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Prolog


 

Ich wurde 1939 in einem kleinen westfälischen Dorf geboren, und das Beste und eigentlich einzig Gute, was ich mit auf die Welt bekam, ist ein gutes Gedächtnis.

Meine Erzählung beginnt, als ich etwas älter als drei Jahre war. Da war die Welt noch in Ordnung.

Papa musste in den Krieg und meine Mama war allein mit vier Kindern. Sie war Schneiderin und nähte nicht nur für uns, sondern auch für fremde Leute. So war sie manchmal nicht zu Hause. Unsere glückliche Kindheit war zu Ende als unsere Schwester plötzlich starb. Kurz darauf starb auch Mama und Papa war immer noch im Krieg. Braune Schwestern brachten uns Kinder in drei verschiedene Familien.

Ich kam zu einem Ehepaar, die sehr gut meine Großeltern hätten sein können. Ich musste sie Vati und Mutti nennen, das war auch gut, denn Papa und Mama gab es für mich nur ein einziges Mal.

Vati war ein Bilderbuch-Vater. Ich liebte und verehrte ihn, während ich mit Mutti nie warm wurde. Sie hatte eiskalte Augen, oftmals mit einem gefährlichen Blitzen darin und ein lockeres Handgelenk. Was sie sagte musste ich akzeptieren, auch wenn es falsch war.

Sie suchte für mich eine Freundin aus, mit ihr durfte ich spielen und sonst mit niemandem. Überhaupt hielt sie nicht viel vom Spielen. Ich sollte anfangen nützliche kleine Arbeiten zu verrichten. Eines Tages bekamen wir sieben Hühner. Das mit den längsten Beinen gefiel mir am besten.

Das Huhn wurde meine Freundin.

Ich nannte es „Ilsabein“.

Mutti verlangte von mir, dass ich alles, was mich an mein Zuhause erinnerte vergessen sollte. Aber das konnte ich nicht. Deshalb wurde ich nie warm mit ihr. Sie hasste mich.  

 

Abschied von Daheim

 

Nun fing Tante Lore an, unsere Schränke aufzuräumen. Sie sortierte die guten Sachen und die schlechten. Wir hatten so viel Kleider, dass Tante Lore es für nötig hielt, die Schlechtesten zu verbrennen. Sie schob sie einfach in den Herd. Was nicht sauber und trotzdem gut war, warf sie zum Waschen auf einen Haufen, sie wollte dann morgen waschen, erklärte sie uns. Als alle Schränke in Ordnung waren gab es Abendessen.

Da kam der Polizist wieder. Er sprach mit Tante Lore. Dann verlangte er von uns, dass wir von unseren Plätzen aufstehen und ihn mit „Heil Hitler!" grüßen sollten. Das hatte noch nie jemand von uns verlangt. Ich glaubte, der Polizist hieße „Heil Hitler“. Tante Lore musste jetzt das Grüßen mit uns üben, und sie flehte uns an, es auch zu machen wenn jemand ins Haus käme, sie würde sonst Ärger bekommen.

Am nächsten Tag wollte die Frau mit dem Haarknoten wieder kommen, und wir sollten sie mit Anstand begrüßen. Hans und ich übten, Lena brauchte das nicht.

Hans und ich sollten die schmutzige Wäsche in den Waschkessel bringen damit sie nicht herum läge, wenn die Frau da sei. Also liefen wir mit der Wäsche auf die Dehle und suchten den Waschkessel. Wir hatten ihn doch vorher gebraucht für das Badewasser, aber wir konnten ihn nicht finden. Da wo er immer war, war er nicht. Hans überlegte was wir jetzt machen könnten und hatte einen Einfall: Er machte die Backofentür vom großen Herd auf, und wir stopften die Wäsche da hinein. Hans machte die Tür wieder zu und rieb sich die Hände. Er fand seine Idee richtig gut und alles war aufgeräumt.

Danach gingen wir frühzeitig ins Bett, denn Tante Lore glaubte, dass die Frau mit dem Knoten sicherlich ganz früh kommen würde.

 

Sie hatte Recht, wir hatten noch nicht gefrühstückt da klopfte es. „Vergesst den Gruß nicht!" sagte sie noch während sie die Tür öffnete. Hans und ich sprangen von unseren Plätzen auf, und als die Frau mit einem lauten „Heil Hitler" zur Tür herein kam, da klappte es bei uns auch.

Sie ging zuerst alle Schlafzimmer zu durchstöbern. Sie guckte in jeden Schrank - in und unter die Betten. Dann ging sie in die gute Stube, was wir nie gewagt hätten.

Die Frau gab noch nicht auf, sie guckte in den Küchenschrank und machte sich Notizen in einem Buch. Dann wollte sie in die Vorratskammer, wo das Eingemachte und die Äpfel waren.

