wie er sein Vermögen am geschicktesten anlegt, ohne dem Finanzamt die Hälfte in den Rachen zu stopfen ...
Kurz nach 19.00 Uhr waren schließlich alle geladenen Unternehmer eingetroffen. Dr. Steinborn, schlank und drahtig, verbreitete mit seinen fahrigen Bewegungen die Laura wohl bekannte Unruhe. In den letzten Minuten war er immer wieder auf sie zugekommen, um selbst winzige Details abzuklären. Nach außen gelassen hatte sie auf jede einzelne ‚Fünf-vor-Zwölf-Frage’ ihres Chefs geantwortet. Doch innerlich sah es ganz anders in ihr aus. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so nervös und unsicher vor einer Präsentation gewesen war. Lieber Gott, lass mich diesen Abend ohne größere Peinlichkeiten überstehen, betete sie im Stillen, als der Herzog schließlich die Gäste aufforderte, Platz zu nehmen. Der Stunde der Wahrheit ist gekommen ...
Nach einer kurzen Begrüßung gab der Hausherr das Wort an Dr. Steinborn weiter. „Königliche Hoheit, meine Herren, herzlich willkommen zu dieser Abendveranstaltung der Spinoff GmbH …“, Während ihr Chef mit der für ihn so typischen Inbrunst und Leidenschaft die Stiftung vorstellte, versuchte Laura sich nochmals auf die wesentlichen Botschaften ihres Kurzvortrags zu konzentrieren. Aber das wollte ihr einfach nicht gelingen. Denn zu ihrer Linken, keine dreißig Zentimeter von ihr entfernt, saß Frederik Wittenberg und machte keinen Hehl daraus, dass ihn Lauras Anblick deutlich mehr interessierte als die Ausführungen Dr. Steinborns. Immer wieder warf er ihr Blicke zu, so als wollte er sie ausziehen. Dann studierte er aufmerksam Lauras Visitenkarte, die sie ihm beim Platznehmen überreicht hatte. Pressesprecherin und Leiterin der Unternehmenskommunikation – als er ihre Position bei Spinoff las, verrieten seine Augen zunehmende Neugierde, aber auch ein gewisses Erstaunen. Wenngleich sich Laura von dieser Reaktion sehr geschmeichelt fühlte, waren ihre Nerven auf eine Zerreißprobe gestellt. Und ihr Kopf war auf einmal wie leer gefegt.
„Ich reiche nun das Wort weiter an unsere Kommunikationschefin, Laura de Oliveira, die ihnen die wesentlichen steuerrechtlichen Vorteile der Förderung unserer Stiftung darlegen wird.“ Mit voller Wucht holten sie die überleitenden Worte ihres Chefs wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
„Königliche Hoheit, meine Herren, auch ich danke Ihnen im Namen von Spinoff für Ihre Anwesenheit und Ihr Interesse an unserem Stiftungsprojekt“, Laura bemühte sich krampfhaft um Haltung. Nach einer kurzen Pause, bewusst nicht in Richtung Frederik Wittenbergs blickend, setzte sie fort: „Wie Sie alle wissen, ist das deutsche Steuerrecht deshalb so kompliziert, weil wir uns eine Vereinfachung leider nicht leisten können. Wer würde sonst die ganzen arbeitslosen Finanzbeamten und Steuerberater beschäftigen!“ Gekonnt startete sie ihre Ausführungen mit einem Lacher auf ihrer Seite und schaffte es für wenige Sekunden, ihre Souveränität zurückzugewinnen. Als sie jedoch Frederik Wittenbergs warmes Lachen ganz nah bei sich hörte, verlor sie schlagartig wieder den Faden: „Ehh ... wie Sie wissen, geht ... geht es hier um eine gemeinnützige Stiftung … ehh … Fördergelder an eine gemeinnützige Stiftung können Sie gemäß Paragraph … ehh … Entschuldigung“, verzweifelt blätterte sie in ihren Unterlagen auf der Suche nach dem richtigen Paragraphen. Mit dem Ergebnis, dass ihr der ganze Papierstapel aus den Händen und direkt vor Frederik Wittenbergs Füße fiel. Begleitet von einem entsetzten Blick ihres Chefs bückte sich Laura zeitgleich mit Frederik Wittenberg, um die Unterlagen aufzusammeln. Mit einem dumpfen Schlag stießen sie dabei mit ihren Köpfen aneinander. Etwas benommen hielt sich Laura die Stirn, während Frederik Wittenberg den Zwischenfall zu überspielen versuchte. In aller Ruhe sammelte er Lauras Unterlagen auf und überreichte sie ihr mit einem aufmunternden Lächeln. Dabei meinte Laura in seinen Augen zu lesen: Keine Panik, Sie machen das super! Indes schaute Dr. Steinborn nervös in die Runde, so als wolle er sich für seine Mitarbeiterin entschuldigen.
