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So geht es auch

Es ist schon fast 10 Uhr. Die erste Therapie hielt Dora bereits nach Arbeitsbeginn im Pflegeheim.

 

Diese war sehr intensiv. Therapien, in denen Patienten mit Aparaxien nach einem Schlaganfall behandelt werden mussten, erfordern immer viel Einsatzbereitschaft der Therapeuten und starke Willenskraft der Betroffenen.

 

Doch hier gab es für Dora den heutigen Tag nichts mehr zu tun. Die beiden Frauen, die gemeinsam in einem Zimmer ihren Lebensabend teilten, haben sich gut in ihre Situation eingelebt und verbringen den lieben langen Tag mit Fernsehen oder dem Lesen von alten Schmökern. Aufgrund der Vorsichtsmaßnahmen wegen des Coronavirus musste jeder Bewohner des Pflegeheims auf seinem Zimmer bleiben. Lediglich ein kleiner Ausflug auf den Innenhof war möglich, um mal etwas herauszukommen. Das große Tor zur Außenwelt wurde nur für das Personal geöffnet. Der Zugang für Besucher war fast unmöglich.

 

Dora ging ein Zimmer weiter und sah, dass die beiden weniger agilen Damen in diesem Raum vor ihrem Frühstück am Tisch saßen. Doch keine nahm etwas zu sich. Es verwunderte Dora nicht sehr, denn durch das Herumsitzen in den Zimmern fehlte die übliche Anregung, welche den Pflegeheimbewohnern sonst zukäme.

 

Der veränderte Tagesablauf brachte viele Bewohner völlig durcheinander. Sie wirkten viel dementer als zuvor und waren zu Handlungen nicht mehr fähig, welche man vorher noch abrufen konnte. Die Qualität der Pflege war entsprechend der Umstände sehr gut und dennoch nicht ausreichend, um den notwendigen Standard aufrechtzuerhalten.

 

Das Pflegepersonal hatte nun längere Wege, andere Arbeitsabläufe und weniger Einblick in den Kreis der Pflegenden. Manchmal musste sogar ein Zimmer abgeschlossen werden, um den entsprechenden Bewohner zu schützen, der sich sonst vor langer Weile auf Wanderschaft begeben hätte. Andere mussten im Bett bleiben, da sie ohne Aufsicht nicht im Rollstuhl oder am Tisch sitzen konnten.

 

Innerhalb kurzer Zeit konnte man die Spuren der neuen Vorgaben durch den Virus am Mobiliar der Einwohner erkennen. Durch umgekippte Getränke quoll entweder die Tischplatte oder das Furnier hob sich. In Schubladen wurde der Inhalt derart geräumt, dass es darin wüst aussah. Der Fußboden wurde durch das Hin- und Herbewegen der Tische oder Stühle geschädigt und verlor an Glanz.

 

Nicht nur das Pflegepersonal, auch die Therapeuten, welche sonst täglich Gast im Haus waren, unterlagen den Veränderungen. Sie wurden, um eine Virusübertragung zu vermeiden in Kurzarbeit geschickt. Auch Dora musste über eine Woche zu Hause bleiben.

 

Doch jetzt befand sie sich als einzige Therapeutin wieder im Zimmer der beiden Heimbewohnerinnen, welche unfähig waren allein zu essen. Sie musste hier nun helfen.

 

Schon zuvor half sie beim Reichen des Essens, wenn eine Verordnung wegen einer Schluckstörung vorlag. Akribisch führte sie nun aber Listen, um das Pflegepersonal so gut wie möglich bei der Essengabe zu unterstützen.

 

Hatten zufällig zwei Bewohner im selben Zimmer eine Verordnung, bemühte sie sich um beide und ließ nur eine Therapiesitzung unterschreiben. Wenn bei der Essengabe weniger Zeit beansprucht wurde, ging sie noch zu einem anderen, der beim Essen Hilfe benötigte. Sie arbeitete nach dem Solidarprinzip und teilte die Verordnungen so ein, dass sie so oft wie möglich das Pflegepersonal unterstützen konnte.

 

Waren alle Verordnungen in der Woche abgearbeitet konnte Dora nicht mehr helfen. Außerdem musste sie auch täglich ihren Vorgaben folgen und die anderen Patienten mit einer Aphasie, Demenz oder Sprechstörung behandeln.

 

Sicher bewegte sie sich etwas auf dünnem Eis bei Ihrer Entscheidung zum Solidarprinzip, da sie nicht versichert war, wenn keine Verordnung vorlag. Dora bedachte aber die ungewöhnlichen Umstände und schließlich war sie schon seit über 20 Jahren im Beruf, konnte also voll auf ihr Wissen und Können vertrauen.