Danach war der Hühnerstall dran, sie zählte und sagte „Sieben" und schrieb es auf. Als sie dann wieder ins Haus kam, wollte sie wissen was uns auf der Dehle gehören würde. Tante Lore zeigte es ihr. Sie betrachtete die Fahrräder und holte den Kinderwagen hervor. Den sollte Tante Lore saubermachen und frische Kissen hinein legen. „Der wird gebraucht." sagte sie.

Für einen winzigen Augenblick dachte ich, das Baby würde doch noch kommen. Ich wurde jäh heraus gerissen, aus meinen Gedanken, weil die Frau jetzt den großen Herd ansah. Sie schaute ob er sauber sei, dann, sah sie nach ob die Asche geleert war. Ich hatte plötzlich ein komisches Gefühl im Magen. Da riss die Frau die Backofentür auf. Tante Lore war entsetzt. Die Frau auch, sie zog die Wäsche aus dem Backofen und sagte: „So eine Schweinerei habe ich ja noch nie gesehen!"

Der Blick von Tante Lore traf uns wie ein Blitz. Die Frau schrieb noch einmal was in ihr Buch, und ich stellte fest, dass sie hässlich war.

Als sie gegangen war, setzten wir uns an den Frühstückstisch. „Ich soll eure Sachen packen.“ unterbrach Tante Lore die Stille. „Morgen kommen dann zwei Braune Schwestern - die holen Euch ab, dann bekommt ihr neue Eltern."

Tante Lore holte einen Koffer vom Schrank herab, darein würde sie meine Sachen packen. Hans bekam einen Rucksack und die Sachen von Lena packte sie in den Kinderwagen unter die Kissen.

Hans schimpfte mich, dass ich nicht schreiben konnte und paukte mir ein, wie ich heiße und wo ich wohnen würde. Ich musste es immer wieder sagen. „Warum?" fragte ich meinen  Bruder. „Damit du wieder zurück findest, wenn es dir nicht gefällt."

Wir hatten Angst vor dem nächsten Morgen. Unterdessen packte Tante Lore weiter. Oben in meinen Koffer packte sie den schönen schwarzen Mantel von Mama, der hatte einen echten Pelzkragen. „Dann hast du ein Andenken an sie." sagte sie und machte den Koffer zu. Hans nahm sich Mamas Notizbuch und den Bleistift der darin steckte. In dem Buch waren alle Maße, die sie zum Nähen brauchte. Es war aber nur halb voll. „Darfst du das?" fragte ich. Er sagte nur: „Ich brauche das dringend."

Tante Lore war völlig erschöpft.  Als die Tante sich erholt hatte, kochte sie Milchreis für uns. Wir aßen den Milchreis und den Rest vom Apfelmus und gingen dann ins Bett. Weil wir Angst vor dem nächsten Tag hatten, schwätzten wir nicht mehr und versuchten nur noch einzuschlafen.

 

Morgens waren wir dann so müde, dass wir nicht aufstehen wollten. Tante Lore achtete darauf, dass wir uns ordentlich anzogen. Sie kämmte uns und band mir Schleifen in die Zöpfe. „Wenn die Schwestern kommen soll alles fertig sein." sagte sie. „Vergesst nicht den Gruß, das ist ganz wichtig." Wir kannten die Gemeindeschwester und die war ganz lieb. Aber was waren das für Braune Schwestern?

Tante Lore erklärte uns noch ganz schnell: „Die Schwestern mit den schwarzen Kleidern machen das was der liebe Gott will, die mit den braunen Kleidern machen das was der Führer will." Hans wusste aus der Schule, dass der Führer Hitler war. Deshalb grüßte man „Heil Hitler!"

Die Schwestern kamen zur Tür herein, ohne vorher anzuklopfen. Während Tante Lore uns und unsere Sachen übergab, stellte sie ein paar Fragen. Sie wollte wissen wohin sie uns bringen würden, bekam jedoch keine Antwort, und es blieb uns kaum Zeit, Tante Lore einen Kuss zu geben.

Die Schwestern schoben uns alle zur Tür hinaus und schlossen zu. Den Schlüssel nahmen sie mit. 

Hans trug seinen Rucksack auf dem Rücken, mir hatte er seinen Schulranzen auf den Rücken gepackt. Lena saß im Kinderwagen und oben auf den Wagen hatte eine der Schwestern den Koffer gestellt. Lena konnte kaum hinaussehen und war ganz unzufrieden. Tante Lore winkte mit einem Taschentuch. Gerne wäre ich stehen geblieben um Tante Lore zu winken, aber die Schwestern schubsten mich und sagten: „Nicht trödeln, sonst kommen wir heute nicht mehr an." 