„Sehr liebenswert, Herr Wittenberg“, dankbar nahm Laura die Papiere entgegen. Glücklicherweise fand sie nun sofort die Daten, die sie gesucht hatte. „Meine Herren, ich bitte um Entschuldigung. Je nachdem, ob Sie ihr Privatvermögen oder aber Betriebsvermögen als Fördermittel einbringen wollen, ist die steuerrechtliche Behandlung unterschiedlich …“ Um ihre wiedergewonnene Souveränität nicht zu gefährden, vermied sie in den folgenden Minuten jeglichen Blickkontakt mit dem Mann zu ihrer Linken. Allzu sehr half das allerdings nicht. Als würde sie sich selbst aus einer gewissen Distanz beobachten, schoss es ihr mitten in ihrem Vortrag durch den Kopf: Laura, was erzählst du da eigentlich für einen Schwachsinn. Hier merkt doch jeder, dass du keine Ahnung von dem Thema hast! Gleichzeitig bemerkte sie, dass ihr Chef mittlerweile unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen begann. Heute habe ich definitiv nicht gepunktet, schoss es ihr durch den Kopf. Es war mehr als sichtbar, dass er mit Lauras Performance ganz und gar nicht zufrieden war ...
Daraufhin entschied sie, schneller als ursprünglich geplant zum Ende zu kommen: „Meine Herren, langer Rede kurzer Sinn. Wir haben Ihnen die Grundzüge der steuerlichen Vorteile, die Sie im Falle einer Förderung unserer Stiftung geltend machen können, in dieser Mappe zusammengestellt. Darin finden Sie auch detaillierte Angaben zu unserem Stiftungs-Projekt. Wir würden uns freuen, wenn wir Sie für diese gute Sache gewinnen können.“ Sie stand auf, straffte sichtlich ihre Schultern, so als wolle sie die Last der letzten Minuten abwerfen, und begann in der Runde die Mappen zu verteilen. „Natürlich besuche ich Sie gerne in Ihrem Büro, um die Details eines möglichen Engagements zu besprechen. Ich werde mir erlauben, jeden von Ihnen in den kommenden Tagen anzurufen. Gerne können aber auch Sie Kontakt mit mir aufnehmen. Sie finden in Ihren Mappen meine Visitenkarte.“
Als Laura als Letzten in der Runde Frederik Wittenberg eine Mappe überreichte, streifte er wie beiläufig ihre Hand und kam schmunzelnd auf ihr Angebot zurück: „Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich demnächst besuchen. Was ich gesehen habe, gefällt mir ...“ Mit einem eindeutig zweideutigen Blick schaute er sie von Kopf bis Fuß an.
Das ist ja eine Unverschämtheit! Laura kochte innerlich angesichts der unverfrorenen Annäherungsversuche ihres Sitznachbarn. Ihr Körper indes reagierte ganz anders auf seine Worte. Ohne zu antworten nahm sie wieder auf ihrem Stuhl Platz und gab vor, ihre Unterlagen zu ordnen.
Lauras Chef, dem Frederik Wittenbergs Kommentar nicht entgangen war, aber offensichtlich nicht die Zweideutigkeit der Situation überriss, gesellte sich, kaum dass der Herzog den offiziellen Teil der Veranstaltung beendet hatte, zu den beiden: „Wie ich höre, haben Sie konkretes Interesse an einem Engagement in unserer Stiftung, Herr Wittenberg?“ Begeistert schüttelte er dessen Hand: „Es würde mich ganz besonders freuen, wenn Sie einer der Männer der ersten Stunde wären!“ Und an Laura gewandt ergänzte er: „Laura, Sie müssen Herrn Wittenberg unbedingt in der kommenden Woche besuchen.“ Dann dreht er sich wieder zu ihm: „Herr Wittenberg, bei unserer Frau de Oliveira sind Sie in besten Händen!“
„Da bin ich mir ganz sicher“, erwiderte dieser und fixierte Laura dabei mit seinen durchdringenden Augen.
Laura lief ein Schauer über den Rücken. Vielleicht gelang es ihr die drohende Gefahr aufzuwenden: „Herr Wittenberg legt sicher großen Wert darauf, wenn Sie ihn persönlich besuchen, Herr Dr. Steinborn.“
„Aber ich bitte Sie, Laura“, warf Frederik Wittenberg nun ein, „es würde mir eine große Freude machen, wenn Sie mich in Ihre Geheimnisse ... der Stiftung natürlich ...“, sein Blick sprach Bände, einweihen.“
Geht’s noch, jetzt meint er auch noch, mich beim Vornamen ansprechen zu dürfen, wie unverschämt ist das denn?!?
Während Laura bemüht war, diese wiederholte Unverfrorenheit zu verarbeiten, war ihr Chef im Brustton der Überzeugung ein: „Ja, ja“, unwissend nahm Lauras Chef sofort den Ball auf, „ich lasse sie gerne in Lauras Obhut, Herr Wittenberg.“ Mit diesen Worten ließ er die beiden stehen, um einen weiteren Gast für die gute Sache zu gewinnen.
Der smarte Unternehmer beugte sich näher zu Laura herunter und ergänzte leise: „Ich denke, wir sollten uns am späten Nachmittag treffen und anschließend gemeinsam zu Abend essen. Was halten Sie davon, Laura ...?“
„Sie entschuldigen mich für ein paar Minuten.“ Nahezu fluchtartig griff Laura zu ihrer Handtasche und stürzte auf den am nächsten stehenden Diener zu. „Bitte, wo sind denn hier die Toiletten?“
Dieser verbeugte sich höflich: „Wenn Sie mir bitte folgen, ich begleite Sie.“
An wertvollen chinesischen Bodenvasen entlang schwebte der Diener vor ihr her und führte sie durch endlose Gänge bis zu einer majestätischen Halle, an deren hinterem Ende sich endlich die Damen-Toilette auftat.