 

Eine Krankenschwester fragte sie sogar, ob es einen Trick gäbe, dass die Patienten unter ihrer Hilfe essen würden. Dora lachte leicht und erklärte, dass es kein Hokuspokus sei, sondern auf Techniken des physiologischen Schluckens beruhe.

 

Ja, man staunt nur, wie pflegebedürftigen Kindern und Erwachsenen oftmals das Essen gereicht wird. Es ist nicht böswillig gemeint, aber häufig ähnelt es dem Akt des Stopfens. Vielleicht aus Zeitgründen oder mangelnder Kenntnis.

 

Was passiert, wenn man einen Esslöffel voll beladen nacheinander ohne Unterbrechung in den Mund schiebt? Essen ist Kultur, auch beim Reichen der Nahrung.

 

Dora äußerte, dass Druck immer Gegendruck erzeuge und man deshalb den Löffel leicht auf die Zunge nach unten drücken und anschließend über die Oberlippe abstreifen müsse. Der Patient brauche die Möglichkeit aktiv bei der Aufnahme der Nahrung mitzuwirken. Das heißt, dass dieser dann seine Zunge hebe und einen Mundschluss durchführe.

 

Rezeptoren und Reflexe leiten dann automatisierte Prozesse ein, die man selbst nicht mehr beeinflussen könne. Wichtig ist also, dass die unwillkürliche Phase des Schluckens nicht oder nur wenig beeinträchtigt sein dürfe. Aber dies wusste die Krankenschwester, da sich die Konsistenz der Nahrung danach richten würde.

 

Am einfachsten ist immer Brei. Deshalb bekommen tatsächlich viele Pflegebedürftige tagein tagaus breiige Kost. Für Dora war es unvorstellbar jeden Tag Brei oder Mus essen zu müssen. Deshalb war es ihr stets wichtig nicht nur das Essen zu reichen, sondern, wenn möglich, intensiv durch Therapie die mundmotorischen Möglichkeiten des einzelnen zu verbessern. Manchmal äußerte sie auch Missfallen über die Darreichungsform des Breies. Es ist immer wichtig viele unterschiedliche Reize zu setzen, was bei einem breiigen Gemansche gar nicht möglich wäre.

 

Was machen aber nun die meisten falsch? Sie provozieren einen Zungenstoß oder vorzeitigen Mundschluss als unbewusst folgernde Schutzreaktion des Patienten. Sie fordern neue oder nicht physiologische Bewegungsabfolgen, die behinderte Kinder oder demenzkranke Erwachsene nicht meistern können. Es wird zu einem Teufelskreislauf, da immer weniger Essen bei gleicher Zeitproblematik hineingeschoben werden muss. Schließlich geben beide auf und es werden nur noch Kreuzchen in die Akte gesetzt, dass der Patient gegessen hat. Alles andere wird unüberprüfbar. Das Pflegepersonal wird häufig unter Druck gesetzt, wenn die Nahrungsaufnahme nicht ausreichend ist.

 

Wichtig ist auch, die Hygiene einzuhalten. Was herausläuft sollte man gleich vom Mund oder der Wange wischen. Selbst ein demenzkranker Patient erkennt Automatismen der Nahrungsaufnahme, wie er sie früher auch durchführte. Eigentlich ist es eine Erleichterung die Etikette beim Essen nicht zu vergessen. Man kann auch viel leichter die Abläufe wieder konditionieren.

 

Hier fällt Dora noch ein, dass man beim Abwischen des Mundes nicht grob reiben dürfe, sondern eher bestimmt abtupfen sollte, ganz so wie es eine Queen tun würde. Dies gilt übrigens auch für das Putzen der Nase. Die Nasenflügel sanft zusammendrücken bewirke mehr als das Wegwischen des Schnodders. Meist drehen sich die Pflegenden bei falscher Herangehensweise gleich weg und lassen eine derartige Zuwendung nicht zu.

 

Ja, essen wie eine Queen, das sollten die beiden älteren Damen im Pflegeheim nun auch endlich. Der Vormittag war schon angebrochen und das Frühstück stand noch immer auf dem Tisch.

 

Dora setzte sich mit an den Tisch. Zur rechten Seite saß eine ängstliche und verwirrte Frau, die noch nicht lange im Pflegeheim war und große Orientierungsschwächen hatte. Sie wusste weder wo noch weshalb sie in diesem Zimmer war und wie alt sie sei. Sie rief oft nach ihrer Mutter oder um Hilfe und erzählte unzusammenhängende Geschichten aus ihrem Leben, wobei sie ihre Mutter manchmal lobte und manchmal grob verfluchte.