 

Die Schwestern in den braunen Kleidern gingen voraus. Wir sollten dicht dahinter bleiben. „Die marschieren wie zwei Soldaten“, sagte Hans zu mir. Er hatte keine Schwierigkeiten mitzukommen, ich hingegen schon.

Es war für mich eine Qual immer Schritt zu halten, schließlich hatte ich ja auch die kürzesten Beine. Lena durfte im Kinderwagen sitzen, worauf ich furchtbar neidisch war. Warum sie sich lauthals beklagte, wollte mir nicht einleuchten. Sie wollte unbedingt laufen und ich wäre gerne an ihrer Stelle im Wagen gesessen. Es war ein Glück, dass es wenigstens nicht regnete.

Eine der Schwestern drehte sich um und sagte, sie sei Schwester Martha. Mir lief es kalt über den Rücken, sie hatte eine große Warze im Gesicht, gleich neben der Nase. Wie aus der Pistole geschossen kam es aus meinem Mund: „So wie die Hexe bei Hänsel und Gretel!" Hans lachte und die Schwestern schauten mich scharf an. Hans sagte: „Papa hat immer gesagt du sollst zuerst überlegen, bevor du den Mund aufmachst." Leise gab er mir Recht und wir spielten jetzt Hänsel und Gretel, die von zwei braunen Schwestern in den Wald geführt wurden.

 

Tatsächlich gingen wir auch gerade durch einen Wald. Unser Spiel war so spannend, dass ich für eine Weile meine schmerzenden Füße vergaß. Solange uns die Schwestern in Ruhe schwatzen ließen, kamen wir ganz gut vorwärts. Wenn wir an einem gelben Schild vorbei kamen, auf dem ein Ortsname stand, nahm Hans das Notizbuch von Mama und schrieb den Namen hinein.

 An einer Bank, die am Wegrand stand, machten wir eine Pause und wir bekamen ein belegtes Brot und einen Apfel dazu. Aber die Pause war viel zu kurz, wir hatten ja noch einen weiten Weg vor uns. Lena durfte noch ein wenig laufen und freute sich, dass wir sie an die Hand nahmen.

Plötzlich waren da so viele Häuser. Hans sagte: „Wir sind jetzt in Herford." Weil da nun immer mehr Fahrräder und Menschen auf den Straßen waren, mussten wir auf einem Bürgersteig laufen. Der war recht eng und die Schwestern hatten Angst, dass wir verloren gehen könnten. Also kam Lena wieder in den Kinderwagen und ich kam oben auf den Koffer. Da saß ich schlecht, denn der Koffer war rutschig und ich konnte mich kaum festhalten. Außerhalb der Stadt musste ich dann wieder herunter vom Kinderwagen.

Die Schwester, mit dem Namen, den ich mir nicht merken konnte, nahm den Kinderwagen mitsamt Lena und ging in eine andere Richtung - wir gingen weiter in Richtung Westen. Jetzt war Lena weg und wir weinten erst mal eine Weile bis wir fragten, warum Lena nicht mit uns kommen konnte. Die Schwester sagte nur, jeder komme in eine andere Familie. Einmal machte sie noch mit uns eine Pause und dann ging es weiter. Wir hatten keine Kräfte mehr irgendwelche Spiele unterwegs zu machen und gingen schweigend neben der Schwester her. Hans schrieb weiterhin alle Ortsnamen in sein Buch.

Meine Füße taten so weh, dass ich gerne meine Schuhe ausgezogen hätte. Aber die Schwester beteuerte, dass wir jetzt bald am Ziel wären, wir kamen durch Bustedt. „Der nächste Ort ist Elsestadt, dann sind wir am Ziel", bemerkte Schwester Martha. Bevor wir in die Stadt kamen, ging es dann links ab. Hans konnte den Rucksack kaum noch tragen. Sein Schulranzen, den ich die ganze Zeit auf dem Rücken hatte, war nicht voll und ich merkte ihn schon gar nicht mehr.

Nachdem wir noch einmal abgebogen waren, mussten wir stehen bleiben. „So“,  sagte Schwester Martha „Hans, du bist jetzt da." Ich musste mich auf der Straße auf meinen Koffer setzen, den die Schwester abgestellt hatte. „Lauf nicht weg“, befahl sie mir. Wie auch? Ich konnte ja gar nicht mehr, meine Füße taten höllisch weh. Nachdem sie geklingelt hatte, wurde die Tür geöffnet und die Schwester schob Hans ins Haus hinein. Aber im nächsten Augenblick

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Publisher: BookRix GmbH & Co. KG

Images: eigene Fotos
Publication Date: 04-28-2014
ISBN: 978-3-7368-2439-3

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