„Vielen Dank“, flüsterte Laura ehrfürchtig und hoffte inständig, dass Sie nachher auch wieder zurück zum Raucherzimmer fand. So verkorkst, wie dieser Tag bisher war, dachte sie, als sie den in Marmor gehaltenen Raum betrat, werde ich mich bestimmt auch noch verlaufen und zum Schluss im Schlossverlies landen. Ob mich dann Prinz Frederik vor meinem sicheren Tod rettet? Was für ein märchenhafter Gedanke … Ach Quatsch, Laura, reiß dich jetzt endlich zusammen und konzentrier dich auf deine Aufgabe! Nach dem Auftritt vorhin, kannst du nur froh sein, wenn dich dein Chef morgen nicht gleich in hohem Bogen aus der Firma wirft!
Während sie mit zwanghaft auferlegter Muße ihr Make-up nachbesserte, die Lippen nachzog und die Nase puderte, ließ sie ihre fast tragikomische Präsentation gedanklich Revue passieren. Was ihr prompt wieder die Röte auf die Wangen trieb. „Dieser Wittenberg macht mich noch ganz kirre.“ Sie zog vor dem Spiegel eine Grimasse. „Wir sollten uns am späten Nachmittag treffen und anschließend gemeinsam zu Abend essen …“, ahmte sie seine dunkle Stimme nach und unweigerlich machte sich ein Kribbeln auf ihrer Haut breit. „Laura, lass bloß die Finger von dem Typen, das kann nur schlecht enden für dich!“
In Gedanken an die höchst sachliche Abfuhr, die Laura diesem ach so weltmännischen Wittenberg bei erst bester Gelegenheit erteilen wollte, schwang sie die Tür der Damen-Toilette auf und, „huch“, stolperte direkt in die Arme des wartenden Dieners. Sie hastete einen Schritt zurück und versuchte, wieder Souveränität an den Tag zu legen: „Ach, das ist aber nett, dass Sie gewartet haben, ich hatte schon befürchtet, dass ich nicht mehr zurückfinde.“
„Gnädige Frau, ich darf bitten“, höflich und ohne jegliche Gefühlsregung wies der Diener ihr den Weg zurück.
Amüsiert folgte Laura dem älteren Mann, der in seiner dunkelblauen Livree mit Goldverzierungen, Kniebundhosen und weißen Strümpfen so aussah, als wäre er gerade einem Film über den französischen Sonnenkönig entsprungen. Tja, dachte sie als sie wieder den endlosen Gängen folgten, so ist das wohl bei Königs. Kein Wunder, dass die so viele Diener brauchen, sonst würde sich jeder zweite Besucher in diesem riesigen Labyrinth verlaufen.
Zurück im privaten Trakt des Schlosses führte der livrierte Mann Laura vorbei am Raucherzimmer bis zu einem kleinen Speisesaal. Dort hatte die Herrengesellschaft bereits Platz genommen. Frederik Wittenberg saß zur Rechten des Herzogs in der Mitte des großen, weiß betuchten Tisches. Der Diener wies Laura ihren Platz an der äußeren linken Ecke der Tafel. Schade, sinnierte sie, Mr. Charming ist nicht an meiner Seite. Meine Abfuhr muss ich wohl auf später vertagen …
Kaum hatte sich Laura gesetzt, begannen auf ein Zeichen des Herzogs zehn Bedienstete ein exquisites Abendmahl zu servieren. Einmal wieder war der Moment gekommen, in dem Laura sich ihrer guten Kinderstube erfreute. Als ein Diener ihr die Vorspeise auf silbernen Platten reichte, griff sie mit Selbstverständlichkeit und Anmut zum Servierbesteck. Mit einer Hand beförderte sie die Antipasti geschickt auf ihren Teller. Der Herr rechts neben ihr beobachtete sie bewundernd und wagte schon gar nicht erst den Versuch, es ihr nachzumachen, sondern nahm Gabel und Löffel jeweils in eine Hand. Mit einem Hochgefühl, dass sie sich in dieser Situation nicht blamiert hatte, warf sie einen unauffälligen Blick auf Frederik Wittenberg, in der Hoffnung, einen Schwachpunkt an diesem doch so perfekt wirkenden Mann zu entdecken. Doch auch dieser meisterte formvollendet das Servierritual. Als er das Besteck auf die Platte zurücklegte, lächelte er smart zu ihr hinüber und grinste wissend. Verdammt, jetzt hat er mich ertappt! Kann dieser Kerl Gedanken lesen?!
Nach dem Abendessen wurde auf einer weitläufigen Terrasse, die einen wundervollen Blick auf den Bodensee freigab, Mokka serviert. Frederik Wittenberg nutzte die Gunst der Stunde und stellte sich an Lauras Seite, die soeben einem älteren Unternehmer erläuterte, welche konkreten Förderprojekte die Stiftung als Erstes angehen würde: „Ganz besonders interessant ist ein Projekt mit dem Namen ‚Arm in Arm’.“
„Das müssen Sie mir aber bei unserem Treffen in der kommenden Woche bitte ganz genau erläutern“, klinkte sich Frederik Wittenberg in das Gespräch ein. Sein verschmitztes Lächeln sprach Bände.