 

Die ältere Frau zur linken Seite, war auch nicht immer ruhig. Sie machte den Eindruck als würde sie stumpf in die Gegend gucken. Dies täuschte, sie lebte eher wie in einem Käfig und konnte kaum Kontakt aufnehmen. Ihre Äußerungen waren meist laut und bestanden nur aus einem Wort. Man hörte „Schwester“ oder das Wort „Toilette“. Wenn man sich aber mit ihr auseinandersetzen musste, erfuhr man, dass sie sich auch öffnen könne, sogar lächle und in die Augen blicke. Es kam sogar vor, dass sie eine Serviette verlangte, um den Mund zu säubern.

 

Dora gewann schnell das Vertrauen ihrer Patienten, obwohl sie erst seit einem Monat in diesem Pflegeheim arbeitete. So machte es keine Schwierigkeiten die beiden Damen gleichzeitig bei der Nahrungsaufnahme zu unterstützen und auf die Äußerungen oder Gesten beider einzugehen.

 

Plötzlich klingelte Doras Handy, wodurch die Therapie unterbrochen wurde. Sie sah, dass die Teamleiterin anrief und eröffnete das Gespräch. Darin ging es um die zuvor geschriebene Email an Teamleiterin, in der Dora nachfragte wie sie ihre Arbeitsleistung abrechnen solle.

 

Aufgrund der veränderten Abläufe im Pflegeheim variierten ihre Arbeitszeiten. Es gab erst später Frühstück und schon früher Abendbrot, sodass im Schnitt eine ganze Stunde an Arbeitszeit fehlte. Dies wollte Dora als eine Stunde Kurzarbeit pro Tag geschrieben wissen. Man hätte dies auch ignorieren können, da sie die volle Anzahl an Therapien trotz einer Stunde weniger Arbeitszeit erzielte.

 

Dora handelte nicht nach Lust und Laune. Nein, es war vorher mit der Teamleiterin telefonisch besprochen, dass sie Kurzarbeit machen solle, wenn keine Therapien möglich wären oder es keine neuen Verordnungen gäbe. Auch ist es nicht sinnvoll Therapien nach dem Abendbrot durchzuführen. Die Konzentration eines älteren demenzkranken oder verwirrten Menschen nimmt doch zum Abend hin stetig ab. Außerdem war sie bereits über eine Woche in Kurzarbeit, wo sie zu Hause ihre Wohnung putzte, am PC arbeitete oder sich auf der Couch lümmelte. Was bedeutete da wohl eine Stunde Kurzarbeit am Tag.

 

Das Gespräch nahm keinen guten Verlauf, da die Teamleiterin der Meinung war, dass das Pflegepersonal sich nach den Bedürfnissen der Logopäden zu richten hätte. Man könne schließlich absprechen, dass ein Bewohner zu 8 Uhr fertig wäre und frühstücken könne. Ihr kam gar nicht in den Sinn, dass man als Gast des Hauses ungenügend Einblicke in die Arbeitsabläufe und Personalprobleme des Pflegeteams habe. Jung und dynamisch wie sie war, behaarte sie auf ihre Meinung und untergrub die Fähigkeiten und das Einschätzungsvermögen von Dora. Im Hintergrund des Zimmers stand eine Krankenschwester, die Dora nickend zustimmte und Unverständnis äußerte.

 

Die Teamleiterin war von Doras Entgegenhalten wohl überfordert und griff verbal an, dass Dora sie nicht anschreien solle. Dies war ein typisches Abwehrverhalten mangels fachübergreifend erklärbaren Vorgaben.

 

Wie sollte Dora ins Telefon schreien? Neben ihr zwei alte Damen und im Raum die tagesleitende Krankenschwester, welche zufällig ins Zimmer kam, weil sie nach den beiden sehen wollte. In Anbetracht der wohlwollenden Äußerungen der Krankenschwester über die Freude, dass die beiden Damen schon versorgt wären, da sie vorher keine Zeit hatte, war Dora über das Verhalten der Teamleiterin völlig entsetzt.

 

Das Gespräch endete mit den Worten, dass sich die Teamleiterin nun mit dem Pflegeheim auseinandersetzen und mir Bescheid geben würde.

 

Die Krankenschwester wollte gleich alles an die Pflegeheimleitung weitergeben. Auch Dora erkundigte sich noch einmal und erhielt zur Antwort, dass sich die Teamleiterin nicht gemeldet hätte, ihre Arbeitsweise entsprechend der Pflegeabläufe korrekt wäre und Einzelwünsche nicht berücksichtigt werden könnten.