Laura, die sich der unglaublichen Wirkung dieses Mannes nicht erwehren konnte, gelang es dennoch schlagfertig zu erwidern: „Nun, es wird mir eine besondere Freude sein, Sie in den Arm zu nehmen, Herr Wittenberg ...“
Der ältere Unternehmer nutzte dankbar die Unterbrechung, um sich zu verabschieden: „Frau de Oliveira, es hat mir sehr gefallen, was Dr. Steinborn und Sie präsentiert haben. Meine Karte haben Sie ja, bitte rufen Sie mich doch in den kommenden Tagen an, damit wir einen Termin vereinbaren, um dann im Detail über alles zu sprechen.“
„Das mache ich doch gerne, Herr Schultheis“, Laura erwiderte seine Verabschiedung mit einem resoluten Händedruck. „Gute Heimfahrt wünsche ich Ihnen.“
Kaum hatte sich der Mann entfernt, da neigte sich Frederik Wittenberg zu Laura hinunter und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich freue mich schon, wenn Sie mich in den Arm nehmen, Laura ...“ Dann richtete er sich wieder auf, warf einen Blick in die Runde, die sich schon gut gelichtet hatte. „Darf ich Sie jetzt zu Ihrem Auto begleiten? Es ist schon sehr spät und Sie fahren sicherlich noch nach München zurück, oder?“
Laura nickte: „Im eigenen Bett schläft es sich nun einmal besser.“ Mist, dachte sie, du redest dich vor diesem Typen noch um Kopf und Kragen! „Morgen erwartet mich wieder ein anstrengender Tag“, versuchte sie die Doppeldeutigkeit ihrer Antwort nun herunterzuspielen. „Ich will allen Herren, die heute hier waren, nachtelefonieren. Man muss das Eisen schmieden, solange es noch heiß ist!“
„Da können Sie gleich bei mir anfangen. Ich bin auf jeden Fall schon ganz heiß …“, erwidert Frederik Wittenberg. Sein mittlerweile unverhohlenes Lächeln reizte Laura bis aufs Blut.
Im Stillen dachte sie: Du meinst wohl, dass du alles bekommen kannst, Burschi! Jetzt hat meine Stunde geschlagen, mich wickelst du nicht so einfach um den Finger. Laut erwiderte sie: „Dann tut Ihnen bestimmt eine Abkühlung hier auf der Terrasse ganz gut, Herr Wittenberg! Sie entschuldigen mich.“ Ohne ihm Zeit für eine weitere Reaktion zu lassen, drehte sie sich um und steuerte geradewegs auf ihren Chef zu.
Dr. Steinborn verabschiedete sich soeben vom Herzog und so schloss sich Laura ihm an. In aller Höflichkeit dankte sie der Königlichen Hoheit für seine Gastfreundschaft. Als sie sich wieder umdrehte, stellte sie fest, dass Frederik Wittenberg bereits gegangen war. Trotz allen Unmuts über ihn machte sich dennoch ein leiser Anflug von Enttäuschung bei ihr breit. Überrascht dich das etwa, Laura? Der ist doch wie alle anderen Männer. Kaum spürt er Gegenwind, sucht er sich ein anderes Opfer. Warum sich anstrengen, wenn’s doch bei anderen viel leichter geht?
„Gute Fahrt, Laura“, rief ihr Dr. Steinborn zu und unterbrach ihren stillen Ärger. „Ich danke Ihnen nochmals für die hervorragende Vorbereitung.“
„Danke, Herr Dr. Steinborn“, müde winkte Laura ihm nach, „wir sehen uns dann morgen im Büro.“
Nachdenklich und skeptisch, dass ihr Chef die Pannen des Abends scheinbar schon wieder vergessen hatte, machte sich Laura auf den Weg in das Raucherzimmer, um ihre Unterlagen zu holen. An der Schwelle der Terrassentür lief sie prompt Frederik Wittenberg in die Arme. In der einen Hand hielt er Lauras Aktentasche, in der anderen die Kiste mit den übrig gebliebenen Unterlagen.
„Ach, wie liebenswert von Ihnen, Herr Wittenberg“, diesmal ehrlich gemeint, erfreute sich Laura seiner galanten Geste. Sie musste ihm in diesem Fall doch tatsächlich ein paar Pluspunkte einräumen. „Ich könnte mich daran gewöhnen, Sie um mich herum zu haben“, scherzte sie.
„Nun, lassen Sie mich bei unserem baldigen Abendessen darauf zurückkommen …“, konterte er, griff ihr unter den Arm und führte sie zielstrebig durch die Schlossräume Richtung Ausgang.
Als sie hinaus in die Nacht traten, wurden sie eingenommen von der milden Abendluft, in der ein schwerer Duft von Lavendel hing. Von gusseisernen Laternen dezent beleuchtet, folgten sie dem Weg in Richtung des Ausgangstores, ohne die wundervolle Stimmung dieser Spätsommernacht mit Worten zu zerstören. Als sie schließlich Lauras Cabrio erreicht hatten, verharrte sie dort Sekunden lang. Sie wusste nicht so recht, was sie jetzt machen sollte. Schließlich gab sie sich einen Ruck und griff entschlossen in ihre Handtasche. Fahrig suchte sie nach ihrem Autoschlüssel. Herrgott, dachte sie, wenn ich einmal schnell etwas brauche. Schließlich fischte sie den Schlüsselband heraus.
Frederik Wittenberg bewies auch jetzt die Souveränität, die er mit jeder Bewegung, jeder Pore ausstrahlte. Wie selbstverständlich nahm er Laura den Autoschlüssel aus der Hand und zwinkerte ihr zu. Dann öffnete er die Wagentür, legte den Karton mit den restlichen Mappen und ihrer Aktentasche hinter den Fahrersitz und drehte sich – im Zeitlupentempo – wieder zu ihr um. Er nahm ihre Hand und zog sie dabei an sich heran: „Laura de Oliveira, Sie sind eine wunderschöne Frau …“
Überrumpelt von diesem offensichtlichen Annäherungsversuch atmete Laura hörbar tief ein. Mit aller Macht wollte sie verhindern, dass er sich ihr noch näher kam, und trat deshalb einen deutlichen Schritt zurück. Doch ihr Auto stand im Wege und es gelang ihr nicht wirklich, auf Abstand zu gehen.
Mit einem verwegenen Grinsen, so als hätte er mit ihrer Reaktion gerechnet, beugte sich Frederik Wittenberg zu ihr vor, deutete einen Handkuss an und drückte ihr gleichzeitig den Autoschlüssel in die andere Hand. „Fahren Sie vorsichtig. Ich freue mich, wenn Sie mich morgen anrufen und umso mehr auf unser Abendessen …“
Mit diesen Worten ließ er sie stehen. Sprachlos blickte sie ihm hinterher und legte instinktiv die Hände auf ihren Bauch, denn ihr Magen drohte auf einmal Purzelbäume zu schlagen. Mit seinem unnachahmlich eleganten, dynamischen Schritt verschwand Frederik Wittenberg gerade in der Dunkelheit der Nacht.
Erst als Laura hörte, wie er den Motor seines Wagens anließ, gelang es ihr, sich wieder zu fangen. „Freuen Sie sich nicht zu früh, Mr. Charming“, grummelte sie. „Ihre Macht, Ihr Charme und Ihre Verwegenheit mögen manch eine Frau schwer beeindrucken, aber an meinem Schutzwall werden sie gnadenlos abprallen – und zwar dann, wenn Sie am wenigsten damit rechnen!"
Angeleuchtet von den Scheinwerfern ihres Wagens reflektierten die Autobahnmarkierungen stetig das Licht vor Laura und rasten links und rechts an ihr vorbei, um sodann wieder von der Dunkelheit der Nacht geschluckt zu werden. Es war schon nach Mitternacht und kaum Verkehr. Trotz des anstrengenden Tages fühlte Laura kein bisschen Müdigkeit und so ließ sie ihrem Sportwagen freien Lauf. Ihre Gedanken schweiften indes wieder zurück zu all dem, was ihr am heutigen Abend widerfahren war.
Sonst immer darauf bedacht, sich in der Öffentlichkeit keine Blöße zu geben und stets professionell zu erscheinen, musste ihr doch gerade heute diese unsägliche Ansammlung an Pleiten und Pannen passieren. Sie konnte sich sehr gut ausmalen, was dieser Frederik Wittenberg sich dabei gedacht hatte, als er sie an der Ampel in ihrem Cabrio beobachtete, gerade zu dem Zeitpunkt, als sie hektisch und geistesabwesend ihre Nase puderte. Gleich auf einen Schlag hatte sie wohl mehr als nur ein Klischee bedient. Und dann diese Katastrophe zu Beginn ihres Vortrages, der aus ihrer Sicht auch inhaltlich nicht gerade brillant gewesen war … Laura versuchte, die Erinnerungen an diese Peinlichkeiten zu relativieren: Es würde sich schon ausreichend Gelegenheit ergeben, ihm zu beweisen, dass sie mehr auf dem Kasten hatte. „Abgesehen davon“, schalt sie sich nun“, „was macht dich da so unsicher? Du wirst mit diesem Typen, wenn überhaupt, nur wenig und dazu doch nur beruflich zu tun haben. Also kann es dir doch egal sein, was er von dir denkt!“
Dennoch erschauerte Laura, als ihre Erinnerung wachrief, wie Frederik Wittenberg sie mit einer ausgesprochen starken Intensität immer wieder im Verlauf des Abends beobachtet hatte. So ganz konnte sie diesen Mann nicht einordnen, und das ärgerte sie umso mehr. Mal war er galant und zuvorkommend, mal verwegen, ja regelrecht anmaßend gewesen. Hatte er sich vielleicht über sie lächerlich gemacht? Oder war das seine Art, Frauen anzumachen?
Überrascht von diesen Gedankenspielen, die das Aufkeimen eines weniger geschäftlichen und mehr persönlichen Interesses vermuten ließen, versuchte Laura das Ganze schnell wieder abzutun: „Denk an deinen schwer erarbeiteten Vorsatz: Finger weg von den Männern!“ Also auch von diesem Frederik Wittenberg!
Während sie sich Kilometer auf Kilometer der Landeshauptstadt näherte, gelang es ihr dennoch nicht, die Gedanken an den Mann abzutun. In einem verzweifelten Versuch, ein weiteres Aufkeimen ungewollter Gedanken an ihn zu verhindern, begann Laura, ein kritisches Bild von Frederik Wittenberg zu zeichnen. Vielleicht half ihr diese Strategie, ihre festen Vorsätze einzuhalten …
Im Laufe der letzten Jahre hatte sie schon einige Männer wie ihn kennen gelernt. Vom Erfolg verwöhnt, waren sie es gewohnt, dass ihnen die ganze Welt und vor allem die Frauen zu Füßen lagen. Es waren Männer, die kein Nein kannten und auch keines duldeten. Sich ihres Charismas und Einflusses sehr bewusst, war es für sie ein Leichtes und eine Selbstverständlichkeit zugleich, bei jedem ihrer Auftritte stets die Hauptrolle zu spielen. Sie waren charismatisch, charmant, manche wirkten sogar auf den ersten Blick sympathisch und zugänglich. Doch nur solange es ihrem Interesse diente oder solange die Frauen, mit denen sie sich abgaben, eine nette Abwechslung von ihrem stressigen Alltag boten. Zu diesem Zweck nahmen sie sich auch, was sie wollten. Allerdings nur unter Einhaltung der eigenen Spielregeln. Sie kontrollierten das Wann, Wie, Wo und Wieviel. Und sie markierten auch genau die Grenzen. Menschlich kam man sowieso nicht an sie heran. Und in der Beziehung waren sie ohnehin alle gleich. Wenn es zu verbindlich und damit zu anstrengend für sie wurde, ließen sie die Frau fallen wie eine heiße Kartoffel. Bloß keine Verpflichtungen!