 

Dora schrieb der Teamleiterin. Dass sie ihre Anweisungen bitte schriftlich mitteilen möchte. Aus Doras Sicht waren dies wichtige Vertragsinhalte, welche man nicht mündlich auf Zuruf besprechen sollte. Schließlich wurden die Vorabsprachen nichtig und weggeredet.

 

Im Laufe des Tages klingelte Doras Handy erneut. Sie lief gerade die Treppen hinunter. In beiden Händen war Geschirr vom Mittagessen, welches sie aus ihren geführten Therapien mitnahm. Eine schnelle Abstellmöglichkeit war nicht zu sehen. Man müsse aber auch nicht gleich springen, wenn plötzlich das eigene Privathandy klingelt. Es hätte ja jeder sein können.

 

In ihrer Pause las sie dann, dass sie die Teamleiterin zurückrufen möchte. War das wirklich war? Sie bat doch um eine schriftliche Vorgabe, an die sie sich gehalten hätte. Als Angestellte erfülle man doch so lange die Vorgaben des Vorgesetzten bis der Kragen platzt und man eine Kündigung bevorzuge. Für Dora war es noch nicht so weit. Sie war im Probehalbjahr und arbeitete erst einen Monat für die neue Firma.

 

Entsprechend ihres Alters wechselte sie die Arbeitsstelle und wollte im Bereich der Geriatrie tätig werden. Sie verzichtete auf 600,- Euro Brutto mit der Neueinstellung, um ruhiger und näher am Wohnort zu arbeiten. Sie gab eine leitende Stelle auf, um weniger Entscheidungen treffen zu müssen. Sie erhoffte wieder mehr Lebensgefühl und weniger Stress im Arbeitsprozess.

 

Dora behandelte noch weitere Patienten am Tag und fuhr ahnungslos nach Hause. Aus ihrem Briefkasten holte sie 3 Briefe. Ein Kuvert enthielt Werbung. Im zweiten steckte die Lohnabrechnung und der dritte hatte keine Briefmarke. Er war aber von der Firma bei der sie gerade arbeitete. Schon auf der Treppe musste sie lachen, als ob sie schon vorbereitet gewesen wäre und nur noch alles belächeln würde.

 

Nein, sie war völlig ahnungslos und hoch erstaunt über den Kündigungsgrund. Vielleicht brachte sie dies zum Lachen. Im Angesicht der Coronakrise gehörte Dora nun nicht mehr zum relevanten medizinischen Personal. Die Kündigung wurde mit sofortiger Wirkung und Hausverbot ausgesprochen. Derzeit sitzt Dora bezahlt zu Hause und schreibt diese Zeilen ohne auch nur einen müden Cent für die Firma einzubringen.

 

Ganz gelassen setzte sich Dora, als sie in ihrer Wohnung war, an den PC und las ihre Emails. Sie fand tatsächlich eine Mail der Firma vor, welche um 14:46 Uhr verschickt wurde.

 

Darin stand: „… leider haben Sie mich bis jetzt nicht zurückgerufen. Ich hätte die Angelegenheit gerne persönlich mit Ihnen besprochen. Aus gegebenen Anlass habe ich mich dazu entschieden, Ihnen innerhalb der Probezeit zum XXXX zu kündigen. Die Kündigung ging heute in die Post.“

 

Es war wirklich nicht nachvollziehbar. Um 12:50 Uhr erhielt Dora eine Nachricht über Threema, dass sie bitte zurück möchte. Ging es hier um Leben oder Tod? Welche Eitelkeiten Dora wohl verletzte?

 

Um 16:30 Uhr ging sie von der Arbeit nach Hause und ward gekündigt. Das Arbeitszeugnis dagegen sah völlig anders aus. Hier las sie einige Tage später: „Frau Dora ist eine sehr motivierte Mitarbeiterin, die ihre Aufgaben mit sehr viel Eifer und Ausdauer ausübt. Sie zeigt stets sehr viel Eigeninitiative. Sie plante ihre Therapien sehr gewissenhaft und zeigte sich den Patienten gegenüber immer mit hohem Verantwortungsbewusstsein.“

 

Das Arbeitszeugnis hätte nicht zugelassen eine so fähige Kraft auf die Straße zu setzen. Arbeitgeber wie Arbeitnehmer sind aber auch nur Menschen. Wer nicht erkennt, was wirklich wichtig ist, sollte noch viel lernen. Eine fähige Kraft zu drücken, mit der Hoffnung sie würde sich beugen, kann deutlich schief gehen. Wer kann schon die Welt retten? Wenn Arbeit nicht hilft, dann vielleicht Einfühlungsvermögen.

 

Imprint

Text: Anne Adler
Images: Anne Adler
Cover: Anne Adler
Publication Date: 04-27-2020

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