Genau dieses Verhaltensmuster meinte Laura nun aus Frederik Wittenbergs Annäherungsversuche am heutigen Abend herauszulesen. „Der ist schon ein besonderes Kaliber dieser Spezies“, murmelte Laura vor sich hin, gerade als sie die Stadtgrenze passierte.
In ihrem Kopf läuteten abermals alle Alarmglocken, als ihr bewusst wurde, dass sie nahezu während der gesamten Fahrt von Friedrichshafen nach München ihre Gedanken an diesen Frederik Wittenberg vergeudet hatte. Das ärgerte sie umso mehr, weil sie sich gar nicht mehr daran erinnern konnte, wann sie das letzte Mal einem Mann so viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Als ihr das schlagartig klar wurde, stöhnte sie auf: „Laura, fang gar nicht erst an, dir irgendwelche Szenarien auszudenken, in denen dieser Typ eine Rolle spielt. Du kannst bei einem solchen Spiel nur verlieren!“ Zu oft hatte sie, ohne Rücksicht auf Verluste, Hoffnungen, Zeit und vor allem Gefühle in Beziehungen investiert. Zu oft war sie an diesem Zuviel von allem gescheitert. Doch Klischees und Schutzwall hin oder her – irgendwie reizte es sie doch, sich auf diese offenkundigen Annäherungsversuche einzulassen und dabei mal einen Blick hinter die Kulissen dieses Prachtexemplars von einem Mann zu riskieren. Eine solche Chance bekam man immerhin nicht jeden Tag geboten.
Hin und her gerissen von dem Vielleicht-schon oder Lieber-nicht, bog Laura endlich in die Einfahrt ihrer Garage ein. Mittlerweile war es schon fast zwei Uhr nachts und sie fühlte sich nun doch ziemlich gerädert. Dennoch konnte sie nicht gleich schlafen gehen und so beschloss sie, sich auf der Terrasse ihrer Maisonette-Wohnung über den Dächern Münchens noch einen Schluck Brandy und eine letzte Zigarette zu gönnen. In der Stille der Nacht wanderten ihre Gedanken zurück zu all den schmerzlichen Erinnerungen, die sie seit über einem Jahr so konsequent aus ihrem Bewusstsein verdrängte. Erinnerungen an die Zeit, als sie ihre Arbeit bei Spinoff angetreten, dort Maximilian kennen- und dann auch lieben gelernt hatte. Vielleicht war es gut, dass sie gerade heute wieder diesen Blick in die Vergangenheit warf, dachte sie, als sie schließlich müde und abgespannt ins Bett kroch. Immerhin fühlte sie sich dadurch in ihrem Vorsatz bestärkt, von Frederik Wittenberg die Finger zu lassen – egal welche Faszination er schon jetzt auf sie ausübte.
Trotz der kurzen Nacht fuhr Laura am nächsten Morgen schon früh ins Büro. Sie war abgespannt und missmutig, weil ihr dieser Frederik Wittenberg die ganze Nacht nicht aus dem Kopf gegangen war. Unruhig hatte sie sich in ihrem Bett immer wieder hin und her gewälzt. Kaum in der Firma angekommen, begann sie mit der Aufgabe, die immer als Erste auf ihrem täglichen Arbeitsprogramm stand: alle aktuelle Online-Meldungen zu sichten, immer auf der Suche nach relevanten Nachrichten für die Spinoff GmbH. Sie hoffte sehr auf positive Schlagzeilen zu dem Stiftungsprojekt. Doch während ihr Rechner hochfuhr, wanderten ihre Gedanken abermals zu Fredrik Wittenberg. Verärgert stieß sie aus: „Sobald du mit den Schlagzeilen durch bist, schaust du mal, was du über diesen Kerl herausfinden kannst. Lerne deinen Feind kennen, erst dann kannst du die Taktik für den Gegenangriff entwickeln.“
Während sie im Internet die aktuellen Meldungen der großen Tageszeitungen und Nachrichtendienste sichtete, weckte plötzlich eine Überschrift auf der Homepage von dpa ihre Aufmerksamkeit: Börsenkurs der Wittenberg AG schwer unter Druck. Keine zehn Zeilen war die Nachricht lang. Sie berichtete über Spekulationen, wonach der Entwicklungsvorstand des Unternehmens in den letzten Monaten über Scheinverträge mit Beratern einen Großteil der Gelder für die so wichtige Entwicklung der neuesten Robotergeneration in seine eigene Tasche gewirtschaftet habe. Nun sei die Wittenberg AG, die laut dpa seit geraumer Zeit bereits unter scharfem Wettbewerbsdruck aus Fernost stehe, in ihrer weiteren Existenz als unabhängiges Unternehmen gefährdet. „Wenn das stimmt“ murmelte Laura, sichtlich überrascht über diese Nachricht, „wird das ein harter Schlag für Frederik Wittenberg sein.“
Neugierig versuchte sie, weitere Details über diese aktuelle Wendung rund um den erfolgreichen Geschäftsmann herauszufinden. Doch viel mehr war nicht aufzutreiben. Lediglich dass Frederik Wittenberg und sein Entwicklungsvorstand wohl seit Jahren als ein unschlagbares Team an der Spitze des Unternehmens galten. „Merkwürdig, sehr merkwürdig ...“
Laura nahm diese überraschende Kehrtwendung zum Anlass und griff in ihre Handtasche, um Frederik Wittenbergs Visitenkarte herauszuholen. Vergessen waren ihre guten Vorsätze. Jetzt hatte sie erst recht einen Grund, ihn anzurufen. Und so wählte sie, ohne weiter darüber nachzudenken, seine Büronummer. Mittlerweile war es kurz nach 8.00 Uhr.
„Wittenberg AG, Büro von Frederik Wittenberg, guten Morgen“, meldete sich eine weibliche, sehr freundliche, aber auch resolute Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Guten Morgen“, sprach Laura in den Hörer, „mein Name ist Laura de Oliveira von der Spinoff GmbH. Ich würde gerne Herrn Wittenberg sprechen.“ Hektisch wedelte Laura mit ihrem Kugelschreiber und merkte, dass sich in ihr eine gewisse Nervosität breit machte. Dennoch setzte sie sachlich und mit fester Stimme fort: „Herr Wittenberg und ich hatten im Rahmen des Unternehmergespräches gestern Abend in Friedrichshafen vereinbart, dass wir heute telefonieren, um noch in dieser Woche einen Besprechungstermin zu vereinbaren.“
„Es tut mir leid, Frau de Oliveira“, antwortet die freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung, „Herr Wittenberg musste aus aktuellem Anlass nahezu alle seine Termine in dieser Woche zurückstellen. Sie werden sicherlich Verständnis dafür haben, dass wir Ihrem Anliegen so kurzfristig wohl nicht nachkommen können. Ich schlage vor, wir melden uns bei Ihnen, sobald wieder etwas Freiraum im Terminplan von Herrn Wittenberg ist.“
„Aber natürlich.“ Angesichts der heiklen Nachrichten, die Laura vorhin gelesen hatte, brachte sie vollstes Verständnis auf. „Könnte ich dennoch Herrn Wittenberg kurz sprechen?“
„Ich bedauere, Herr Wittenberg ist bereits seit 7.00 Uhr in einer Besprechung und ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange diese noch dauern wird.“
„Ja dann, richten Sie ihm doch bitte einen schönen Gruß von mir aus. Ich würde mich sehr freuen, wenn er sich, sobald er Zeit hat, bei mir meldet.“
„Das werde ich gerne tun, Frau de Oliveira. Wir haben ja Ihre Telefonnummer. Guten Tag“, mit einem Klick am anderen Ende der Leitung und dem darauf folgenden Endlostuten zerplatzte die kleine Seifenblase der Neugierde und die stille Vorfreude, die Laura vorhin – trotz aller guten Vorsätze – verspürt hatte, als sie Frederik Wittenbergs Nummer wählte.
„O.k.“, überlegte sie, „an diesen Mann heranzukommen wird nicht einfach. Ein äußerst effizienter Vorzimmerdrache hält alles von ihm fern. Und eine Handynummer steht auf seiner Visitenkarte natürlich auch nicht.“ Sicherheitshalber schaute sie noch auf die Rückseite der Visitenkarte, die vor ihr auf dem Tisch lag. Nichts. „Laura, das ist ein Wink des Schicksals. Frederik Wittenberg bleibt Tabu für Dich.“
Mit einem gewissen Unbehagen stellte sie fest, dass sie enttäuscht über diese neue Entwicklung war. Dennoch juckte es sie jetzt erst recht in den Fingern, mehr über diesen Mann zu erfahren, der – nicht zum ersten Mal – mit spannenden Meldungen die Deutsche Medienlandschaft in Atem hielt. „Mein Interesse ist rein beruflicher Natur“, zeigte sie Nachsicht mit sich selbst, „ich muss doch wissen, ob er für unsere Stiftung noch gut genug ist ...“ Doch erst würde sie ihrer primären Arbeit nachgehen müssen. Frustriert warf sie einen Blick auf die Berge an Unterlagen, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelten. „Hilft nix, Laura, ab das Ding!“
Mit Schwung legte Laura den Telefonhörer wieder in die Schale und zwang sich, ihrer Arbeit nachzugehen. Konzentriert widmete sie sich nun der endlosen Flut an E-Mails, die seit gestern Nachmittag in ihrem Postfach eingegangen waren. Zwei Stunden vergingen dabei wie im Fluge. Als auf einmal das Telefon läutete erkannte Laura schon am Klingelton, dass ihr Chef am anderen Ende der Leitung wartete. Regelrecht konditioniert straffte sie ihre Schultern und nahm ab. „Guten Morgen, Herr Dr. Steinborn“, mit bewusst fröhlicher Stimme, um damit vielleicht erfolgreich von den Pannen des Vorabends abzulenken, setzte sie an: „Sind Sie gestern Abend wieder gut nach München gekommen?“
„Laura, wie sieht’s mit den Fördergeldern für unsere Stiftung aus?“ Wie erwartet ging Dr. Steinborn über Lauras höfliche Frage geflissentlich hinweg und kam sofort zur Sache: „Konnten Sie im Nachgang zu unserem Unternehmergespräch schon einige konkrete Besprechungstermine vereinbaren?“
„Herr Dr. Steinborn, wir haben noch nicht einmal 10.00 Uhr morgens und ich glaube nicht, dass wir die Herren derart überfallen können. Es ist keine 24 Stunden her, dass wir sie mit unseren Weisheiten beglückt haben.“ Gott konnte dieser Mann nervig sein, dachte Laura insgeheim, doch sie zwang sich zur Ruhe. „Das Ganze muss sich doch etwas setzen. Aber ich bleibe dran, das wissen Sie.“
„Ja, ja, Sie haben ja Recht. Laura. Aber vergessen Sie nicht: Die Stiftung braucht das Geld, sonst sind wir von Anfang an zum Scheitern verurteilt.“ Eine kurze Pause ließ Laura hoffen, dass Dr. Steinborn ihre schlechte Präsentation in Friedrichshafen schon wieder vergessen hatte, doch seine anschließenden Worte machten ihre Hoffnung gleich wieder zunichte: „Gestern waren Sie ja nicht ganz so ganz auf der Höhe Ihrer Leistungsfähigkeit, Laura ... Umso wichtiger ist, dass Sie jetzt ordentlich nachlegen, nicht wahr?“
„Ehh …“, schockiert stammelte sie ins Telefon. „ ... ich ...ich ... werde mein Bestes geben, Chef.“
„So kenne ich Sie!“ Und schon sprang Dr. Steinborn zum nächsten Punkt: „Übrigens, ich muss Ende November einen Vortrag über Change Management halten. Kommen sie doch bitte mal kurz zu mir herauf, damit wir über die Inhalte sprechen.“ Klick, ohne auch nur auf Lauras Reaktion zu warten, legte er den Hörer auf.
Obwohl Laura und ihr Chef ein eingespieltes Team waren und sie zu den ganz wenigen im Unternehmen zählte, die mit seiner Dynamik gut umgehen konnten, wurde Laura wieder aufs Neue bewusst, dass auch sie sich keinerlei Fehler leisten durfte. Verunsichert über seine Rüge, aber auch genervt wegen seiner kurzen und knappen Anweisungen knallte sie den Hörer in die Schale. „Heute gehst du mir echt auf den Geist!“, fluchte sie. Dennoch griff sie pflichtbewusst zu Block und Stift und machte sich strammen Schrittes auf den Weg in sein Büro. Im Vorbeigehen überzeugte sie sich noch kurz im Spiegel, ob sie für die Chefetage auch adrett genug aussah. Passt schon. Ab in den Kampf!
Als sie durch ihr Vorzimmer eilte, kam Laura ihr Pressereferent entgegen und fuchtelte hektisch mit einigen Seiten vor ihrer Nase herum. „Laura, ich brauche von dir heute noch die Freigabe dieser zwei Pressemeldungen.“
„Leg sie bitte auf meinen Tisch, Tim, ich kümmere mich später darum. Muss jetzt zum Chef ...“, Laura verdrehte die Augen und bekam einen mitleidigen Blick ihres jungen Mitarbeiters mit auf den Weg.
„Laura, ich brauche auch eine Freigabe von dir“, warf nun Charlotte, Lauras Assistentin und rechte Hand, in vorsichtigem Ton ein. Bereits heute Morgen hatte sie erkannt, dass ihre Chefin nicht gerade bester Laune war. Dann legte sie vorsichtig nach: „Die Hochrechnung für die zweite Jahreshälfte ist da. Ich störe dich ungern in dieser Sache, aber wir brauchen mal wieder deine Durchsetzungskraft. Die vom Controlling wollen uns doch tatsächlich das Budget nochmals kürzen. Wenn du nichts dagegen unternimmst, streichen sie uns die Gelder, die wir unbedingt für die Veranstaltung im Herbst brauchen, und dann können wir mit professionellem Event-Management endgültig einpacken!“
„Ich hab’s befürchtet!“, reagierte Laura schärfer als gewollt. „Dieser elende Kostensenkungswahn der Geschäftsführung gibt unseren Zahlendrehern Aufwind.“ Kurz machte sie Halt vor Charlotte und forderte sie mit einem Handzeichen auf, ihr die Hochrechnung zu geben. „Das Thema kläre ich gleich mit Dr. Steinborn. Wenn er nicht mitzieht, sollte er am besten gleich meine Stelle einsparen.“
Voller Entschlossenheit – so wie ihre Mitarbeiter sie kannten – stürmte Laura aus dem Büro. Sie nahm sich nicht die Zeit, auf den Lift zu warten, sondern lief schnurstracks die Treppe hinauf. „Wenn ich noch einen Cent meines Budgets abgeben muss, murmelte sie verärgert vor sich hin, „dann kracht es aber. Was haben
Publisher: BookRix GmbH & Co. KG
Text: Arantxa Conrat
Images: Arantxa Conrat & Pixabay
Cover: Arantxa Conrat
Editing: Dr. Renate Bugyi-Ollert
Publication Date: 09-17-2012
ISBN: 978-3-95500-147-6
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Dedication:
Dieses Buch widmen ich meinen Eltern,
die mir viel Wertvolles mit auf den Weg gegeben haben.